Searching for the Fullmoon von moonlily (Seth - oder Probleme kommen selten allein) ================================================================================ Kapitel 14: Schatten der Vergangenheit - Chain of Memories ---------------------------------------------------------- Hallo, da bin ich endlich wieder! *Kekse verteil* Ich weiß, es hat verflucht lange gedauert und ich muss mich auch dafür entschuldigen, aber eher ging es einfach nicht. In den letzten Wochen hat mich mein Studium ziemlich in Anspruch genommen, wir haben unsere Zwischenprüfungen geschrieben und da musste ich dem Lernen natürlich den Vorzug geben. Aber jetzt geht es endlich weiter mit der Suche nach dem Vollmond. Musikempfehlung: Within Temptation – Somewhere / Naruto – Sadness and Sorrow Diese Lieder hab ich beim Schreiben dauernd gehört. Die entsprechenden Links könnt ihr entweder meinem Steckbrief oder der Kurzbeschreibung entnehmen. Widmung: Dieses Kapitel ist einer ganz besonders lieben Freundin hier auf Animexx gewidmet, die ich gerne damit etwas aufbauen möchte. Bitte lass den Kopf nicht hängen. Kapitel 14 Schatten der Vergangenheit – Chain of Memories Als er an der Straßenecke war, glitt Joeys Blick ein weiteres Mal über das Haus. An der Haustür entlang, die Fassade hinauf zu dem Stockwerk, in welchem Alina ihr Zimmer hatte. Dort oben war alles dunkel, wie auch im Rest des Gebäudes, keine einzige Lampe brannte mehr. Warum auch, es war spät am Abend und die Hausbewohner lagen alle längst in tiefem Schlaf, friedlich träumend in ihren Betten. Alle bis auf ... Ja, alle bis auf sie. Lag sie überhaupt in einem Bett? Oder hatte der Tod sie mit sich in seine kühle Umklammerung des ewigen Schlafes gerissen? Wo bist du nur hin, Alinchen? Joey seufzte leise und griff sich an den Kopf. Gott, brummt mir der Schädel! Dabei hab ich doch heute Abend gar nix getrunken. Okay, das eine Glas Bier mit Francis, aber davon kann das ja wohl kaum kommen. Dieses dumpfe Pochen war auch wie aus heiterem Himmel gekommen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand etwas gegen den Kopf geworfen. Oder als wenn jemand versucht hätte, sich mit blanker Gewalt (wie mit einem Brecheisen) Zutritt zu seinem Schädel zu verschaffen. Joey wanderte gemächlichen Schrittes die verwaisten Straßen entlang, die Hände gegen die Kälte wieder tief in die Hosentaschen vergraben, in denen ein Teil seiner heutigen Ausbeute ruhte. Den Rest hatte er in den Innentaschen seiner Jacke verstaut. Unter den Sachen befanden sich ein paar hübsche Stücke, von denen er sicher war, sie zu einem guten Preis verkaufen zu können. Das musste er auch, er brauchte das Geld. Jedoch nicht nur für sich selbst. Marias Geschäfte waren in den letzten Tagen mehr als schlecht gelaufen, der Zustand ihrer Mutter hatte sich auch nicht gebessert und sie mussten dringend neue Medizin kaufen. Es fiel Joey schwer, Maria nicht zu verbieten, ihre Mutter zu besuchen, damit sie sich nicht auch noch mit diesem seltsamen Fieber ansteckte. Wenn sie ebenfalls krank wurde ... er wollte sie nicht verlieren. Nicht auch noch sie. Es waren mittlerweile drei Tage, dass Alina verschwunden war. Und zwar spurlos. In den ersten Stunden hatte er sich noch keine Sorgen gemacht. Er wusste nur zu gut, dass Alina einen Hang dazu hatte, zu verschlafen und wenn sie dann drei Stunden später völlig gehetzt auftauchte, ärgerte sie sich wieder schwarz darüber, dass sie es nicht rechtzeitig aus den Federn geschafft hatte. Als sie jedoch auch am Nachmittag fort geblieben war, hatte er begonnen, sich Gedanken zu machen. In der Annahme, dass sie krank sei, hatte er seine Arbeit vorzeitig beendet und war zu Madam Kingsley geeilt, die ihm mitgeteilt hatte, dass sie Alina seit dem Vorabend nicht mehr gesehen habe. Ihre Sachen waren alle noch in ihrem Zimmer, selbst ihr Korb. Nur sie fehlte. Das hatte ihn stutzig gemacht. Er hatte zusammen mit ein paar Freunden alles abgesucht, jeden Winkel, von dem er vermuten konnte, dass sie dort war. Gefunden hatte er sie jedoch nicht. Er hatte schon tausende von Vermutungen über ihren Verbleib angestellt, bis ihm der Kopf rauchte. Auf dem Weg zur Arbeit konnte sie nicht verschwunden sein, dann wäre auch ihr Korb weg gewesen und ohne diesen ging sie eigentlich nie aus dem Haus. Zumindest hatte Joey sie nie ohne ihn gesehen. Hatte man sie verschleppt? In den ärmeren Vierteln Londons war es nicht so selten, dass ein Mädchen – häufig auf Nimmerwiedersehen – verschwand. Manche tauchten ein paar Tage später wieder auf. In den meisten Fällen übel zugerichtet oder sie hatten bereits ihren Weg in die jenseitige Welt angetreten. Und mit dem Auffinden der Schuldigen tat sich die Polizei noch schwerer als mit der Suche nach den Mädchen. Die meisten Fälle blieben unaufgeklärt und wurden nach einer Weile zu den Akten gelegt. Auf diese Herren konnte er sich demnach herzlich wenig verlassen. In diesen Zeiten galt der Spruch „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ nichts, es sei denn, man gehörte der reichen Oberschicht an. Wenn Alina und er dazu gehört hätten, wenn sie die Kinder eines reichen Industriellen gewesen wären, hätte Scotland Yard schon längst Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden. So aber ... Wenn er nur einen Anhaltspunkt hätte, was aus ihr geworden war. Irgendetwas. Dann könnte er etwas ruhiger schlafen. Joey erreichte das Handelshaus, in dessen Dachgeschoss er sich vor einigen Jahren häuslich niedergelassen hatte. Es besaß einen zweiten Eingang im Hinterhof, verdeckt durch eine Sammlung von dort abgestelltem Sperrmüll. Joey schob ein paar Bretter zur Seite, die er vorsorglich als zusätzliche Tarnung benutzte, damit keiner der Arbeiter oder gar der Besitzer selbst seinen Eingang entdeckte, und stieg durch das große Loch in der Mauer. Es befand sich in der hintersten Ecke des Lagers, dort wo nie jemand hinkam. Dann ging es über mehrere Treppen die Stockwerke hinauf, bis er zu einer Leiter kam, die den Boden mit einer Luke in der Decke verband. Beim Hinaufsteigen versuchte er jegliches Geräusch zu vermeiden. Oben angelangt schloss er die Klappe leise hinter sich. Das einzige Licht hier oben im Dachgeschoss spendete der durch die schrägen Fenster hereinfallende Mond. Joey öffnete eine Truhe, die an der Wand stand, und leerte den Inhalt seiner Taschen in sie, bevor er sie zumachte und mit einem schweren Schloss sicherte. Den Schlüssel hängte er sich an einem Lederband um den Hals. Morgen würde er sich um den Verkauf kümmern. Der Mantel fand seinen Platz auf einem Haken in der Nähe. Dann zog er den Vorhang zurück, der den Schlafbereich vom Rest des Dachbodens abtrennte. An der Wand gegenüber von seinem Bett war ein weiteres Bett aufgebaut, in dem friedlich und entspannt atmend Maria und ihr kleiner Bruder schlummerten. Er betrachtete die beiden Kinder und strich Maria mit der Hand vorsichtig eine Locke aus dem Gesicht. Der Schlaf hatte die Lasten, die ihr das Leben schon viel zu früh auf- erlegt hatte, für eine Weile aus ihrem Gesicht gewischt und ließ sie wie das sorglose Kind aussehen, das sie eigentlich in ihrem Alter sein sollte. Joey beugte sich zu ihr und drückte seine Lippen sanft auf ihre Stirn. „Schlaf gut, Kleines, träum was Schönes“, flüsterte er. Als Antwort erhielt er nur ein leises Seufzen, dann drehte sich Maria auf die andere Seite. Mit einem Gähnen streifte er seine Kleider ab, ließ sich auf sein eigenes Bett sinken und zog die Decke über sich. Oh Alina, werde ich dich jemals wiedersehen?, dachte er. Was ist nur mit dir passiert? Alex öffnete uns schon die Haustür, kaum dass wir sie erreicht hatten. „Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend, Sir, Miss Alina“, sagte er, während er uns die Mäntel abnahm und in der Garderobe verstaute. „Danke der Nachfrage, mein Guter, es war in der Tat angenehm“, erwiderte Yami. Ja wohl eher für dich, dachte ich. Ich hatte schon auf der Heimfahrt beschlossen, mal mit Mai zu reden, wie sie das mit der Auswahl ihrer Opfer handhabte. Sich als Straßenmädchen auszugeben konnte doch unmöglich der einzige Weg zum Ziel sein. Ich verspürte nämlich nicht die geringste Lust, dieses Gegrabsche jeden Abend über mich ergehen zu lassen, nur um an Blut zu kommen. „Alina“, sagte Yami, „es ist jetzt Punkt zehn.“ Ich sah auf die Standuhr im Foyer. „Wir treffen uns in einer Viertelstunde in der Bibliothek. Ich habe erst noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor wir miteinander reden können.“ „Gut, dann bringe ich meine Sachen rauf.“ Ich hielt mich gerade so davon ab, die Treppe mit Luftsprüngen zu erklimmen. Endlich sollte das ewige Warten ein Ende haben. Jetzt ergriff mich erst richtig die Neugier. Und die fünfzehn Minuten, die ich noch warten sollte, kamen mir wie die längsten der Welt vor. Immer, wenn man auf ein sehr wichtiges Ereignis wartet, scheinen alle Uhren in der Umgebung hundertmal langsamer zu laufen. So ging es nun auch mir. Die Sachen, die wir aus meinem alten Zimmer bei Madam Kingsley geholt hatten, waren rasch in den Schränken verstaut. Das Geschichtenbuch und meine Puppe Susan fanden ihren Platz auf einem Regal neben dem Kamin, wo sie auch früher schon einmal verstaut gewesen waren. Die Kette wanderte in einen kleinen Schmuckkasten aus Ebenholz, der auf meinem Frisiertisch stand und mit einer sternförmigen Intarsienarbeit versehen war. Gerade in dem Moment, als ich den Korb im Kleiderschrank verstauen wollte, klopfte es. Ich hatte kaum „Herein“ gerufen, da stand Mai schon im Türrahmen. „Hallo, Alina, seid ihr schon lange da? Ich hab euch gar nicht gehört.“ „Nein, wir sind erst vor ein paar Minuten gekommen. Mai ... ich muss dich mal was fragen. Wie ... wie machst du das, wenn du jemanden beißen willst? Ich meine ... wie kommst du an die Leute heran? Yamis Methode gefällt mir nämlich nicht besonders.“ „Hmm“, machte Mai, nachdem ich ihr alles erzählt hatte. „Natürlich gibt es viele Möglichkeiten. Du musst vor allem erfinderisch sein. Zum Beispiel wenn ich abends in der Oper war oder in der Stadt einkaufen, rege ich mich gerne mal etwas lauter als üblich darüber auf, dass mein Kutscher nicht kommt. Und es gibt recht viele freundliche Herren, die einem dann eine Kutsche heranwinken oder sogar anbieten, dich mit ihrer fahren zu lassen. Und die meisten bestehen darauf, dich zu begleiten, damit du sicher nach Hause kommst. Natürlich musst du da auch ein bisschen aufpassen, dass sie deine Bitte nicht in den falschen Hals kriegen und zudringlich werden – so wie du es bei dir beschrieben hast. Oder ... du kannst auch so tun, als hättest du dich verirrt ... Mitleid, verstehst du? Oh!“ Sie wandte sich mit leuchtenden Augen meinem Schreibtisch zu. „Wo hast du denn die Rose her?“, fragte sie. „Die hat mir Yami geschenkt, zusammen mit Karten fürs Theater. Romeo und Julia, mein Lieblingsstück. Er hat sich wegen gestern Abend bei mir entschuldigt, bevor wir gegangen sind“, sagte ich und strahlte sie fröhlich an. Die Augen von Mai wurden tellergroß, ihr Kinn schlug ihr praktisch bis auf die Knie. Man hätte meinen können, sie hätte sich die Kieferknochen ausgerenkt, denn sie half bei ihrem Mund doch tatsächlich mit der Hand nach, damit er sich schloss. „Er hat ... sich bei dir ... entschuldigt?“, stammelte sie und sah mich an als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass Seth ein netter Kerl war. „Bist du dir auch ganz sicher, dass es Yami war und nicht jemand, der nur zufällig so aussieht wie er?“ Bei meinem Nicken wurde ihre Miene nur noch ungläubiger. „Ausgerechnet unser Mr. Ich-weiß-grundsätzlich-alles-besser-und-habe-immer-Recht? ... Ah ... ha ... Also ... Wie hast du ihn denn dazu gekriegt?“ „Wieso bist du denn so erstaunt? Na ja, es fiel ihm schon irgendwie schwer, aber ...“ „Schwer? IRGENDWIE SCHWER? Natürlich fällt ihm das schwer, Alina! Ich glaube, das war das erste Mal, dass er sich überhaupt bei jemandem entschuldigt hat. Ich habe es jedenfalls nie erlebt, solange ich bei ihm bin. Da hast du wirklich was, wo du dir was drauf einbilden kannst. Aber reib es ihm lieber nicht unter die Nase, das mögen Männer nicht“, sagte sie und zwinkerte mir zu. „Gut, werde ich mir merken. Aber – Oh nein, es ist ja schon Viertel nach! Entschuldige, ich muss los, Yami will mit mir reden.“ Ein rascher Blick in den Spiegel, ob meine Frisur noch anständig saß, dann stürmte ich an ihr vorbei aus dem Zimmer. Mai trat näher an den Schreibtisch heran und hob das Kuvert mit den Eintrittskarten für das Theater auf. „Es geschehen doch noch Wunder“, flüsterte sie. „Anscheinend hat er doch mal auf mich gehört. Wird auch Zeit, dass er es ihr sagt. Und dass er sich auch noch bei ihr entschuldigt hat ... kaum zu fassen. Unser unfehlbarer Obermeister gesteht mal einen Fehler ein.“ Sie lächelte still vor sich hin, legte die Karten auf ihren Platz zurück und ging. Die Nacht war noch jung und ihr Appetit für heute noch nicht vollkommen gestillt. Als ich die Treppe erreichte, beugte ich mich vorsichtig über das Geländer und spähte nach unten. Es war niemand zu sehen. Alex und die anderen Angestellten hielten sich wahrscheinlich in der Küche oder in ihren Zimmern auf. Ob ich es mal wagen sollte? Ein spitzbübisches Lächeln glitt über mein Gesicht. Warum eigentlich nicht, es sah mich ja gerade niemand. Ich raffte meine Röcke etwas, ließ mich oben auf dem Geländer nieder und stieß mich ab. Schon rutschte ich in schnellem Tempo bis zum Treppenabsatz herunter, wo die Stufen einen Knick machten. So eine schöne schnelle Fahrt hatte ich lange nicht mehr gemacht und ich musste das laute Jauchzen unterdrücken, das ich gern ausgestoßen hätte. Nicht dass mich noch jemand hörte. Wenn mich meine Eltern oder mein Kindermädchen früher dabei erwischt hatten, hatte ich immer einen riesigen Ärger bekommen, aber jetzt ... Eigentlich hatte ich vorgehabt, auch den zweiten Teil der Strecke auf diese Art zurückzulegen – Doch da ging die Tür zum Küchentrakt auf, ich hüpfte auf die Treppenstufe zurück und glättete hastig meine Kleider, damit man mir das kleine Vergnügen nicht anmerkte. Gleich darauf trat Alexander ins Foyer hinaus und ging ins Kaminzimmer hinüber, leise etwas vor sich hinmurmelnd. Er hatte mich gar nicht bemerkt. Noch mal Glück gehabt. Zwar waren meine Eltern nicht mehr hier, aber dafür saß mir jetzt Mai, meine liebe neue Schwester, im Nacken und das Rutschen auf Treppengeländern würde sie höchstwahrscheinlich als unpassend für eine junge Dame befinden. Also schritt ich die letzten Stufen normal hinunter und auf die Bibliothek zu. Bevor ich eintrat, atmete ich noch einmal tief durch, um mich zu beruhigen. Yami warf einen letzten Blick auf das Bild, das vor ihm auf der Kommode stand, und legte die Hände vor dem Gesicht zusammen, als wollte er beten. Seine Augenlider senkten sich, sein Atem wurde tief und lang. „Es wird Zeit, einen weiteren Teil meines Versprechens einzulösen.“ In dem Moment hörte er, seinem hervorragenden vampirischen Gehör sei Dank, das leise, entfernte Knarren einer Tür. „Nun ist es also gleich soweit. Oh ihr Götter, bitte lasst mich heute Abend das Richtige tun“, flüsterte er. „Alina, ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen.“ Die Tür knarrte laut, als ich sie öffnete. Komisch, das hatte sie gestern noch nicht gemacht. Musste sicher nur mal wieder geölt werden. Die Bibliothek lag im leicht gedämpften Licht der Deckenlampe und dem Feuer des Kamins da. Still und friedlich, erfüllt vom wundervollen, wenn auch manchmal etwas muffigen Duft alter Bücher. Für mich war es sonst der perfekte Ort zum Entspannen. Nur heute waren meine Nerven alles andere als entspannt. Zu sehr fieberte ich diesem Moment entgegen. Was mich allerdings wunderte, war, dass von Yami weit und breit absolut nichts zu sehen war. Dabei war es – sofern die Uhr auf dem Kamin richtig ging – bereits zwanzig nach zehn. Es war ja gut möglich, dass Yami über seiner Arbeit die Zeit vergessen hatte. Aber musste es denn ausgerechnet jetzt sein? Na ja, ändern konnte ich es ja nicht. Wenn er noch nicht fertig war, wollte ich ihn auch nicht unbedingt bei der Arbeit stören, auch wenn es mich noch so sehr drängte, alles zu erfahren. Ein paar Minuten konnte ich ihm schon noch zugestehen. Also beschloss ich, hier auf ihn zu warten. Und falls er nach Ablauf dieser Minuten immer noch nicht da sein sollte, konnte ich immer noch gehen und ihn suchen. Ich zog mir einen der Stühle, die am Tisch standen, näher heran und setzte mich. So konnte ich mich mit dem Arm auf der Tischfläche abstützen und den Kopf auf die Handfläche legen. Ganz war es der Abendluft auch nicht gelungen, den leichten Rausch zu verwischen, den ich dem Jungen zu verdanken hatte. Ich litt immer noch unter leichten Kopfschmerzen. Das war mir auf jeden Fall eine Lehre für das nächste Mal. Da ich mich auch noch auf den Aufbau des Schutzschildes konzentriert hatte, war mir gar nicht aufgefallen, wie viel Blut ich ihm genommen hatte. Einiges mehr als beabsichtigt. So etwas sollte besser nicht noch einmal vorkommen. Als ich den Blick hob, waren weitere fünf Minuten vergangen und von Yami fehlte nach wie vor jede Spur. Dafür verschlimmerte sich gerade das Pochen in meinem Schädel. So sehr ich auch die Gerüche einer Bibliothek liebte, bei Kopfschmerzen waren sie alles andere als ein Heilmittel. Auf einem Schrank entdeckte ich eine Karaffe mit Wasser und Gläser. Das Wasser musste frisch nachgefüllt sein, es schwammen kleine Eisstückchen zum Kühlen drin. In der Hoffnung, so den lästigen Schmerz loszuwerden, goss ich mir ein Glas ein und leerte es in wenigen Zügen. Ein weiterer scharfer Schmerz schoss durch meinen Kopf. Sobald er abklang, merkte ich jedoch, dass das Kopfweh besser wurde. Mein Blick glitt über die Bücher in dem Regal neben dem Schrank. Das Fach direkt vor mir war bis zum letzten Platz mit naturwissenschaftlichen Werken voll gestopft. Literatur über Physik und Chemie, darunter mehrere Bücher über Newton, Mathematik, inklusive einer ausführlichen (also sehr dicken und für mich stinklangweiligen) Abhandlung über die Arbeiten des Pythagoras. Bücher, von denen es mir nicht einmal im Traum einfallen würde, auch nur eines zu lesen. Und doch zog mich etwas fast wie magisch zu diesen Werken aus Papier und Tinte hin, als riefen sie leise nach mir. Unter diesen Büchern kam eine Reihe mit Werken, die die Natur, das Tierreich und die Medizin behandelten. Dann fiel mir ein besonders dickes Buch auf, der Kanon der Medizin, geschrieben im zehnten Jahrhundert von Avicenna, auch bekannt als Ibn Sina, einem berühmten Arzt und Philosophen. Es sah alt aus, das rote Leder, in das es gebunden war, war von der Sonne ausgebleicht, doch die Goldlettern des Titels schimmerten nach wie vor gut sichtbar. Eine zugegeben für mich etwas ungewöhnliche Lektüre, aber ich hatte nun mal keine Lust, die ganze Zeit dumm herumzusitzen, während ich auf Yami wartete. Apropos, der Herr könnte auch endlich mal auf der Bildfläche erscheinen. Frechheit! Erst bestellt er mich – auch noch pünktlich bitte! – hierher, und dann kommt er selbst nicht! Dem werd’ ich was erzählen, wenn er da ist ... nachdem er mir alles verraten hat. Sonst streiten wir uns wieder und er weigert sich am Ende noch, mir was zu sagen. Ihm wäre das glatt zuzutrauen. Als ich das Buch herausziehen wollte, ließ es sich keinen Millimeter bewegen. Es war anscheinend zwischen den anderen festgeklemmt. Ich ruckelte eine Weile daran, zog gleichzeitig an den beiden anderen Büchern zu seinen Seiten, um sie zu lockern, und endlich löste es sich Stück für Stück aus seinem engen Gefängnis. Nur noch ein letzter kräftiger Ruck – Mit einem Mal kam es frei und mich schleuderte es durch die Kraft, die ich dafür aufgewandt hatte, nach hinten. Ich stolperte einige Schritte im Blindgang rückwärts, kam an einen Gegenstand und stolperte über ihn. Noch während ich fiel, fühlte ich eine kühle, glatte Oberfläche unter meiner rechten Hand. Der Aufprall auf dem Boden war schmerzhaft, besonders für meinen Rücken und mein Hinterteil. Es kam mir vor, als wäre mein ganzes Kreuz mit unzähligen Prellungen überzogen worden. Ich richtete mich mit leicht verzerrtem Gesicht und einem leisen Aufstöhnen ein wenig auf und erkannte so, worüber ich gestolpert war. Neben mir lag einer der Sessel. Manchmal kam mir das Ungeschick wie ein zweiter Vorname vor. Nun huschten meine Augen zu meiner rechten Seite. Meine Hand ruhte auf einem großen hölzernen Globus. Noch so ein Relikt aus meiner Kindheit, wenn ich mich nicht sehr irrte, denn mein Vater hatte genauso einen besessen. Gefertigt aus Nussholz und bemalt mit den Ländern und Kontinenten. Nur gut, dass er nicht umgefallen war, diese Globen waren recht empfindlich, weil das verwendete Holz relativ dünn war. Beim Aufstehen verfluchte ich mein Korsett einmal mehr, für Stürze waren diese Teile nicht gerade konzipiert und es drückte mir auf die Rippen. Das kostbare Buch lag aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten auf dem Boden. Ich hob es vorsichtig auf und betrachtete die Seiten, um sicherzugehen, dass ich es nicht auch noch beschädigt hatte. Aber es war nicht mal ein Eselsohr drin. Da hatte ich noch mal Glück gehabt. Mir fiel auf, dass die Seiten nicht gedruckt, sondern handgeschrieben und die Buchstaben verziert waren. So etwas sah man nicht gerade alle Tage. Es musste mehrere hundert Jahre alt sein, solche Bücher waren oftmals ein Vermögen wert. Der Mann, an den Joey die ge-stohlenen Sachen verkaufte, handelte auch mit antiken Büchern und er wäre angesichts dieser Ausgabe des Kanons sehr wahrscheinlich in Verzückung geraten. Eine handschriftliche, verzierte Ausgabe und dann auch noch in so einem guten, um nicht zu sagen fantastischen Zustand – wobei mir wieder einfiel, dass ich froh sein konnte, diesen nicht zunichte gemacht zu haben. Da stellte ich es doch lieber erleichtert ins Regal zurück, bevor wirklich noch etwas mit ihm passierte. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit erneut dem Globus zu, den wollte ich doch mal etwas näher in Augenschein nehmen. Der hohe Klang, als ich auf das Holz klopfte, sagte mir, dass er innen hohl war. Wie die meisten Globen. Nur hatte er im Gegensatz zu vielen anderen, die von ihren Besitzern gerne als versteckte kleine Bar genutzt wurden, keinerlei Verschlüsse oder gab sonst ein Anzeichen darauf, dass man ihn öffnen konnte. Beim Anblick des Mittelmeeres stockte mir schließlich endgültig der Atem. Zwischen den beiden „e“ des Wortes „Meer“ befand sich ein haarfeiner, langer Kratzer, der fast bis zum afrikanischen Kontinent hinunter reichte. Das war Papas Globus! Einen deutlicheren Beweis konnte es gar nicht geben. Den Kratzer hatte ich ihm immerhin eigenhändig beigebracht, als ich, unvorsichtig, wie ein sechsjähriges Kind nun mal ist, mit einem Brieföffner, den ich auf dem Schreibtisch gefunden hatte, die Meridiane nachgefahren hatte und abgerutscht war. Ich wüsste gern mal, was mich damals auf diesen dämlichen Einfall gebracht hatte. Ich glaube, mein Vater hat es nie erfahren und wenn, dann hat er nichts gesagt. Meine Finger fuhren aufgeregt über das glatt polierte Holz, weiter nach unten, bis sie Ägypten erreichten. Zu meinem großen Verwundern gab das Holz auf einmal nach. In der ersten Sekunde dachte ich, ich wäre auf eine Schwachstelle gestoßen und hätte den Globus kaputt gemacht. Dann jedoch versank das gesamte Reich am Nil ein kleines Stück im Globus, nur wenige Millimeter und doch hörte ich etwas hinter mir klicken, wie ein Schloss, das aufspringt. Ob Yami endlich kam? Ich drehte mich langsam herum. Die Tür war immer noch geschlossen, dafür jedoch ... „Was ... was ist das denn?“, brachte ich um Luft ringend heraus. Dort, wo sich eben noch eine massive Regalwand befunden hatte, glitt gerade ein Teil eben jenes Regals wie selbstverständlich auf – wie eine Tür. Und dahinter war gähnendes Dunkel. Was um alles in der Welt hat eine geheime Tür in unserm Haus verloren?, überlegte ich. Und wer hat sie eingebaut? Vater kann es ja wohl kaum gewesen sein, wofür hätte er so etwas gebraucht? Das machte mich doch sehr neugierig und ich trat näher an die Öffnung heran. Im Schein der Lampen, die ihr Licht gerade noch etwas über die Schwelle der Tür warfen, erkannte ich eine steinerne Treppe, die in die Tiefe führte. Von unten drang kühle Luft hinauf, die mir sanft über die Wange strich und mich an das Flüstern sehr leiser Stimmen erinnerte. Und all diese Stimmen schienen „Alina, komm zu uns“ zu rufen, sobald ich kurz die Augen schloss und ihnen lauschte. Sie schienen wie aus einer anderen Welt zu kommen. Wo auch immer diese Treppe hinführte, ich musste es wissen! Ich nahm einen kleinen Kerzenhalter vom Kaminsims und entzündete die Kerze an den Flammen, um mir für mein Vorhaben etwas mehr Licht zu verschaffen. So bewaffnet wandte ich mich zum zweiten Mal der geheimen Tür zu und machte mich auf den Weg die Treppe hinab. Die Kerze flackerte leicht im Luftzug und ich schirmte sie mit der Hand ab, damit sie nicht ausging. Nach ein paar Schritten in die Tiefe hörte ich, wie die Tür oben zu glitt und sich mit einem erneuten leisen Klicken schloss. Wunderbar, das hab ich mal wieder von meiner Neugierde! Wenn es auf dieser Seite der Tür keinen Schalter zum Öffnen gibt, bin ich hier drin gefangen. Ich ging die paar Schritte zurück und untersuchte im Schein der Kerze die Wand zu beiden Seiten der Tür, doch ich fand nichts, das wie ein Schalter oder Hebel aussah. Bleibt zu hoffen, dass die Treppe auch irgendwo hin führt, dachte ich. Sonst habe ich ein richtiges Problem. Und wenn Yami gerade jetzt kommt und ich nicht da bin? Etwas in meinem Kopf sagte mir allerdings, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand und so drehte ich um. Die Stufen gingen nun in eine enge Wendeltreppe über. Obwohl die Flamme weiter oben so hell ausgesehen hatte, konnte sie die Dunkelheit um mich herum schließlich kaum noch durchdringen. Sie verlor sich in ihr wie ein winzig kleines Licht in einem Meer aus Finsternis. Selbst meiner verbesserten vampirischen Sehkraft gelang es nicht, mehr zu erkennen als ein paar Zentimeter Boden und die nächste Stufe vor mir. An ihrem Ende mündete die Treppe in einen etwas breiteren, kurzen Gang, an dessen Ende ich eine mit dicken Eisenbeschlägen versehene Tür erkannte. Das wurde ja immer mysteriöser. Geheime Türen, unbekannte Keller ... was zum Kuckuck hatte sich der Architekt denn dabei gedacht?! Meine Hand begann unerklärlicherweise stark zu zittern, als ich sie nach der Türklinke ausstreckte und diese herunterdrückte. Die Scharniere gaben ein laut quietschendes Geräusch von sich, als wären sie lange nicht mehr gebraucht worden. Helles Licht blendete mich, hell wie die Sonne, doch sie konnte es nicht sein. Es war Nacht draußen und ich war ein ganzes Stück unter der Erde. Ich hob meine freie Hand vor die Augen, und blinzelte, bis ich wieder etwas sehen konnte. Vor mir erstreckte sich ein weiter Raum, erleuchtet von einer unzählbaren Anzahl von Kerzen, die zum Großteil in Deckenleuchtern aus Messing untergebracht waren. Diese hingen von der mit dunklem Holz vertäfelten Decke und erinnerten mich entfernt an riesige Sterne. Die ganze linke Wandseite war mit Schränken und Vitrinen voller Bücher zu gestellt, an der rechten Wand reihten sich alle Arten von Waffen aneinander, Schwerter, Lanzen, Armbrüste, Morgensterne, Streitäxte und -kolben und vieles mehr, auch etliche Waffen, die mir völlig unbekannt waren. Darunter standen Kommoden und Truhen. Die Sachen wirkten alle sehr verstaubt, als wäre hier unten lange nicht mehr sauber gemacht worden. An der Decke hingen große Spinnweben. Am anderen Ende des Raumes, gegenüber der Tür, befand sich ein großer Schreibtisch, ebenfalls überfüllt mit Büchern, Akten und anderen Dokumenten. Davor stand ein rot gepolsterter Ohrensessel, in dem jemand saß, wie ich an einem hervorragenden Ellbogen sah, der in weißen Stoff gehüllt war. Als dieser Jemand den Kopf zu mir umwandte, entlud sich meine Überraschung mit einem Schlag: „Was tust du denn hier, Yami?“ Er hatte ihre Schritte schon gehört, als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Yami gestattete sich ein zufriedenes Lächeln. Dann war wohl alles so verlaufen, wie er es geplant hatte. Langsam wandte er den Kopf zu ihr herum und betrachtete sie, wie sie da völlig verdutzt in der Eingangstür stand und sich staunend in den hohen Räumlichkeiten umsah. „Hallo, Alina. Ich habe dich schon erwartet“, sagte er. „Ich hatte schon befürchtet, du hättest meinen Hinweis gar nicht gefunden.“ Ihr Blick wandelte sich von Verwunderung zu Verwirrung. „Ähm ... von was für einem Hinweis sprichst du denn, Yami?“ „Ich hatte dir doch einen Zettel auf den Tisch gelegt. Hast du ihn denn nicht gefunden?“ „Also, eigentlich ... nein. Ich hab keinen Zettel gesehen.“ „Und hast den Zugang hierher dennoch entdeckt“, sagte Yami, sichtlich zufrieden mit sich. Er erhob sich aus seinem Sessel, während sie auf ihn zu kam. Ihr Blick glitt an den Möbelstücken entlang und streifte ihn immer wieder. „Jaaa ... das war eher ein dummer Zufall, wenn ich ehrlich bin. Ich bin hingefallen und gegen den Globus gekommen. Es ist der Globus meines Vaters, stell dir das vor! Und als ich ihn mir näher ansehen wollte, da hat sich diese Tür geöffnet. Ich wollte einfach mal nachsehen, wo sie hinführt. Apropos ... wo sind wir? Was ist das hier? Hast du diese Räume bauen lassen? Und was ist denn nun mit dem Grund, warum du mich gebissen hast?“ „Oh, oh, so viele Fragen auf einmal“, schüttelte er mit einem Seufzen den Kopf. „Da weiß ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll. Also erst einmal, nein, ich habe diese Räumlichkeiten nicht bauen lassen. Sie sind so alt wie dieses Haus, sie waren von Anfang an da.“ „Wie bitte? Aber ... warum hätte mein Vater denn so etwas“, sie machte eine weit ausholende Handbewegung, um den ganzen Raum zu umfassen, „bauen lassen sollen? Wollte er ein Lager für besonders kostbare Ware haben oder was?“ Mein Blick wanderte über die Einrichtung. Aber ... nein, gibt das wirklich Sinn? Nur wofür hat er dann so viel Platz gebraucht? Und was sollen die vielen Waffen hier? Ich weiß ja, dass er Bücher gesammelt hat wie andere Leute Briefmarken ... Aber Waffen? Das passt nicht zu ihm. Yami kicherte leise. „Diese Räumlichkeiten mögen vieles für deinen Vater gewesen sein, aber ein Lagerraum in dem Sinn, den du dir vorstellst, sicher nicht.“ „Woher weißt du überhaupt von diesem Raum? Wenn er so gründlich versteckt war ...“ „Ich bin vor langer Zeit schon einmal hier gewesen ... zusammen mit deinem Vater. Er hat ihn mir gezeigt. Wir waren sehr gute Freunde.“ Für einen Augenblick war ich absolut sprachlos. „Du ... du kanntest meinen Vater?“ Meine Kehle fühlte sich trocken an. „Wie ... woher ...“ Yami drehte sich mit dem Oberkörper zu dem Schreibtisch hinter sich um und nahm einen versilberten Bilderrahmen in die Hand, den er an mich weiterreichte. Ich betrachtete das Bild einen Augenblick lang schweigend. Mein Gehirn schien ausgesetzt zu haben, denn ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Aber was für einen deutlicheren Beweis wollte ich denn noch haben? Auf dem Foto waren meine Eltern und Yami abgebildet, es musste vor unserem Haus aufgenommen worden sein. Meine Mutter stand in der Mitte, hatte um jeden der beiden einen Arm gelegt und lachte fröhlich, während mein Vater ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Wie jung sie darauf wirkte. Und allein schon dieses lockere Motiv an sich war absolut ungewöhnlich. Als ich noch klein war, hatten meine Eltern auch einige Male einen Fotografen bestellt, um meine Geburtstage oder unsere Weihnachtsfeier festzuhalten und da hatten wir uns immer in recht steifer Anordnung aufstellen müssen. „Wir sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen“, sagte Yami. „Das trifft auf mich zu, auf dich – und das traf auf deine Eltern zu.“ Ich kam mir vor, als hätte man mich mitten auf einem Feld ausgesetzt, das unter einem dicken Nebelschleier lag. Vor, zurück, nach rechts, nach links, ich hatte überhaupt keine Ahnung, in welche Richtung es nun gehen würde. Mir flogen tausend Fragen durch den Kopf. „Willst du damit etwa sagen, sie waren auch Vampire?“ Kaum hatte ich geglaubt, wieder etwas Ordnung in mein Leben gebracht zu haben, wurde meine Welt erneut vollständig auf den Kopf gestellt. Aber ich hatte von Yami ja Antworten verlangt. „Nein, sie waren keine Vampire“, antwortete er ruhig. „Sondern eher das genaue Gegenteil. Deine Eltern waren beide Jäger. Vampirjäger.“ „WAS? Sag mir sofort, dass das ein schlechter Scherz ist, Yami!“, rief ich. Ausgerechnet meine Eltern sollten Vampirjäger gewesen sein? Mein – besonders mit seiner Buchführung – überkorrekter Vater und meine Mutter, die ihre Zeit mit Handarbeiten oder dergleichen zugebracht hatte? „Ich habe versprochen, dir die Wahrheit zu erzählen. Das ist sie. Du entstammst einer Familie von Jägern, meine liebe Alina, einer sehr alten, um ganz genau zu sein. Dein Stammbaum reicht Jahrhunderte und Jahrtausende zurück.“ „Ich glaube, mir wird schwindlig.“ Mir drehte sich alles. Das konnte doch einfach nicht sein! Und doch ließen Yamis so entschlossen ausgesprochene Worte keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt zu. Ich stellte das Bild rasch auf den Tisch zurück, bevor es noch meinen zitternden Fingern entgleiten konnte. Alina schwankte hin und her, wie ein Boot, das von einer heftigen Welle ergriffen worden war. Yami ergriff sie rasch an Arm und Schulter und dirigierte sie zu dem Sessel, auf dem er bis vor kurzem noch selbst gesessen hatte. Alina ließ sich aufatmend gegen das weiche Polster sinken. „Ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen“, sagte sie nach einer Weile. „Papa war ein Geschäftsmann und Mama ... sie war der Inbegriff einer Dame, jedenfalls haben das ihre Freunde immer gesagt.“ „Das haben wir Vampire mit unseren Jägern gemeinsam, Alina. Wir alle führen ein Doppelleben, von der die Welt der Normalsterblichen nicht den blassesten Schimmer hat. Das großbürgerliche Leben, das deine Eltern tagsüber führten, war nur eine Fassade. Nachts zogen sie durch die Straßen und jagten Vampire. Und wenn ich mich richtig entsinne, war deine liebe Mutter, Gott hab sie selig, eine wahre Meisterin im Umgang mit der Armbrust. Sie hat immer die klassischen Waffen den modernen Feuerwaffen vorgezogen. Dein Vater wiederum konnte ein Gewehr ebenso problemlos handhaben wie ein Schwert.“ „Aber ... Augenblick mal, Yami. Wenn das alles so stimmt, wie du es sagst, dann müsstest du doch auch von meinen Eltern gejagt worden sein. Wie konntet ihr da befreundet sein?“ „Nun ... gut, dass du schon sitzt, sonst hätte ich dir spätestens jetzt einen Platz angeboten. Was ich dir zu erzählen habe, wird nämlich etwas länger dauern. Um dir das zu erklären, müssen wir uns bis zu den Anfängen unseres Volkes, in grauer Vorzeit, zurückbegeben.“ Er schob einen Teil der Papiere zur Seite und setzte sich auf die Schreibtischplatte. Yami verspürte angesichts der Länge des vor ihm liegenden Berichts auch nicht das Bedürfnis, so lange zu stehen, bis er fertig war. „Dir dürfte die Geschichte des Brudermordes zwischen Kain und Abel aus der Bibel vertraut sein.“ Alina nickte bedächtig. Sie war neugierig, wo das hinführen würde. „Es gibt allerdings Dinge, die nicht in die christliche Bibel Einlass gefunden haben. Und ich muss dir erst noch sagen, auch für uns Vampire sind das alles nur noch Legenden. Alle, die heute noch auf der Erde wandeln, sind lange nach jenen Ereignissen geboren worden. Es heißt, dass Adam vor Eva noch eine Frau hatte. Ihr Name war Lilith. Weil sie sich Gott und ihrem Mann nicht beugen wollte, wurde sie verbannt und zu einer Dämonin. Sie holte Kain nach dem Tod seines Bruders zu sich und machte ihn zum ersten Vampir. Die Erzengel wurden ausgeschickt, um ihn zurückzuholen, doch er weigerte sich, mit ihnen zu kommen. Daraufhin verfluchten sie ihn und alle, die ihm später auf dem Pfad der Dunkelheit folgen sollten, Feuer und Licht zu fürchten und nur Asche und Blut zu essen. Damit begannen sich die Vampire wie eine Krankheit über die ganze Welt auszubreiten.“ Seine Zuhörerin schauerte bei seinen Worten. „So hat also alles angefangen ...“ „Ja, vor vielen tausend Jahren. Die Vampire wurden mit der Zeit immer mächtiger, trotz des Fluches, der auf ihnen lastete. Also wurde von Gott unter den Menschen eine junge Frau auserwählt, die Kain, der die Vampire anführte, bezwingen sollte. Ihr Name war Chantrea. Sie erhielt große Kräfte, um es mit den seinen aufnehmen zu können. Doch dann passierte etwas, was keiner bedacht hatte. Die beiden verliebten sich ineinander.“ „Wie bei Romeo und Julia“, flüsterte Alina. „So in etwa. Aber beiden war klar, dass die Schlacht, für die sich ihre Leute rüsteten, unausweichlich war. Am Ende standen sie sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sie stieß ihm den Pflock ins Herz, doch sie brachte es nicht über sich, ihm auch noch den Kopf abzuschlagen, denn nur das hätte ihn endgültig getötet, er war zu mächtig. Stattdessen wurde sein Körper in einen Sarkophag gesperrt und an einem geheimen Ort versiegelt. Chantreas Nachkommen, auf die sie ihre von Gott erhaltenen Kräfte vererbte, übernahmen von ihr die Aufgabe, die Vampire zu vernichten. Sie wurden die ersten richtigen Vampirjäger. Und damit begann der wahre Kampf zwischen Menschen und Vampiren. Ich lebe schon sehr lange auf der Erde. Wie lange ... nun, das möchte ich vorerst noch für mich behalten. In meiner Kindheit gab es jedenfalls noch dreizehn große, wirklich bedeutende Clans – die ganzen kleinen Verbände und einzeln lebende Vampire mal ganz außer Acht lassend. Inzwischen sind es nur noch sieben Stämme. Jeder wird von einem Clanoberhaupt angeführt. Und ich ... ich war früher einer von ihnen. Ich war das Oberhaupt des Wüstenclans.“ „Und warum bist du es nicht mehr? Ist dein Clan vernichtet worden?“ Yami legte seine Faust an sein Kinn und richtete den Blick auf den Boden. Große Falten gruben sich in seine Stirn. Sollte er es ihr sagen? „Entschuldige“, erklang da auf einmal Alinas Stimme. „Du musst es mir natürlich nicht sagen, wenn du nicht möchtest. Ich wollte nicht neugierig sein, es ist bloß ... ich weiß so wenig über dich und du ... du weißt anscheinend so viel ... alles über mich.“ Nun richtete Yami sein Augenmerk wieder auf sie. „Es ist in Ordnung. Um deine Frage zu beantworten ... Nein, mein Clan existiert noch. Man hat mich ... sagen wir, einige waren mit meinem Führungsstil nicht einverstanden und es kam zu einer Teilung. Diejenigen, die zu mir hielten, leben heute, sofern sie noch leben, über die ganze Welt verstreut. Aber wir haben sehr guten Kontakt zueinander. Was die anderen betrifft, habe ich von ihrem Aufenthaltsort keine Ahnung. Vampire sind Meister in der Kunst des Verbergens.“ Er legte eine Pause ein und blickte sich gedankenverloren im Raum um. Meine Güte, was ist denn mit Yami los, wunderte ich mich. Ich hatte noch zu gut Mais Worte im Ohr, er würde sonst nie einen Fehler zugeben. Und heute hatte er dies soeben bereits zum zweiten Mal an nur einem Abend getan! „Aber ich wollte dir ja erzählen, wie ich deinen Vater kennen gelernt habe“, fuhr Yami in dem Augenblick fort. „Auch das habe ich meiner einstigen Stellung zu verdanken. Es dürfte inzwischen an die sechzig Jahre her sein. Zu jener Zeit war ich noch der Führer meines Clans. Wir hatten seit rund einhundert Jahren einen Pakt mit den Menschen bestehen, nach dem wir uns verpflichteten, auf den Genuss menschlichen Blutes zu verzichten. Im Gegenzug wurden wir nicht mehr gejagt. Die Gemeinschaft der Jäger kümmerte sich nur noch um jene, die sich nicht an das Bündnis hielten. Nach den hundert Jahren friedlicher Koexistenz war es nun an der Zeit, den Bund zu verlängern, indem die sieben Clanführer und die Anführer der Gemeinschaft ihn mit Unterschrift und Siegel bestätigten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Albus, deinen Großvater väterlicherseits, kennen, ein Junge von fünfzehn Jahren war er damals. Sein Vater war zu jener Zeit der Anführer der Jägergemeinschaft. Zwischen Albus und mir entwickelte sich während der wenigen Verhandlungstage schnell eine Freundschaft, die sich durch einen stetigen Briefwechsel in den nachfolgenden Jahren festigte. Als er später heiratete und dein Vater geboren wurde, setzte er mich sogar zu einem seiner Paten ein. Was die um mich herum brodelnden Vulkane – also mit anderen Worten den Rest meines Clans – wohl letztlich zum Überkochen gebracht hat, wie ich vermute, denn bald darauf wurde ich als Anführer abgesetzt. Der Vertrag mit den Menschen galt zwar weiterhin, aber mein hochverehrter Nachfolger hat sich nie die Mühe gemacht, sich daran zu halten. So kam es, dass die Jagd wieder begann. Und ich war oft an Albus’ Seite, wenn er des Nachts umherstreifte.“ Ich hob die Augenbraue und blickte ihn mit einer gewissen Skepsis in den Augen an. „Willst du mir ernsthaft erzählen, du hättest Vampire, deine eigenen Leute, gejagt?“ „Sie galten als Abtrünnige. In dem Fall waren die Anführer sich einig gewesen, solche Unruhestifter zu beseitigen. Aber einige Jahre später wurde der Friedensvertrag zwischen unseren Völkern ganz aufgelöst, da sich auch einige andere Clans nicht mehr daran hielten. Ich gebe zu, ich war es selbst leid, von Tieren zu leben, aber ich trinke maßvoll, wie du mir gewiss zugestehen wirst. Es liegt eben in unserer Natur und das wusste Albus auch. So blieb unsere Freundschaft und später die mit seinem Sohn bestehen.“ „Aber was hat das alles denn nun damit zu tun, dass du aus mir einen Vampir gemacht hast?“ So interessant und wichtig diese Informationen auch waren, auf meine eigentliche Frage hatte er nach wie vor nicht geantwortet. Yami räusperte sich vernehmlich und suchte meinen Blick. „Dein Vater hatte mich darum gebeten ...“ „WAS?!“, entfuhr es mir. „Nie und nimmer. Er mag ja mit dir befreundet gewesen sein, aber er hat ganz sicher nicht von dir verlangt, aus mir eines Tages einen Vampir zu machen. Wenn er noch leben würde ... er hätte mich doch auch jagen müssen.“ „Alina, Alina“, Yami schüttelte lächelnd den Kopf. „Du bist wieder einmal viel zu schnell. Wenn du mich mal aussprechen lassen würdest ... Dein Vater hat mich darum gebeten, mich um dich zu kümmern, sollte ihm und deiner Mutter etwas zustoßen. Das war ein Jahr vor ihrem Tod. Wie ich später erfahren musste, wurden Robert und Claire zu diesem Zeitpunkt bereits von einer äußerst gefährlichen Vampirgruppierung gejagt, die sich Nieschan da Atamah nennt. Allerdings ist kaum etwas über sie bekannt, sie verstecken sich sehr gut. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass sie hinter dem Mord an deinen Eltern stecken.“ Die Erinnerungen an jenen Morgen stürzten über mir ein wie ein Fluss, der sich endlich aus der Gefangenschaft befreit hatte, welche der Staudamm ihm aufgezwungen hatte. Die Bisswunden am Hals meiner Mutter, das fehlende Herz meines Vaters – nein, Menschen hätten nicht so grausam sein können. Das war mir schon damals klar gewesen. Da waren wahre Dämonen am Werk gewesen. Und wie sich mir soeben bestätigt hatte, war meine Vermutung richtig gewesen. Es war das Werk von Vampiren. Mir traten Tränen in die Augen. „Dass es Vampire waren, habe ich damals schon irgendwie vermutet“, sagte ich leise. „Ich habe ihre Leichen ja gesehen ...“ Eine Hand legte sich behutsam auf meine und strich über meinen Handrücken. Ich sah auf und in Yamis sanft blickende Augen. Oh Himmel, wenn er mich so ansah, wurde mir jedes Mal ganz warm ums Herz. Da konnte der Himmel noch so grau sein, auf einmal konnte ich in solchen Momenten immer die Sonne sehen. „Ich weiß, es tut dir weh, daran erinnert zu werden. Aber du hast das Recht zu erfahren, wer für ihren Tod – höchstwahrscheinlich – verantwortlich ist.“ „Warum haben sie das ... nur getan? Was haben meine Eltern verbrochen, dass man sie so grausam getötet hat?“ „Diese Vampire brauchen keinen Grund zum Töten. Ihnen macht es einfach Spaß, ihre Opfer zu quälen und sie leiden zu sehen. Und vergiss nicht, deine Eltern stammten von Jägern ab und waren selbst aktiv. Ob Vampirjäger oder Vampir, wir sind beides: Jäger und Gejagter. Ich hielt mich zu jenem Zeitpunkt im Ausland auf, fernab von ihnen und war somit unfähig, ihnen beizustehen. Gerade dann, als sie mich am dringendsten gebraucht hätten.“ Yamis Faust ballte sich und sein Kiefer presste sich aufeinander. Dieses Wissen musste ihn sehr belastet haben. Nun war es an mir, ihm Trost zuzusprechen. „Du konntest nichts dafür. Woher hättest du denn wissen sollen, dass sie ausgerechnet in der Nacht angreifen?“ „Ich ... ich wusste in dem Augenblick, als dein Vater angegriffen wurde, dass etwas nicht stimmte. Du musst wissen, wenige Tage zuvor hatte er mich gerettet – in meinem Haus war tagsüber ein Feuer ausgebrochen. Es war Hochsommer und die Sonne schien, darum habe ich mich im Keller aufgehalten. Hätte er mich nicht dort rausgeholt, würde ich heute nicht vor dir stehen. Zum Dank versprach ich ihm, ihn und seine Familie immer zu beschützen, was wir mit einem sehr alten Blutschwur besiegelten. Aber sieh selbst.“ Yami erhob sich mit einer eleganten, fließenden Bewegung vom Tisch und stellte sich vor mich. Seine Finger wanderten langsam zum Kragen seines Hemdes und er begann die Knöpfe zu öffnen. Mir blieb die Luft weg. Was wird das denn? Warum zieht er sich jetzt auch noch vor mir aus? Und ... oh ... Während meine Augen nach einer neutralen Stelle im Raum suchten und in Windeseile über Waffen und Bücherregale huschten, kämpfte mein Kopf verzweifelt darum, nicht die von Reife zeugende sattrote Farbe eines aus Amerika stammenden Nachtschattengewächses anzunehmen, das besser als Tomate bekannt war. Und so ganz konnte ich es mir nicht verkneifen, Yami in Augenschein zu nehmen. Aus dem weißen Stoff seines Hemdes schälte sich nämlich gerade ein – soweit ich das trotz meiner mangelnden Erfahrung auf diesem Gebiet beurteilen konnte – äußerst attraktiver und gut gestalteter männlicher Oberkörper. Er hatte breite Schultern und nicht ein einziges Haar zierte den muskulösen Brustkorb. Dafür jedoch etwas ganz anderes. In Höhe des Brustbeins befand sich eine in Schwarz gehaltene Tätowierung – ein von Dornen umranktes Kreuz mit einer blühenden Rose als Mittelpunkt. „Was ist das?“, stieß ich hervor und sprang auf. Meine Hand hob sich wie automatisch, um die Zeichnung zu berühren. Wenige Zentimeter, bevor sie gegen Yamis Brust stieß, wurde mir auf einmal bewusst, was ich da gerade tat und ich ließ sie augenblicklich sinken, worauf-hin sich meine Wangenfarbe wohl noch etwas intensivierte. „Bei der Art des Blutbundes, die dein Vater und ich damals gewählt haben, erhalten beide Parteien ein Zeichen, das sie immer miteinander verbindet. Bei mir war es die Tätowierung. Dein Vater ließ sich einen Ring mit einer Rose anfertigen und deine Mutter besaß eine Kette.“ „Ja ... jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich wieder daran. Mama hat sie nie abgelegt. Aber nach ihrem Tod wurde sie mit den anderen Schmuckstücken verkauft.“ Ich hatte ja noch versucht, sie meiner Mutter abzunehmen, bevor die Polizei kam. Ich hätte gern ein anderes Erinnerungsstück an sie als den Dolch gehabt, nur hatte man mich nach ihrer Entdeckung nicht mal mehr in den Salon gelassen. „Da fällt mir ein, ich habe ja noch etwas für dich.“ Yami beugte sich an mir vorbei, wobei mir der Geruch seines Rasierwassers überaus deutlich in die Nase stieg, eine angenehme Mischung aus Moschus und einigen anderen Stoffen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er ein kleines Holzkästchen in der Hand. Er hielt es mir hin und hob den Deckel hoch. Auf nachtschwarzen Samt gebettet lag dort drin eine feingliedrige silberne Kette, die in einem Anhänger endete. Er hatte die Form einer Rose. Und einmal mehr an diesem Abend wurden meine Wangen von meinen Tränen benetzt. Ich schlug die Hände über dem Mund zusammen, um nicht einen lauten Schrei auszustoßen. War ich überhaupt noch wach oder war das alles gerade nur ein Traum? Das konnte doch unmöglich ... Aber als ich mir probehalber kurz in den Arm kniff, merkte ich an dem sofort aufkommenden Schmerz, dass ich nicht eingeschlafen war. Stück für Stück holte mich meine Vergangenheit ein. Erst Papas Globus, nun ganz offenbar auch noch die Kette meiner Mutter. Dieser Abend brachte eindeutig hundertmal mehr Überraschungen mit sich, als ich je hätte denken können. Ich entfernte mich etwas von ihm und drehte ihm für einem Moment dem Rücken zu, um meine Freudentränen zu verbergen. Dann wandte ich mich ihm wieder zu, nahm die Kette aus dem Kästchen heraus und betrachtete sie. „Diese Kette ist Teil deines Erbes, Alina“, sagte Yami. Seine Hände entwanden mir die Kette, die mir einfach so durch die Finger glitt. Ich konnte mich immer noch nicht rühren, das alles hatte mich in eine regelrechte Erstarrung versetzt. Bevor ich überhaupt richtig realisiert hatte, was er da tat, war Yami schon hinter mich getreten und legte mir die Kette um den Hals. Der Verschluss ging mit einem leisen Klicken zu und das kühle Silber senkte sich auf meine Brust. Meine Finger strichen über das fein gearbeitete Schmuckstück. „Nun fehlt nur noch eines“, sagte Yami, was mich dazu brachte, mich zu ihm umzudrehen. Er machte einen Schritt rückwärts, um etwas mehr Platz zwischen uns zu bringen. „Gib mir bitte deine Hände, Alina.“ Ich folgte seiner Aufforderung und legte meine Hände in seine. Yami blickte mich mit ernster Miene an. „Im Namen der Götter schwöre ich, dir stets zur Seite zu stehen und dir zu helfen, dich zu schützen und auf dein Wohl zu achten“, sagte er feierlich. „Dies schwöre ich bei Maat, der Göttin der Wahrheit.“ Während er diese Worte sprach, fühlte ich, wie es an den Stellen, an denen sich unsere Hände berührten, wärmer wurde. Gleichzeitig füllte sich die Rose an meinem Hals in ihrem Zentrum mit einem hellen Licht und auch die tätowierte Blüte veränderte sich und begann zu leuchten. Dann löste sich von beiden Blüten ein Strahl, der auf unsere miteinander verbundenen Hände traf. Natürlich kam mir das alles sehr mysteriös vor und ich hätte eigentlich auch etwas Angst haben müssen – doch ich hatte sie seltsamerweise nicht. Im Gegenteil erfüllte mich eine Art tiefe innere Ruhe. Von unseren Händen lösten sich weitere Strahlen ab, die erst nach oben und dann nach außen stoben und sich schließlich wie ein Käfig aus Licht über uns wölbten. Der dabei entstehende Luftzug war so stark, dass alle Kerzen, die sich in unserer Nähe befanden, ausgingen. Nur weiter vorne am Eingang brannten sie noch in ihren Leuchtern. Nachdem dies geschehen war, erhob Yami zum zweiten Mal seine Stimme, die von den Wänden widerhallte, doch dieses Mal konnte ich die Worte nicht verstehen, die er gebrauchte. Er redete in einer Sprache, die ich nicht kannte, doch sie schien alt zu sein. In meinem ganzen Körper breitete sich eine angenehme Wärme aus, ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Als das letzte Wort seinen Mund verlassen hatte, löste sich das Licht mit einem letzten Glitzern auf und ließ den Raum im Halbdunkel zurück. Yamis Atem ging schwer, als wäre er eine ordentliche Strecke gerannt. Ich ließ seine Hände los und beugte mich zu ihm vor. „Bist du in Ordnung?“, fragte ich besorgt. Was hatte er da gerade nur getan, dass es ihn dermaßen viel Kraft gekostet hatte? „Ja, es geht schon wieder. Diese Zeremonie war der letzte nötige Schritt, denn damit geht das Versprechen des Schutzes, das ich deinen Eltern einst gab, endgültig auch auf dich über.“ Seine Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich näher zu ihm. „Ab jetzt sind auch wir durch das magische Band verbunden. Wann immer du in Gefahr gerätst, werde ich es sofort spüren und dir zu Hilfe kommen. Auch wenn ich natürlich hoffe, dass du nicht in eine derartig brenzlige Lage gerätst. Aber ...“ „Aber was?“, fragte ich, als er plötzlich zu sprechen aufhörte. Yami betrachtete sie nachdenklich und seufzte. Als er einen Schritt auf sie zu machen wollte, schwankte er leicht. Ah, ich habe ganz vergessen, wie viel Kraft dieses Ritual kostet. Aber die alten Zauber sind für so etwas immer noch am besten geeignet. „Ich glaube, ich muss mich erst mal kurz setzen.“ Nachdem er sich wieder auf dem Sessel niedergelassen und seine Ellbogen auf dem Holz des Schreibtisches platziert hatte, verschränkte er die Finger ineinander. Alina betrachtete ihn voller Ungeduld und konnte es nicht lassen, mit ihrem Fuß auf den Boden zu tippen. Dass dieses Mädchen nur immer so wissbegierig sein muss. Aber .. Wenn ich schon dabei bin, sie aufzuklären, dann sollte ich sie wohl über alles aufklären, dachte er. Alles andere wäre Alina gegenüber nicht fair. „Nun?“, hakte Alina nach, als er nach einer Minute immer noch nicht geantwortet hatte. „Es ist so ... Ich habe schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass die Anhänger des Nieschan mittlerweile auch hinter dir her sind.“ „Hinter mir? Aber warum sollten sie? Ich bin keine Vampirjägerin.“ „Aber die Tochter von Jägern. In dir fließt das Blut zweier sehr mächtiger Familien zusammen. Das allein schon genügt, um dich zu ihrem Ziel zu machen. Das ist der Grund, weshalb ich beschlossen habe, dich zu mir zu holen. Ich fürchtete, dass es nicht mehr reichen würde, dich aus der Ferne zu schützen, wie ich es in den letzten Jahren getan habe.“ „Willst du damit sagen, du hast mich seit ich von hier fort gegangen bin, immer beobachtet? Die ganzen Jahre hindurch?“ „Nachdem ich dich vor fünf Jahren endlich ausfindig gemacht hatte, ja. Ich muss dir ehrlich zugestehen, dass du es wirklich ganz ausgezeichnet verstehst, dich zu verstecken, Liebes. Eigentlich wollte ich dich gleich nach dem Tod deiner Eltern holen und mit mir nehmen, aber als ich nach London kam, warst du bereits untergetaucht und trotz all meiner Bemühungen, dich zu finden, wie vom Erdboden verschluckt. Danach habe ich jedes Mal, wenn ich in London war, versucht, etwas über deinen Aufenthaltsort herauszufinden. Und eines Tages hörte ich dann von einem Bekannten, dass es in der Nähe des Big Ben eine junge Verkäuferin geben solle, die eine sehr seltene Rosensorte verkauft. Also bin ich dorthin gegangen und habe dich aus der Ferne hin und wieder bei der Arbeit oder auf dem Heimweg beobachtet. Nur das eine Mal, als dich dieser Kerl angefallen hat, wäre ich beinahe zu spät gekommen. Aber du hast dich ja sehr gut verteidigt. Ganz der Instinkt einer Jägerin, würde ich sagen. Und ich habe diesem Kerl ... sehr eindeutig klar gemacht, dass er solche Dinge lieber lassen sollte. Obwohl er nach unserem kleinen Gespräch vermutlich gar nicht mehr dazu in der Lage war.“ „Hey, hey, warte mal“, unterbrach ich ihn. „Willst du damit sagen ... Du hast diesen Mann getötet? Hast du ihn wirklich bei lebendigem Leib ... gehäutet?“ Ein kaltes Grausen durchfuhr mich, als Yami mit einem stummen Nicken antwortete. Die Wärme von eben war schlagartig komplett verschwunden. Das hätte ich nicht von ihm erwartet. Nun ja, es war mir damals schon vorgekommen, als hätte sich so etwas wie ein Racheengel um den Mann gekümmert. Und auch diese Vermutung hatte sich soeben bewahrheitet. Yami war ein Engel – ein Engel der Dunkelheit. Ich wusste es ja zu schätzen, dass Yami mich beschützen und damit auch seinem Versprechen an meine Eltern nachkommen wollte, aber das ... „Rechtfertigt das, was er getan hat oder tun wollte, etwa gleich seine Tötung, Yami? Antworte mir!“ In seine Augen trat ein wütendes Glimmen, das sie nur noch aus- drucksstärker werden ließ, als sie ohnehin schon waren. „Hättest du dich lieber von ihm vergewaltigen lassen?“, fuhr es aus ihm heraus. „Nein, natürlich nicht. Trotzdem ... Es verdient einfach niemand in meinen Augen so einen Tod.“ „Auch nicht die Vampire, die deine Eltern getötet haben?“ „Ähm ... hmm ... Ich ... ich weiß es nicht“, musste ich nach etlichem Stottern gestehen. „Mög ... licherweise.“ So sehr ich auch eine Befürworterin des Lebens war, eines konnte ich nicht von der Hand weisen: Yami hatte Recht. Seit sie tot waren, wünschte ich mir Rache für meine Eltern, denn ihre Mörder waren schließlich nie gefasst worden. Ich wollte, dass sie für all das bezahlten, was sie uns, was sie mir damit angetan hatten. „Das dachte ich mir“, sagte Yami. „Und wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages sogar die Möglichkeit dazu bekommen. Immerhin sucht der Nieschan nach dir. Doch momentan bist du sicher. Selbst wenn sie bereits hinter deine Identität als Blumenmädchen gekommen sein sollten, bist du ja nun erneut aus ihren Augen verschwunden. Und das gibt uns die nötige Zeit, um dich für den Notfall vorzubereiten. Wenn du möchtest, werde ich mich darum kümmern, dass du im Umgang mit diesen Waffen unterrichtet wirst. Aber überleg dir das alles ganz in Ruhe. Ich habe dir heute eine ganze Menge Dinge erzählt und ich denke, das Beste ist es für dich jetzt, wenn du erst einmal über all das nachdenken kannst und dich ausruhst. Und morgen sehen wir dann weiter. Einverstanden?“ Zur Antwort konnte ich nur noch gähnen. Jetzt, da das Geheimnis endlich gelöst war, wurde ich von der bislang erfolgreich verdrängten Müdigkeit förmlich erschlagen. Yami hatte Recht, ich brauchte Ruhe. Er hatte mir so viele Dinge erzählt, über die ich erst einmal in Ruhe nachdenken musste. Diese ganzen Informationen, die er mir in so kurzer Zeit gegeben hatte ... Ich musste das alles erst mal verarbeiten. Mein ganzes Leben, meine gesamte Vergangenheit, alles, woran ich geglaubt hatte, war an nur einem Abend durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt worden. Als ich aufstand, schwankte ich leicht, ganz hatte sich das Schwindelgefühl die ganze Zeit über nicht gelegt. Yami schob meine Hand durch seinen Arm. „Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Nicht dass du mir unterwegs noch umkippst, Liebes.“ Ich nahm das Kästchen, in dem die Kette gelegen hatte, an mich. Dann durchquerten wir gemeinsam den Raum. An der Tür drehte sich Yami noch einmal um und hob die rechte Hand. Die Kerzen flackerten kurz und verlöschten dann von selbst. „Elementarbeherrschung“, sagte er, als wäre dies die natürlichste Sache der Welt. „Das lernst du später auch noch.“ Den Rest unseres unterirdischen Weges legten wir schweigend zurück. An der Geheimtür drückte Yami einen Stein in die Wand, die Regalwand verschob sich mit einem leisen Klicken und gab den Weg in die Bibliothek wieder frei. Im Haus war es still, weder von Seth und Mai noch von den Angestellten war etwas zu hören. Yami brachte mich noch die Treppe hoch und bis zu meiner Tür, wo wir uns voneinander verabschiedeten. In meinem Zimmer ließ ich mich erschöpft auf mein Bett sinken. Puh ... Okay, das war jetzt auch für meine Verhältnisse mal ein ungewöhnlich langes Kapitel. Aber kürzer hätte ich mich – selbst wenn ich gewollt hätte – nicht fassen können. Es gab einfach zu viele Dinge, die Yami bzw. ich unbedingt loswerden wollte. Darum hat es auch so lange gedauert, dieses Kapitel fertig zu schreiben. Das große Mysterium um Alinas Herkunft ist also endlich gelüftet und ich bin sehr gespannt darauf, wie ihr es gefunden habt. Moonlily Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)