My Wish for the Forbidden Kiss Remains von Serpentia (-道ならぬ恋 michi naranu koi –) ================================================================================ Two loves I have, of comfort and despair ---------------------------------------- My Wish for the Forbidden Kiss remains -道ならぬ恋 michi naranu koi – Kapitel 20 Two loves I have, of comfort and despair [1] [1] by William Shakespeare can you still take it? come on give it to me come on come on come on deeper –go deeper –always deeper into the shit Sakuras kindlicher Körper tänzelte vor ihnen durch den unterirdischen Schacht. An den weißen Kachelwänden schallte ihr Lachen hell und klar wieder. Die langen Neonröhren flackerten manchmal und Motten schwirrten um sie herum. Megumi und Kyo stapften hinter Sakura her zum Wärtertor der U-Bahnstation. Niemand kam ihnen entgegen, nur einige Überwachungskameras begleiteten sie leise piepend in diesem trägen Labyrinth. Entgegen des Verbots rauchten sie gemeinsam Kyos letzte Zigarette. „Warum raucht ihr zwei mit euren schönen Stimmen nur?“, fragte Sakura vorwurfsvoll. Dabei lief sie vor, sprang fröhlich umher wie ein kleines Mädchen und streckte ihre Arme weit von sich als wolle sie die ganze Welt umarmen. „Warum trinkst du nur so viel?“, fragte Megumi zurück, doch sie wurde nicht gehört & ihre einzige Antwort war das Lachen, das von den Kacheln reflektiert wurde. „Und du“, fragte Kyo, „Warum bist du nur so gemein zu ihr?“ Megumis dunkle Augen sahen ihn bittersüß an. Das wäre sie doch gar nicht. Seit nun schon einem Jahr erzählte Sakura davon, wie sie von ihrer Freundin dominiert wurde. Eifersucht, das stetige Balancieren zwischen Hass & Liebe, Kontrollanrufe, Vorwürde. Es war die reinste Qual für die liebe, herzliche Sakura. „Sie ist mein kleiner Schmetterling“, sagte Megumi ruhig, „Jedem Schmetterling in Gefangenschaft bricht mal was vom hübschen Flügelchen ab, aber ich will sie nicht los lassen.“ Er antwortete nichts darauf, notierte sich nur in seinem Gedächtnis, dass Megumi ihre Beziehung als Gefängnis bezeichnet hatte. Sein ursprünglicher Plan Megumi für sich zu gewinnen war gestorben in der Minute, in der er sie als Sakuras Freundin erkannt hatte. Er hatte Megumi schon einmal gesehen, bevor sie sich in der Umkleide vor einer Woche begegnet waren. Es war der Abend gewesen, an dem er Sakura zu Shinyas Begleitungswette mitgenommen hatte und Dir en grey das erste Mal mit ihren Freundinnen ins Onajin gegangen waren. Damals, als Die & Kaoru sich das erste Mal geküsst hatten, damals als Sakura sich ihm in den Arm warf um ihre Freundin eifersüchtig zu machen, damals hatte ihn Megumis tödlicher Blick aus der Menge der tanzenden Menschen getroffen. Dieser Blick hatte ihn durchbohrt, sich tief in ihn hinein gefressen. Darum konnte er sich noch so gut an sie erinnern. Heute Nacht waren ihre arroganten Augen wieder genauso schwarz geschminkt wie damals. Er hatte ein recht großes Selbstbewusstsein, was einen Eroberungsversuch anging. Sie war offensichtlich nicht sehr treu und nicht besonders zufrieden mit ihrer Beziehung. Aber das konnte er keiner Freundin antun, oder? Auch wenn diese Beziehung hoffnungslos zerstört war? Er Sakura schon so oft geraten hatte, es einfach sein zu lassen, sie nur nie die Kraft hatte es zu beenden? „Du machst mich wütend“, erkläre Kyo schlicht und reichte ihr die Zigarette für den letzten Zug, „Such dir jemanden, der dir standhalten kann und nicht neben dir untergeht.“ Wieder beobachteten ihn diese dunklen Augen mit einem Seitenblick, der nichts aussagte, aber alles in Kyo anzog. Der Tabakrauch floss zwischen ihren Lippen hervor, an ihrem Gesicht vorbei, ihre langen Wimpern entlang. „Aha“, machte sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme, „Du weißt das natürlich.“ „Es mag nicht alles besser sein als das“, gab er zu, „Aber einiges.“ „Ha!“ Sie zertrat den Zigarettenstummel mit ihren Stiefeln kräftiger als nötig. „Warum hast du Sakura nicht frei gelassen, als sie dich letzte Woche darum gebeten hat?“ „Weil du es ihr eingeredet hast“, sagte sie und schockte ihn mit ihrem Wissen, „Ich kenne dich, Kyo. Sakura erzählt von dir. Aber ich lasse sie mir nicht von dir wegnehmen.“ Er hielt es für das Beste auf diese Absurdität nicht zu antworten. Mühselig stapften sie nebeneinander her bis sie endlich den Schalter erreichten, Fahrscheine lösten und durch die Drehtore zu den Gleisen gingen. Sakura erwartete sie jenseits der Tore mit offenen Armen. Brüderlich wollte Kyo ihr über den Kopf streicheln, doch dabei umarmte sie ihn. Sie war sanft, aber schwach. Er nahm ihren Arm und führte sie die Treppe zum Gleis hinunter. Stetig spürte er Megumis dunklen Blick in seinem Nacken. Schweigend saßen sie auf einer Bank allein in der gähnend leeren Station, drei kleine Menschen eng nebeneinander. Sakuras Kopf lag auf seiner Schulter und sie beobachtete ihn und Megumi beim Küssen, streichelte ihm dabei an seiner Seite entlang. Kyos Herz schlug mehr als wild und so heftig, dass es in seinen Ohren lauter war als die einfahrende Bahn beim Einfahren dröhnte –was tat er? Das hier war nicht nur irgendeine Perversität. Er mischte sich in etwas ein, das bereits explosiv war und nur noch gefährlicher für alle Beteiligten werden konnte. Megumi küsste aufregend, nicht gerade wie eine Frau, aber auch noch nicht ganz wie ein Mann. Sie schmeckte nach seinen Zigaretten, abstoßend, aber vertraut. Wie im Traum stieg er mit den Frauen in das ebenso hell erleuchtete, wie verlassene Abteil ein. Die Frauen setzten sich und fingen an sich zu küssen. Kyo lehnte seinen Kopf gegen eine Eisenstange, während er ihnen zusah. Er fühlte sich unwohl, pervers, aber dennoch wollte er es nicht sein lassen. Die Aussicht, das alles würde in einer richtigen Scheiße enden, war so faszinierend wie verlockend –es war aufregend. Er bewegte sich sehr langsam im Takt der Musik. Ein ewiges hin und her schwanken: links, rechts, links, rechts... in die Knie, schwankend... links rechts links rechts... Sein Kopf nickte mit, immer ein bisschen später als der Torso. Die Arme baumelten hinab, schlangen sich um seinen Bauch, selten streckten sie sich in die Höhe. Kaoru war in einer Trance, puren Trance. Sein langer Pony hing ihm im Gesicht, doch es störte ihn nicht. Seine Augen waren geschlossen, die Tanzfläche so gut wie leer, er musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Es war nach 3 Uhr morgens, da hatte er sein letztes Bier gekauft, und noch keine 5, dann würde der Club schließen. Mehr Orientierung hatte er nicht. So bemerkte er Die ihm gegenüber erst nach einer Weile. Ganz schlicht in Muskelshirt und Jeans gekleidet, war Dies tanzender Körper zu faszinierend als dass er seine Augen lösen konnte. Links, rechts, links rechts links... Sie tanzten wortwörtlich im Einklang. Kaoru ging einen Schritt nach vorne, um nicht nur vor Die zu tanzen, sondern mit ihm zu tanzen. Sie sahen sich an, hinter seinen Fransen hervor fixierte Kaoru seinen Blick auf Dies Augen. Obwohl ihre Mundwinkel sich nicht verzogen, drückten ihre Augen ein breites Spektrum an Emotionen aus. Freundlichkeit, Erwartung. Erkannte Die tatsächlich Begierde in Kaorus Augen oder spiegelte sich nur alles was in ihm war in seinem Gegenüber wieder? Er trat tanzend einen Schritt näher. Kaoru tanzte ein wenig in sich zusammen gekrümmt, sackte in sich ein, richtete sich mit einem Mal auf und starrte zurück. Die Lederjacke knüllte und zog sich, wenn er seine Arme im Takt um seinen Körper schleudern ließ, wenn sein Tanzen unaufmerksamer wurde, weil er Die beobachtete, der geschmeidig von einem Fuß auf den anderen trat. Dies Tanz war abwechslungsreicher, geübter, denn er bewegte seinen Oberkörper mit mehr Gefühl, nutzte jeden Muskel mit Bestimmtheit und war im vollen Bewusstsein darüber, was er tat, was er bewirkte. Kaoru sah es und ein wenig Neid machte sich in ihm breit, aber der wurde nieder geschlagen von einem anderen Gefühl –diesen tanzenden Körper zu berühren, unter seinen Handflächen zu spüren, wie sich diese Muskeln bewegten. Er wollte aufgenommen werden in diesen Tanz, zu dieser Bewegung gehören, Dies Körper ganz nah an seinem spüren. Als sein Verstand es endlich in Worte gefasst hatte und er anfing sich zu schämen, war er schon noch einen Schritt näher an Die herangekommen. Dann war da Dies ausgestreckter Arm neben ihm unschuldig im Takt wippend. Nur noch zwei Handlängen trennten sie und während sie sich fest ansahen, bewegten sie sich immer weiter zu einander. Kaoru streckte seine Hand aus und berührte Die an der Schulter. Er brach den Blickkontakt ab, um an Die hinunter zu sehen, den Körper zu sehen, der nun zu nah war um ihn aus den Augenwinkeln zu betrachten. Die bemerkte es und spielte absichtlich mit seinem Bauch, mit seinen Hüften, fasziniert, dass er so eine Wirkung auf Kaoru erzielen konnte. Es war, was er sich lange gewünscht hatte. Kaoru hatte ein Verlangen nach ihm, freiwillig, ohne Pflichtgefühle oder Mitleid, Kaoru wollte ihn, das konnte Die sehen. Es spürte die Blicke auf seinem Körper, bemerkte wie sich immer näher kamen, die Hand auf seiner Schulter zog ihn sanft weiter zu Kaoru. Die entschloss sich Nägel mit Köpfen zu machen und fasste Kaoru am Rücken, um ihn endlich ganz an sich heran zu ziehen. Im letzten Moment stoppte er, doch Kaoru drängte sich weiter, bis sie sich Hüfte an Hüfte berührten, je einen Arm um den anderen geschlungen so nah waren, dass sich ihre Gesichter nur ein bisschen mehr als eine Zigarettenlänge trennten. Während Kyo eine Wohnungstür hinter sich und den beiden Frauen schloss, saßen sich Toshiya und Shinya immer noch im Wohnzimmer auf den grauen Sofas gegenüber. Sie tranken jeweils ihr zweites Bier und erzählten sich leise von Kindheiten, angefangen mit ihren eigenen, der ihrer Eltern, ihrer Freunde, über Kinder, die sie kannten, und solcher, die sie einmal haben würden. Sie sprachen leise, um Sarah im Nebenraum nicht zu wecken und hörten noch leiser Musik. Pink Floyd dudelte progressive in der dunklen Luft. Toshiya konnte kaum die Hälfte des Gesichts seines Freundes ausmachen. „Was für Eltern wohl Kaoru hat?“, fragte dieser gerade, „Ich habe ihn noch nie etwas von zu Hause erzählen hören.“ „Sie sollen sehr streng mit ihm gewesen sein. Vielleicht will er sie deshalb vergessen.“ Es folgte ein irritierter Blick. „Meinst du, dass ein Mensch das kann? Seine eigenen Eltern vergessen?“ „Er kann es zumindest wollen.“ Unangemessen kicherte Toshiya auf einmal. „Einen Vorteil hat er damit: Er muss sich nicht überlegen wie er ihnen Die vorstellen soll.“ „Du hast die Wette verloren“, sagte Shinya, doch ihm wurde widersprochen: „Offiziell geoutet haben sie sich noch nicht.“ „Werden sie.“ „Hoffentlich nicht vor Silvester.“ Sie lachten und verstummten aber sofort, als sie Licht im Flur sahen, das aus dem Schlafzimmer kam. Reuig, aber belustigt legte Toshiya den Zeigefinger auf die Lippen. Doch dann erlosch der Schein mit einem lauten Poltern. Die beiden Männer sprangen auf und liefen gleichzeitig los. Eilig schaltete Toshiya die Deckenbeleuchtung an und sie blickten sich um. Rechts von ihnen war das große Doppelbett, halb darauf, schon halb auf dem Boden lag Sarah –Kopf über. Neben ihr lag die Nachttischlampe mit zerbrochener Birne. Toshiya half ihr sofort hoch, während Shinya sie vom Kabel befreite und die Scherben weg hielt. Die junge Frau hielt sich den Kopf, wo sie offensichtlich von der Lampe getroffen worden war, und –Toshiya gefror- ihren Bauch. Nur nicht dort, wo der Magen lag, sondern noch ein Stück weiter unten. „Was ist passiert?“, fragte Shinya gefasst an seiner Stelle. „Schmerzen“, antwortete Sarah gequält, „Es zieht ganz komisch. Ich wollte euch rufen, aber dann habe ich das Gleichgewicht verloren.“ Mit Hilfe der beiden Männer setzte sie sich zurück aufs Bett, Toshiya hockte sich vor sie und hielt ihre Hände. Notdürftig kehrte Shinya mit bloßen Händen die Scherben beiseite. Er betrachtete das schmerzverzerrte Gesicht. „Wir sollten in ein Krankenhaus fahren. Zum Notdienst, nur für den Fall.“ Lethargisch nickte Toshiya, wobei er Sarahs Gesicht streichelte. „Ja“, sagte er endlich und griff nach dem Hörer auf dem Nachtschränkchen, „Ich rufe uns ein Taxi.“ ~ Ganz weit in der Ferne konnte Yukino schon die Morgendämmerung erkennen. Hübsch war sie, ein kleiner rötlicher Streifen, der hier und da von einigen Wolkenkratzern durchbrochen war. Golden wurden die Wolken von unten beschienen, zerrissen vom kalten Winterwind, sodass sie sich im schwarzen Firmament verloren. Dazwischen leuchteten einige vereinzelte Sterne, die den Morgen noch nicht einlassen wollten. Yukino sah und hätte gerne gelächelt. Stattdessen drehte sie sich um und stieß die Tür des Personaleingangs des Krankenhauses, in dem sie Schwester war, auf, grüßte einen Kollegen und knöpfte ihren Mantel auf. In der Umkleide war ein Spiegel, in dem sie sich lange besah. Es war Shinyas Wintermantel, den sie trug. Seine Kleidung war so feminin, dass es niemanden auffiel, wenn Yukino sie benutzte. Sie zögerte einen Moment ihn abzustreifen, denn gleich würde sie arbeiten und sich jeden Gedanken an ihn verbieten –ihn gegen Patientenakten und Medikamente eintauschen. Den Gedanken daran, dass er ohne Nachricht nicht in ihre gemeinsame Wohnung zurückgekehrt war. Das erste Mal hatte sie ihn Tokyo ganz allein geschlafen. Sie trug seinen Mantel immer noch, als eine Kollegin hineinkam und sie ganz überrascht ansah. „Was machst du denn hier? Ich dachte, dass du oben bei Shinya bist“, sagte sie und erschreckte Yukino so sehr, dass sie zusammenzuckte, etwas, dass ihr nur sehr selten passierte. „Shinya ist hier?“, fragte sie ungläubig und fing an nach ihrem Handy zu suchen. Die Kollegin nickte: „Ja, in der Ambulanz mit einem Freund und dessen Frau. Ich glaube sie warten auf jemanden aus der Gynäkologie.“ Flink knöpfte Yukino den Mantel wieder zu. Es war schon später Vormittag, als Miyako ihrem Freund die Tür öffnete. Sie waren mit seinen Eltern zum Mittagessen verabredet und sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Augenringe unter ihrer Schminke verschwinden zu lassen. Trotzdem hatte die Feier der letzten Nacht ihre deutlichen Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Alkohol und Schlafmangel füllten - oder eben entleerten- noch latent ihren Körper trotz der kalten Dusche und Kopfschmerztablette. Sie begrüßte ihren Freund wie immer mit einem kurzen Kuss, er kam hinein und stellte sich neben die Garderobe um darauf zu warten, dass mitkäme. Ihr Blick wanderte von ihm zu den Jacken. Zwei Lederjacken hingen dort übereinander, die sie sehr gut kannte. Auch die Stiefel und Chucks konnte sie einwandfrei zuordnen. Zweifelnd drehte sie sich zu Dies Zimmertür um. Als sie in der letzten Nacht das Onajin verlassen hatte, waren die beiden Männer eng tanzend auf der fast leeren Fläche nicht zu übersehen gewesen. Was das nicht schon Beweis genug? Sie bedeutete ihren Freund zu warten und klopfte leise an Dies Tür, erwartungsgemäß kam keine Antwort. Dann brach sie das Tabu. Sie öffnete die Tür und trat ins Zimmer ein. Selbst als sie noch mit ihm zusammen gewesen war, hätte sie es nicht getan. Nun, da sie ihn mit einer anderen Person im Bett zu erwarten hatte, tat sie es. Die Luft dort drinnen war stickig, die Fensterläden halb hinuntergezogen, sodass nur spärlich die Morgensonne eindringen konnte. Die Tücher um Dies Himmelbett waren an allen vier Seiten hinuntergelassen. Dunkelrote Tücher, wie die eines Puffs, schlossen die beiden umschlungenen Körper ein und verborgen sie vor fremden Blicken. Miyako trat auf das Bett zu und schob einen der Vorhänge zur Seite, sodass sie die Gestalten besser erkennen konnte. Die Bettdecke war fast bis zur Hüfte hinuntergezogen, sodass sie zwei nackte Männeroberkörper entblößte. Sie lagen beide auf ihrer linken Seite, Miyako ihre Front zugewandt. Ganz eng schliefen sie aneinander gepresst, Die hatte seinen Arm um Kaoru gelegt und hielt ihn fest im Schlaf. Obwohl Miyako innerlich schon davon lief, rührte sie sich kein kleines Stückchen. Mit Mühe beruhigte sie sich, um die Gefühle zu sortieren, die sich in ihrem Inneren auftaten und drohten sie durch ihre schiere Masse zu überwältigen. Herauskristallisierte sich Freude. Schlichte Freunde, dass Die endlich bekam, was er sich so inbrünstig gewünscht hatte. Es überraschte sie zuerst, denn die Erfüllung seines Wunsches war sehr kontraproduktiv so den Erfüllungen ihrer Wünsche. Trotzdem war da Erleichterung, sie spürte wie eine Entscheidung von ihr genommen war. Dann verstand sie, warum sie sich für Die freute. Sie tat es, weil er ihr wichtig war, um einiges wichtiger als sie sich bewusst war –und sie war sich über eine große Wichtigkeit bewusst gewesen. Kitschig, aber sie hatte ihn sich nie zurückholen können, weil sie immer gewollt hatte, dass er glücklich sein sollte. Auch, weil ihr nur ein zufriedener, nicht glücklicher Die kein eigenes Glück beschert hätte. Nun freute sie sich für ihn, obwohl sie nicht zusammen waren. Sie kümmerte und sorgte sich auch jetzt noch um ihn, wo er sie endlich erfolgreich ersetzt hatte, was sie sogar freute. Ihn mit Kaoru zu sehen, machte ihr die eigenen Gefühle noch deutlicher. Sie würde nie aufhören sich um ihn zu sorgen, aufhören können, so zu fühlen. Selbst wenn seine Arme nicht sie einschlossen, wenn sie ihn nicht in die ihren einschließen durfte. In Wahrheit würde er sie nie loslassen, sie würde nie frei sein. Ihr Atem ging heftiger und bewegte die Vorhänge unheimlich. Dies Gesicht war friedlich im Schlaf und Kaorus Augen standen offen. Miyako trat erschrocken einen Schritt zurück. Schlief er mit offenen Augen oder...? Doch seine Brauen bewegten sich, zogen sich erst fragend zur Stirn und zerknitterten dann wütend über seinem Nasenbein. Was machst du hier? Das hier ist jetzt mein Reich. Du hast hier nichts zu suchen! Trotzig versuchte sie standzuhalten, eine Rechtfertigung zu finden, auf die entschuldigenden Worte, die ihr zu entgleiten drohten, zu verzichten. Sie war immer noch eine Bewohnerin dieses Appartements. Warum sollte sie nicht hier sein? Doch sie stand dort wie nackt seinem Blick ausgeliefert, obwohl er dort ohne Hemd im Bett lag, eindeutig verletzt in seiner Intimsphäre. Eigentlich war er doch nackt, doch Dies Arm um ihm herum schützte ihn mehr als jeder Stoff. Er war stark, weil er in der Position war, in der sie einst gewesen war, die sie nie freiwillig verlassen hatte. Er hatte sie daraus vertrieben. Es war gut, dass Die glücklich war, doch sie begann Kaoru dafür zu hassen, dass er existierte. Überstürzt flüchtete sie den Raum und warf sich im Flur in die Arme ihres Freundes. Er verstand die Situation nicht, hielt sie dennoch fest, denn er wusste nichts Besseres. Miyako verbarg ihren Kopf in seiner Jacke, nicht weil es seine Jacke war, nicht weil sie seinen Geruch so sehr liebte, wie sie es früher bei Die immer getan hatte, und auch nicht um diese Gewohnheit zu ersetzen. In dieser Dunkelheit entfloh sie der Wohnung in der sie stand. Sie sah nicht die Wände, die sie beim Einzug mit Die gemeinsam gestrichen hatte, kein Möbelstück schrie ihr Erinnerungen entgegen. Der Herzschlag des Mannes übertönte die gewohnten Geräusche in der Umgebung, die Miyako nur noch hörte, wenn sie sich darauf konzentrierte, sein noch nicht ganz vertrauter Geruch löschte alles aus, was in der Luft herumströmte, ihr eigenes Shampoo, das sie sich mit Die teile, ihre Duftkerzen, über die er sich immer lustig machte. Für einige Momente funktionierte es, doch weil ihre Gedanken nicht von ihrem Freund vertrieben werden konnten und ihr Gedächtnis weder vergaß noch vergab, quälte die Wohnung sie weiter in ihrem Kopf. Sie sah das Sofa vor dem Fernseher, auf dem sie mit Die kuschelte, die Küchentisch und ihre gemeinsamen Malzeiten, Dies Bett, das noch in ihrem Zimmer stand, damals, als sie noch viele peinliche Sachen dort zusammen getan hatten. Sie musste hier raus. „Schatz?“, wisperte sie leise und hob ihren Kopf. Ihr Freund sah sie recht dümmlich, aber sehr lieb und versucht einfühlsam an. „Wenn dein Vorschlag noch besteht“, hauchte sie ihm ins Ohr und bemerkte zufrieden seine Gänsehaut, „Dann würde ich jetzt gerne Ja sagen.“ Kyo knöpfte seine Hose zu. Im beschlagenden Badezimmerspiegel betrachtete er seinen kleinen Körper. Sonst stachen ihm seine unproportionale Figur und sein unmännliches, niedliches Gesicht beschämend in die Augen, doch gerade mochte er sich – auch fast ohne Kleidung und Schminke, die Haare nass und platt, die Wangen rot von der heißen Dusche. Mit einem Handtuch rubbelte er seine blonden Fransen trocken, dann zog er die Kleidung an, die ihm eines der Mädchen bereit gelegt hatte. Frische Socken und ein Shirt. Als er das kleine Fenster öffnete zog ein eiskalter Luftzug ein und sofort perlte das Kondenswasser vom Spiegel. Vor diesem zupfte er an seinen Haaren, bevor er die Tür öffnete, um in die Küche zu gehen. Megumis Wohnung war mindestens doppelt so groß wie seine eigene, schöner eingerichtet, sauberer. Einige Möbelstücke kamen ihm sehr wertvoll vor, genau wie das Bild über dem Fernseher, welcher selbst zwar etwas veraltet, zu Zeiten in denen er aktuell gewesen war, sicher ein kleines Vermögen gekostet hatte. Alles war ein bisschen zu stilvoll für die Einrichtung einer einfachen Kosmetikerin. Im Vorbeigehen ging er ins Schlafzimmer und holte Sakura aus ihrem Dämmerschlaf damit sie duschen ging. In der Küche erwartete ihn Megumi mit heißem Kakao und der CD-Spieler dudelte leise im Hintergrund eine simple, popige Melodie. Megumi reichte ihm die Tasse und lächelte. Kyo nahm nicht Platz, sondern begann nach Tellern und Besteck zu suchen. Sie sprachen nicht viel, nur manchmal fragte er, sie antwortete oder bat um etwas, sodass er reagierte. Nicht viel mehr war. Aber dieses etwas, das mehr war, bedeutete eine angenehme, alles einschließende, umfassende, sogar abrundende Harmonie. Megumi hatte nach dem Duschen wieder einen Schlafanzug angezogen. Sie wollten sich gerade setzen als Sakura hineingetapst kam. Das Handtuch noch um ihre Haare gewickelt, ebenfalls ein von Megumis Shirts tragend. Sie küsste ihre Freundin auf den Mund und Kyo auf die Wange. „Guten Morgen“, wurde gewispert. Sie gab Kyo sein Handy mit dem Hinweis, es habe geklingelt. Es kam ihm gar nicht in den Sinn zum Telefonieren die gemütliche Küche zu verlassen. Es störte ihn auch nicht, dass die Frauen, das Gespräch mitbekommen würden und er war sich sicher, dass es die Ruhe nicht zerstören würde. Shinya antwortete sofort auf den Rückruf. „Endlich gehst du ran“, sagte er offensichtlich atemlos, „Ich versuche schon den ganzen Morgen Kaoru oder dich zu erreichen.“ „Kaoru wird wahrscheinlich beschäftigt sein...“, bemerkte Kyo süffisant mit dem Gedanken an jenen und Die auf dem Sofa des Onajins. Shinya ging nicht darauf ein, was Kyo gewöhnlicherweise alarmierte oder zumindest stutzig machen würde. Doch an diesem Morgen war seine Welt so perfekt, dass ihn die schlechte Nachricht unvorbereitet und dem entsprechend hart traf. „Sarah liegt ihm Krankenhaus. Sie hat das Kind verloren.“ Er ließ sich die Adresse der Ambulanz geben und versprach sich sofort auf den Weg zu machen. Die Frauen nahmen die Veränderung sehr bewusst wahr. Sein Blick verdunkelte sich wortwörtlich, da er seinen Kopf hängen ließ und das helle Licht der Küchenlampen nicht mehr bis unter seine Fransen zu den Augenhöhlen durchdringen konnte. Sofort standen sie zu seinen Seiten und schmiegten sich an seine Schultern. „Komm, iss erst was“, raunte Megumi in sein Ohr, „Dann fahre ich dich später dorthin. Bleib erst noch hier und ruhe dich aus.“ Ihre Stimme war nicht so rau und herrisch wie in der Nacht, sondern süß und zäh wie Honig, klebrig. Sakura wiederholte die Worte mit ihrem kindlichen Bitten. Paralysiert nickte er und schaffte es in seiner wiederkehrenden Traumwelt gerade noch Die per Sms zu benachrichtigen. Währenddessen saßen Toshiya und Shinya in einem weißen Flur gegenüber der Zimmernummer 304. Toshiya konnte und wollte sich nicht beruhigen, beruhigen lassen. Er stand auf, lief den Gang entlang, setzte sich neben Shinya , holte sich dann noch ein Wasser, kam zurück nur um in der nächsten Sekunde wieder rauchen zu gehen. Shinya dagegen saß ruhig da und beschäftigte sich zum Zeitvertreib damit Toshiya zu beobachten, sogar eine Regelmäßigkeit in der Endlosschleife aus nervösen Handlungen zu entdecken. Wie ein Zootier, das immer die gleichen Kreise im Käfig ablief. Er kannte das. Er kannte Krankenhäuser und die Menschen darin. Beide hatten ihn seit jeher, fast solange er sich erinnern konnte, begleitet. Sein Vater hatte alle Stationen eines Krebspatienten durchlaufen, die es zu durchlaufen gab –inklusive des Hospizes; Shinya war stets mitgelaufen. Psychotherapeutische Praxen waren nicht viel anders, das wußte er dank seiner Mutter. Seit Yukino in Tokyo wohnte kannte er sogar den Personalbereich dieses Krankenhauses, dementsprechend, jedes Krankenhauses, denn grundlegend waren sie alle gleich. So einzigartig im Hintergrund und Schmerz sich die einzelnen Patienten mit ihren Angehörigen auch wähnte, Shinya, der schon zu viele sehen hatte, wußte, dass es nichts besonderes an ihnen gab, dass jedes ihrer Schicksale austauschbar und stellvertretend für Hunderte der selben art war. Darum machte es ihm nichts aus hier auszuharren und Toshiya zu beobachten. Das war alles vollkommen normal, so normal wie der Tod selbst war. Wenn man den heutigen Tod des Kindes nicht mit der üblichen, tragischen Dramatik nahm, blieben nur noch ernüchternde Feststellungen. Dabei hatte Shinya sich wirklich bemüht etwas pathetisch Kyo zu bitten ihn abzulösen. Gegen Mittag wollte er arbeiten und er hatte nicht geschlafen, eine kurze Dusche würde ihm gut tun. Das Geräusch ihrer Schritte verriet Yukino schon bevor er sie um die Ecke kommen sah. Dieses einzigartige Klackern von schmalen Füßen unter der Last eines großen, dünnen Körpers. Sie begrüßten sich kühl, nicht wie ein Liebespaar, eher wie Bekannte. Der Streit des letzten Abends schwang noch in der Stimmung mit. Als sie fragte, wo er geschlafen hatte, hörte er unterschwelligen Vorwurf aus den Worten heraus. Gerade interessierte es ihn jedoch nicht. „Eine der Schwestern betreut sie noch“, erklärte er, um das Thema zu wechseln, und nickte zum Zimmer 304. Toshiya hatte Yukinos Ankunft als Gelegenheit wahrgenommen sich zum Raucherbereich aufzumachen und war schon lange den Gang hinunter verschwunden. „Seit der Diagnose will sie Toshiya nicht sehen.“ Sie brauche ein wenig Zeit, hatte sie gesagt, alleine. Niemand könne das Kind wiederbringen, dementsprechend könnte ihr nun niemand konkret helfen. Sie hatte mit dem Rücken zu ihnen gelegen, eingerollt in der Fötusstellung, einem Fenster mit der glühenden Sonne zugewandt. Ging sie auf, ging sie unter? Dieses Rot hätte alles sein können. Diese Stille, reine Stille, nicht Ruhe, war etwas ungewöhnlich, aber es kam vor. Nachdem der Arzt die Umstände erläutert hatte, hatte Sarah sich aufs Bett gelegt ihnen den Rücken zugedreht und Einsamkeit verlangt. Toshiya hatte es schweigend hingenommen, war aber noch lange stehen geblieben, als ob er sich von diesem Rücken nicht hätte losreisen können. Schließlich war er doch mit hängenden Schultern Shinya auf den Flur gefolgt um seine Endlosschleife er Nervosität zu beginnen. „Schon seltsam“, sagte Yukino in ihrer typischen, ruhigen Art, „Sie hat nie von Schwierigkeiten geredet. Jung und gesund wie sie ist, waren das doch perfekte Vorraussetzungen für eine Schwangerschaft. Nicht mal einen leichten Eisenmangel hatte sie. Darauf war sie so stolz.“ „Körperlich“, ergänzte Shinya, „Das Kind war alles andere als geplant und ob es gewollt wurde, ist bis zu seinem Tod nie ganz klar geworden.“ „Meinst du, sie hätte...?“, sie ließ den Satz unbeendet, denn in Shinyas Gesicht stand klar geschrieben, dass er sie verstanden hatte. „Hätte sie gekonnt?“ „Man kann die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt leicht erhöhen. Alkohol, Zigaretten, falsches Essen, zu große, körperliche Anstrengung... Sie wusste was sie nicht durfte.“ „Ein Schlag auf den Bauch?“, fragte er und sah sie nicht an. Vor seinem inneren Auge kniete Sarah neben dem Bett, während Toshiya ein Taxi bestellte. Wie oft hätte sie fallen müssen, damit ihr Uterus geschädigt würde? Wie viel Wein hätte sie trinken, wie viele Treppen steigen? „Unfälle können dazu führen, ja“, erklärte Yukino, „Genau wie eine große, psychische Belastung, Stress. Wenn einiges zusammen kommt, sagt unser Körper einfach: „Nein, die Umstände sind nicht gut genug. Fortpflanzung ist nicht gestattet.“ „Es konnte also gewollt worden sein?“ „Es könnte, wäre aber unwahrscheinlich.“ Shinya trommelte auf seinem Knie, während er überlegte. Es musste nicht ihre Schuld sein, Fehlgeburten waren recht häufig. Unschuldig würde sie nun bedauert werden, schuldig als unschuldig bezeichnet. Keine Frau würde ihr Kind absichtlich auf diese Weise zu töten versuchen, oder? Auch nicht, wenn eine Abtreibung von Anfang an in Erwägung gezogen worden war? Nun Sarah hatte ja nicht mehr abtreiben dürfen, ihr Versprechen Toshiya gegenüber hatte es ihr verboten. Shinya zog die Möglichkeit in Erwägung, beschloss dann aber, dass er sich wohl zu sehr gelangweilt hatte, in diesem Krankenhausflur. Die stolze, selbstsichere und entscheidungsstarke Sarah würde so etwas nicht tun. Seine Anschuldigungen erschienen ihm paranoid, hetzerisch. Trotzdem blieb ihm das Bild ihres schlanken Rückens im Kopf, wie sie allein sein wollte, den Vater des Kindes ablehnte, wegstieß, niemanden in die Augen sehen wollte. „Sie hätte?“, fragte er noch einmal. „Ja, sie hätte“, antwortete sie. Seit Miyakos vermeidlich heimlichem Besuch fand Kaoru keinen Schlaf mehr. Um auf die Uhr zu sehen, hätte er sich umdrehen müssen, doch das wagte er nicht aus Angst Die zu wecken, der ihn umklammert hielt. Wie lange lag er also nun wohl schon wach und dachte an sie? Frauen konnten einem wirklich Angst machen. Ihr Blick hatte ihn zerrissen. War es seine Schuld, dass sie Die nicht mehr hatte? Konnte denn es so sein? Ärgerlich über sich selbst streifte er seine Schuldvorwürfe von sich selbst ab, streckte und verrenkte sich so gut es eben möglich war ohne sich aus Dies Umarmung zu befreien. Die Nähe konnte gerne noch sehr lange anhalten, das war gar kein Problem. Zufrieden streichelte er Dies Hand. Hier war er also nun, im Bett mit Die. Dessen Atem kitzelte ihn gerade wieder im Nacken, sodass sich in einer angenehmen Erregung dort seine Haare aufstellten. Es war ja nicht so, dass sie das erste Mal so schliefen. Hin oder wieder hatte es ja gewisse Vorfälle gegeben, aber nun fühlte es sich viel besser an. Vielleicht, weil sich Kaoru an den größeren Körper, die langen Arme im Vergleich zu sich selbst gewöhnt hatte. Nein, überlegte er, das war es nicht. Es war das fehlende schlechte Gewissen. Shizuka war ihm nach ihrer Begegnung im Onajin sehr selten bis schließlich gar nicht mehr in den Sinn gekommen. Er hatte abgeschlossen mit ihr. Die und er, das war richtig so. Das war simpel und gut, außerordentlich gut. Kaoru dachte an den Türsteher, der ihm den Mut gegeben hatte, es so zu sehen und nahm sich vor sich irgendwie zu bedanken, sobald sie wieder dort feiern gingen. Dies Handy klingelte und er verfluchte es, denn sein Freund, ja genau: sein Freund!, bewegte sich, wachte auf. Da es nun eh schon zu spät war, drehte sich Kaoru um, um auf die Uhr zu sehen. Es war schon Mittag, doch wegen der halb zugezogenen Fenster, hatte er nichts davon mitbekommen. Nun Die zu gewandt, beobachtete er dessen Gesicht. Diese Augen öffneten sich nicht langsam, das hatten sie noch nie getan, sie flatterten hektisch, als könnten sie sich zwischen Wachen und Schlafen nicht entscheiden können. Um die Entscheidung etwas zu erleichtern streichelte Kaoru über die Wange, fuhr mit dem Daumen die klar definierten Gesichtszüge nach. „Morgen, Schlafmütze.“ „Gleichfalls…” Als Die anrief und anbot ihn ins Krankenhaus mitzunehmen, sagte Kyo, er würde an der nächsten größeren Bahnstation auf ihn warten. Er hätte seinen Freund ohne größere Probleme zu Miyakos Wohnung lotsen können, aber es war ihm tatsächlich peinlich. Shizuka begleitete ihn bis zum Treffpunkt und fuhr von dort aus nach Hause, wohl wissend, dass er nicht mit ihr von Die gesehen werden wollte. Es war nicht, weil er nicht zu den beiden Frauen stehen oder gar vertuschen wollte, was in der langen Nacht passiert war, aber wenn es ging, dann ergriff er die neutralere Methode. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass er sich gerade in einen ziemlichen Mist hineingeritten hatte. Das war es, wofür er sich schämte. Und, dass es sich so verdammt gut anfühlte. Vor der Station schneite es ein bisschen gegen Mittag, aber die Flocken waren klein und schmolzen auf dem von der Morgensonne aufgewärmten Boden. Wie immer versucht Kyo sie mit seinen Händen zu fangen und freute sich gar, wenn ein kleiner, weißer Punkt auf seinen Lippen schmolz. Er wollte nicht ins Krankenhaus, er wollte hier draußen stehen bleiben und die Schönheit der Welt genießen, genießen geboren worden zu sein. Es waren Momente wie dieser, an denen er an seine Mutter und seine kleine Schwester dachte und sich daran erinnerte, dass es Glück im Leben gab. Und gerade jetzt sollte er sich um ein Paar mit einem toten Kind kümmern? Dies rotes Auto rollte ins Rondell der Station und Kyo erkannte Kaoru auf dem Beifahrersitz. Die Mienen beider Männer sahen sehr zufrieden mit der Welt aus, zufrieden mit sich. Wie würden sie es schaffen in eine angemessene Trauerstimmung zu verfallen? Wie ehrlich würde ihr Beileid klingen, das sie mit Sicherheit Toshiya und Sarah aussprechen würden, ja sogar mussten. Sicher hatten sie an diesem freien Tag noch viele andere Dinge vor gehabt –unter anderem das Leben zu feiern, statt den Tod eines nie gelebten Lebens zu betrauern. Kyo stieg zur Rückbank ein und wurde freundlich begrüßt, dennoch sah Die ihn recht prüfend an als wüsste er ganz genau, dass Kyo etwas Dummes getan hatte und wer noch darin involviert gewesen war –auch wenn er es nicht ganz glauben wollte. Kyo ignorierte das, denn Kaorus Grinsen war viel interessanter und aufschlussreich. Auch wenn Die wusste, das Kyo etwas getan hatte in dieser Nacht, erkannte Kyo im Gegenzug mit einem Blick auf dieses Grinsen, was Die getan hatte. Gewöhnlicher Weise hätten sie nun dumme Sprüche ausgetauscht um auf lockere Art zu erfahren, was so passiert war, seit sie sich auf der Party aus den Augen verloren hatten. Leider verdarb das Ziel ihrer Fahrt jeden Spaß daran, die Welt sollte einfach nur noch träge sein. Regen hätte viel besser gepasst als Schnee. Wenn es zumindest nicht der erste Schnee des Jahres gewesen wäre. Nun würden sie bei jedem ersten Schnee trauern müssen, denn diese Erinnerung würde sie verfolgen. Sie würde Kyo verfolgen. Genauso zaghaft wie der Schnee versuchte die Welt zu verändern, spürte er selbst die latente Wandelung in ihm. So wie der Schnee den Winter ankündigte, war heute der greifbare Beginn für einige neue Situationen. Toshiya setzte sich über Sarahs Gebot hinweg und betrat das Krankenzimmer. Yukino hatte Shinya in den Aufenthaltsraum der Pfleger gebracht, damit er duschen konnte, bevor er zur Arbeit aufbrach. Alleine hielt Toshiya es nicht mehr aus auf dem Flur zu sitzen, seine Zigarettenschachtel war leer und so war seine Ausrede draußen im Schnee zu stehen wortwörtlich in Rauch aufgegangen. Sarah bewegte sich nicht, als er in das Zimmer kam. Ihr Körper war ihm zugewandt, doch es fehlte jede Reaktion. Leere Augen blickten ihm entgegen –nein, genau das taten sie eben nicht. Die Frau, seine Freundin, seine Geliebte, sah ihn nicht an. Er kannte es vom Hören-Sagen, aus Romanen: das „durch einen Menschen hindurch gucken“, aber nun erlebte er es das erste Mal real und befand, dass es ein schreckliches Gefühl war. Um es zu verscheuchen sah er sich im Raum um. Die Freundlichkeit mit der dieser Raum eingerichtet war glich einer einzigen Perversität. Beige Wände, blumige Gardinen, helle Holzmöbel. Offenbar hatte man versucht das Klischee des beängstigenden, weißen Krankenzimmers zu vermeiden. Dabei half es doch so gut die Situation zu realisieren. Es sollte ein weißes Bettlaken sein, das Sarah bedeckte, und Wände, die die Leere, den Tod seines Kindes, den Verlust widerspiegelten. Stattdessen war ihr schlanker Körper von sonnengelben Stoff umhüllt. Das Bett stand längst vor dem Fenster. Dahinter schneite es, obwohl die Sonne schien, als wären die Wolken nur direkt über ihnen. Nichts passte zusammen, alles widersprach sich in Toshiyas Kopf. Wenn Sarah ihn liebte, warum wollte sie seinen Beistand dann nicht? Wenn sie den nicht brauchte, weil sie stärker, klüger und vernünftiger war, warum gab sie ihm denn nicht den ihren? Ihr gemeinsames Kind war gestorben, wen sonst ging es an? Sie musste mit ihm reden! Es war ihre Sache als Paar, die sie durchzustehen hatten. Wenn sie sich jetzt nicht gegenseitig beistehen konnten, hatte diese Liebe überhaupt einen Sinn? Wenn sie ihn nicht hatte, wie um alles in der Welt hätten sie gemeinsam Verantwortung für ein Kind übernehmen sollen? Er wünschte sich irgendetwas in Sarahs Gesicht lesen zu können. Trauer, Schmerz, Verwunderung seinetwegen auch oder Ärger –etwas menschliches! Doch Sarah schickte ihn nicht einmal aus dem Raum, es war, als sei seine Anwesenheit ihr schlichtweg egal. Wenn Kaoru genau darüber nachdachte, gab es keinen Grund warum sie alle als Bandkollegen ins Krankenhaus fuhren. Vielleicht fühlte er sich al einziger fehl am Platz, weil er weder mit Toshiya noch mit Sarah in einer Art vertraut war, die er als besonders empfand. Schließlich erklärte er es mit der Angst jemanden versehentlich allein zu lassen. Wer sollte denn bei dem Paar sein, wenn nicht sie? Außer Shinya hatte niemand von ihnen Verwandte oder gar Familie, Eltern in Tokyo. Sarahs Eltern waren noch auf einem anderen Kontinent und da Toshiya den seinen noch nicht mal von der Schwangerschaft erzählt hatte, stand es außer Zweifel, dass er niemanden abgesehen von Dir en grey zu benachrichtigen hatte. Waren sie einsam? Auf eine gewisse Weise waren sie allein, jeder für sich, aber machte sie das einsam? Und wenn ja, war diese Einsamkeit dann der Grund für die Heftigkeit mit der sie sich in Beziehungen stürzten? Weil sie sich selbst nicht genug waren, unzufrieden mit ihrem Leben und unvollständig in ihrem eigenen Bewusstsein? Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich. Aber das machte nichts schlecht, beschloss Kaoru, als er durch das Krankenhaus lief. Kyo schritt ihm und Die voraus, erstaunlich sicher im Weg. Selbst wenn ihre Liebe nur ein egoistisches Entfliehen aus Einsamkeit war, so dachte Kaoru, schlecht war sie deshalb nicht. Dafür konnte sie sich viel zu gut anfühlen. Während er diese Worte im Kopf formulierte, streichelte er Die im Gehen über die Wange. Nur ganz kurz, wirklich flüchtig, sodass es kaum jemand mitbekommen konnte. Selbst Die, der die Berührung sehr wohl bespürt hatte, sah verwundert zu Kaoru als müsste er für die da gewesene Existenz der Liebkostung einen Beweis suchen. Sie fanden Toshiya auf einer Bank im Flur, den Kopf hängend und ohne Spannung in den langen Gliedern. Er sah sie kaum an, hob nur schweigend die Hand zum Gruß, die dann in einem leichten Bogen schwang, um dann mit dem Finger auf die Tür 304 zu zeigen, der er gegenüber saß. Doch noch hatte keiner von den Besuchern das Bedürfnis Sarah zu sehen. Entweder war es Respekt oder Furcht, eines von beiden hielt sie ab. Die war der erste von ihnen, der sich zu einer Handlung entschließen konnte. Schweigend setzte er sich zu Toshiya und zog dessen Kopf an seine Schulter. Toshiya hatte ein angeborenes Bedürfnis nach Nähe und der ebenso angeboren körperscheue Shinya hatte ihn wohl noch nicht in den Arm genommen, denn Toshiya lehnte sich sofort an ihn und atmete laut. Dieses tiefe, langsame Atmen zeugte von dem Versuch sich zu kontrollieren, vielleicht ein Weinen oder Schreien zu unterdrücken, vielleicht um die Gedanken zu klären. „Es wird wieder eine glücklichere Zeit geben“, sagte Die anstatt zu versprechen, alles würde gut werden. Kyo und Kaoru standen davon und sahen das etwas entfremdende Bild der beiden Männer an. Beide groß und dünn, die langen Beine und Arme zu einer seltsamen Verrenkung vereint, die man Umarmung nannte. Viel zu zerbrechlich für ihre Körpergröße. Der eine hatte sein kindliches Gesicht vergraben neben den harten Wangenknochen und tiefen Augenhöhlen des anderen. „Eine glücklichere Zeit“, wiederholte Toshiya wispernd, so leise, dass man die Worte mehr erriet als verstand, obwohl auf dem Flur nu einige Füße diskret tapsten und ein Wagen heimlich knarrte. „Aber nicht mehr wie die alte, nicht mehr mit Sarah…“ Diese Worte schockten niemanden so sehr wie Die, ihn drängten sie regelrecht die Schuld auf. Diese beiden Menschen: Toshiya und Sarah schafften es nicht gemeinsam den Verlust ihres Kindes zu verkraften. Was wäre geworden, wenn sie wegen ihm über Jahre zusammen geblieben wären? Was für ein Kind wäre das geworden? Hätte es Familienglück gekannt? Hätte es wie Kyo jemals lernen können das Leben zu lieben, obwohl es doch so grausam war? Wie schrecklich waren sie gewesen, sie alle als Freunde um Toshiya und Sarah zum gebären zu überreden, so sehr, dass es an Zwang grenzte. Nun, da das Kind gestorben war, verschwand es auch als Grund für vieles, das Teil dieser Liebesbeziehung war. Sarahs Einzug bei Toshiya zum Beispiel, damit kamen die Dinge, die sie gemeinsam gekauft hatte. Selbst Die als Außenstehender konnte sich eine Liste erstellen, an deren erster Stelle Sarahs dauerhafter Aufenthalt in Japan stand. „Sie wird mich verlassen“, schwor Toshiya, „Weil ich sie nicht verlassen darf, wird sie es für uns tun.“ Seine Worte wurden von seinen Freunden aufgefangen, aufgesogen, mit allem was seine Stimme mit sich trug. Verzweifelung und Enttäuschung. Enttäuschung, die größer und größer wurde, sodass sie die Angst vor dem Alleinsein innerhalb weniger Stunden überwachsen hatte. Kaorus brachte Shinya in Dies Auto zur Arbeit in einer Boutique, die mit der Bahn vom Krankenhaus aus nur umständlich zu erreichen war. Offen gestanden war er froh über die Pause vom emotionalem Druck, den die Situation mit sich brachte. Dem permanenten Trauerzwang. Kyo war vor einer halben Stunde zu Sarah ins Zimmer gegangen und man hörte sie sprechen ohne zu verstehen, was sie sagten. Toshiya nahm es persönlich, dass sie mit Kyo, ihrem Ex wie ihnen allen zu diesem Moment wieder einfiel, sprach, ihn aber nicht einmal ansah. Die erklärte, dass Toshiya als Vater ihres toten Kindes eine andere Bedeutung hätte und es für sie so schwerer wäre mit ihm zu sprechen, woraufhin Toshiya nur klage, dass seine Fast-Vaterschaft ihm nicht helfe sie zu verstehen. Kaoru war wirklich mehr als froh darüber zu entkommen. Schuld jagte ihn, weil er so versessen manipuliert hatte, bis Toshiya und Sarah sich für eine Geburt entschieden hatten und weil er bemerkt hatte, dass Toshiyas Geheule ihn begann zu nerven. Er war nicht gut darin zu trösten. Lösungen zu finden, zu handeln für seine Freunde, das tat er gerne, aber ihnen die Hand zu halten und Versprechungen zu machen, das lag ihm gar nicht. Shinyas Anwesenheit war dagegen angenehm. Er war ruhig und gelassen wie eh und je, zeigte in keiner Weise, dass er ein emotionales Wrack war, sondern ließ nur seine Augenringe auf eine harte Nacht hindeuten. Er heiterte sogar Kaoru auf, indem er sich darüber lustig machte, dass Die bisher ausschließlich Miyako –und das nur unter großem Aufstand – sein Auto überlassen hatte. Kaoru mache sich also gut als neue Freundin. Der eher ruhige Junge machte sehr selten solche Scherze und Kaoru nahm es als Beweis wie sehr sich Shinya anstrengte den Tag zu verbessern. Auf der Hälfte des Weges musste es trotzdem raus: „Wir werden wohl nie eine ruhige Zeit haben. Ohne Katastrophen, meine ich.“ An einer roten Ampel schlüpfte es einfach so aus ihm heraus und Shinya nahm es ruhig auf. „Ohne dass einer Depressionen hat, seine Mutter ins Pflegeheim steckt, seine Sexualität ändert, jemanden schwängert oder eine Beziehung in die Brüche geht?“, fragte er so genügsam und ruhig, als erzähle er von einem Spaziergang. Dann addierte er: „Es ist grün.“ „Oh“; machte Kaoru und fuhr an, während er schon gar nicht mehr auf eine Antwort hoffte. Nach einigen Abbiegungen kam sie dann doch. „Es ist besser, wenn es nicht zu ruhig um uns wird, sonst schreibst du keine Lieder mehr und Kyo keine Texte, die ehrlich sind. Und ich höre auf zu leben. Ruhiges Leben gibt es nun mal nicht mit uns; das passt nicht. Dafür würde sich keiner von uns entscheiden, wenn er die Wahl hätte, auch wenn man es sich das ab und zu wünscht.“ „Du wünscht es dir manchmal?“, fragte Kaoru und Shinya zuckte mit den Schultern. „Vielleicht manchmal, aber dann denke ich wieder, dass es besser so ist, wie es eben ist. Man mag eben das Gewohnte. Außerdem: hätte ich eine ruhige Woche zum Nachdenken, würde ich mich wahrscheinlich von Yukino trennen, oder so. Haltet mich also lieber auf Trab, bevor ich auf blöde Ideen komme.“ Kaoru grinste ihn von der Seite an: „Ich werde mir Mühe geben.“ Shinya war schon in Ordnung, trotz seines scheinbaren Desinteresses an vielem. Dann sagte er etwas, das Kaorus Urteil um genau dieses Desinteresse umwarf. „Die und du… Das wird bestimmt nicht langweilig.“ Überrumpelt wusste Kaoru nicht wohin er schauen sollte und flüchtete sich mit dem Blick auf die Straße. Shinya hatte ihn noch nie ernsthaft darauf angesprochen. Genau genommen hatte er mit niemanden außer Kyo schon einmal vernünftig über Die gesprochen. Der kurze Austausch mit dem fast fremden Türsteher zählte nicht. Selbst mit Die hatte er noch nicht auf dem neusten Stand über ihn und sich geredet, auch wenn ihn das in unmittelbarer Zukunft wohl entgegen kommen würde. Dass Shinya ihn nun einfach so darauf ansprach, war mehr als überraschend. Natürlich hatten alle mitbekommen, dass etwas zwischen ihnen lief. Sie lebten ja in keinem Vakuum. Doch hatten sie sich immer so anständig herausgehalten, aus seinen Beziehungsangelegenheiten. In seiner Verwirrung dachte er gar nicht daran, verbal zu reagieren, sondern konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. „Was läuft da jetzt eigentlich? Wenn man fragen darf“, bohrte Shinya weiter und Kaoru bekam heiße Ohren. Sollte er darauf antworten? Wollte oder musste er? Eigentlich nicht. Trotzdem lebten sie doch zusammen als Freunde und als Band ihr Leben, er schuldete Shinya und den anderen Jungs also eine Erklärung. Er hatte sich zu rechtfertigen, nachdem sie lang genug außen vor gelassen worden waren, was ungewöhnlich war. Hatte Die ihnen vielleicht was erzählt oder waren sie unbewusst nur schon so eng verwoben, dass Kaoru nur nicht mehr mitbekam, was er ihnen alles unterbewusst preisgab. Seine Trennung von Shizuka hatte er nie an die große Glocke gehangen, trotzdem war er sich sicher, dass es keine zwei Tage gedauert hatte, bis Dir en grey informiert gewesen war. Was da lief, zwischen Die und ihm? „Die und ich eben“, sagte er dann knapp als würde das alles erklären, addierte dann aber: „Dass wir uns mögen, ist ja nichts neues, oder?“ Das beschrieb es eigentlich. Er konnte sich nicht vorstellen mit seinem besten Freund Händchen haltend durch Vergnügungsparks zu laufen, wie er es mit Shizuka getan hatte. Oder Einkaufen zu gehen, um vielleicht Die beim Unterwäsche kaufen zu bespannen. Das passte nicht. Sie würden weiter gemeinsam auf ihren Gitarren rocken, feiern gehen, vielleicht mal im Kino rumknutschen, okay, aber Hauptsache ihre Fernsehabende mit Gras und Bier blieben erhalten. „Geändert hat sich in den letzten Monaten aber trotzdem was.“ Shinyas Feststellung ließ Kaoru lächeln, ein wenig verliebt lächeln sogar. Geändert hatte sich doch etwas, „gewaltig“ konnte man nicht sagen, eher in vielen kleine und großen Schüben. „Na ja“, sagte er dann und grinste seinen Kumpel glücklich an, „Ich schätze wir werden jetzt regelmäßig unter einer Bettdecke schlafen, statt unter zwei.“ Diese Ausdrucksweise brachte Shinya dazu leise in seine Hand zu lachen und den Kopf zu schütteln. „Man soll ja auch nicht soviel Wäsche machen und so…“, scherzte er und lachte noch einmal. „Ich werde nächsten Monat nach Hause fliegen.“ Kyo nahm die Aussage hin und wippte weiter mit dem Stuhl neben dem Krankenbett. „Warum so eilig?“, fragte er dann, nicht aus Interesse, sondern um zu zeigen, dass er sie gehört hatte. Sarah sah zum Fenster hinaus. Sie hatte sich aufgesetzt, die Knie angewinkelt und ihre dünnen Finger verknoteten sich darüber. „Damit ich in England pünktlich zum Anfang des nächsten Semesters bin. Ich will nicht zurück ins Haus meines Vaters, also muss ich mir eine Wohnung einrichten und einen Job suchen. Während des Semesters ist es mir zu stressig. Darum muss ich so schnell wie möglich los.“ Kyo fand ein nutzloses Papiertaschentuch und zerrupfte es in kleine Fetzen. „Du könntest auch dein letztes Semester hier fertig machen und dann zurück wie du es von Anfang an geplant hattest. Damit würdest du Toshiya nicht ganz so nah an den Suizid bringen.“ Trotz des Vorwurfes ließ sich Sarah nicht provozieren, sondern wandte nur ihr ausdrucksloses Gesicht zu ihm. „Dann bringen die Leute hier dafür um, mit ihrem Gerede. Das Geläster treibt mich in den Wahnsinn.“ Er rollte aus den Fetzen kleine Kügelchen und zielt auf den Blumenkübel in der Ecke. Kaoru hätte jetzt bestimmt behauptet, dass sie sich gegen das Gerede zu Wehr setzen könnten. Die hatte vorgehalten, was mit der Frau, die letzte Nacht über Sarah gerichtet hatte, passiert war. Shinya hätte wahrscheinlich von Stärke gesprochen, innerer Stärke, mit der man so etwas überstand, aber Kyo hatte nichts davon im Sinn. Nur, dass sie früher das Gerede nicht gestört hatte. Vielleicht weil es damals der eigenen Meinung ihrer selbst entsprach und sie nun durch Toshiya ein Selbstbewusstsein bekommen haben sollte, das durch Geläster und Vorwürfe angegriffen wurde. Trotz allem, was er mit Sarah selbst oder durch Toshiya passiv miterlebt hatte, fühlte Kyo kein Bedürfnis sie zurückzuhalten. Wäre ein Bedürfnis da gewesen, hätte er es dennoch nicht getan, denn nach seinem selbst geschaffenen Terror hatte er kein Recht mehr dazu. „Es mag komisch klingen“, sagte er dann, „aber es tut mir leid. Wegen damals und wegen meiner Meinung vor dir. Nicht alles was ich gesagt habe, würde ich heute noch so wiederholen. Ich habe es nicht glauben wollen, aber du kannst lieben.“ Dass Sarah lächelte, widersprach seiner Erwartung. „Das ist wohl das ehrlichste Kompliment, das ich je bekommen habe.“ „ Yoa welcomu“, quälte sich Kyo ab und dennoch lächelte sie über sein Englisch. „Pass auf dich auf, Kyo, ja?“, sprach sie dann, „Und pass auf Toshiya auf. Auf deine ganze Band. Ihr seid eine gute Familie.“ Sie nahm seine Hand, die ein Papierknöllchen werfen wollte. Er sah erst auf ihre angefassten Hände, dann nach oben in ihr Gesicht. Auf dem Bett sitzend, war sie noch größer als sonst. „Auch wenn es ironisch ist, dass Du mir etwas von Verantwortung erzählen willst, verspreche ich, dass ich versuchen werde, auf sie aufzupassen.“ Auf seine Art, sie auf ihre Art –so lebten sie durch das, was eben kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)