Lost Boys von Angie_Cortez (Well, if you wanted honesty, that's all you have to say) ================================================================================ Kapitel 1: Well, if you wanted honesty, that's all you have to say! ------------------------------------------------------------------- PROLOG Everybody knows you’re lost „Niemals, glaubt mir, er wird sich niemals verlieben!“ Brian Moore sah seine Tischnachbarn bedeutungsschwer an. „Schaut doch mal wie er immer versucht alles zu kontrollieren! Er ist Schülersprecher, er ist Vorsitzender des Mathematikzirkels, er ist … Spitzenschüler auf allen Gebieten, aber er wird sich niemals verlieben. Ich bin fest davon überzeugt, dass er zwischenmenschliche Beziehungen gar nicht für wichtig hält. Er ist eines von diesen Superhirnen; nicht anders als ein Autist.“ Die anderen am Tisch zuckten arglos mit den Schultern. Eigentlich war er doch ein ganz netter Kerl, aber das mit dem Verlieben … wer konnte das schon einschätzen? Sie steckten schließlich alle nicht in seiner Haut. „Also, ich weiß nicht“, fing Billy Molko als erster der Runde an und alle starrten gemeinsam auf den Jungen über den sie die ganze Zeit redeten. Sehr unauffällig. „Vielleicht braucht er eben länger und sucht nach dem absolut Richtigen. Mr. Perfect, wisst ihr?“ Jetzt sahen alle Billy an und der begann unangenehm berührt auf seinem Stuhl herum zu rutschen. Das Essen, das hübsch vor ihnen auf weißen Tellern serviert stand, hatte noch niemand angerührt, denn es war nicht halb so interessant wie die Gefühlswelt eines Mitschülers, den man nicht verstehen konnte. „Wisst ihr was ich glaube?“ sagte Tovey Way langsam, während er gedankenverloren sein dunkles Haar um den rechten Zeigefinger wickelte. „Vielleicht ist er gar nicht schwul.“ Irritiertes Schweigen. Sie sahen sich an, starrten auf ihre Teller, tauschten wieder Blicke. Das konnte nun wirklich nicht sein, oder? Sonny Iero sollte nicht schwul sein? Unmöglich. Alle hier, auf dem Liberty Internat und auf dieser verdrehten Schule waren mehr oder weniger schwul. Man hatte es sich zum Spaß gemacht nach Jungen zu suchen, die es nicht waren, aber auf Sonny wäre zu keinem Zeitpunkt irgendjemand gekommen. Er war einfach der beste, vorbildlichste, perfekteste … „Meinst du wirklich, Tovey?“ fragte Brian ungläubig und zog eine Augenbraue hoch, sodass sie fast unter seinem rabenschwarzen Haar verschwand. „Gerade der? Niemals.“ Kapitel 1 Well, if you wanted honesty That’s all you have to say Es war Punkt sieben Uhr. Im ganzen Internat begannen die Wecker Alarm zu schlagen und prügelten die verschlafenen Jungen unsanft aus den Betten. Aufstehen, anziehen, Zähne putzen (wer die Zeit dazu hatte, traute es sich sogar noch zu duschen) und dann bloß schnell rüber zum Frühstück. Etwas zu essen gab es nur in der Kantine, die das kleinste der drei großen Gebäude ausmachte, die zur Liberty Jungenschule gehörten. Eines davon war das Internat selbst. Das andere war natürlich das Unterrichtsgebäude. Zwischen den drei Bauten lag ein schier unendlich großer Hof, bespickt mit ein paar Bänken, sowie Mülleimern und einigen Tischtennisplatten. Die Freunde Brian Moore, Billy Molko und Tovey Way kamen gleichzeitig aus dem Internatsgebäude geschlittert. Sie waren wie immer fünf Minuten im Verzug. „Dabei hab ich so verdammten Hunger“, beschwerte Billy sich und rannte mit den anderen beiden Jungen hastig hinüber in die vollbesetzte Kantine. Jeder hatte dort seinen Stammplatz, damit es nicht zu Rangeleien um die ohnehin knappen Stühle kam. Sonny Iero saß bereits auf seinem Platz, trank Kaffee mit Milch und hatte eine Zeitung über seinem leeren Teller ausgebreitet. Die anderen Jungs setzten sich dazu. Billy kam sich doof vor und er war leider der Einzige, dem es so ging. Ihm war als hätten sie noch gestern über Sonny gelästert und nun saß er hier mit ihnen an einem Tisch. Sonny Iero war ihr Freund. Doch gestern, als sie sich so darüber ausgelassen hatten, dass er ein Autist und Fachidiot wäre, war er gerade von ihrem allseits gehassten Schulleiter Ronald Blecket beiseite genommen worden, um über irgendetwas Wichtiges zu reden. Wie dem auch sei, Billy hatte ein schlechtes Gewissen. „Morgen Sonny. Wie geht’s dir?“ Sonny blickte hoch und schenkte jedem der Jungen ein kleines, irgendwie gönnerhaftes Lächeln. „Guten Morgen. Beeilt euch, ihr seid spät dran.“ „Wie immer“, sagte Brian seufzend und schnappte zwei leere Teller vom Tisch um sich Brötchen und Marmelade zu holen. „Was wollte denn Blecket gestern von dir, Sonny?“ fragte Tovey und setzte sich neben seinen Klassenkameraden. Auch Billy machte sich auf jagt nach Essbarem und so blieben Sonny und Tovey allein zurück. „Wir bekommen einen neuen Schüler. Er wird bei mir einziehen“, sagte Sonny und faltete die Zeitung ordentlich zusammen, um sie dann neben seinem Frühstücksteller abzulegen. „Einen Neuen? Mitten im Jahr?“ Tovey strich sich mit den Fingerkuppen über die Augenbrauen, sodass diese wieder eine absolut perfekte geschwungene Linie bildeten. „Ja, mitten im Jahr. Ich habe keine Ahnung wie das zustande gekommen ist. Vielleicht ist er mit Herr Blecket verwandt, wer weiß?“ „Hoffentlich ist er süß“, Tovey grinste Brian lasziv entgegen, der mit den zwei Tellern wiederkam. Einen stellte er nun vor Tovey ab und den anderen reservierte er für sich selbst. „Danke, Brian“, sagte Tovey fröhlich und auch Billy kehrte in die morgendliche Runde zurück. „Ich hab so einen Hunger“, murmelte er wieder und machte sich gleich über seinen Toast und die Marmelade her, ohne wenigstens den anderen einen Guten Appetit oder etwas Ähnliches zu wünschen. „Wisst ihr schon das Neuste?“ fragte Tovey in die Runde, ohne sein Essen wirklich zu beachten. „Wir bekommen einen neuen Schüler.“ Brian zog beide Augenbrauen hoch, so dass sie völlig unter seinem Pony verschwanden und setzte seine Tasse mit dem heißen Cappuccino ab. Dabei sah er belustigend doof aus. „Wieso das?“ fragte er, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte um seinen Milchschaumbart wieder loszuwerden. „Ist jemand gestorben?“ Billy sah sie alle mit vollem Mund gespannt an, darauf wartend was es mit dem neuen Schüler wirklich auf sich hatte. Sonny meldete sich zu Wort, wie immer in seinem ruhigen, fast akademischen Ton. „Herr Blecket hat mir gestern gesagt, dass wir einen Neuen bekommen, obwohl unsere Schule es ja eigentlich nicht vorsieht neue Schüler mitten im Semester aufzunehmen. Seine Gründe hat er nicht genannt.“ „Das ist ja spannend“, sagte Brian und beschmierte großzügig sein Brötchen mit Nutella. „Bei wem zieht er ein? Ich meine, fast alle Zimmer sind voll. Ich weiß gar nicht wo wirklich was frei wäre …“, er ließ das mit Nutella beschmierte Messer auf seinen Teller sinken und sah Sonny an. Der würde es schon wissen … „Ja, genau: fast alle sind voll“, sagte Sonny und seufzte. „Bei mir ist noch ein Bett frei. Ihr wisst ja, eigentlich ist mein Zimmer für zwei Leute vorgesehen.“ „Stimmt“, sagte Billy mit vollem Mund und handelte sich dafür einen strafenden Blick von Tovey ein, der noch immer keinen Bissen angerührt hatte. „Das heißt also“, fuhr Sonny fort und starrte auf die Tischplatte, als wolle er sein Unbehagen vor den anderen verbergen, „dass ich bald einen Zimmernachbarn haben werde.“ Brian grinste schief. Tovey stupste ihn mit einem ebenso schiefen Grinsen an. „Was denkst du wieder, Herr Moore?“ Er schaffte es kaum sein beinahe mädchenhaftes Kichern zu unterdrücken. „Ich denke gar nichts“, Brian prustete in seinen Cappuccino und sprühte dabei einige Tropfen des heißen Getränks über den Tisch. „Ich meine nur, dass der werte Herr Iero nun … nicht mehr die Freuden des allein Wohnens genießen kann.“ „Genauer gesagt meinst du, dass er nicht mehr in Ruhe wichsen kann, stimmt es?“ sagte Tovey trocken, aber seine Augen glänzten verdächtig. Er würde jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen. „Wisst ihr, meine Herren“, nahm Sonny die pseudo-höfliche Anrede auf und beugte sich zu ihnen hinüber über den Tisch. „Mein Leben hat auch noch andere Nuancen als nur Sex.“ „Wirklich?“ fragte Brian gespannt und beugte sich ebenfalls zu Sonny rüber, so das es aussah, als wollten sie sich küssen. Tovey kicherte leise in sich hinein. „Wirklich.“ „Das ist erstaunlich“, sagte Brian leise, fasziniert, als hätte man ihm ein unwiderstehliches Angebot gemacht. Um sie herum erstand Unruhe, Stühle wurden über den Holzboden geschoben. Bald würde der Unterricht beginnen. „Aber glaub mir, du musst nur erst richtig auf den Geschmack kommen.“ Der Unterricht war für Sonny schnell beendet, doch er blieb noch ein paar Sekunden länger sitzen als alle anderen. Ihm war in einer seiner Physikaufgaben ein Fehler aufgefallen und den wollte er lieber gleich beheben. Nachher würde er sicher nicht mehr dazu kommen, denn der neue Schüler wollte bestimmt im Gebäude herumgeführt werden. Brian und Tovey hatten sich längst verkrümelt, dabei waren sie an diesem Morgen doch noch so interessiert an dem neuen Schüler gewesen. „Wie lange brauchen Sie noch, Sonny?“ fragte Ronald Blecket, der Schulleiter und einschlägig gehasster Mathe- sowie Physiklehrer, während er seine Sachen in einen schwarzen Aktenkoffer packte, der unübersehbar teuer und edel wirkte. Blecket war groß und dunkelhaarig. Sein ständiger Aufzug bestand aus einem maßgeschneiderten Anzug und einem weißen Hemd ohne Krawatte. Sonny vergötterte seinen Kleidungsstil und ahmte ihn in Perfektion nach. „Nur noch ein paar Sekunden“, sagte Sonny abwesend und suchte ohne hinzusehen in seiner Federtasche nach einem Bleistift. „Schließen Sie bitte die Klassenraumtür, wenn Sie gehen.“ Sonny nickte und strich etwas durch. Gleich hatte er es… Herr Blecket verließ den Raum. Seine Schritte hallten im Gang. Sonny blickte zufrieden auf. Fertig. Ein latenter Schmerz in seinem Kopf sagte ihm, dass es für heute auch wirklich genug war. Er mochte Physik, aber Bleckets Unterricht war ziemlich anspruchsvoll. „Sonny Iero ist noch im Raum. Ja, genau dort. Er wird Sie dann zu Ihrem gemeinsamen Zimmer führen. Schön Sie hier begrüßen zu dürfen.“ Sonny lehnte sich zurück und warf einen Blick zur Tür. Schüchtern und vorsichtig trat ein Junge vor. Er hatte tiefschwarzes Haar. Er war geschminkt, trug dunkle Kleidung, weiße Vans und eine graue Jacke. Sonny blinzelte, sah ihn noch einmal an und bemerkte wie sich sein Kopfschmerz auflöste wie Rauchschwaden, die vom Wind verweht wurden. Das war also der Neue. Etwas ganz Ungewöhnliches machte sich in seinem Kopf breit. Es war angenehm, aber es ließ seinen Blick verschwimmen. Eigenartig. Der Junge trat in den Raum. „Bist du Sonny?“ fragte er vorsichtig. Seine Stimme war sehr angenehm, irgendwie beruhigend. „Ja“, sagte Sonny und erhob sich. „Ich bin hier fertig, wir können zu unserem Zimmer gehen, wenn du möchtest.“ Schnell packte er seine Sachen ein und bemerkte dabei, dass sein Herz etwas zu schnell schlug. Hastig warf er seinen Rucksack über eine Schulter und trat zu dem Jungen in den Gang. „Man hat gesagt, meine Koffer würden hochgebracht werden“, sagte er und sah sich ängstlich um. „Ja, na klar, mach dir keine Sorgen. Wie heißt du?“ „Aron Wayne.“ „Willkommen bei uns, Aron“, sagte Sonny fast etwas feierlich und brachte Aron damit zum Lächeln. Sie verließen gemeinsam das Schulgebäude und Sonny begann Aron fröhlich alles zu erklären. Er nannte ihm die Namen aller Lehrer die an ihnen vorbeiliefen und ihre Fächer. Er erklärte die festgesetzten Essenszeiten, wann die Nachtruhe begann und auch welcher aufsichtshabende Schüler ein Arschloch war und welcher nicht. All diese kleinen Dinge, die man eben wusste, wenn man diese Schule schon länger besuchte. Aron hörte sich das alles genau an, während sie nun endlich das Internatsgebäude erreichten und betraten. Alles war mit dunklem Holz ausgelegt. Das vermittelte zwar eine relativ warme, aber nicht wirklich angenehme Atmosphäre. „Unser Zimmer ist ganz oben“, sagte Sonny, „und wir haben Ausblick in die Freiheit.“ Aron grinste schüchtern. „Wie meinst du das?“ „Das Fenster zeigt nicht auf den Schulhof sondern auf die Felder. Man kann nicht viel sehen. Außer manchmal den Kirchturm der nächstgelegenen Stadt. Aber ab und zu, wenn alles ruhig ist und der Wind günstig steht, dann kannst du sogar die Kirchenglocke hören. Und der Sonnenuntergang ist atemberaubend.“ Während sie ein paar Gänge abliefen und scheinbar alle Treppen mitnahmen die es gab, zog Sonny seine Schlüssel aus der Hosentasche und sie kamen vor der Nummer 120 zu stehen. „So, hier ist es.“ „Ich glaube, ich finde es allein nie und nimmer wieder“, sagte Aron und sah sich verzweifelt um. So viele Gänge, Treppen und Türen. „Macht nichts, wenn du was suchst, dann helfe ich dir gern. Und sonst gehen wir morgens immer zusammen zum Frühstück und abends zum Abendbrot, bis du den Weg auswendig kennst. Das geht schneller als du denkst.“ Aron lächelte wieder und trat durch die Tür, die Sonny ihm ganz gentlemanlike aufhielt. Hinter ihnen fiel diese dann aber mit einem weniger eleganten Knall zurück ins Schloss. Sonny grinste entschuldigend. Das Zimmer war dämmrig, denn die Sonne ging bereits unter, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es langsam Winter wurde. Sonny fröstelte, stellte seinen Rucksack ab und drehte die Heizung auf. Aron sah sich schüchtern um und entdeckte seine Koffer am Fuße eines frisch bezogenen Bettes. „Oh, da sind sie ja!“ sagte er leise und Sonny grinste, während er das Licht anmachte und die Vorhänge zuzog. Brian saß falsch herum auf seinem Stuhl. Er hatte die Arme auf der Lehne verschränkt und den Kopf darauf gelegt. Billy betrachtete ihn mit einem dicken Physikbuch in der Hand und legte den Kopf schief. Brian schien ganz, ganz weit weg zu sein mit seinen Gedanken. Vorsichtig klappte Billy das Buch zu und setzte sich auf sein Bett. Dabei ließ er Brian nicht aus den Augen, doch der registrierte scheinbar gar nichts. Billy zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf auf die andere Seite. „Brian?“ Keine Reaktion. „Brian?“ sagte Billy etwas lauter und Brian fuhr erschrocken hoch. „Was … was denn?“ fragte er zerstreut und rieb sich die Brust als hätte sein Herz kurzzeitig aufgehört zu schlagen. „An was denkst du?“ fragte Billy und strich sich durch die Haare. Sie blieben einen Moment fast senkrecht stehen und fielen dann Strähne für Strähne wieder zusammen, wie ein Kartenhaus. „An Tovey“, gab Brian zu und nahm wieder seine alte Stellung ein, aber jetzt wirkte er nicht mehr so zerstreut, vielmehr ernst und besorgt. „Warum?“ Billy stand wieder auf und begann in seinem Kleiderschrank zu kramen. Er legte sich seine Sachen für den nächsten Tag immer am Abend vorher zurecht. Sie waren ohnehin jeden Morgen im Verzug, da zählte jede Sekunde. „Er hat den ganzen Tag nichts gegessen“, murmelte Brian, „Sowohl heute, als auch gestern. Ich meine, gestern war es nur ein Toast zum Frühstück …“ Billy ließ von seinem Schrank ab und sah Brian fragend an. „Wie? Nichts gegessen?“ „Na, er hat nichts gegessen“, wiederholte Brian und sah zu Billy auf. „So gut wie gar nichts. Nicht mal einen Corny Riegel.“ „Oh je“, Billy rieb sich seinen kleinen Bauchansatz. „Ohne Essen einen Tag zu überleben. Das geht doch gar nicht.“ „Nein, das geht nicht. Vor allem nicht mehrere Tage hintereinander. Ich hab das dumme Gefühl, er tut das schon länger.“ Es herrschte einen Moment Schweigen, dann fragte Billy: „Wo ist Tovey grad? Ich meine, sein Volleyball Training ist seit einer Stunde vorbei. Er müsste längst wieder da sein …“ Brian sah ihn an, als würde er Chinesisch reden. „Ich habe keine Ahnung.“ Tovey zuckte zusammen, als der Volleyball neben ihm auf den Hallenboden klatschte. Das Geräusch kam ihm unangenehm laut vor und klang in seinen Ohren nach. „Was machst du denn?“ rief jemand aus seinem Team ihm zu und Tovey hob entschuldigen die Hände. „Sorry“, murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Als er sich bückte, um den Ball aufzuheben und eine neue Angabe zu machen, hatte er das Gefühl sich nicht wieder aufrichten zu können, ohne das Bewusstsein zu verlieren. „Alles klar mit dir?“ hörte er dieselbe Stimme von vorhin noch einmal fragen, und jemand hockte sich neben ihn. „Du bist echt blass, Tovey. Geh lieber auf dein Zimmer und lass es für heute gut sein.“ Tovey schüttelte mit dem Kopf. „Es geht schon“, murmelte er und raffte sich wieder auf. Nach der Pause zog Tovey es dann doch vor, das Training abzubrechen. Er konnte nicht mehr. Was war nur mit ihm los? War er schon so fett und unbeweglich geworden? Er sollte weniger essen, denn so konnte das nicht weitergehen. Bald würde er aussehen wie ein Ballon. Gestern der Toast … die ganzen Kalorien … er musste aufhören so viel zu essen. Tovey wurde schlecht. Mit zittrigen Beinen und Händen zog er sich um, packte seine Sachen fahrig zusammen und verließ die Sporthalle, ohne noch einmal jemandem bescheid zu geben. Als er den alten Kiesweg betrat, der rüber zum Internat führte, war es bereits dunkel geworden. Der Winter rückte immer näher, das spürte man auch an den Temperaturen. Tovey hasste die kalte Jahreszeit. Im Dezember war man immer gezwungen so viel Schokolade zu essen. Wenn er sich vorstellte wie er dabei zunehmen würde. Unmöglich, das durfte nicht geschehen. Er wanderte langsam den Kiesweg entlang, jeder Schritt eine Qual, jeder Atemzug ein Brennen in seiner Brust. Die Sporthalle lag etwa einen guten Kilometer vom Internatsgebäude entfernt und gehörte nicht mehr wirklich zum Schulkomplex. Ronald Blecket hatte etwas Land zum ursprünglichen Schulgelände dazugekauft und dort die moderne Halle bauen lassen. Müde fuhr Tovey sich über die Stirn. Ihm war so schlecht. Seine Augen tränten. Er musste schlafen und durfte nicht ständig ans Essen denken. Irgendwie würde er seine Fettleibigkeit schon in den Griff kriegen. 60 Kilo waren einfach zu viel. 50 wären schön, oder noch weniger. Vielleicht würde … Tovey schüttelte den Kopf. Die erste Träne lief heiß seine Wange herunter und hinterließ eine eisige Spur auf seiner warmen Haut. Er stellte seine Tasche auf den Weg und kramte eine Packung Taschentücher heraus. Das würde schon irgendwie werden. Vorsichtig tupfte er sich die Wangen ab. Dann griff er zu seiner Trinkflasche, die bereits halb leer war. Nur Wasser, reines Wasser. Das war das einzige wovon er sich ohne Gewissensbisse ernähren konnte. Tovey trank die Flasche leer und ihm wurde ein klein wenig wohler. Sein Magen gab etwas Ruhe. Nur in seinem Kopf pochte noch ein leiser Schmerz, ebenso wie in seinen Handgelenken. Das Training war heute wirklich nicht gut gewesen. Er steckte die leere Flasche wieder ein und setzte seinen Weg fort. Bald wäre er wieder bei Billy und Brian. Dann war er abgelenkt und musste nicht ans Essen denken. Das war gut. Und auch wenn Brian da war, war es gut. Er wäre auch gern so schlank wie Brian gewesen. Nur sah er nicht, dass er es schon längst war. „Vielleicht sollten wir …“, Brian sprang von seinem Stuhl hoch und durchmaß mit wenigen Schritten das Zimmer, „Tovey suchen gehen. Ich mache mir Sorgen.“ Billy stand auf, doch Brian verschwand bereits durch die Tür. Vielleicht sollte er Brian das allein machen lassen. Billy fühlte sich nicht besonders mutig im Moment und es war schon so dunkel … Hastig lief Brian die Treppe hinunter, auf den Haupteingang zu und trat in die kühle Abendluft. Er hatte völlig vergessen sich eine Jacke mitzunehmen. Dummer Junge. Aber er würde nicht noch einmal hoch laufen. Immerhin könnte Tovey etwas zugestoßen sein. Zitternd zog er seinen Pullover enger um sich und lief in Richtung des Kiesweges, der zur Sporthalle führte. „Tovey?“ rief er etwas halbherzig und wie erwartet bekam er keine Antwort. Brian fluchte leise. Warum musste sich Tovey unbedingt so einen kalten Abend zum Verschwinden aussuchen? Wenn er diesen Spinner in die Finger bekam. „Tovey?“ dieses Mal hallte seine Stimme leicht wieder. So weit konnte Tovey doch gar nicht sein … Während sich Brian frierend durch die Dunkelheit kämpfte, machte es sich Aron Wayne in seinem neuen zu Hause gemütlich. Er packte seine Sachen aus, natürlich unter Sonnys neugierigen Blicken, und erzählte von seinem richtigen zu Hause. „Meine Mutter hat von der Schule gehört. Es hieß sie würde nur homosexuelle Jungen aufnehmen. Sie war echt begeistert und hat es sofort meiner Stiefmutter erzählt…“ Sonny zog die Augenbrauen zusammen. Ein Ausdruck von Verwirrung trat auf sein Gesicht. „Wie war das?“ Aron drehte sich grinsend zu Sonny um. „Meine Mütter sind lesbisch.“ Sonny lachte. „Ach so, verdammt so weit habe ich eben gar nicht gedacht!“ Er lachte entschuldigend. „Man wird hier wohl etwas kleinkariert?“ fragte Aron belustigt und wandte sich wieder seinen Sachen zu. „Vielleicht“, Sonny grinste verlegen und beobachtete wie Aron seine Koffer absuchte, ob er auch nichts vergessen hatte. „Hat Blecket dich deswegen aufgenommen? Weil du schon aus einer homosexuellen Familie stammst?“ fragte er neugierig weiter. „Ich weiß nicht“, sagte Aron langsam und ließ die Koffer kurz Koffer sein. „Meine Bewerbung muss ihn überzeugt haben.“ Er lächelte schief. „Wieso, was stand denn da drin, was einen Mann wie diesen überzeugen kann? Blecket ist wirklich wählerisch. Manchmal ein richtiger Drecksack. Aber man bekommt ihn auch nicht oft zu sehen, wenn man nicht Physik oder Mathe mit ihm hat. Ich hab Physik und Mathe mit ihm.“ Sonny machte es sich auf seinem Bett gemütlich und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die Decke, an die er jetzt starrte, war einmal weiß gewesen, wirkte jetzt aber eher grau. „Wonach wählt er denn seine Schüler aus?“ fragte Aron interessiert. „Also, ich glaube nach dem Passbild auf der Bewerbung“, sagte Sonny nachdenklich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Rest ihn wirklich interessiert. Na ja, und natürlich musst du schwul sein. Sonst hast du gar keine Chance.“ „Wenn ich wirklich eine Hete wäre, dann würde ich hier doch auch nicht her wollen, oder?“ gab Aron zu bedenken. Sonny zuckte leicht mit den Schultern, so gut es im Liegen eben ging. „Es soll schon Leute gegeben haben, die es versucht haben.“ behauptete er ernst. „Kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Aron nachdenklich. „Manche Leute sind so homophob. Zum Beispiel die Leute aus meiner ehemaligen Klasse, die sind fast durchgedreht, als ich ihnen zum Abschied klargemacht habe, dass ich schwul bin. Es war so scheiße bei denen neu anfangen zu müssen, nachdem ich endlich einen besten Freund gefunden hatte.“ Sonny raffte sich wieder hoch und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin. Dabei fand sein Blick Aron, der mittlerweile auf dem Boden saß und etwas traurig dreinblickte. „Darf man fragen, warum dieser Junge jetzt nicht mehr dein bester Freund ist?“ Aron seufzte traurig und fuhr sich unbehaglich durch die Haare. „Das ist eine total dumme Geschichte. Ich bin mit meiner Mutter und Anna umgezogen, ich hatte aber damals noch kein Handy oder sowas. Ich hab ihm deshalb meine neue Adresse gegeben. Wahrscheinlich hat er den Zettel verloren. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auch nicht mehr erreicht, weil er kurz nach uns auch weggezogen ist. Sein Handy ist wahrscheinlich kaputt gegangen. Wenn ich versucht habe anzurufen kam nur noch, dass die Nummer nicht bekannt sei. Ich bin fast wahnsinnig geworden.“ Sonny schwieg betreten. Das war ja tatsächlich eine blöde Geschichte und Aron wirkte nicht gerade, als wäre er wirklich darüber hinweg. „Das tut mir echt leid“, er legte nachdenklich den Kopf schief und strich sich über seinen Bartansatz. Er war nicht zu sehen, aber Sonny bemerkte peinlich berührt, dass man ihn genau spüren konnte. Aron seufzte verdächtig und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers über das Gesicht. „Warum gehen wir nicht zu meinen Freunden rüber? Tovey, Brian und Billy würden dich sicher sehr gern kennen lernen“, lenkte Sonny ein. Er wollte nicht, dass Aron jetzt in Tränen ausbrach. Etwas Ablenkung konnte nicht schaden. Aron willigte erfreut ein. Es klopfte sanft an der Zimmertür. Billy hob den Kopf und riss den Blick dankbar von seinen Physikaufgaben los. Ob Brian Tovey gefunden hatte? Wieso klopfte er? Verwirrt stand Billy auf und öffnete die Tür. Vor ihm standen Sonny und ein fremder, sehr hübscher Junge. Bestimmt der Neue. Billy grinste. „Hi!“ sagte er heiter und ließ die beiden rein. „Billy, das ist Aron, Aron, Billy“, sagte Sonny schnell und Billy hielt Aron fröhlich seine Hand hin. „Herzlich Willkommen!“ Bevor Aron sich bedanken konnte, begann Sonny wieder zu sprechen. „Wo sind Brian und Tovey?“ fragte er in, einem für Aron ungewohnt, schneidenden Ton. Billy sah ihn verwirrt an und verstand dann endlich. Sonny war ihr Freund, aber Sonny war auch Schülersprecher und damit hatte er einen fiesen Bund mit der Obrigkeit. „Die sind - ähm - ja …“, Billy hasste es lügen zu müssen. Er konnte das einfach nicht. Na ja … nicht wirklich. „Tovey ist nicht nach Hause gekommen vom Training und jetzt ist Brian los um ihn zu suchen. Er ist erst seit 10 Minuten weg.“ „Dieser Typ ist so unmöglich. Warum kommt er nicht zu mir?“ ärgerte Sonny sich. Aron biss sich leicht auf die Lippen. Er wollte jetzt nicht loslachen, vielleicht hätte das Sonny verärgert. Dieser Brian schien ein kleiner Rebell zu sein und irgendwie fand Aron das unheimlich sympathisch. „Tovey?“ Brian rannte ziellos den Kiesweg entlang. „Mensch Tovey, es ist arschkalt hier draußen. Wo bist du denn?“ Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Was veranstaltete dieser Verrückte denn neuerdings? Erst verweigerte er seine Mahlzeiten und dann verschwand er spurlos. Herrlich! Brian hatte tausend Ideen, was mit Tovey passiert sein könnte, aber er wollte sich keine davon wirklich ausmalen. Seine Nervosität hatte ohnehin fast ihren Siedepunkt erreicht. „Tovey! Hey! Tovey!“ Er lauschte. Da waren Schritte. Viele Schritte, schnelle Schritte. Brians Herz begann laut zu pochen. Seine These von der Mörderbande musste sich bewahrheitet haben. Jetzt hatten sie Tovey umgebracht und gleich würden sie auch ihn … Die Schritte kamen näher. „BRIAN MOORE du kleiner verdammter Wichser, du weißt genau, dass wir nach zehn Uhr das Gebäude …!“ Brian atmete auf. Das war nur Sonny. Aber wieso hörte er auf zu reden? Brian legte den Kopf schief und lauschte in die Dunkelheit. Sonny war stehen geblieben, aber der Lichtkegel der nächsten Laterne erreichte ihn nicht ganz. Angestrengt kniff Brian die Augen zusammen. Was war denn jetzt wieder? Doch noch ein irrer Vergewaltiger? „Aron? Bist du okay?“ Sonnys Stimme klang unsicher. Brian konnte sich nicht im Geringsten erklären, was da vor sich ging. „Was hast du eben gesagt?“ fragte jemand etwas atemlos. Brian überkam das angenehme Gefühl eines déja-vu. Das musste an der Stimme liegen. Wer begleitete Sonny denn da? „Was meinst du?“ fragte Sonny. Seine Stimme klang, als würde er mit einem geisteskranken Kind reden. Brian zog eine Augenbraue hoch. Erklärung bitte. „Wie heißt er?“ Woher verdammt kannte er diese Stimme? „Brian Moore habe …“ „OH MEIN GOTT!“ Der Schrei durchriss das Dunkel bevor etwas aus dem Schatten hervorgeschossen kam und auf Brian zuhielt. Vielleicht eine überdimensionale Fledermaus. Brian beschloss seine Horrorfilm Abende abzustellen. Das Etwas kam auf ihn zu und rannte ihn dann fast um. Brian fühlte einen heftigen Aufprall, den er gerade noch abfangen konnte bevor sich zwei Arme um seinen Hals schlangen. Wieder überkam ihn dieses süße déja-vu Gefühl. Ein bekannter Duft wehte ihm entgegen. Automatisch schloss er die Arme um das Etwas und identifizierte es sogleich als Menschen. Keine überdimensionale Fledermaus. Nein, etwas viel, viel Schöneres. „Aron?“ Sonnys Stimme troff vor Verwirrung. „Oh, m e i n G o t t . Brian, Brian, Brian! Was machst du hier? Ich kann es gar nicht fassen. Was machst du hier?“ Brian betrachtete das kleine Etwas (das er als Mensch identifiziert hatte) mit großen staunenden Augen. Das war nicht zu fassen. „Aron!“ sagte er gelinde überrascht. Dann lächelte er. Sonny schien es, als hätte Brian ein paar gute Drogen genommen - was nichts weiter Ungewöhnliches gewesen wäre - dieser Blick erinnerte stark an eine schöne Halluzination. Einen Moment herrschte Stille. Dann fing Brian plötzlich an zu schreien. „ARON! M E I N G O T T! Scheiße, wie kommst du hier her? Das ist ja GEIL!“ Aron lachte, als Brian ihn so heftig umarmte, dass sie beide auf dem Boden landeten. Jetzt war es Sonny, der eine Augenbraue hochzog. What the f***? „Ich hab dich so wahnsinnig vermisst!“ verkündete Brian überschwänglich. Sonny meinte ihn fast heulen zu sehen vor Freude. Niemand bemerkte den Schatten der unter den nahe stehenden Bäumen hervorkam. Niemand bemerkte, wie er an der nächsten Laterne stehen blieb und sie beobachtete. In alles überragender Freude nahm Brian Arons Gesicht in die Hände und küsste ihn auf den Mund. Einmal, zweimal und noch viel öfter. Viele kleine hastige Küsse. Wie tanzende Schmetterlinge. Niemand bemerkte, wie der Schatten erstarrte. Niemand bemerkte, wie Sonnys Gesicht erbleichte. Brians Augen leuchteten Aron glücklich an. „Du bist noch schöner als damals, du bist noch viel, viel schöner. Du bist einfach unglaublich …“ Aron kicherte. „Hör auf. Du lügst ja immer noch.“ „Wie könnte ich?!“ rief Brian empört, klang aber eher belustigt. Er zog Aron fest in seine Arme und seufzte zufrieden. „Endlich wieder meiner. Und schön warm bist du auch noch. Ich friere mir hier den verdammten Arsch ab.“ Sonny gelang es durch irgendein Wunder die Augen von dieser Szene zu reißen. Und er war es, der den Schatten als erster bemerkte. „Brian? Aron?“ sagte er halblaut und fasste Tovey fest ins Auge. „Wir haben ihn gefunden.“ Toveys Gesichtsausdruck, als er in den Lichtkegel trat, gefiel Sonny überhaupt nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)