Sakuya von Namako (Last Night) ================================================================================ Kapitel 1: Meine eigene Welt ---------------------------- War es Vorhersehung? Oder einfach nur mein Instinkt? Ich wusste, dass sich etwas ändern sollte... Ich hatte es schon immer geahnt... Ich wusste es, aber... Ich konnte es einfach nicht glauben... Nein... Ich... Ich wollte es nicht glauben... Oder? ... Part 1: Kazuoka 1. Kapitel: Meine eigene Welt „Airashi! Aufstehen! Du kommst noch zu spät zur Schule!“ Langsam schlug ich die Augen auf, meine Mutter hatte mich – wie jeden Morgen – pünktlich um halb acht geweckt. „Komme!“, rief ich noch etwas verschlafen, drehte mich noch einmal um und zog die Decke erneut über meinen Kopf. Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn erneut rief mich meine Mutter, nun scheinbar in meinem Zimmer, denn sobald ich eine Antwort gab, hörte ich, dass meine Zimmertüre geschlossen wurde. Wieder drehte ich mich um, doch diesmal um Aufzustehen. Dabei fiel mein Blick kurz auf den kleinen grünen Wecker, der neben meinem Bett auf einem kleinen Tischchen stand und anzeigte, dass es gleich 8 Uhr war. >Scheiße!<, war mein einziger Gedanke, bevor ich mich schleunigst aus dem Bett bewegte und ins Bad stürmte. Dort putzte ich mir eiligst die Zähne und wusch mein Gesicht. Für Make-up würde ich heute keine Zeit haben, doch das war mir in dem Moment eher egal, zumal ich wusste, dass meine Freundin das Zeug sowieso nicht mochte. Schon wieder waren meine Gedanken bei ihr gelandet. Wieso geschah mir das in letzter Zeit so häufig? Ich meine... Klar, wir waren gut befreundet, ehrlich gesagt die besten Freundinnen, aber in letzter Zeit wanderten meine Gedanken wirklich zu oft zu ihr. Dann fiel mir wieder ein, dass ich mich eigentlich beeilen wollte, da ich sonst zu spät zur Schule käme. Ich schnappte mir meine Schuluniform, die im Bad über der Wäscheleine hing und schlüpfte schnell hinein. Noch einmal hörte ich meine Mutter rufen: „Airashi! Wir haben schon Viertel nach acht! Wenn du so weitermachst, kommst du wirklich zu spät!“ Ich gab nur eine kurze Antwort: „Ja, ja! Ich komme ja schon!“ Ich rannte zurück in mein Zimmer und blieb kurz in der Türe stehen. >Wo hab ich sie nur... Ach da...< Langsam trat ich ihn den rot gestrichenen Raum mit dunkelblauem Teppichboden ein, ging vorbei an meinen total überlasteten Schreibtisch, der fast zusammenbrach, von der Last der Blätter mit Zeichnungen, Notizen und jede Menge anderem Kram, den ganzen Büchern für die Schule und einer Menge anderen Sachen, die eigentlich nichts auf einem Schreibtisch zu suchen hatte. Neben dem Schreibtisch stand mein Bett, das meiner Meinung nach ziemlich normal war, im Gegensatz zu dem Computer, der auf einem Holztisch gegenüber an der Wand stand und einem sofort ins Auge fiel, sobald man das Zimmer betrat. Der große Monitor war mit Stickern von Schauspielern, Sängern, Bands und Manga- und Animehelden beklebt, doch ich hatte mich auch selber kreativ beschäftigt und einige Window-Color Bildchen an ihm befestigt. Der PC, die Tastatur und die Computer-Maus waren dabei auch nicht besser weggekommen. So sah das Ganze ziemlich bunt und vor allem sehr eigenartig und flippig aus. Direkt neben dem PC stand dafür der klumpige, alte und vor allem langweilig aussehende Kleiderschrank in einem tristen Braun. Ich hatte schon vorgehabt, ihn auch ein wenig zu stylen, doch meine Mutter war dagegen gewesen, da es ein Erbstück war und nicht „verhunzt“ werden sollte. So beließ ich es also bei dem Braun und beklebte dafür meinen Fernseher, der seinen Platz auf einem Regal in dem Schrank gefunden hatte, und die Stereoanlage, die direkt neben dem klobigen etwas stand, was Zimmer freundlicher erscheinen ließ. Ich war der Meinung, dass in meinem Zimmer eine ziemliche Ausgewogenheit herrschte, auch wenn meine Mutter meinte, dass ich verrückt wäre. Wieder in Gedanken versunken, hörte ich meine Mutter erneut rufen. Es waren schon wieder 5 Minuten vergangen und ich hatte – wie so oft - vergessen, was ich eigentlich hier wollte. >Ach ja, die Uhr...< Schnell griff ich nach meiner Schultasche und schnappte mir meine Armbanduhr, die direkt neben der Stereoanlage unter dem Fenster lag, dass ich – wen wundert es - auch etwas aufgestylt hatte. Ich lief die Treppe hinunter und setzte mich an den Frühstückstisch, den meine Mutter schon gedeckt hatte. Kaum hatte ich mich hingesetzt, stellte meine Mutter ein pinkes Täschchen neben mich. Mich kotzte diese Farbe schon immer an, aber meine Mutter fand es war eine schöne Farbe und von daher sah mein Lunchpaket immer aus, als wäre es dem pinken Wunderland entsprungen. Ich seufzte kurz, bevor ich mich auf die elende Diskussion mit ihr einließ: „Mum, du weißt genau das ich pink hasse.“ Das Wort pink betonte ich dabei absichtlich sehr stark. „Aber Schatz, du bist doch ein Mädchen und Mädchen haben nun einmal pinke Sachen. Außerdem ist das doch eine hübsche Farbe, ich weiß gar nicht, was du hast. Sieht doch nett aus.“ Ich seufzte erneut. „Mama, es geht hier nicht darum, dass es nett aussieht und komm mir ja nicht wieder von wegen Mädchen heißt gleich, dass sie pink lieben. Ich mag es nun einmal nicht und damit musst du dich abfinden. Und das habe ich dir schon Tausende von Malen erklärt.“ Während ich wieder ausgiebig mit ihr diskutierte, schmierte ich mir ein Brötchen, das ich auf dem Schulweg essen konnte. Pünktlich um 8 Uhr 30 klingelte es an der Haustüre. Ich hatte die Diskussion – wie immer – gewonnen, aber ich wusste, dass sich dennoch nichts ändern würde. So verabschiedete ich mich mit einem kurzen „Ciao“, nahm meine Schultasche, das Lunchpaket und mein Brötchen und lief in dem Flur, um dort noch meine Jacke zu nehmen. Die Klinke musste ich nun mit dem Ellbogen aufdrücken und dann stand ich direkt vor ihr. „Hi Shizuka! Kannst du mal kurz...“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte ich meiner besten Freundin mein Lunchpaket und die Schultasche in die Hand, während ich mein Brötchen hin und her jonglierte, um die Jacke anzuziehen. Kaum hatte ich das geschafft, zog ich die helle Haustüre hinter mir zu und nahm meine Sachen dankend entgegen. Schließlich gingen wir los, auf den weiß gefliesten Gartenweg zur Straße, während ich mit meiner rechten Hand das Brötchen hielt, welches ich genüsslich aß und in der anderen das Lunchpaket, zusammen mit der Schultasche. „Heute gar kein Make-up?“, war ihre erste Frage. „Nö, wieso?“, antwortete ich knapp, bevor ich erneut in mein Brötchen biss, welches mit Schinken belegt war. Den weiteren Weg zur Schule redeten wir eigentlich nur über die Hausaufgaben, die Schule selbst und über andere, ganz banale Dinge. Irgendwann hatte ich es dann auch geschafft mein Brötchen zu essen und es in meinem Bauch nun der Verdauung zu überlassen. In der Schule angekommen war es wie jeden Morgen: Shizuka wurde wegen der Hausaufgaben gefragt, da sie die immer ordentlich machte und die anderen glaubten, sie wäre leicht auszunutzen. Das wäre sie bestimmt auch gewesen, wenn ich nicht des Öfteren eingegriffen hätte. Als ich einige Klassenkameraden bemerkte, die auf das Mädchen zugingen stellte ich mich vor meine Freundin und machte schnell klar, dass sie von ihr keine Hausaufgaben bekommen würden. Die Kerle zogen recht beleidigt ab, während Shizuka etwas eingeschüchtert hinter mir stand und ein kurzes „Danke“ murmelte. „Keine Ursache!“ Ich lächelte sie freundlich an. Sie hatte mir schon so oft geholfen, jetzt war ich auch einmal an der Reihe. Doch zu den täglichen Ritualen gehörten nicht nur das Verhindern der Ausnutzung meiner Freundin, sondern noch viele andere Dinge. So zum Beispiel auch die Begutachtung meiner Person von der wohl oberflächlichsten Clique der ganzen Schule. Als ihre Anführerin durfte sich Ôhei Tsukasa schimpfen, das hübscheste, aber auch verdorbenste Mädchen der ganzen Schule und ein Jahr älter als ich. Sie hatte schon oft versucht, mich in ihre Clique einzuschließen, doch da ich – aus verschiedenen Gründen – nicht wollte, hatte sie es irgendwann aufgegeben. Wie jeden Tag kam sie in ihren High-Heels den Flur in Richtung unseres Klassenzimmers stolziert und wurde dabei von ihrer Clique – ebenfalls auf High-Heels – und einigen Jungs verfolgt. Vor der Klassentüre blieb sie stehen und warf einen Blick ins Klassenzimmer, wobei ihr Blick direkt meinen traf. Er verriet mir, dass das Mädchen ganz dringend mit mir reden musste, wahrscheinlich war ihr wieder klar geworden, dass der neue Typ, den sie in der Disco gesehen hatte, nichts für sie war. Auch wenn das Mädchen sehr arrogant und oberflächlich wirkte, sowie sich so schminkte, dass man nicht mehr wissen wollte, wie sie ohne den ganzen Kram aussah, war sie im Grunde doch ganz nett. Ich hatte mich einige Male mit ihr unterhalten und sie war dann zu dem Schluss gekommen, dass wir Freundinnen seien. Ich mochte sie eigentlich ganz gerne, auch wenn sie ziemlich oberflächlich war und Shizuka mich warnte, ich würde noch so wie sie. Im Grunde war sie noch ein kleines Mädchen, das unbedingt erwachsen sein wollte und nicht wusste wie sie das tun sollte. Ihre Noten waren auch nicht die schlechtesten, sie war immer im oberen Mittelfeld und wirkte eigentlich schlimmer, als sie war. Ich blickte kurz zu Shizuka, die scheinbar verstand und mir zunickte. Langsam ging ich auf Ôhei zu und blieb dann vor ihr stehen, wobei ich die Schiebetür hinter mir schloss. „Was ist denn los Ôhei?“ „Ach eh weißt du...“, begann das Mädchen vor mir und wackelte dabei beträchtlich auf ihren 10 Zentimeter Absätzen. Sie hatte blond gefärbte Haare und blaue Kontaktlinsen, da sie Brillen hässlich fand. Durch ihre Schuhe wirkte sie zwar genauso groß wie ich, doch in Wirklichkeit war sie ein ganzes Stück kleiner. Sogar noch kleiner als Shizuka und sie war immerhin ganze fünf Zentimeter kleiner als ich, dass hatten wir letzten Samstag erst festgestellt. Das Mädchen vor mir zögerte immer noch mit ihrer Antwort. Wieder stellte ich die Frage: „Ôhei, was ist los? Ich hab nicht viel Zeit, der Lehrer kann jeden Moment kommen.“ >Was verzapfe ich da eigentlich für einen Mist? Ich hab noch eine Viertelstunde Zeit, bis der Lehrer kommt...< Ich blickte Ôhei fragend und vor allem neugierig an. „Also?“ Wieder wartete ich auf eine Antwort. Schließlich atmete das Mädchen vor mir tief ein und legte los. „Also... Ich muss dich da mal was fragen...“ Ich nickte und wartete auf eine Fortsetzung ihrer Erklärung, was so wichtig sein konnte, dass es nicht bis zur Pause warten konnte. „Sorry, dass ich dich darauf ansprechen muss, aber du hast doch dasselbe Problem... Beziehungsweise du hattest es, du weißt schon...“ Sie redete zwar gut um den heißen Brei herum, doch langsam begann ich zu verstehen, was los war. Sie hatte mir schon einmal davon erzählt. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie immer im Mittelpunkt stehen wollte. Der Grund waren ihre Eltern, die es ihr nicht wirklich einfach machen wollten. Ich nahm ihre rechte Hand und zog sie in eine Ecke auf dem Flur, die ziemlich leer schien, wobei sie von dem Ruck fast stolperte, da ihre Schuhe nicht so schnell wollten wie meine Füße. Schließlich blieb ich mit einem Ruck stehen und sah sie herausfordernd an. „Es geht um deine Eltern, oder?“, fragte ich sie dann gerade heraus, ohne irgendwelche Umschweife. Sie sah sich einmal kurz um und nickte dann zögerlich, fast unmerklich. Ihr „Ja...“ war nur ein Flüstern, dass mit dem sanften Wind, der durch das Fenster in den Flur gekommen war, weggetragen wurde. Sie versuchte zwar zu vermeiden, dass ich in ihre Augen sehen konnte, doch das Glitzern der Tränen, die sich langsam darin bildeten, konnte ich trotzdem erkennen. Als hätte ich das nicht bemerkt, nur um das Mädchen nicht in Verlegenheit zu bringen, redete und – vor allem – fragte ich weiter: „Sie...“, ich zögerte einen Moment, redete dann aber trotzdem weiter: „Sie wollen... sich scheiden lassen, oder?“ Wenn sie davon redete, dass ich dasselbe Problem hätte, konnte es eigentlich nur das im Bezug auf meine Eltern sein, die sich vor 7 Jahren hatten scheiden lassen, nachdem sie sich nur noch gestritten hatten und meinem Vater auch schon einmal die Hand ausgerutscht war, nicht nur meiner Mutter, auch mir und meiner älteren Schwester Kimiko gegenüber, die mittlerweile eine eigene Wohnung hatte und sich gelegentlich bei uns blicken ließ, während ich von meinem Vater leider – oder glücklicherweise – seit der Scheidung nichts mehr gehört hatte. Ich wusste zwar, dass Ôheis Eltern oft Streit und Stress hatten und sich um das Mädchen so gut wie gar nicht gekümmert hatten, zumal sie noch nicht einmal Geschwister hatte und so keinen Bezug zu ihrer Familie bekam. Ich hatte da noch Glück gehabt, mit meiner vier Jahre älteren Schwester, die sich im Notfall immer um mich gekümmert hatte, wenn wieder ein lauter Streit losgegangen war und ich mich in eine Ecke gekauert hatte, aus Angst, dass gleich mein Vater käme und ihm wieder – ganz aus Versehen – die Hand ausrutschte. Meine Schwester hatte mich dann oft an die Hand genommen und mich entweder in ihr oder in mein Zimmer gebracht, manchmal war sie auch mit mir nach draußen abgehauen, nur um den ganzen für einen Moment zu entfliehen. Mit meiner Mutter kam ich ganz gut klar, es hatte noch nie Probleme mit ihr gegeben, auch wenn es oft schwierig mit ihr war. >Boah, was ist heute eigentlich los mit mir? Andauernd träume ich vor mich hin und schwelge in Erinnerungen... Ich bin scheinbar wirklich noch müde...< Doch Ôhei schien mein Wegschweifen von der Diskussion nicht bemerkt zu haben, denn sie nickte wieder nur leicht mit dem Kopf auf meine Frage. Dann – wie bei einem überraschenden Vulkanausbruch – brach es aus ihr heraus. Die Tränen rannen nur so ihr Gesicht hinunter und sie versuchte sie geschickt zu verbergen, da sonst wahrscheinlich die wildesten Gerüchte in die Welt gesetzt werden könnten. „Ich weiß einfach nicht was ich machen soll...“, schluchzte sie und erneut rann ein Schwall Tränen ihre Wangen hinunter. Ich kramte in meiner Rocktasche – auch bei uns gab es leider Schuluniformen, was nicht so schlimm gewesen wäre, doch mit Hosen fühlte ich mich einfach wohler, als mit diesen Faltenröcken, die aussahen, als wären sie der Marine entsprungen – nach einem Taschentuch und reichte ihr dann das weiße Stück Stoff, damit sie ihre Tränen trocknen konnte. Sie dankte mir kurz und nahm es dann entgegen. „Sei froh, dass es endlich vorbei ist. Den Stress kann auf Dauer niemand ertragen“, war das erste was ich herausbrachte, auch wenn es eher aufmunternd klingen sollte und nicht so hart, wie ich es aussprach. Doch sie schien es verstanden zu haben. Dennoch setzte sie zum Widerspruch an. „Ich bin ja auch froh, dass es nun endlich vorbei ist, aber... Jetzt fangen sie mit der Diskussion an, wo ich hin soll. Plötzlich bin ich wieder für sie da und nun bin ich auch noch für ihren Streit verantwortlich. Des Letzt kam ein Typ vom Jugendamt und hat mir so ein paar dämliche Fragen gestellt, wo ich denn lieber hinwolle und zu welchem Elternteil ich eine innigere Beziehung hätte.“ Ich wusste genau, was danach kommen würde. >Sie weiß nicht wo sie hin will und das heißt...< „Ich hab ihm schließlich gesagt, dass ich zu keinem von beiden eine innige Beziehung hätte und keine Ahnung hätte, wo ich hin wolle. Daraufhin meinte er dann, dass ich wahrscheinlich ins Heim müsste... Und dabei werde ich in zwei Monaten schon 18! Dann wäre ich weg gewesen und hätte mich nie wieder um die beiden scheren müssen! Aber nein, jetzt müssen die noch einen riesigen Tumult deswegen machen... Ich hab keinen Bock ins Heim zu gehen und da die letzten Wochen meines jugendlichen Daseins zu verbringen... Ich wäre lieber unter einer Brücke, als in einem Heim oder bei meinen Eltern...“ In diesem Moment hörte ich, dass es schellte und die ersten Schüler sich in die Klassenräume begaben. Ôhei trocknete sich noch ein paar Tränen und fragte mich schließlich, ob noch etwas zu sehen sei. Ich verneinte das und wollte mich gerade in meinen Klassenraum begeben, als sie sich erneut zu Wort meldete. „Moment mal... Du hast heute ja gar kein Make-up auf...“ Auch dies verneinte ich und wunderte mich, wie das Mädchen nur von einem auf den anderen Moment so ihr Auftreten wechseln konnte. Ich hatte aber schon damals das Gefühl, dass das alles nur eine Maske war, die sie aufsetzte, um nicht verletzt zu werden und niemandem zeigen zu müssen, was bei ihr zu Hause vor sich ging. „Moment! Das geht ja wohl nicht!“ Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu und zog dabei etwas auf ihrer Rocktasche, das ich schnell als einen Lippenstift identifizieren konnte. „Ach nein Ôhei, lass den Mist... Ich komme heute auch ohne Make-up aus, ganz bestimmt.“ Glücklicherweise sah ich schon den Lehrer kommen, der mich aus dieser Situation rettete, denn Ôhei musste nun verschwinden, um nicht zu spät zu kommen. >Lehrer sind also doch zu was nütze…<, war mein letzter Gedanke, bevor ich mich in den Klassenraum begab und mich hinsetzte, kurz bevor der Lehrer die Schiebetüre des Klassenraumes aufschob und mit seinem Buch unter dem Arm in den Raum eintrat, um dann langsam zu „seinem“ Lehrerpult zu schreiten und dort das Buch abzulegen, bevor er sich der Klasse zuwandte und auf etwas zu warten schien. Ich sah in der Klasse umher, doch auch die anderen Schüler schienen nicht zu verstehen, was los war, bis mir auffiel, dass unsere Klassensprecherin nicht anwesend war. Das hieß für mich – als Stellvertreterin dieser -, dass ich die Klasse heute „zu leiten“ hatte. Seufzend und etwas unsicher stand ich schließlich auf, um dem Rest der Klasse anzudeuten, dass auch sie aufzustehen hatten, um so dem Lehrer einen Morgengruß entgegen zu bringen. Ich wartete einige Sekunden vergeblich, doch niemand – außer Shizuka, die direkt neben mir saß und somit wusste, was mein plötzliches Aufstehen zu bedeuten hatte – tat es mir nach, also musste ich mich bemerkbar machen. Ich räusperte mich einmal – vergeblich. >Haben die vergessen wen sie zum Stellvertreter von Kazue gewählt haben?<, war mein Gedanke, bevor ich mich der Klasse zuwendete - da ich in der ersten Reihe saß - und nun in die Klasse sprach. Der Lehrer wartete geduldig, auch wenn ich dachte, dass ich an seiner Stelle schon lange ausgeflippt wäre, doch er schien verstanden zu haben, dass sie nicht begriffen, was passierte. Chikafusa Kazue war ein schüchternes und eher unbeliebtes Mädchen in der Klasse gewesen, doch sie war eine gute Klassensprecherin, das musste jeder zugeben – wenn auch nur ungern. Trotzdem war sie eher unbeliebt und hatte wenige Freunde, so dass niemand bemerkt zu haben schien, dass sie nicht da war. Und da ich, als ihre Stellvertreterin eher selten zum Zuge kam – Kazue war ziemlich fleißig und kam eigentlich jeden Tag in die Schule – schien auch niemandem aufgefallen zu sein, dass ich aufgestanden war. Erneut räusperte ich mich, bevor ich im Befehlston weiter sprach. „Aufstehen!“ Sie schienen endlich verstanden zu haben, denn die ersten standen auf, die anderen taten es ihnen einfach nach, so wie das halt immer ist. Sobald einer es tut, machen die anderem es ihm nach. Ich drehte mich wieder zum Lehrer und sprach erneut im Befehlston „Grüßen“, bevor meine Stimme im Schülerchor, der dem Lehrer einen „Guten Morgen“ wünschte und sich dabei verbeugte, unterging und wie eine der vielen anderen klang. Ich setzte mich wieder hin und – als hätten sie endlich verstanden, dass ich heute die Klassensprecherin bin – taten die anderen es mir nach. Der Lehrer setzte sich nun hin und schlug das Buch auf. „Schlagen Sie bitte Seite 85 auf.“ Urplötzliches hörte man in dem still gewordenen Raum lautes Umblättern von einzelnen Seiten, andere murmelten und stellten ihren Nachbarn Fragen wie „Welche Seite?“ oder „Was hat er gesagt?“, weil sie wieder einmal nicht zugehört hatten. Nach einer schier endlos andauernden Zeit hatten endlich alle ihre Bücher aufgeschlagen und sahen wieder nach vorne zum Lehrer, um ihre Aufmerksamkeit anzudeuten. Doch der kramte nur in seinen Sachen, als suche er etwas Wichtiges. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich gefunden zu haben schien, was er suchte. Er hielt ein weißes Blatt empor, bevor er aufstand und „Ayame“, sagte. Ayame Sadao stand auf und erwiderte dem Lehrer ein lautes „Ja“. Ich verstand. Der Lehrer überprüfte die Anwesenheit und las die Namen auf seiner Liste in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen vor, da es in Japan üblich ist, den Nachnamen dem Vornamen vorzuziehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Name „Gaho“ fiel und auch ich aufstand und „Ja“ rief, ehe ich wieder Platz nahm. Irgendwann war der Lehrer bei „Zenshin“ angekommen und auch der Letzte hatte sich mit einem „Anwesend“ in die Liste eintragen lassen. Der Unterricht konnte nun endlich richtig beginnen und die Mathematik-Stunde nahm ihren Lauf. Nachdem der Lehrer wild einige Zahlen an die Tafel geschrieben hatte, begann er zu erklären, wie sie zusammenhingen und was man doch alles Schönes mit ihnen machen konnte. Rechnen, was sonst? Doch irgendwie interessierte mich heute herzlich wenig, was x in der Gleichung „x³=16x“ war. Meine Gedanken wanderten den ganzen Morgen wieder zu Ôhei. Irgendwie tat sie mir Leid. Aber ich wusste auch nicht, was ich hätte tun sollen, auch wenn ich dasselbe durchgemacht hatte. Vielleicht war auch das der Grund, warum ich nur noch lernte und damit Klassenbeste geworden war. Ich brauchte Abstand und hatte mich deshalb immer zurückgezogen, um nicht wieder die Streitereien erleben zu müssen, die ich auch so schon zu hören bekam. Also war mein Zimmer eine Art Zufluchtsort, wo ich alleine war, wo mir niemand etwas tun konnte. Wenn ich die Musik aufdrehte, um den Lärm von unten zu übertönen, kramte ich eines der Schulbücher heraus, um mich irgendwie abzulenken, es schien mir damals einfach am sinnvollsten und irgendwann bemerkte ich dann, dass es nicht falsch sein konnte, also machte ich weiter und las ein Buch nach dem anderen. Während ich zu Hause also sehr zurückgezogen lebte, spielte ich in der Schule ein Leben vor, das einer „heilen Welt“ entsprach. Dazu noch gute Noten und bald war ich eines der beliebtesten Mädchen der Schule, eine Sache, die ich zwar vorteilhaft fand, aber nie gewollt hatte. Wahrscheinlich wäre ich damals auch total abgehoben, wenn nicht Shizuka da gewesen wäre und mich immer mal wieder vor einem Höhenflug mit Bruchlandung bewahrt hätte. Und dann hatte ich zufällig Ôhei kennen gelernt. Nachdem ich sie ein wenig besser kennen gelernt hatte, merkte ich bald, dass sie ganz ähnlich handelte wie ich damals. Doch anstatt sich – wie ich – in Schulbücher zu flüchten, ertränkte sie ihren Frust, indem sie nie zu Hause war und nur ausging, oberflächlich wurde und versuchte die Leute nicht näher kennen zu lernen, aus Angst, wieder so enttäuscht zu werden, wie bei ihren Eltern. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie mit diesem komischen Typen zusammen war, der mehr als oberflächlich war. Und zwar ohne aufgrund eines traumatischen Erlebnisses, eher, weil der Junge keinerlei Gehirnzellen besaß, die hätten arbeiten können, um ihm zu sagen wie bescheuert er doch war. Er hatte nur eins: Augen, mit denen er sehen konnte und die Menschen sofort nach Klassen sortierte. Güteklasse A war hierbei Ôhei, soweit ich weiß zählte ich immerhin zur Klasse B. Shizuka hätte er – dank ihres Mauerblümchendaseins – eher in die D-Klasse gesteckt. „Gaho-san! Lösen Sie die Aufgabe an der Tafel!“ Prompt wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und sah den Lehrer fragend an, bevor ich die Aufgabe an der Tafel bemerkte, die immer noch nicht gelöst war. Seufzend stand ich auf und stellte mich vor die Tafel. „Mit Erklärung, Sensei?“, fragte ich den Lehrer und blickte ihn an. „Wenn Sie wollen, gerne. Ihre Mitschüler werden Ihnen danken. Also?“ Er blickte mich auffordernd an, bevor ich begann an der Tafel herumzuwuseln und wild einige Zahlen und Buchstaben aufschrieb. „Also: x³=16x. Das heißt, man muss zuerst durch x dividieren. Man kommt dann auf die Gleichung x³/x=16. Man kürzt und erhält x²=16. Nun zieht man die Wurzel und erhält x1=4 und x2=-4, denn durch die Quadrierung sind beide Zahlen mögliche Lösungen.“ Ich wandte mich um und sah in die Klasse. „Verstanden?“ Scheinbar hatten alle es verstanden, denn niemand stellte eine Frage. So blickte ich zum Sensei, der mir zunickte, was hieß, dass ich mich wieder setzen konnte, was ich daraufhin auch erleichtert tat. „Gut gemacht Gaho. Aber beim nächsten Mal muss ich Sie hoffentlich nicht aus Ihren Träumen reißen, oder?“ Verlegen blickte ich ihn erst an, bevor mein Blick zum Tisch wanderte und die doch sehr interessante Tischplatte ansah, die durch ihr helles Grau grell ins Auge stach, da die Sonne stark reflektiert wurde. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis endlich das erlösende Klingeln durch die Gänge und Räume erklang, woraufhin sich direkt eine Unruhe im Klassenzimmer breit machte. Der Lehrer packte seine Sachen zusammen und verließ den spärlich eingerichteten Raum schnell, damit er uns nicht länger ertragen musste, schließlich hätte man meinen können wir würden uns in Wilde verwandeln, kaum würde es zur Pause klingeln. Alle waren unruhig, liefen umher und taten Dinge, die ihnen verboten waren, wie das Rauchen am offenen Fenster. Ich seufzte laut auf und schloss für einen Moment die Augen, was – wie ich erst beim Öffnen feststellte – ein Fehler gewesen war. Shizuka stand direkt vor mir und wollte mich wohl gerade ansprechen, doch ich war so überrascht von ihrem plötzlichen Auftreten, dass ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. „Hey, du musst wegen mir nicht gleich vom Stuhl fallen! Mich interessiert viel eher was heute mit dir los ist…“ „Hm?“ Ich blickte sie etwas überrascht an, da ich nicht dachte so durchschaubar zu sein. „Tu nicht so, man merkt sofort, dass du nicht ganz bei der Sache bist… Wegen… Ôhei?“ Sie blickte mich durchdringend an, die Neugierde stand gerade so in ihren braunen Augen geschrieben, fast als würde sie mich gleich anspringen, wenn ich dem Besitzer der Augen nicht sofort erzählen würde was los war, aber da war noch etwas anderes in ihrem Blick, das ich im ersten Moment nicht deuten konnte, bis sich ihr Gesichtsausdruck – vorher noch ein verschmitztes Lächeln - sich schlagartig änderte und ich erkannte, dass es ein sorgenvoller, fast fürsorglicher Blick war, mit dem sie mich regelrecht anstarrte. Ich war einen Augenblick lang ratlos, da ich nicht wusste, was ich nun sagen sollte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie auf die Geschichte reagieren würde; anlügen wollte ich sie aber erst recht nicht. Suchend blickte ich mich im Klassenraum um, wollte ihrem Blick entkommen, aber das half mir auch nicht dabei eine Antwort zu finden. Dennoch fixierte ich meinen Blick an der dunkelgrünen Tafel, wo immer noch die weißen Kreidestriche zu erkennen waren, die zusammen Buchstaben und Zahlen bildeten; in meiner Handschrift. Die Matheaufgabe stand immer noch da und wartete nur darauf weggewischt zu werden, was mir sehr recht kam. Langsam stand ich auf und ging an die Tafel, nahm den Lappen, der auf dem Lehrerpult davor lag und wischte mit einigen schnellen Zügen die Kreide weg, die Blicke Shizukas immer noch auf mir spürend. „Es ist nichts, dass musst du dir einbilden“, sagte ich in einem ruhigen Ton, immer noch mit dem Rücken zu ihr und die Tafel wischend. „Komischerweise sagst du das immer, wenn es um Ôhei geht...“ murmelte sie. Ich bemerkte dabei, dass sie einige Schritte gegangen sein musste, denn ihre Stimme klang näher als noch vor wenigen Sekunden. Ich wischte immer noch über die Tafel, obwohl diese mittlerweile sauber war, nur um nicht in ihr Gesicht sehen zu müssen und sie dabei auch noch zu belügen. Schließlich drehte ich mich aber doch um und legte den Lappen an seinem alten Platz zurück, wobei feiner, weißer Kreidestaub aufstieg und sich langsam in der Luft zu verteilte, bevor er wieder auf die Holzplatte des Lehrerpultes fiel und dort einen weißen Film zurückließ. Ihre Blicke waren immer noch auf mich gerichtet, dass spürte ich, auch wenn ich es nicht sehen konnte. Was sollte ich ihr jetzt nur sagen? Ich rappelte mich also auf und blickte ihr direkt ins Gesicht, das keinen Meter von mir entfernt war, wobei mir auffiel, dass wir beide allein in dem Raum waren. „Stimmt doch gar nicht! Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ja, es geht um sie! Sie hat mich um Hilfe bei einem Problem gebeten und...“ „Was denn? Weiß sie wieder nicht, ob sie sich blauen oder grünen Lidschatten kaufen soll?“, war Shizukas sarkastische Bemerkung. Ich wusste, dass sie Ôhei hasste, aber trotzdem kassierte sie für diese Aussage einen zornigen und vernichtenden Blick, der sie sofort verstummen ließ, bevor ich meinen Satz fortführen konnte. „Auf jeden Fall hat sie mich um Hilfe in einem Problem gebeten und das hat einige Erinnerungen in mir geweckt. Das war alles. Basta...“ Ich seufzte einmal laut und ging dann schnell an meiner besten Freundin vorbei, die immer noch etwas perplex wegen meines Blickes schien, den sie von mir gar nicht gewohnt war, da ich versuchte es zu vermeiden, die Leute so vernichtend und – vor allem – hasserfüllt anzublicken. Ich wollte gerade die Tür zum Klassenraum aufschieben, deren dunkelblaue Lackierung zum neuen Schuljahr immer noch glänzte, als sie plötzlich ihre Stimme wieder fand und sich zu mir umdrehte. „Airashi, warte bitte!“ Ich hielt kurz inne, um über ihren Vorschlag nachzudenken, sagte mir dann aber, dass es keinen Sinn mache zu warten und schob die Türe auf, die leise in ihrer Schiene zurückfuhr, soweit sie konnte. Ich trat einen Schritt hinaus, als ich schnelle Schritte hinter mir vernahm, die sich mir durch das Klacken der Absätze auf dem Fliesenboden verraten hatten, bevor ich auch schon im nächsten Moment eine Hand auf meiner linken Schulter spürte, deren rot lackierten Fingernägel nur Shizuka gehören konnte. Sie hasste zwar Schminke, doch bei Nagellack machte sie eine Ausnahme, weshalb sie auch schon eine große Sammlung an Fläschchen in ihrem Zimmer stehen hatte, deren Inhalt jedes Mal eine andere Farbe hatte. Ich seufzte einmal laut und drehte mich schließlich zu ihr um. Sie sah mich mit ihren Hundeblick entschuldigend und reumütig an, da sie wusste, dass ich diesem Blick keinesfalls widerstehen könnte und ich ihre Entschuldigung so gut wie angenommen hatte. Was sie nicht wusste war, dass mir dieser Blick den Verstand zu rauben schien. Deshalb hasste ich diesen Blick, denn ich wusste einfach nicht mehr was mit mir los war. Erneut entfuhr mir ein tiefer Seufzer und ich drehte mich schließlich wieder um, um endgültig auf den Flur zu treten und die kurze Pause von zehn Minuten zu nutzen. Ich hatte diese Woche Ordnungsdienst, was hieß, dass ich noch Kreide besorgen musste, die man nur im Lehrerzimmer bekam, das im untersten Stock lag. Das hieß für mich etwa 50 Stufen Treppen steigen, um vom dritten Stock aus das Erdgeschoss zu erreichen. Irgendwie war ich aber auch froh darüber, dass mir diese Pflicht auferlegt war, denn so konnte ich große Lügen und Ausreden jemandem aus dem Weg gehen. Schließlich stand ich vor dem großen Lehrerzimmer, in dem jeder Lehrer ein Fach für seine Materialien besaß und außerdem in einer großen Lehrerbibliothek Dinge nachschlagen konnte, die er selber nicht wusste, aber dennoch verlangte, dass die Schüler ihm Antworten geben konnte. Mit dem rechten Fuß wippend stand ich vor der Türe des „heiligen Raumes“, in dem Schüler keinen Zutritt hatten, und wartete darauf, dass der von mir angesprochene Lehrer mit drei Stück Kreide zurückkommen würde, wie ich ihn darum gebeten hatte. Ungeduldig sah ich mich um und sah mehrere Lehrer in den Raum schlendern oder herauskommen, bis ich schließlich von der Seite angesprochen wurde. „Bitte, hier die Kreide.“ Etwas überrascht wich ich ein Stück zurück, fasste mich aber schnell wieder und bedankte mich mit „arigato Sensei“ und einer Verbeugung, bevor ich die Kreide – wie verlangt drei Stücke - an mich nahm und die 50 Stufen erneut erklimmen musste. Im ersten Jahr der Oberschule zu sein hatte scheinbar nicht nur Vorteile. Es war zu diesem Zeitpunkt Anfang Juni, die Sommerferien würden in nicht allzu langer Zeit anbrechen und ich hatte nun auch schon zwei Monate auf der Oberschule verbracht. Bei den Erinnerungen an die Monate vor den Versetzungsprüfungen musste ich lächeln. Ich hätte mich an jeder Schule bewerben können, meine Noten waren gut genug, sodass meine Mutter natürlich die beste Schule aussuchte. Da Shizuka unbedingt wieder auf einer Schule mit mir sein wollte, musste sie ziemlich viel lernen, was nicht nur für sie, sondern auch für mich ein Kraftakt gewesen war, schließlich hatte ich ihr Nachhilfe geben müssen. Glücklicherweise bestand sie nicht nur die Prüfung, sondern kam auch – durch Zufall – in meine Klasse. Endlich hatte ich den Flur erreicht, an den auch unser Klassenraum grenzte und stellte fest, dass SIE immer noch vor der Türe stand und aus dem gegenüberliegendem Fenster sah. Scheinbar schien sie immer noch auf meine Rückkehr zu warten. Ich verlangsamte meine Schritte und hörte dann auch schon die Klingel, die den Beginn einer neuen Stunde ankündigte und somit die Pause beendete. Ich beeilte mich, um die Kreide noch rechtzeitig auf das Lehrerpult legen zu können und setzte mich dann hin. Shizuka beachtete ich erst einmal gar nicht, ich konzentrierte mich stattdessen auf die Tafel, als stünde dort irgendetwas interessantes, was gar nicht möglich war, schließlich hatte ich sie erst vor zehn Minuten geputzt und die Kreide, die Zahlen und Buchstaben, beziehungsweise Katakana-, Hiragana- und Kanji-Zeichen, gebildet hatte sorgfältig entfernt. Ich löste den Blick wieder von der dunkelgrünen Fläche am Ende des Raumes und begann damit, die Bücher und ein Heft für die nächste Stunde aus meinem Schulrucksack zu entnehmen. Erdkunde stand als nächstes auf dem Stundenplan, das Fach, das ich am meisten hasste. Wenn es nur eine Sache gab, die ich mehr hasste, dann war das höchstens die Lehrerin, die das Fach unterrichtete. Und wie das Sprichwort so schön sagt: „Wenn man vom Teufel spricht...“ Schon trat die Lehrerin Mitte 30 ein. Sie hatte – ohne Frage – eine gute Figur, eine beträchtliche Oberweite und war bei weitem sehr attraktiv, doch genau das machte sie auch so arrogant und hochnäsig. Stolz betrat sie den Raum auf ihren fünf Zentimeter hohen Pfennigabsätzen, ihrem eng geschnittenen knielangen rot-orangefarbenen Rock und der weißen Bluse mit Spitze an den Halbärmeln. Oh, wie ich diese Frau hasste! Sie hielt sich scheinbar für die einzige, die etwas mit dem Begriff „Erdkunde“ anfangen konnte. Doch die Stunde verging sehr normal und auch in den nächsten Stunden – Geschichte und Japanisch – gab es keine besonderen Vorkommnisse. Endlich klingelte es zur großen Mittagspause, für die jeder ein Lunchpaket mitnahm, das er dann in der Pause verzehrte. Da draußen die Sonne schien und heute keinen Wolke in Sicht war, sondern ein hellblauer Himmel lockte, nahm ich die kleine Tasche mit meiner – pink gefärbten – Lunchschachtel aus stabilem Plastik und setzte mich auf eine der Bänke auf dem Schulhof. Es war angenehm warm und die Sonnenstrahlen kitzelten sanft mein Gesicht, während eine kühle Brise nicht nur die Blätter in den nahe gelegenen Bäumen zum rascheln, sondern auch meine langen braun gefärbten Haare zum Wehen brachte. Ich schloss meine Augen und genoss dieses Naturspektakel sichtlich, als ich je aus dieser entspannten Lage herausgerissen wurde. „Gut, dass ich dich treffe. Kommst du heute zur AG?“ Langsam öffnete ich die Augen und fand wieder in die Realität zurück. Natürlich wusste ich, dass Ienobu Masaki aus der 3-2 vor mir stand. Er war zwei Jahre älter als ich und trotzdem war er in mich verknallt, weshalb er damals auch derselben AG beigetreten war, in der ich mich befand – der Chemie AG. Zwar kannte er mich noch nicht lange, aber seiner Meinung nach war es Liebe auf den ersten Blick. Immer wenn ich daran dachte musste ich schmunzeln, denn mir wurde – nachdem ich allen von diesem Geständnis erzählt hatte – gesagt, dass er sehr schüchtern wäre und man ihm so etwas nicht zugetraut hätte. Ich wusste noch genau, wie er mich nach der AG abgefangen hatte und auf die Knie gefallen war, wo er stottern ein kurzes „ich liebe dich“ hervorgebracht hatte und dann weiter auf den Boden schauend auf meine Antwort gewartet hatte. Ich hatte elendig herumgestottert, schließlich wusste ich nichts darauf zu sagen. Zwar hatte ich mich darüber gefreut, dass mich jemand mochte, aber dennoch empfand ich für den Jungen nichts weiter als Kameradschaft. Wir waren schließlich nur in der gleichen AG! Ich kannte ihn doch so gut wie gar nicht! Schließlich versuchte ich ihm das klarzumachen, woraufhin er etwas verletzt abgezogen war. Ein Korb freute sicherlich niemanden, aber ich konnte halt nicht anders. Seitdem versuchte der Junge immer mehr mir näher zu kommen, sodass ich ihn einmal beinahe angeschrieen hatte, da er mich so sehr nervte. Doch das schien ihn scheinbar keineswegs zu stören. Ich hatte total vergessen, dass heute AG war und antwortete nur schnell „wahrscheinlich“, bevor ich Shizuka hinter ihm erblickte und meine Lunchpaket packend ihren Namen rief, woraufhin sie stehen blieb und nach dem zu suchen schien, der sie gerufen hatte. Keuchend kam ich bei ihr an. „Danke, jetzt bin ich wenigstens diesen Idioten los“, sagte ich schwer atmend zu ihr, doch das schien sie eher wenig zu interessieren, da sie sich umdrehte und Anstalten machen zu verschwinden. Was war denn nun mit ihr los? „Hey, jetzt warte mal!“ Ich wollte ihr gerade eine Hand auf die Schulter legen, als mir auffiel, dass die Situation von heute Morgen im Klassenzimmer sich jetzt genau andersherum abspielte. Seufzend ließ ich meine Hand wieder sinken. „Du bist also immer noch sauer... Na wenn das so ist...“ Enttäuscht und auch verletzt ging ich wieder Richtung Schulgebäude. Wie auch meine Laune sich verdüstert hatte, so zogen auch schon die ersten Wolken am Himmel auf und verdunkelten diesen. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis es anfinge zu regnen. Ich war schon etwas verwundert über ihr Verhalten, schließlich hätte ich diejenige sein müssen, die sauer hätte sein müssen, doch momentan interessierte mich das eher weniger. Aus einem Fenster im ersten Stock konnte ich Ôhei erkennen, die mit ihren Freund über den Schulhof schlenderte. Sein Gebrüll hingegen war sogar im ersten Stock zu hören, wo zwar die Fenster offen standen aber trotzdem jedes Wort gut zu verstehen war. „Gib es doch zu du kleine Schlampe! Du betrügst mich doch, oder nicht? Denk dran, ich bin der einzige der überhaupt was mit dir anfangen würde, also verscherz es dir nicht mit mir! Sonst hast du ein gewaltiges Problem mit mir, verstanden?“ Ôhei reagierte nicht, woraufhin Juro Yoshitoki ihren Arm ergriff und feste zupackte. Er war im letzten Jahr der Oberschule und machte sich diese „Machtposition“ gegenüber den Jüngeren auch zu Nutze. Er prügelte sich oft mit Erstklässlern, die dann natürlich Schuld am Streit trugen oder ihn einfach ohne Grund geschlagen hatten, woraufhin er sich natürlich hatte wehren müssen. Scheinbar war dem Jungen einfach nur langweilig, aber anstatt einer AG beizutreten war es doch sehr viel interessanter sich zu prügeln und kleine Jungen krankenhausreif zu schlagen. Ich wusste wie sehr er das junge Mädchen, dass seine Freundin geworden war, misshandelte, er brauchte sie nur zum Angeben, während Ôhei sich damals wirklich in ihn verliebt hatte und nun nicht mehr von ihm loskam, da er sie immer wieder bedrohte. So hatte sie keine andere Wahl, als sich weiter von ihm quälen zu lassen. Ich drehte mich um und lehnte mich gegen Wand unter dem offenem Fenster, die Hände auf die Fensterbank geschützt und den Blick auf das Treppenhaus direkt vor mir liegend gerichtet. Wie in vielen Schulen war es das Zentrum der Schule, von draußen sah es auch wie eine Art Kirchturm ohne Spitze, an dem zwei lang gezogene Gebäude anschlossen, die eine Art U-Form bildeten. Am Turm war eine große Uhr befestigt worden, damit wir auch immer wussten wie viel Uhr es gerade war. Ich drückte mich von der Fensterbank ab und stieg langsam die Treppen hinauf zum Dach, wobei jeder meiner Schritte im Turm widerhallte, da ich scheinbar die einzige war, die es nicht ausnutzte, dass draußen herrliches Wetter war. Ich öffnete die Türe zum Dachgeschoss, woraufhin ein gewaltiger Wind mit entgegenschlug. Wie ich vermutet hatte schien ein Unwetter aufzukommen. Dennoch trat ich hinaus auf das Dach und lehnte mich mit dem Rücken gegen den silbrigen Maschendrahtzaun aus rostfreiem Stahl. Zwar war es uns eigentlich verboten sich dagegen zu lehnen, doch niemand beachtete diese Regeln, wie so viele andere auch. Es war schon komisch. Heute Morgen, als ich gerade aufgestanden war, war ich eigentlich der festen Überzeugung gewesen, dass dieser Tag gut werden würde. Und kaum erzählte mir einer etwas von seinen Sorgen, schien alles aus den Fugen zu geraten. In letzter Zeit stritt ich mich immer öfter mit Shizuka. Häufig wegen Ôhei. Ich schloss erneut die Augen und versuchte noch einmal alles zusammenzukriegen, was am heutigen Tag schon passiert war, als ich das Knarren der Metalltür zum Dach hörte. Neugierig öffnete ich die Augen und sah Shizuka, die mich genauso überrascht ansah wie ich sie. Ich reagierte schnell und lief zu ihr, um die Türe, die sie gerade erneut öffnen wollte, damit sie wieder runtergehen konnte, zuzudrücken, was mir - so gerade noch – gelang. Den Blick den sie mir zuwarf konnte ich nicht genau deuten. Ihre tiefbraunen Augen sahen mich flehend an, dass ich sie doch bitte gehen lassen solle, was ich auf keine Fall tun würde, aber auch wütend, fast hasserfüllt, dass ich ihren Plänen schon wieder in die Quere kam, woraufhin sie ein weiteres Mal versuchte die Türe zu öffnen, was ich aber wieder verhinderte. „Du kommst hier nicht eher weg, bis wir miteinander geredet haben“, war meine klar Ansage an sie, woraufhin sie ihren Blick von mir abwandte und dem Türknauf widmete, der immer noch von ihrer Hand umschlossen war. Meine Hand drückte ein Stück weiter oben immer noch die Türe in ihren Rahmen. Vorsichtig hob ich meine rechte Hand, um Shizukas rechte Hand vom Türknauf zu lösen. Doch kaum hatte ich diese berührt, wich sie einige Schritte zurück, wobei sie den Blick gen Boden richtete und den Beton zu betrachten schien, aus dem der Boden gegossen worden war. „Lass mich in Ruhe verstanden?“ Verwirrt sah ich sie an. Was war bloß los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so. „Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte ich sie besorgt und legte ihr schließlich doch eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte deutlich zusammen, bevor sie die Hand weg schlug und „es ist gar nichts“ rufend an mir vorbeizischte und im Treppenhaus verschwand. Ich konnte ihr nur noch einen verwirrten Blick hinterherwerfen. >Was ist denn bloß los mit dir, Shi-chan?<, fragte ich mich verzweifelt und starrte immer noch an die wieder geschlossene Tür, die im Schein der Sonne glänzte und mich ein wenig blendete... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)