Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Prolog: -------- Prolog Allein in den unterirdischen Gewölben des Steinkoloss bahnte sich eine abstrakte Gestalt seinen einsamen Weg hinab in die Tiefe. Fernab vom Tageslicht hütete sein Herr eines der größten Mysterien dieser sagenumwobenen Welt. Den Schlüssel zu seiner Macht. Das schwache, magisch aufflackernde Licht seiner Lampe benötigte der kleine Mann eigentlich nicht mehr. Wie oft war er diesen elendigen Weg schon hinab und wieder hinauf marschiert? Wie oft, in vierunddreißig Jahren? Er konnte es anhand der Seelen der Verzweifelten abschätzen, die ihn in seinen Albträumen besuchen kamen. Doch heute würde das alles ein Ende finden! Heute würde dieser alte, gebrochene Mann zum letzten Mal die Schwelle übertreten und etwas mit sich bringen, das die Fundamente der Geschichte dieser Welt ins Wanken geraten lassen würde! Davon war er überzeugt und fest entschlossen, seinen Plan alsbald in die Tat umzusetzen. Nachdem er auch die letzten, dem winzigen alten Mann riesig erscheinenden Stufen, überwand, reflektierte er ein letztes Mal seine Pläne vor dem geistigen Auge, bevor er das Tor zum Portal unter großen Anstrengungen öffnete und das Licht seiner Lampe auslöschte. Hier hätte es ihn nur gestört. Und ein weiteres Mal schritt er zum Zentrum des Doms, zu der dämonischen Vorrichtung, die, so dachte er an jenem Tag und all den Tagen zuvor, nur Unheil und Verderben über diese Welt brachte. In fast völliger Dunkelheit streckte er seine rechte Hand aus und betätigte mit der peniblen Genauigkeit eines Uhrmachers einen steinernen Mechanismus, der daraufhin in gleißendem Licht erstrahlte und die teuflische Maschinerie in Gang setzte. Schon bald erhellten winzige, weiße Lichtpunkte das Zentrum des Raumes. Erst einige wenige, die sich jedoch von Sekunde zu Sekunde vermehrten und wie Sterne am Nachthimmel funkelten. Dem alten Mann, dem derselbe bildhafte Vergleich in diesem Moment durch den Kopf ging, war jedoch bewusst, dass diese mystischen Lichter in dieser Welt jedweden Schein verlieren würden. Womöglich waren sie alle Sterne an dem Ort, den sie Heimat nannten. Doch hier ... Das Echo blecherner Schritte riss den Zwerg aus seinen Gedanken. Es waren höchst ungewohnte Laute, die im Inneren dieser gigantischen Kuppel aus Gestein in alle Richtungen geworfen wurden. Noch nie wurde er hier unten bei seiner höchst zweifelhaften Arbeit gestört. Ausgerechnet heute, an diesem besonderen Tag, entschloss sich jemand ihm zu folgen? Die Vorzeichen konnten nach dieser völlig unerwarteten Wendung nicht schlechter stehen. Dann erklang die Stimme des Eindringlings. Eine weibliche, nichtsdestotrotz Ehrfurcht erweckende Stimme. „Mein Gefühl führt mich an diesen Ort, Neil. Ich hoffe, ich störe dich nicht bei der Arbeit?“ Ihr Gefühl war es vor allem, das dem kleinwüchsigen Mann Sorgen bereitete. Das Gefühl einer so mächtigen Magierin könnte seinen Plan hier und jetzt scheitern lassen. „Lady Uriah, wie könnte mich jene so seltene Ehrung durch ihre Präsenz stören?“ antwortete Neil in angemessenem Tonfall und ließ so vorerst keine Zweifel an seiner Loyalität aufkeimen. „Dennoch will ich dich nicht lange aufhalten“, wich das Blaublut den Schmeicheleien aus. „Siehe meinen unerwarteten Besuch einfach in dem letzten Rest kindlicher Vorfreude begründet, die sich in den tiefen dieses angestaubten Bewusstseins über die vielen Jahre erhalten konnte.“ Neil wandte sich zu keiner Zeit ab von der Magie, die vor ihm immer weiter expandierte. Doch seine gesamte Aufmerksamkeit galt längst der Person im Dunkel des Raumes, die keine Anstalten machte, in das spärliche, sich stetig weiter ausbreitende Licht zu treten. „Wenn sie gestatten, meine Herrin, dann nehmen sie diesen Rat von einem wirklich alten Mann entgegen: Bewahren sie sich alle kindlichen Züge so lange wie nur irgend möglich, schon der Nostalgie halber, he he.“ „Ich werde es mir zu Herzen nehmen, Neil“, entgegnete die Schattengestalt, die noch immer vollends in Dunkelheit gehüllt war, ihrem Untertan. „Wie dem auch sei, bemühe dich bei diesem Exemplar ganz besonders. Ich bin überzeugt von seinen Fähigkeiten.“ Neil wurde schlagartig hellhörig. „Milady, glauben sie, dieser könnte ...“ „Wer weiß?“ fiel Uriah ihm ins Wort. „Ich werde nicht den Fehler machen die Feierlichkeiten zu früh anzustimmen. Jetzt, wo ich dem Portal so nahe bin, kann ich jedoch sagen, dass meine Zweifel schwinden“, erklang es ein letztes Mal aus dem Dunkel im Rücken des klein gewachsenen Mannes, der einen Moment lang glaubte, einen Anflug von Euphorie in der Stimme der Frau ausgemacht zu haben. Doch schien der Respekt vor der wundersamen Maschine es nicht zuzulassen, dass sie auch nur einen einzigen Schritt mehr als nur irgend nötig in dessen Richtung wagte. Sie verabschiedete sich schlussendlich wortlos. Neil hatte das Schlimmste befürchtet und war dementsprechend erleichtert über ihr Verschwinden. Glücklicherweise würde er weit weg von alledem sein, wenn Uriah erst herausgefunden haben wird, dass die Beute seiner bevorstehenden Mission nicht ihren Vorstellungen entsprach. Seine Augen fixierten einen bestimmten Punkt des künstlichen Sternenhimmels. Ein einziger, kleiner Fleck, der strahlend der Dunkelheit trotzte. Mit dem bloßen Auge konnte man die tausenden Lichter nicht voneinander unterscheiden, doch Neil wusste trotzdem ganz genau, dass sein Ziel vor ihm lag. Er atmete schwer. Ein paar kühle Schweißperlen bahnten sich ihren Weg über sein faltiges Gesicht. Früher oder später, so war ihm klar, würde diese Tat vergolten werden. Neil unterschrieb sein Todesurteil, ohne zu zögern. Au Revoir --------- Kapitel 1 – Au Revoir In einer so großen Stadt wie Marseille, mit ihren hunderttausenden von Einwohnern, muss man wohl zu Hause sein, um einen einsamen, gemütlichen Ort zu kennen, den man zu später, sommerlicher Abendstunde ganz für sich allein hatte. Peter kannte so einen Ort, einen Platz an dem ihn niemand störte, wann immer er für sich sein wollte. Der alte Hafen war so überfüllt mit Fischer-, Sport- und Segelbooten, dass man fast nirgends mehr die Wasseroberfläche ausmachen konnte, nur noch ein weißes Meer aus Metall und Kunststoff. Kein sonderlich schöner Ort, aber dafür am Abend ein umso ruhigerer. Nur wenige Menschen hielten sich zu dieser Zeit hier auf, die meisten von ihnen lebten auf ihren Booten, einige waren ganz einfach vernarrt in sie. Peter zog es stets zur äußersten Anlegestelle, die weiter ins offene Meer hinaus ragte als alle anderen. Von hier aus konnte er zum einen das meist rege Treiben auf der Uferpromenade neben ihm aus der Ferne beobachten und hatte zum anderen einen inspirierenden Blick auf die spärlich beleuchtete Altstadt. Stimmen einiger Jugendlicher hallten durch die Abendluft, nur ein paar Meter Luftlinie von ihm entfernt; Eine hohe, massive Felswand trennte ihn von dem Grüppchen. Er hatte keinerlei Interesse an Gesellschaft. Auf seine eigene Weise brachte Peter alle Menschen, die ihm wichtig waren, in Gedanken mit sich mit. Er trug sie mit sich herum, und die Last wog schwer auf seinen Schultern. Viele schöne Erinnerungen waren ihm zwar geblieben, doch genügte dem Jungen das nicht. Obwohl er schon einige duzend Mal zu diesem Ort gepilgert war, unterschied sich dieser Tag von allen anderen. Dieses Mal sollte er den Kampf gegen seine eigene Untätigkeit auf einer ganz anderen Ebene austragen; nicht mehr nur in Gedanken. Die Wurzel allen Übels auszumachen, wäre ein schier unmögliches Unterfangen gewesen. Peter war um seine tiefen Depressionen nicht zu beneiden, aber was unterschied ihn letztlich von den anderen verlorenen Seelen auf dieser Welt? Überall gab es Menschen, die auf der Suche nach neuem Halt waren, einem Ziel, das es wert war, danach zu streben. Peter wusste, dass er sich selbst ernster nehmen müsste, um eine Lösung zu finden, doch stattdessen fiel er Tag für Tag immer tiefer dem Abgrund entgegen. Es begann schon vor zwölf Jahren: Peter war sieben, und seine Eltern ständig auf Reisen. Sie wollten alle schönen Orte auf der Welt zumindest ein Mal gesehen haben, witzelte sein Vater immer. Nur kamen sie von einer ihrer Reisen nicht mehr zurück. Er konnte damals nicht begreifen, dass seine geliebten Eltern tot waren, plötzlich nicht mehr existierten; das überstieg seine kindliche Vorstellungskraft bei Weitem. Tatsächlich hatte der kleine Junge damals geglaubt, seine Eltern hätten endlich gefunden, wonach sie immer gesucht hatten, einen schönen Ort an dem sie eben lieber waren, als im grässlichen Marseille bei ihrem Sohn. Ein dummer Gedanke; doch brannte sich dieser regelrecht in seine Gedanken ein. Auch mit nunmehr neunzehn Jahren konnte Peter noch immer nicht richtig um seine Mutter und seinen Vater trauern. Doch damals hatte er es letztendlich verkraften können, war zumindest gewillt dazu, weiter zu machen. Der Schlüssel zum Erfolg waren seine Freunde gewesen. Behaupten zu können, echte Freunde zu haben, die in der schwersten Zeit zu einem hielten, machte ihn zurecht stolz, und so war es nur logisch, dass der Verlust eines solchen Freundes die am schwersten zu verarbeitende Erfahrung in seinem Leben darstellte. „Fünf Jahre ... auf den Tag genau ...“ Peter stand am Rand des Steges, den Blick gen Sonnenuntergang gerichtet und warf einen Kieselstein in hohem Bogen ins Wasser. Manchmal dachte er darüber nach, selbst auf die Suche zu gehen. „Maurice? Du bist wirklich nicht gekommen ...“ „Entschuldigung?“ Peter erstarrte regelrecht vor Schreck, als er realisierte, dass sich ihm jemand hinter seinem Rücken angenähert hatte. Er musste feststellen, dass ausgerechnet an diesem besonderen Tag ein Fremder ihn in seiner so hoch geschätzten Einsamkeit störte. Gleich danach schoss ihm aber schon der nächste Gedanke durch den Kopf. Könnte es denn wirklich sein? „Maurice?“ Während Peter hoffnungsvoll den Namen seines Freundes aussprach, wandte er sich gleichzeitig in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Oh ...“ Was für eine Enttäuschung. Nun direkt vor ihm stand ein unbekannter, kleinwüchsiger Mann. Eine abstrakte Gestalt, alles andere als glücklich proportioniert. Peter nahm sich vor, nett zu sein. „Hast mich wohl verwechselt, he he! Kommt nicht oft vor, so etwas. Siehst' ja warum.“ Als er den kleinen Mann mit seiner kratzigen, hellen Stimme reden hörte, fragte sich Peter, ob womöglich gerade ein Zirkus in der Stadt Halt machte. Kein sonderlich freundlicher Gedankengang, aber die Figur vor ihm war wirklich nur schwerlich ernst zu nehmen. „Auch auf der Suche, huh? Ich bin es nämlich!“ Komischerweise traf der Zwerg auf Anhieb den Nagel auf den Kopf. „Kann man wohl so sagen; aber eigentlich bin ich nur hier, weil ich keine Ahnung hab, wo ich eigentlich suchen soll.“ Schon allein mit dieser Äußerung hatte Peter dem seltsamen Fremden schon weit mehr verraten, als allen Menschen, die ihm am Herzen lagen. Vielleicht war es ihm ja nur so heraus gerutscht, vielleicht fiel es ihm aber auch ganz einfach leichter, mit einem Fremden über die Dinge zu reden, die ihn bedrückten. „Ja, he he, so sieht das aus. So geht es den meisten Menschen, denen etwas sehr wertvolles im Leben abhanden gekommen ist, ja.“ Nun noch ungläubiger, rang Peter um Fassung. „Wir ... kennen wir uns?“ fragte er verdächtigend, wenngleich er auch nicht wirklich daran glaubte, diesem seltsamen Kauz schon jemals über den Weg gelaufen zu sein. „Oh nein, nein, nein! Daran würde ich mich erinnern, glaub mir.“ „Ich mich wohl auch.“ Mit Sicherheit sogar. „Trotzdem nicht schlecht; ihre Menschenkenntnis mein' ich.“ Peters Anspannung löste sich wieder. Mochte der Mann vor ihm auch seltsam aussehen, zumindest wirkte er alles andere als gefährlich, und wusste mit seinen Äußerungen zu beeindrucken. „Danke sehr, he he. Ich heiße übrigens Neil.“ Die untersetzte Figur kam etwas näher, und streckte seine linke Hand in die Höhe. „Peter“, sagte der Junge und schlug ein. „Sie sind also nicht von hier?“ „Nein nein, ich komme aus einer ganz anderen Ecke. Und wir sind doch jetzt per Du, oder?“ Peter nickte zustimmend. „Natürlich. Ich frage nur, weil sie ... weil du gar keinen Akzent hast.“ „Danke, das hört man gern. Weißt du Peter, ich bin nicht zum ersten Mal hier in Frankreich, auch schon zum zweiten Male in Marseille, wenn ich mich recht entsinne.“ „Aha. Klingt, als würdest du viel herumkommen.“ „Oh ja, sehr viel sogar! He he.“ „Was verschlägt dich ein zweites Mal hierher?“ „Oh, ich liebe das Meer, und die Menschen hier sind ... etwas Besonderes.“ Natürlich fragte Peter in provozierendem Ton nach Neils Beweggründen Marseille mehrmals zu besuchen, hatte er selbst doch keine sehr hohe Meinung von seiner Heimatstadt. Doch auch der Junge mochte das Meer und zumindest einige der Menschen hier, das konnte er nicht abstreiten. „Darf ich dich etwas fragen Peter?“ wagte sich der Fremde weiter vor. „Mmh, warum nicht?“ Die beiden hatten es sich mittlerweile bequem gemacht. Peter saß am Stegrand, den Blick wieder dem Sonnenuntergang gewidmet; Neil stand mit verschränkten Armen neben ihm. „Hast du Etwas, oder Jemanden verloren?“ Peter schwieg zunächst. Bevor er Neil darauf antwortete, wollte er sich ein umfassenderes Bild von ihm verschaffen. Wer war er? In seiner grünen Stoffkutte und mit seinem streng anliegenden, lichten Haar, wirkte er ein wenig wie die Karikatur eines typischen Iren, oder besser gesagt, wie der ihm aus der irischen Mythologie bekannte Leprechaun, nur ohne Goldschatz. Der Jüngste war er auch nicht gerade, was aber eher für ihn sprach. Ratschläge konnte Peter zwar nicht gebrauchen – schließlich hatte er davon die letzten Jahre schon unzählige erhalten-, aber womöglich hatte der Koboldverschnitt ja noch ein As im Ärmel. „Jemanden“ gab der junge Franzose zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, das eine Sache mir je so wichtig sein könnte.“ „Oh du würdest dich wundern; jeder Mensch ist anders, he he. Aber du hast natürlich recht: nichts wiegt so schwer, wie der Verlust einer vertrauten Person, das habe ich über die Jahre auch lernen müssen. So sind sie, die Menschen.“ Neil schaffte es nach jedem Satz noch ein wenig seltsamer zu erscheinen. Wovon sprach er eigentlich? Der kleine, alte Mann verstand es vortrefflich, mit Bedacht zu reden. „Und du reist umher um den Menschen Ratschläge zu geben? Nobles Unterfangen, muss man schon sagen.“ „Ganz so einfach sind meine Beweggründe dann doch nicht zu erklären“, erläuterte Neil. „Wie ich schon sagte, bin auch ich auf der Suche. Auf der Suche nach ganz außergewöhnlichen Menschen, he he.“ „Sollte ich mir jetzt Sorgen machen?“ Peter lächelte verlegen, da er immer noch völlig im Dunkeln tappte und sich so langsam wünschte, Neil würde die Karten auf den Tisch legen. „Nein, das ist nicht nötig, he he.“ „Du glaubst in Marseille fündig zu werden?“ Da muss ich dich wohl leider enttäuschen, alle wirklich außergewöhnlichen Menschen sind längst auf und davon.“ Der kleine Mann trabte vorsichtig näher an Peter heran. Er musste sich kaum zu ihm herunter beugen, da er nicht viel höher in die Luft ragte, als der sitzende Junge vor ihm. „Du bist noch hier.“ Ungläubig nahm Peter aus den Augenwinkeln Blickkontakt mit Neil auf, der nun mit einem faltigen, erwartungsvollen Grinsen auf dem Lippen dicht bei ihm stand. „Und wie kann ich ihnen behilflich sein?“ „Dir!“ „Wie bitte?“ „Du wolltest sagen: Wie kann ich dir behilflich sein, he he.“ „Natürlich“, fiel es Peter wieder ein. „Eigentlich gar nicht. Du könntest mir jedoch einen großen Gefallen tun, behilflich, könnte ich dann vor allem dir sein!“ „Wenn's nicht zu abgedreht ist, bitte. Also: worum geht's?“ „Zunächst würde ich gerne dein Wort einholen, he he. Peter, würdest du mir dein Wort geben, dass, wenn ich dir wirklich helfen kann, du mir im Gegenzug einen Gefallen gewährst?“ Peter blickte sich um. Der alte Hafen hatte sich kein Stück verändert. Immer noch konnte er aus der Ferne Geräusche vorbeifahrender Autos und hin und wieder das Gelächter einiger Jugendlicher vernehmen. Er träumte also nicht, wenn das Verhalten des Koboldes auch immer seltsamer wurde. Peter sorgte sich jedoch nicht, dass ihm der alte Mann in irgendeiner Form gefährlich werden könnte. So entschloss er sich, auf das Spielchen einzugehen. „Na gut, warum nicht. Ich frag mich nur, wie du mir helfen könntest. Ernsthaft ...“ „Sehr schön, dann wäre das schon mal geklärt.“ Neil griff zielstrebig in die große Brusttasche seiner grünen Weste und holte zur großen Überraschung des Jungen einen Spiegel hervor. „Du weißt wahrscheinlich nicht, was das hier ist, huh?“ Der Mann fuchtelte und drehte den Spiegel vor den Augen Peters wild herum, als würde er ihn zum Verkauf anbieten. „Na ja ... Sieht verteufelt nach einem Spiegel aus.“ „Richtig, richtig, aber nicht was du darunter verstehst. Ein einfacher Spiegel vermag dir wohl kaum zu zeigen, was dein Herz begehrt, hab' ich Recht?“ So langsam wurde auch dem geduldigen Franzosen das Spiel zu bunt, doch behielt er seine wachsenden Bedenken zunächst für sich; schluckte einige Seitenhiebe, die ihm spontan einfielen, herunter und sparte sie sich für später auf. „Tja, was soll ich sagen? Nein! Meine können das jedenfalls nicht. Keine Ahnung, was in den höheren Preislagen so angeboten wird.“ „Ja ja ja, verstehe schon“ kürzte Neil die sarkastischen Ausflüchte Peters ab. „Du wärst aber auch die erste Person gewesen, die mir das auf Anhieb abgekauft hätte. Weswegen du dich natürlich selbst vom Wahrheitsgehalt meiner kleinen Geschichte überzeugen darfst.“ Neil überreichte dem Jungen den kleinen Spiegel vorsichtig mit beiden Händen; ein verheißungsvolles Funkeln in den Augen verriet seine Anspannung. Peter griff unbeeindruckt sofort zu, ohne ein Wort zu sagen. Der eigentliche Spiegel war in eine dezente Fassung eingelassen, die eine Schar von ineinander gewundenen Schlangen darstellte. Im spärlichen Abendlicht wirkte dieser Gegenstand fast lebendig. Nach kurzem Zögern blickte Peter endlich in den Spiegel und sah zunächst nur das Erwartete: sein Spiegelbild, doch veränderte sich das Bild schon sehr bald. „Was?“ Das war nicht der gut gebaute Junge mit dem kurz geschorenen, schwarzen Haar, der an diesem Abend vom Stegrand aus aufs Meer blickte, sondern ein jüngeres Abbild von ihm – viel schmächtiger, mit Tränen in den Augen. Er konnte dieses Bild sofort zuordnen, auch wenn er damals nicht auf den Jungen herabblickte, sondern durch dessen leere Augen, die die seinen waren, schaute. Das war fünf Jahre her – auf den Tag genau. Beinahe hätte er sich selbst nicht wieder erkannt, so wild, mager und klein. „Schon erstaunlich, nicht wahr?“ Peters Augen blieben auf die Oberfläche des magischen Spiegels fixiert, da sich die Bilder darin weiter veränderten. Lange Zeit schwieg der Junge, denn auch, wenn tief im Innern seiner Selbst die Antwort schon seit Jahren verborgen lag, versuchte er noch immer sie zu unterdrücken, sich selbst zu belügen, bis zum letzten Augenblick. Die eine Hälfte seines Ichs hoffte, nicht ihr Gesicht sehen zu müssen, die andere flehte geradezu danach. „Wovor fürchtest du dich, Peter?“ Wieder so eine lästige Frage. „Ich fürchte mich nicht!“ entgegnete er Neil entschieden. Er bemerkte gar nicht, dass ihm mittlerweile die Tränen in den Augen standen, die er zuvor noch in denen seines alter Egos betrachtet hatte. Mit welchen Tricks arbeitete dieser merkwürdige Zwerg nur? War das alles ein schlechter Scherz? Aber woher sollte ein Fremder ihn so gut kennen, wie eine solche Szenerie erschaffen können, und vor allem: warum? „Oh doch, das tust du! Angst hast du, panische Angst, vor der Wahrheit! Dabei ist sie ein Paradebeispiel für all das Gute im Menschen.“ Neils Stimme klang jetzt viel eindringlicher, fast schon bedrohlich. Jedwede Höflichkeiten schienen auf einmal über Bord geworfen. „Ich war zu jung, verdammt! Mein Leben läuft doch nicht wegen einer dummen Jugendromanze schief!“ Peter sprach diese Worte zwar aus, glaubte zugleich aber nicht im Ansatz an das, was er da sagte und konnte nicht den Bruchteil einer Sekunde seine Aufmerksamkeit von dem Spiegel nehmen. Seine eigenen Gedanken zeigten sich ihm darin wie ein trauriger Kurzfilm – ein ums andere Mal. Seine letzten, verloren geglaubten Erinnerungen an Julie ... „Sei doch wenigstens jetzt mal ehrlich zu dir selbst!“ riet ihm der alte Mann. „Dieser Spiegel lügt nicht. Das tut er nie!“ „W-was ... was soll das denn noch helfen?“ Schließlich hatte Peter genug von den Bildern des Mädchens, das vor fünf Jahren spurlos verschwunden war und ihn einsam zurückließ. Bis heute wusste er nicht, ob sie überhaupt noch am Leben war, oder sich womöglich ihren lang gehegten Traum erfüllt hatte und einfach von allem davongelaufen war. „Wenn ich dir nun sage, dass ich weiß, wo du sie finden kannst, würde es dir etwa nicht weiterhelfen? Würdest du nicht alles darum geben, sie wiederzusehen?“ Entgeistert und völlig perplex starrte Peter Neil nach dessen einschneidenden Fragen an. Seine kleine, zittrige Hand hatte dieser mittlerweile auf seine Schulter gelegt. Der Junge nahm die Welt um sich herum langsam wieder war, bemerkte, wie sie sich veränderte. „Wer bist du?“ Noch bevor Neil antworten konnte, tat sich die Wasseroberfläche direkt unter Peters Füßen auf. Wellen schlugen kreisrund gegen anliegende Boote und schwappten über das Pier. Auch Peter wurde vom kalten Meerwasser durchnässt. Der unerwartete Kälteschock ließ ihn in die Höhe schnellen. Wenn ihn irgendetwas hätte aus diesem Traum reißen können, dann eben diese kalte Dusche. Er zitterte am ganzen Leib, spürte die unangenehme Eiseskälte durch und durch, aber alles war noch immer so surreal wie vorher. Der kleine Mann, den er um mindestens vier Kopflängen überragte, war noch immer da und sah ihn aus seinen funkelnden Augen heraus an. „Wenn du erlaubst, so würde ich jetzt gern den Gefallen einlösen, den du mir schuldig bist.“ „Und der lautet?“ „Steig hinab, mein Freund! Mehr verlange ich nicht, und du wirst es nicht bereuen!“ „Wohin führt dieser Weg?“ wollte Peter wissen, dessen tiefe Melancholie ihn zugleich regelrecht in das Ungewisse drängte. „In ein neues Leben“ versprach Neil. Peter wagte also den nächsten Schritt und sah hinab in den Abgrund, der sich vor ihm auftat. Er erkannte nur beängstigende, tiefschwarze Dunkelheit, die sich ihren Weg in die Unendlichkeit zu bahnen schien. Doch wenn das der Weg war, den er würde gehen müssen, dann sollte es eben so sein! Ein letztes Mal wandte sich Peter an Neil, den mysteriösen Fremden, dem er sehr bald schon nicht weniger als sein Leben anvertrauen würde. „Was wird geschehen?“ Immerwährend blickte die nun zufrieden wirkende Gestalt dem Jungen in die Augen, mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen. Er schien sich längst sicher, sein Ziel erreicht zu haben. „Das liegt einzig und allein bei dir, Peter.“ Mit einer eröffnenden Geste wies Neil dem jungen Franzosen den Weg hinab in das Portal im Hafen. Peter hatte nicht die leiseste Ahnung, wo ihn der Weg hinführen würde – er glaubte zu träumen. Doch ob Fantasie oder Realität: er würde den nächsten Schritt wagen, denn seit Jahren keimte zum ersten Mal wieder Hoffnung in ihm auf, die Dinge richtig stellen zu können. Beute ----- Kapitel 2 – Beute Vor den Augen des Jungen brach das finstere Abstraktum über ihm, welches ihn zuvor an diesen Ort gebracht hatte, in sich zusammen und verschwand vollkommen. Peter war von dem Sturz noch viel zu benommen, um seine Situation gänzlich wahrnehmen zu können. Dem unangenehmen Gefühl nach zu urteilen, musste er mehrere Meter tief gefallen sein. Der Aufprall hatte ihn ihn fast betäubt. Schmerzende Stiche schossen ihm durch den Körper, sodass Peter Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren. Als der junge Franzose alle seine Sinne wieder beieinander hatte, untersuchte er seinen Körper instinktiv nach Verletzungen. Er schätzte – des Schmerzes wegen-, dass zumindest ein paar Rippen arg in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Doch die Entwarnung folgte auf dem Fuße: ein seichter Teich und dessen relativ weiches Naturell hatten ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Seine Kleidung war für derartige Bruchlandungen zwar alles andere als zweckmäßig, doch war der Junge mit dem kurzen, pechschwarzen Haar trotzdem froh darüber, an diesem Tag auf eine robuste Jeans und ein einfaches, weißes T-Shirt vertraut zu haben. Durchnässt war er sowieso schon, doch hier – wo immer das auch sein mochte – ließ ihn ein schneidend kalter Wind am ganzen Leibe erzittern. Vorsichtig versuchte Peter, sich aufzurichten. Sein Hemd war völlig verdreckt vom nassen Schlamm, der seinen Sturz abgefangen hatte und nun an seinem Rücken klebte. Soweit es Peter möglich war, dies zu beurteilen, herrschte immer noch dieselbe Tageszeit vor, wie in der Heimat. Weit könnte ihn das Portal also nicht gebracht haben. Womöglich war er ja noch immer in Frankreich, in irgendeinem dichten Wald, aus dem es nun so schnell ihm nur möglich zu entkommen galt. Genaueres würde der Zwerg Neil ihm sicher mit auf den Weg geben. Aber wo steckte er? Von dem kleinen, alten Mann war weit und breit keine Spur, wenngleich Peter mehrmals seinen Blick in der Umgebung kreisen ließ, um auszuschließen, ihn nicht übersehen zu haben. Er wurde zunehmend unruhiger; was auch immer er gerade erlebt hatte, war rational kaum zu erklären. Er hatte sein Schicksal in die Hände eines völlig Fremden gelegt, nur weil dieser ihm eine verlockende Versprechung gemacht hatte. Bis in den Abgrund, wusste der umtriebige Kerl ihn zu treiben ... Während Peter darüber sinnierte, wurde ihm langsam bewusst, wie leichtsinnig sein Verhalten war. Als hätte man einem Kind Süßigkeiten angeboten, dachte der Junge selbstkritisch. Der Winzling vom Hafen war rückblickend betrachtet auch alles andere als vertrauenswürdig gewesen. Merkwürdig, ohne Zweifel, aber ganz sicher nicht die Art von Person, der man blindlings sein Schicksal anvertrauen sollte. „Verdammt nochmal Neil, wo steckst du?“ Was Peter aber vor allem interessierte, nachdem er sich allmählich damit abzufinden schien, an diesem unwirklichen Ort auf sich allein gestellt zu sein, war, wo er sich eigentlich befand. Die Sonne war längst auf ihrem Weg hinter den Horizont und schien nur noch vereinzelt durch das Geäst. Nicht mehr lange, und totale Dunkelheit würde Einzug halten. Ein Gedanke, der Peter nur noch stärker beunruhigte. Er müsste schnell die Initiative ergreifen, zumindest aus diesem Wald entkommen. Der Junge hatte die Hände in die Hüften gelegt und wandte sich aufrecht stehend abwechselnd in alle Himmelsrichtungen. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er Mutter Natur stumm um Hilfe bat. Welcher Weg führte wohl am Ehesten hier heraus? „Hm?“ Gerade als er daran war, die Hoffnung auf ein Zeichen aufzugeben, blendete ihn ein greller Lichtstrahl, der kurz darauf wieder verschwand. Das musste einfach eine Taschenlampe gewesen sein! Ein künstliches Licht war es auf jeden Fall, so grell wie es erschien. Mehrere mögliche Szenarien spielten sich wie Kurzfilme in Peters Kopf ab. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass er definitiv nicht allein war, und im Idealfall Neil schon auf der Suche nach seinem verlorenen Versuchskaninchen war. Peter beschloss, sich vorsichtig der Quelle des Lichtes zu nähern. Die Bäume dienten ihm dabei als Schutz. Schleichend und leicht gebückt bewegte der Franzose sich fort, sehr darum bemüht, keinen Laut von sich zu geben. Dann sah er erneut das Licht aufblitzen und wieder verschwinden, diesmal nur wenige Meter vor ihm. Ihm wurde klar, dass es sich doch nicht um eine Lampe handelte, denn aus so kurzer Distanz hätte er den Träger sonst längst ausgemacht. Besorgt suchte Peter seine Umgebung nach der Quelle ab, doch zunächst vergebens. Urplötzlich ertönte ein Donnern aus der Ferne, das ihn völlig überraschte. Der Schreck riss ihn glatt von den Beinen. Jetzt sah Peter auch das Licht wieder und noch einige Dutzend weitere, die wie aufgescheuchte Vögel das Weite suchten. Wieder hallte ein Donnerschlag durch den Wald, doch der Himmel blieb Finster, kein Blitz erleuchtete ihn. Überhaupt mochte Peter nicht recht glauben, dass es sich um ein aufziehendes Unwetter handelte. Das Gewitter klang eher nach unsagbar lauten Trommelschlägen. Der Junge fand sich also erneut im Dreck des feuchten Unterholzes wieder, und auch sonst verhieß seine Situation wenig Gutes. Beim nächsten Knall konnte Peter die Richtung ausmachen, aus der er kam, während das Echo sich wie eine Flutwelle durch das Dickicht drückte. Was immer das auch war: es kam näher! Nervös richtete sich Peter wieder auf, noch schmutziger als zuvor. Er versteckte sich hinter dem Baum, aus dem kurz zuvor die Schar seltsamer Lichter emporgestiegen war. Lange Zeit blieb es völlig ruhig, dann erschütterte ein erneuter Trommelschlag den Boden unter Peters Füßen. Eine Druckwelle, die er mit bloßem Auge wahrnehmen konnte, schoss an ihm vorbei. Der tiefe Basston oszillierte in wellenartigen Intervallen und erzeugte dabei eine Art Blase, die sich wie eine Kuppel in alle Himmelsrichtungen ausbreitete. „Was ist das?“ Der grünlich-gelbe Film den der enorme Schall zu erzeugen schien, brach nicht an den Bäumen, die hier dicht gedrängt beieinander standen, an Peter jedoch schon. Wie von einer Windböe getroffen flatterte seine nasse Kleidung wild umher und die Blase zerplatzte. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, was hier eigentlich vor sich ging, war ihm sofort klar, dass er entdeckt worden war. Aber wer würde an diesem Ort nach ihm suchen? Er wagte es schließlich, einen Blick in die Richtung zu riskieren, aus der die ohrenbetäubenden Geräusche gekommen waren. Etwas bewegte sich in der Ferne. Mittlerweile war es jedoch noch finsterer geworden, sodass es Peter schwer fiel, Details zu erkennen. Als hörte man seinen Gedanken zu, erhellte nur kurze Zeit später ein kleines Feuer die Umgebung, nicht mehr als geschätzte fünfzig Meter von ihm entfernt. Ein weiteres leuchtete direkt daneben auf. Fackeln, kein Zweifel, aber deren Träger wurden noch immer vom hohen Gebüsch verdeckt. Nur das laute Rascheln konnte der Junge von seinem Versteck hören. Allein die Neugierde hielt ihn noch an Ort und Stelle, und sie sollte schließlich befriedigt werden. Der Reihe nach enthüllte das dichte Gestrüpp mehrere Gestalten, die auf merkwürdig deformierten Pferden angeritten kamen. Peter kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und versuchte so viele Eindrücke wie möglich zu gewinnen. Diese Pferde sahen bei näherer Betrachtung den Tieren nicht mal ähnlich, für die Peter sie zunächst gehalten hatte. Einzig die Kopfform erinnerte ein wenig an die schönen Vierbeiner. Diese Wesen jedoch waren nicht mal im Entferntesten von vergleichbarer Anmut. Sie kamen auch nicht auf allen Vieren daher, soweit Peter das auf diese Distanz beurteilen konnte. Ihr moosgrüner, fetter Körper wurde lediglich von zwei schmalen Stelzen getragen, die wiederum aus reptilienartigen Klauen emporstiegen. Die Augen der Kreatur in Peters Blickfeld funkelten im Licht des Feuers grellrot. Als der Reiter die Zügel anzog, brüllte das Wesen vor Schmerz auf wie ein Bär, in tiefsten Tönen und in einer Angst einflößender Lautstärke. Wie es schien, waren die Zügel mit einem großen Ring, der durch die Schnauze des Viehs gestochen war, verbunden. Nur mit brutaler Gewalt schienen die eher schmächtigen Gestalten auf deren Rücken die Monster zähmen zu können. Von dem erschreckenden Anblick fasziniert, beachtete Peter die Reiter zunächst gar nicht, obschon sie sehr bald ebenso einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollten. Das Schnauben einer der Kreaturen, die er gerade noch aus sicherer Distanz gemustert hatte, riss ihn aus seiner Gedankenverlorenheit. Direkt neben ihn hatte sich einer der Fremden unbemerkt in Position gebracht. Erschrocken schnellte Peter in dessen Richtung, um nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in das abartige Grinsen eines der missratenen Pferdewesen blicken zu müssen. „Shh!“ Der Reiter zog leicht an den Zügeln und rupfte der Kreatur grob an der purpurnen Mähne. „I'es Jumo nj devio'ti Pes ... nj tai! Muhahaha!.“ Nur das selbstherrliche Lachen konnte Peter wirklich verstehen, die Sprache, die der Fremde gebrauchte, war dem Schüler gänzlich unbekannt. Sie schien erheblich von der korrekten Aussprache abhängig zu sein, ging man davon aus, wie sehr sich einzelne Wörter ähnelten. Doch Peter bemühte sich nicht weiter darüber nachzudenken, wo er vielleicht gelandet war, ein einziger Blick auf die Gestalt reichte aus, um jeden ihm bekannten Ort auf der Erde ausschließen zu können. Blaue Haut, rote Augen, spitze, gut fünfzehn Zentimeter lange Ohren ... Was sonst noch unter der schwarzen Lederrüstung des Fabelwesens verborgen war, wollte sich der Neunzehnjährige gar nicht ausmalen. „Was. Zur Hölle. Wird hier gespielt?“ fragte er stockend. „Pff, mijud' Jumo! Ahh ... rij'ti nj ...“ Der Reiter stieg eilig von seinem Ross und näherte sich Peter mit einem breiten Grinsen auf seinem verzerrten Gesicht. Er wirkte nicht viel ansehnlicher auf den Franzosen, als das Drachenpferd von dem er herabgestiegen war. Sein langes, pechschwarzes Haar umspielte zwar geschickt die kantige Gesichtsform des Mannes, konnte aber seine überlange Nase und sein spitzes Kinn nicht verbergen. Auch das Gold und die glänzenden Edelsteine, die er in Form von Halsketten und Ringen mit sich herumschleppte, änderten am Gesamtbild nicht viel. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, blieb Peter wie angewurzelt stehen als die grinsende Gestalt mit der linken Hand nach seinem Hals griff und ihn gegen einen Baum presste. Der Junge rang nach Luft. „Hey! Lass mich los!“ Verzweifelt versuchte Peter sich loszueisen. Er war kräftig, überdurchschnittlich kräftig sogar, aber das war das Wesen auch, sodass alles Ringen in seiner Lage letztendlich zwecklos war. Mit seiner rechten Hand fingerte der Blaue in einer Tasche herum, die von seinem schweren Ledergürtel hing; mit Zeigefinger und Daumen zog er eine Art winzigen Blutegel heraus, und verschloss sie gleich wieder. Erneut setzte sich Peter vehement zur Wehr, erneut waren seine Anstrengungen vergebens. Angst stieg in ihm auf, als er überlegte, wozu dieser Wurm wohl gut sein mochte. Dem Klammergriff des Spitzohrs war einfach nicht zu entkommen. Jedes Mal, wenn Peter versuchte, sich zu befreien, griff sein Unterdrücker nur noch kräftiger zu, und bohrte seine spitzen Fingernägel in den Hals des Jungen. Vorsichtig führte die Gestalt den kleinen Wurm an das Ohr des Menschen heran, der vor Angst am ganzen Leib zitterte, und den Wurm nicht den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen verlor, bis dieser sich schließlich seinen Weg durch den Gehörgang des Jungen tief in seinen Kopf hinein bahnte. Der Schmerz war überwältigend und lähmte seinen ganzen Körper. „SANG!“ Aus der Ferne ertönte eine Frauenstimme, die dem Mann aus der Fassung brachte. Er ließ von Peter ab, allerdings war es auch längst nicht mehr nötig den erschlafften Körper im Zaum zu halten. Der Junge fiel wie ein nasser Sack zu Boden, nahm seine Umgebung aber noch war. Sang, wie die Figur von der anderen, ebenfalls völlig unbekannten Stimme gerufen wurde, wandte sich wieder seinem Reittier zu, antwortete aber noch leise aus der Distanz. „Ej ej! Mjo nemdjia ...“ Er kümmerte sich nicht mehr um den Jungen am Boden, der jedoch nach und nach wieder Herr seiner Sinne wurde. Im ersten Moment hatte Peter geglaubt, er müsse sterben, doch die Schmerzen ließen stetig nach, bis er schließlich auch wieder Arme und Beine bewegen konnte. Das war die Gelegenheit! Peter ergriff die Gunst der Stunde und schlug dem Fremden mit voller Kraft auf den Kiefer. Die Wucht riss den Kerl glatt von den Füßen. Das Tier hinter ihm stieß voller Aufregung einen lauten Schrei aus. Glücklicherweise, so dachte der Franzose, wandte sich die Wut der Bestie nicht gegen ihn, vielmehr schien das unterdrückte Biest die Situation ausnutzen zu wollen, um mit seinem brutalen Herrn offene Rechnungen zu begleichen. Peter verfolgte fortan ein einziges Ziel: Fliehen! Und so rannte der Junge so schnell ihm nur irgend möglich in die Tiefen des Waldes zurück. „Oh ... Bleib stehen du Hurensohn!“ Völlig überrascht blickte der Junge noch einmal zurück, der Unbekannte schien nun in seiner Sprache – in völlig Akzent freiem Französisch – zu reden. Hatte das vielleicht mit diesem Wurm zu tun? Die Aufregung verwehrte Peter weiter darüber nachzudenken, er nahm erneut die Beine in die Hand und lief; er lief um sein Leben. „Nicht zu fassen.“ Zwei weibliche Reiterinnen hatten sich ihrem Artgenossen, der damit beschäftigt war, sein eigenwilliges Reittier wieder unter Kontrolle zu kriegen, auf wenige Schritte genähert. „Und wieder beweist du eindrucksvoll, dass ein Elf bei der Jagd einfach nichts verloren hat!“ Beide Frauen verspotteten den unbeholfenen Mann mit höhnischem Gelächter. „Ach ja?“ trotzte der schlaksige Kerl. „Was Ortoroz dazu wohl sagen würde?“ Mit einem hasserfülltem Blick wandte sich der Dunkelelf an die beiden Frauen, die ihrerseits nur Verachtung für ihn übrig hatten. „Ja, das sieht dir ähnlich. Du würdest deine Leute ohne zu zögern anschwärzen, nur um die eigene Haut zu retten, huh!?“ warf ihm eine der blauhäutigen Damen vor. „Wenn du nicht die nächsten paar Wochen die Ställe putzen willst, dann sattle endlich dein Guri und fang den Menschen wieder ein!“ drohte die andere. Sang sprang wie befohlen auf und versetzte dem Tier einen harten Tritt in den Bauch, woraufhin es jaulend die Verfolgung aufnahm. Ein weiteres Guri näherte sich. Auch auf ihm thronte eine Frau. Alle drei Dunkelelfen stachen Sang in Sachen Optik um Längen aus. Ihre Gesichter waren genauso wohl proportioniert wie ihre Körper, zudem erschienen sie viel gepflegter, als der Tölpel, der gerade wütend das Weite suchte. Die eben erst erschienene Elfe saß gut einen halben Meter höher als ihre Artgenossen, auf einem schwer gepanzerten, riesigen Exemplar eines Guris, das sie völlig unter ihrer Kontrolle hatte. Ihre Rüstung bestand nicht zu großen Teilen aus schwarzem Leder, wie die der anderen Elfen, sondern aus glänzend silbernen Stahl. Ihr langes, gelocktes Haar hatte fast den selben, nur noch helleren Farbton und umschlang so voll und wallend ihren Rücken, dass es fast wie ein Umhang wirkte. Edler Schmuck verzierte die erfahrene Frau, die mit entschlossenem Blick daher kam. „Lady Uriah, ich wusste ja nicht, dass sie auch ...“ Zaghaft und um den korrekten Tonfall bemüht, wandte sich eine der niederen Dunkelelfen an ihre Anführerin. „Schon gut, das war auch nicht eingeplant. Mein Gefühl hat mich hergeführt. An diesem da könnte Lord Gardif wirklich interessiert sein“, erklärte sie. „Hm? Könnte er ...“ Wieder unterbrach Uriah ihre treue Dienerin. Sie wusste sowieso schon vorher, worauf die Frage abzielen würde. „Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.“ Sie starrte in die Ferne, so verheißungsvoll, dass es ihr die beiden anderen Elfen sehr bald gleichtaten. „Braja, Leiria, folgt Sang! Allein wird er es schwer haben, und falls ihm etwas zustößt, müssten wir das ausbaden“, ermahnte sie ihre Untergebenen. „Ich werde in Inverness auf euch warten.“ „Ja.“ - „Jawohl!“ Mit lauten Schreien und harten Tritten animierten die Jägerinnen ihre Guris und folgten ihren ungeliebten Kameraden Sang, der seinen Fehler nun doch nicht ganz allein wiedergutmachen musste. Uriah wartete noch, bis die beiden außer Sichtweite waren und wandte sich schließlich von der Szenerie ab. Tief im Dunkel der jungen Nacht bahnte sich Peter Dirand panisch seinen Weg durch die fremde Wildnis. Er wusste, dass er verfolgt wurde und versuchte nun ein geeignetes Versteck zu finden, um zumindest so lange unterzutauchen, bis die mysteriösen Jäger die Suche nach ihm aufgegeben hätten. Doch sein spezieller Freund war ihm dichter auf den Fersen, als es dem Jungen lieb war. Eine schnelle Entscheidung musste gefällt werden. Peter änderte abrupt seine Richtung und sprang hinter einen massiven, schon vor langer Zeit entwurzelten Baumstamm. Er legte sich flach auf den Boden und versuchte schnell wieder zu Atem zu kommen um möglichst keinen Laut von sich zu geben. Von nun an musste er sich auf sein Gehör verlassen. Aus der Ferne vernahm er den schnellen Hufschlag des seltsamen Untiers, auf dem die Spitzohren daherkamen. Peters Anspannung stieg mit jedem Meter, den es sich näherte; doch zu seiner Erleichterung zogen Reiter und Gefährt tatsächlich an ihm vorbei. Die Geräusche verstummten schließlich in einiger Entfernung. Erst jetzt bemerkte Peter, dass er blutete. Der winzige Wurm, den dieser Elf in sein Ohr hat kriechen lassen, hatte definitiv Spuren hinterlassen. Der Gedanke, dieses Ding säße jetzt in seinem Kopf fest, widerte ihn an. Auch die Schmerzen, die Sangs brutaler Würgegriff hinterlassen hatte, nahm er jetzt deutlich wahr. Offensichtlich verzog sich die Panik, die er lange genug verspürt hatte und machte Raum für Erleichterung, die der Gefühlswelt des Jungen zumindest für einen Augenblick wohltat, da sich Peter zu diesem Zeitpunkt in Sicherheit wog. Doch täuschte er sich ... Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er womöglich früher bemerkt, wie sich der Dunkelelf anschlich. Doch erst als Sang schon schnaubend mit einen massiven Ast in der Hand ausholte, realisierte der gebeutelte Franzose, was die Stunde geschlagen hatte. Schützend riss Peter die Arme vor das Gesicht, doch der Elf schlug unbeeindruckt zu. Den Aufprall nahm er gar nicht richtig wahr, da ihm der heftige Schlag sofort das Bewusstsein raubte ___________________________________________________________ Das Dröhnen im Kopf des Jungen wollte einfach nicht aufhören, ihn zu plagen. Er hatte das Gefühl, auf offenem Meer zu treiben – stets ging es auf und ab. Dieser Geruch ... es war eine Mischung aus frischer Luft und penetrantem Stall-Odor. Sein Gesicht schmerzte von dem Schlag, an den sich Peter nur in Bruchstücken erinnern konnte. Zumindest lag er auf weichem Untergrund. Schleppend erlangte Peter sein Bewusstsein wieder und öffnete schwerfällig die Augen. „Er ist aufgewacht!“ Leiria sprach mit ihrer Freundin, die einige Meter weit entfernt vor ihr her ritt. Auf dem Rücken des Guris saß aber nicht nur Braja, auch Peter war darauf festgebunden; die Hände gefesselt. Was er als weich empfand, war die lange Mähne der Dunkelelfe, auf der sein Kopf bettete. An den Rücken der schlanken Person gepresst, hatte er ohne Bewusstsein vor sich hin geträumt. Berührungsängste kannten die Dunkelelfen nicht, zumindest das hatte er in der kurzen Zeit schon über diese fremdartigen Wesen lernen können. Peter richtete sich auf. Theoretisch hätte er gar abspringen und erneut fliehen können, nur wäre das in seinem Zustand ein überaus heikles Unterfangen gewesen, eingekreist von drei Elfen und deren hungrigem Getier. „Hast du von deiner Heimat geträumt?“ Wollte die Dunkelelfe wissen, der er enger verbunden, als ihm lieb war. „Die meisten tun das.“ Braja schwenkte den Kopf in seine Richtung und betrachtete den Jungen aus den Augenwinkeln. In seinem benommen Zustand dachte er über allerhand Belanglosigkeiten nach. Etwa, dass die Frau bis auf ihr schwarzes Bustier und ihr knappes Beinkleid, das dieser Bezeichnung gar nicht gerecht wurde, quasi nackt war. Oder ihre kunstvoll arrangierte, faszinierende Frisur. Drei Zöpfe sprossen aus ihrem tiefschwarzen Haar. Ein sehr breiter zentral, den sie über ihre rechte Schulter geworfen hatte, auf der Peter zuvor so angenehm weich gebettet lag und im Land der Träume weilte, und zwei weitere an den Seiten, schmaler und akkurat geflochten. Der Junge blickte symbolisch in den Nachthimmel, nachdem er die junge Frau vor ihm ausreichend gemustert hatte. „Du willst mir also nicht antworten“, erkannte Braja richtig. „Was sind das bloß für Manieren?“ Die andere Dunkelelfe ritt eilig an das Guri Brajas' heran und verpasste Peter einen harten Schlag mit einem der Pfeile aus ihrem Köcher. Rasend vor Wut schenkte der Junge nun ihr seine gesamte Aufmerksamkeit. „Antworte, wenn du etwas gefragt wirst!“ Leiria war etwas zierlicher als Braja und mindestens genauso ansehnlich. Ihr Haar war jedoch kürzer, und sie trug es schlicht offen. Die Haarfarbe teilte sie mit der gesamten Bande, der Peter natürlich nur im entferntesten Sinne angehörte, und diese Ähnlichkeit – ob der viel gravierenderen Unterschiede – als solche gar nicht wahrnahm. „Also, versuchen wir es noch einmal. Vielleicht mit etwas Leichterem!? Wie ist dein Name, Mensch?“ Noch zögerte er, aber sein Trotz schwand zügig, immerhin war der Junge klar im Nachteil, gefesselt unter Fremden. „Peter“, antwortete er zähneknirschend. „Hm ... Nicht das erste Mal, dass ich diesen Namen höre.“ Gelangweilt führte Peter die Konversation fort. Das Schwanken des Guris machte die Reise mit seinen Kopfschmerzen zu einer echten Tortur. „Ist ein Allerweltsname.“ Braja lachte. „Ha ha ha, kommt immer darauf an, von welcher Welt man spricht!“ Die Unwissenheit Peters amüsierte die kleine Gruppe dieser seltsamen Fabelwesen. Für den Menschen gab es einfach keine logische Erklärung für die jüngsten Ereignisse und Eindrücke, die er gewann. Die drei Dunkelelfen waren sich dessen durchaus bewusst. Ihre Motive waren obendrein ein ebenso großes Rätsel. Warum hatten sie es überhaupt auf ihn abgesehen? Wohin zum Teufel verschleppten sie ihn nun? Seine größte Wut richtete sich allerdings gegen sich selbst. Einfältig folgte er den Anweisungen des zwielichtigen Zwerges am Hafen; begab sich völlig freiwillig in diese Situation, auch wenn er nicht wirklich hätte erahnen können, was ihn schlussendlich erwarten würde. Er hoffte Sie zu finden, doch diese Hoffnung schwand mit jeder Sekunde, die verstrich. Die Karawane blieb abrupt stehen. Sang näherte sich dem Guri auf dem Peter gefesselt war mit seinem fast schon typischen, verrückten Grinsen auf den Lippen. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, erklärte er. „Du hast allerdings Glück, Mensch, denn davon wirst du kaum etwas mitbekommen.“ Braja hatte den Blick auf Sang gerichtet, der schon dabei war, seinen Holzprügel vom Waffengürtel zu lösen. Verunsichert blickte Peter die Reiterin an. „Könnt ihr mir nicht einfach die Augen verbinden?“ Ein weinerliches Kichern folgte diesem verzweifelt-mutigen Versuch dem Unausweichlichen zu entgehen. Doch der bösartige Dunkelelf hatte die Hiebwaffe schon über seinen eckigen Kopf gehoben, fest dazu entschlossen, größtmöglichen Schaden anzurichten. „Den hier wirst du so schnell nicht vergessen, Abschaum!“ „Beeil dich lieber, bevor du noch zusammenbrichst.“ Das Sang ihn mit einem kräftigen Schlag gegen die Schläfe einmal mehr bewusstlos schlagen würde, konnte Peter sowieso nicht mehr verhindern, also verschaffte er sich seinerseits die Genugtuung und verschmähte den schmächtigen Bläuling. Tobend vor Wut holte Sang noch ein zweites Mal aus, drauf und dran seinen wehrlosen Gefangenen zu töten, doch stoppte seine Kameradin Leiria ihn gerade noch rechtzeitig. Unbemerkt ritt sie an Sangs Guri heran und hielt ihm nun einen scharfen Dolch an die Kehle. „Übertreib es nicht Sang!“ drohte die junge Frau ihrem Gefährten. „Wir liefern sie lebend! Du kennst das Prozedere.“ Unbeeindruckt senkte er seine Waffe wieder. „Ja, das kenn' ich, und sei dir sicher, hübsche Leiria,“ Die letzten Worte brachte er der Frau voller Verachtung und mit einer gehörigen Portion offenkundigen Neids entgegen, „ich werde persönlich dafür Sorgen, das es bei dem da durchgezogen wird!“ Sang ritt eilig von dannen und überließ den beiden Frauen den regungslosen Körper des Menschen. Auch wenn er ein verrückter, leicht zu beeindruckender Mitläufer war, so waren es doch genau diese niederen Charakterzüge, die ihn so gefährlich machten. „Das schwarze Schaf der Familie“, flüsterte Leiria ihrer Partnerin zu. „Können wir ihn nicht irgendwie loswerden, Bra?“ „Lady Uriah setzt die Jäger zusammen und sie vertraut ihm.“ „Vertraut seinem Vater, wolltest du sagen!?“ Die Elfe grinste bestätigend in Leirias Richtung. Die Chemie zwischen den beiden stimmte. „Nyaaaah ...“ Leiria beendete mit einem lauten Gähnen die verspannte Stimmung, die mit dem Thema „Sang“ aufkam. „Ich vermisse die guten alten Zeiten, in denen wir noch gemeinsam mit Lady Uriah auf die Jagd gingen.“ „Ich vermisse die Jagd an sich“, steigerte Braja die geteilte Unzufriedenheit noch. „Ein einzelner Mensch, ohne Waffen; wo bleibt denn da der Spaß? Und es war die ganzen letzten zwei Jahre über nicht anders. Menschenjagd klingt eben doch spannender, als sie tatsächlich ist.“ „Richtig. Seltsam, oder? Vielleicht ist an der Legende ja doch nichts dran.“ Wieder in Bewegung philosophierten die beiden Dunkelelfen noch eine Weile über bessere Zeiten und ihren neuen Gefangenen, der sich erneut unfreiwillig seinen Träumen widmen musste. Das Land, durch das die Reiterinnen zogen, wurde mit andauernder Reise immer trister. Nichts erinnerte nach einer Stunde mehr an den überwucherten Wald und dessen Vielfalt an Pflanzen und Getier, deren Heimat er darstellte. Ziemlich genau diese eine Stunde benötigten die zwei Frauen auf ihren zweibeinigen Drachenpferden bis zum Erreichen ihres vorübergehenden Ziels. Dabei ritten sie durchweg im Galopp durch die Einöde. Vor den Dunkelelfen eröffnete sich der trostlose Anblick einer kleinen Grenzfestung, die im Grunde nicht mehr als ein massiver, geschlossener Wall aus Gestein war. Zwei Wachtürme ragten über die rund fünf Meter hohe Mauer hinaus, alles in ein und demselben kalten Blauton gehalten. Die Guris bahnten sich ihren Weg durch das tiefe, schlammige Geläuf vor dem Haupttor; während sie sich näherten ertönte ein tiefes Horn, worauf das massive Burgtor sich schwerfällig ins Innere des Außenpostens öffnete. Auch in der Festung herrschte weit und breit nur Ödnis vor. Die vor langer Zeit gepflasterten Wege waren zum größten Teil von Dreck und Moos bedeckt. Diese kleine Burg hatte seine besten Zeiten lange hinter sich und diente auch längst nicht mehr der Verteidigung – wenn sie es je getan hat. Leiria stieg von ihrem zweibeinigen Gefährt ab und führte es kraftvoll an den Zügeln zu einem Anbindebalken. Das launische Tier machte keinerlei Anstalten; es hatte Respekt vor der Jägerin, die anschließend ihrer Partnerin half, den Menschenjungen von seinen Fesseln zu befreien. Sie werkelte mit stetig sinkender Laune an den rostigen Ketten herum, die Peter die Haut aufschürften. „Ich hasse diesen Ort ...“ Braja stieg elegant von ihrem Guri hinab und versuchte ihre Freundin mit einem Lächeln aufzumuntern. „Wir sind sicher schon bald wieder auf dem Weg nach Vyers [Wei-jers]. Sobald sich entschieden hat, was aus dem da wird.“ Ein lautes Brüllen war aus einiger Entfernung zu vernehmen, gefolgt von einem gelangweilten, tiefen Stöhnen. Leiria blickte in Richtung Wachturm. „Sollen die dummen Gamms hier ruhig verrotten, in ihrem eigenen Dreck.“ Die junge Dunkelelfe war immer noch aufgebracht. „Einmal in Rage töten sie alles, was ihnen in die Quere kommt. Glaub' mir, ich ...“ „Deswegen sind sie auch so nützlich für Gardif. Eine bessere Verteidigung als eine Horde nach Blut dürstender Gamdscha gibt es wohl nicht. Außerdem muss sich so keine Dunkelelfe die Hände schmutzig machen“, erläuterte eine weise Stimme aus einiger Entfernung. „Oh, ich kenne ein paar Exemplare, die sich hier gerne die Zeit um die Ohren schlagen könnten.“ Natürlich hatte Leiria einen ganz besonderen Artgenossen im Sinn. Lady Uriah erschien wie aus dem Nichts und wusste ihre Untergebenen erneut zu überraschen. Ehrfürchtig verbeugten sich die beiden und widmeten sich dann wieder dem Jungen. „Ihr habt ihn also doch noch geschnappt; alles andere hätte mich auch stark verwundert.“ „Hat Sang denn nichts erzählt?“ Uriah lächelte. „Er war nicht sehr gesprächig. Ist sofort weiter gezogen. Das werden wir übrigens auch tun, und zwar mit ihm im Gepäck.“ Braja blickte ihre Anführerin eindringlich an. „Ihr Gefühl hat sie also nicht getäuscht“, flüsterte sie vor sich hin. „Dürfen wir denn Näheres erfahren?“ Es war Leiria, die jene gewagte Frage stellte. „Ich weiß nichts Näheres. Es wird sich erst noch zeigen müssen, was es mit dem Neuen auf sich hat.“ Ihr ernster Blick verriet, dass ihr Stolz angeknackst war. Keine der drei Dunkelelfen ging weiter auf das Thema ein. Uriah gab eine letzte Anweisung, bevor sie sich zurückzog. „Ihr beide werdet den Menschen auf direktem Wege nach Vyers bringen, je schneller, desto besser. Was mich angeht: ich werde schon sehr bald nachkommen.“ Uriahs Tonfall ließ keine Fragen offen, die drei kannten sich gut genug, um zu wissen, wo die Grenzen zwischen Pflicht und Freundschaft zu ziehen waren. Leiria blickte zu ihren älteren Artgenossinnen auf, die beide auf eine gemeinsame Vergangenheit zurückblickten. Wie es zwischen Braja und ihrer Anführerin aussah, wusste die junge Frau nicht genau einzuschätzen. Respekt und Achtung hatten sie aber definitiv voreinander. Uriah verschwand in einer dunklen Seitengasse Inverness' und ließ ihre Untergebenen allein. „Ich sagte doch, dass wir hier schon bald wieder verschwunden wären.“ Der Höchste Turm ---------------- ... ... ... ... ... ... Marseille, Frankreich. Vier Jahre früher (Erdzeit) Meine Großmutter sagte zu mir, ich solle mich nicht verrückt machen deswegen, aber es ist so schwer sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was alles passiert sein könnte. Sie meinte, so ein Gefühl zu haben, dass es Dir gut geht, dort wo Du jetzt bist. Du warst ja schon immer viel reifer als alle anderen, sagte sie. Ich versuche wirklich, daran zu glauben, Julie, auch wenn ich mir nicht erklären kann wieso du gegangen bist. Wir haben doch immer über alles geredet? Was hättest Du mir nicht anvertrauen können? Dein Vater hat mir vor einigen Tagen zum ersten Mal Deinen Abschiedsbrief gezeigt. Das ganze Jahr über hatte er mir nicht in die Augen sehen wollen, wann immer wir uns über den Weg liefen; er machte Maurice und mich für alles verantwortlich, meinte, wir hätten Dir diese Sache in den Kopf gesetzt. Alles hier stirbt, Julie. Ohne Dich geht alles den Bach runter. Wie viele Jahre sollen noch vergehen? Ich überstehe kein zweites. Komm zurück! „Was tust du da?“ Peter riss seinem Freund den Brief aus den Händen, der völlig von ihm überrascht wurde und nun wie versteinert auf dem Bett saß. „Pete ich ...“ Wütend zerknitterte der Junge das Papier in seiner Hand. „Du hast kein Recht meine Sachen zu durchwühlen, Maurice!“ „Hab ich doch gar nicht! Der Brief lag offen auf deinem Schreibtisch, da dachte ich ...“ „Da hast du dir gedacht, du schaust mal rein, oder was?“ Dem dunkelhäutigen, schlaksigen Jungen gingen langsam die Ausreden aus. „Ich ...“ „Vergiss es einfach! Das ist nicht mehr zu überbieten ... Scheiße ...“ Peter ließ sich ausgebrannt in seinen schwarzen Sessel fallen. Die beiden Freunde befanden sich in Dirands kleinem Zimmer in der Wohnung seiner Großmutter. Es war schwer sich in dem engen Raum aus dem Weg zu gehen, trotzdem mieden die Jungen aufgrund der unangenehmen Situation jeglichen Blickkontakt. „Keine Geheimnisse, oder?“ wagte der Farbige auf dem Bettrand die unangenehme Stille zu durchbrechen. Maurice klang zurückhaltend und ängstlich. Der Junge im Sessel blickte einfach ins Nichts, ohne einen Laut von sich zu geben. „Du musst dich für nichts schämen, Pete. Ich vermisse sie doch auch; bin doch auch ihr Freund! Hab aber nicht mal den Mumm etwas zu schreiben ...“ Weiterhin versuchte sich Maurice mit Bedacht dem Jungen zu nähern, den er kurz zuvor so aus der Fassung gebracht hatte. Er konnte erkennen, dass Peter Tränen in den Augen standen, doch riss dieser sich mit aller Macht zusammen und versuchte sie zu verbergen. „Würde eh keinen Sinn machen, sie wird diese Zeilen ja doch nie zu Gesicht bekommen. Schließlich kommt sie nicht zurück.“ „Sag so was nicht!“ Nun blickte Peter seinem Freund direkt in die Augen. „Wieso denn nicht? Es ist jetzt ein Jahr her, ein ganzes Jahr – und noch immer keine Spur von ihr, nicht die geringste. Glaubst du, sie taucht hier irgendwann einfach so aus dem Nichts wieder auf?“ Maurice wusste keine Antwort auf diese Frage. „Dacht ich mir!“ Verzweifelt wandte Peter seinen Blick wieder von Maurice ab. „Nein“, gab dieser schließlich zu. „Vielleicht kommt sie wirklich nicht zurück, aber sie wird sich melden – zumindest das -, da bin ich mir sicher. Ganz sicher.“ „Ha! Erklär mir das bitte Momo, was macht dich denn da so sicher.“ Der Pessimismus seines besten Freundes, von dem er wusste, dass er unsterblich in das Mädchen verliebt war, von dem die Rede war, steckte Maurice langsam an. „Sie liebt uns Peter ... sie würde uns niemals einfach so aufgeben.“ Die Offenheit Maurice' überraschte Peter sichtlich. Eine dicke Träne glitt über seine Wange, aber seine Verzweiflung löste sich nicht auf. „Bist du nicht neugierig, Momo?“ „Weswegen?“ „Du hast den Brief doch gelesen. Interessiert dich gar nicht, was Julie uns allen hinterlassen hat?“ „Huh?“ Peter zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier hervor. Vorsichtig reichte er es seinem Freund. „Schau ihn dir an!“ Maurice griff zaghaft nach dem Papier. Eine intensive Mischung aus Neugier, Angst und Ehrfurcht ließ ihn erzittern. Letzten Endes war es nur ein Brief, dessen Inhalt jedoch von solch' unschätzbarem Wert für den Jungen war, dass dieser die Welt um sich herum kaum noch wahrzunehmen schien. ... ... ... ... ... ... Im Gleichschritt trabte ein kleiner Zug Gefangener stur auf das Haupttor von Vyers Faste zu. An zweiter Stelle ein geschundener Peter Dirand, der, ohne Emotionen zu zeigen, stur geradeaus schaute. Nachdem ihn der Dunkelelf Sang zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit niedergestreckt hatte, wachte er vor einigen Stunden nicht wie zuvor auf dem Rücken eines zweibeinigen Drachens auf, sondern in einem verdreckten Verließ, das nicht viel größer war als sein altes Zimmer in Marseille. Drinnen konnte er dann nicht ausmachen, wer noch alles sein Schicksal teilte, hier draußen allerdings schon. Der Morgen graute und die Sonne bahnte sich langsam aber stetig ihren Weg über die Gebirge in der Ferne. Vor ihm lief ein völlig abgemagerter, alter Mann durch den tiefen Morast. Seine Kleidung war schmutzig und zerschunden, Schuhe trug er gar keine. Peters erster Eindruck, was die Zukunft des Fremden anbelangte, war nicht sehr verheißungsvoll. Direkt hinter ihm lief ein weitaus jüngerer, sehr kräftiger Mann, womöglich in Peters Alter. Als er sich zu ihm umdrehte würdigte der Kerl ihn nur eines herablassenden Naserümpfens. Kein wirklich sympathischer Mensch, aber zumindest ein Mensch. Das waren alle vier gefesselten und geschundenen Seelen in dieser Wanderschaft. Getrieben wurden sie von einem gut zweieinhalb Meter großen, und fast genauso breiten Gamdscha, einem dickhäutigen, gewalttätigen Bewohner dieser Welt. Der Körperbau des Wesens war zum größten Teil als menschlich zu bezeichnen. Alle Gliedmaßen befanden sich an den üblichen Stellen, auch wenn seine Beine so kurz waren, dass die fetten Arme fast den Boden berührten. Die schuppige Haut des Wesens war hellgrau, und verstärkte noch den generellen Eindruck, man hätte es mit einem aufrecht gehenden Elefanten zu tun. Der Kopf des Wesens war ebenso gewaltig wie sein Körper und saß quasi direkt auf seinen Schultern, da es keinen Übergang gab, der an einen Hals erinnerte. Das Gesamtbild rundete die hässliche, Schweine-ähnliche Fratze ab. Ketten an den Händen und Fesseln an den Füßen ließen die Gruppe nur schleppend vorankommen. Vor ihnen ritt ein unbekannter Dunkelelf her, der ein Handzeichen in Richtung Wachturm abgab. Anschließend wurde eine riesige Zugbrücke heruntergelassen, die das Innere der Festung offenbarte, vor der sich Peter und seine Leidensgenossen nun befanden. Ein schlichtweg gigantisches Bauwerk. Peter konnte weder rechts noch links von ihm ein Ende des enormen Schutzwalls erkennen, der die befestigte Stadt gänzlich einhüllte. Kurzzeitig überwältigte ihn dieser Anblick so sehr, dass er seine eigene, prekäre Situation verdrängte. Wachtürme sprossen in gleich bleibenden Intervallen aus dem Boden und überragten die ohnehin sehr hohe Mauer. Alles hier war aus einem ihm unbekannten Gestein gefertigt, das den Franzosen aufgrund seines dunkelblauen Schimmerns zunächst an Erz erinnerte, wenn er den Gedanken auch schnell wieder verwarf. Das Tor, durch das die vier Menschen und ihr Geleit schritten, war riesig. Wahrscheinlich nur eines von vielen, deswegen aber nicht weniger eindrucksvoll. Reges Treiben herrschte in der Stadt hinter der Mauer. Peter erkannte unzählige blauhäutige Elfen. Einige in Rüstung und mit Waffen ausgestattet, andere in Zivil. Man unterhielt sich, trieb Handel oder trug ganz offen und unbeeindruckt Rivalitäten inmitten des Getümmels aus. Zeit für einen angewiderten Blick für die vier Menschen, die wie Schwerverbrecher durch die Elfenstadt eskortiert wurden, brachte so ziemlich jeder von ihnen auf. Der Zug stoppte. „Was hast du anzubieten?“ Der Elf am vorderen Ende der kleinen Karawane wurde von einem Artgenossen, der auf einem kleinen Steinpodest stand, angehalten. „Zwei haben versucht, zu fliehen. An Gasch,“ Der Elf zeigte mit dem Finger auf das übergroße Wesen am Ende des Zuges, „kamen sie allerdings nicht vorbei.“ Das Monstrum am anderen Ende gab ein triumphierendes Grölen von sich, als hätte es genau verstanden. „Wir haben gestern auch noch zwei Neulinge dazu bekommen. Den da,“ Der berittene Elf zeigte nun auf Peter, „hat Brajas Trupp im Grenzwald geschnappt. Das Mädchen wurde irgendwo in den nördlichen Deadlands gefunden, hat sogar noch Glück gehabt, das Miststück. Ha ha!“ Verwundert drehte sich Peter zum letzten Glied in der Kette um. Sie hatte er zuvor kaum wahrgenommen. Ein zierliches Mädchen, mit langem, braunen Haar, schätzungsweise um die vierzehn Jahre alt. Ihre Anwesenheit trieb Peter die Lethargie wieder aus Körper und Geist, und ließ seinen Beschützerinstinkt aufblühen. Sie wirkte so zerbrechlich. Die ganze Zeit über starrte sie auf den Boden, und ihr völlig verzweifelter Gesichtsausdruck verriet, welch' panische Angst sie erfüllte. Wo um Himmels Willen waren sie nur gelandet? „Nun gut. Die beiden Neuen bekommen ihre Zellen im Turm, Sie werden wohl schon erwartet. War er am Fluchtversuch beteiligt?“ Der kräftige Mann hinter Peter runzelte die Stirn. „Nein. Aarve [Ahf] machte wie immer keine Probleme.“ „Verstehe.“ Es sah so aus als ob der Dunkelelf auf der Anhöhe ein hohes Tier in der Hierarchie der blauen Fabelwesen war. Auf jeden Fall musste der Zugführer bei ihm einen Rapport ablegen. Peter hatte freie Sicht auf den älteren, ergrauten Elf, der abschließend die klapprige Gestalt vor ihm ins Visier nahm. „Der Alte hat es hinter sich, entsorgt ihn!“ Mit einer raschen Handbewegung beorderte er zwei Wachen heran, die den alten Mann von seinen Fesseln befreiten. Anschließend drückte ihn einer der Dunkelelfen zu Boden, der andere zückte einen Dolch und schnitt dem völlig erschöpften Mann mit einem gewaltigen Ruck die Kehle durch. Sein Oberkörper sackte zu Boden und lag schon bald darauf in einer rasch anschwellenden Lache grellroten Blutes. Peter konnte nicht glauben was gerade geschehen war, es gar nicht realisieren. Noch nie hatte er mit angesehen, wie ein Mensch ermordet wurde, und auch nicht gedacht, diese Erfahrung jemals machen zu müssen. Die beiden Wachen warteten noch, bis das Blut aufhörte, in Strömen zu fließen und schleiften den Leichnam schließlich davon. All das geschah unter den Augen der völlig unbeeindruckten Bevölkerung. Niemanden in der Stadt kümmerte diese Szene. Das Monstrum am Ende des Zuges gab wie zum Hohn auch noch ein lautes, gelangweiltes Gähnen von sich, während das junge Mädchen vor ihm panisch gluckste und wimmerte, unfähig einen Schrei des Entsetzens hervorzubringen. Auch dem neunzehnjährigen Franzosen nahm das eben erlebte die Fähigkeit in irgendeiner Form zu reagieren. Die Kette an seinen Handfesseln spannte sich, und die nun dezimierte Karawane zog weiter, dicht an der großen Blutlache vorbei, die der alte Mann hinterlassen hatte, dessen Namen Peter nicht einmal kannte. In diesem Moment war er froh darüber. Noch vor einer Minute schmiedete er in Gedanken abstruse Pläne, wie er dem jungen Mädchen vielleicht würde helfen können, und wie sie hier womöglich wieder heraus kämen. Ein einziger Schnitt reichte aus, um ihn gewaltsam aus seinen Tagträumereien zu reißen, und die Furcht vor bevorstehenden Albträumen zu wecken. Das würde er niemals vergessen. ... ... ... ... ... ... Marseille, Frankreich. Vier Jahre früher (Erdzeit) Maurice faltete den Brief auseinander. Nur ein paar Worte standen darin, aber es waren definitiv ihre – er erkannte die Handschrift. Entgeistert las er laut vor, was sich ihm offenbarte. „Auf Wiedersehen Papa, es tut mir Leid. Deine Julie.“ Minuten lang schwiegen die beiden Freunde. Sie nahmen die Zeit gar nicht wahr, die verging. Es war eine traurige Stille, die nichts zu durchbrechen vermochte. Dann nahm Peter den Brief wieder an sich. „Das kann nicht sein Pete, auf keinen Fall!“ Verwundert musterte Peter seinen Freund. „Du hast es doch gelesen!“ „Nein, das mein' ich nicht. Ich bezweifle ja gar nicht, dass Julie ihrem Vater das hinterlassen hat, aber ich kann einfach nicht glauben, dass es alles ist.“ In der Tat war es schwer zu glauben, doch Peter hatte sich zuvor überhaupt keine Gedanken gemacht. Zu wütend war er wegen des Einzeilers, den Monsieur Lauret ihm vor einigen Tagen aushändigte. „Du meinst, da gibt es vielleicht noch mehr?“ Neue Hoffnung keimte auf. „Wieso denn nicht? Julie wusste schließlich, dass ihr Vater nichts von uns hält ...“ Gerade wollte Peter sich an den Spekulationen beteiligen, als ihn der Mut auch schon wieder verließ. „Ach Momo, was würde das für einen Unterschied machen? Wenn es da noch etwas gibt, kommen wir zu spät. Wahrscheinlich hat der Alte unsere Briefe weggeschmissen oder verbrannt.“ „Mann Pete! Wer sagt denn, dass er sie überhaupt jemals in die Finger gekriegt hat? Ich mein', vielleicht hat Julie was versteckt. Könnte doch sein, oder?“ Es war nicht so, als ob Peter nie darüber nachgedacht hätte. Viel Zeit verging, und es gab kaum eine Minute, in der er nicht an Julie dachte. Er fragte sich, warum weder er noch Maurice sich jemals auf die Suche gemacht hatten; wahrscheinlich war die Angst davor, nichts vorzufinden, einfach zu groß gewesen. „Versteckt?“ Beide Jungen blickten sich lange schweigend in die Augen. „Vielleicht ...“, sagte Momo und fügte hinzu, „Du weißt genauso gut wie ich, dass nur ein einziger Ort dafür in Frage kommt.“ Maurice nickte. „Ja. Mir würde jedenfalls kein anderer einfallen.“ Wieder verstummte Peter, wagte dann aber doch noch, den letzten Schritt zu gehen. „Dann ist das beschlossene Sache? Verdammt, ich war seit einem Jahr nicht mehr am alten Hafen. Hab' mich einfach nicht getraut.“ Der Junge grinste leicht verzweifelt, unsicher ob er das Bevorstehende auch wirklich miterleben wollte. „Ob wir nun was finden, oder nicht, ich bin der Meinung, es wird uns helfen über die ganze Sache hinweg zu kommen. Ganz sicher!“ Peter war sich der Sache weniger sicher. Noch etwas anderes nagte an ihm, etwas, das er selbst seinem besten Freund vorenthielt. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Ein kaltes, steinernes Verließ. Mehr hatten die fremden Wesen für ihn nicht übrig. Doch für den Neunzehnjährigen stellte sein neues Heim schon weit mehr dar, als er erwartet hatte. Zumindest an Licht mangelte es ihm nicht. Am nördlichen Ende ging die massive Steinwand in ein Oval aus Gitterstäben über, was Peter einen Panoramablick über die Festung verschaffte. Es war definitiv kein Ort für Menschen mit Höhenangst. Das Gefängnis, in dem er untergebracht war, befand sich im höchsten Turm der gesamten Anlage, und er befand sich schätzungsweise einhundert Meter über dem Erdboden, und damit noch längst nicht auf Spitzenniveau. Die Neugierde trieb Peter an den Rand des Gitters. Von hier oben wirkte die Stadt viel kleiner und weniger imposant. Die Gebäude, die ihm zuvor so mächtig erschienen waren, schnitten im Vergleich mit dem gigantischen Turm, in dem der Junge untergebracht war, eher schlicht ab. Durch die Bauweise der Zelle war die Luft in diesem Gemäuer stets frisch, allerdings fror Peter auch unentwegt. Geräusche drangen vom Flur her in die Zelle. Es waren widerhallende Schritte. Neugierig eilte Peter zur Tür, einem breiten Tor aus Metall, dass ab Schulterhöhe vergittert war, und so eine ausreichende Sicht auf den gesamten Trakt ermöglichte. Ein Spitzohr brachte das junge Mädchen zurück, das, so konnte sich Peter erinnern, erst vor einer knappen Stunde aus ihrer Zelle geholt worden war. Sie hatte noch kein Wort gesprochen seitdem Peter ihr begegnet war. Es wunderte ihn nicht. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Der Dunkelelf stoppte. „Schweig! Du hast hier keine Fragen zu stellen, Mensch!“ Soweit Peter das beurteilen konnte, war er mit dieser Verbalattacke noch glimpflich davon gekommen. Natürlich war er verängstigt, nach allem, was bisher geschehen war, war das auch nachvollziehbar. Trotzdem hätte er dem Fremden am liebsten die deftigsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen, die er auf Lager hatte, vor allem nachdem das brünette Mädchen hilfesuchend in seine Richtung blickte, nur um kurz darauf von dem Wärter einen unsanften Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen. „Beweg dich!“ Diese Traurigkeit in ihren Augen ... In Dirand loderte ein Feuer aus Wut und blankem Hass auf die Dunkelelfen. Was hatte er ihnen bloß getan, was der alte Mann, und was die zierliche Gestalt auf dem Flur? Diese ganze Welt quoll über vor lauter Feindseligkeit. Nicht gegen jemanden persönlich gerichtet, sondern vielmehr gegen die Spezies, der er angehörte. Er konnte das alles nicht verstehen, es fehlte eine Bezugsperson, die ihn aufklärte. Im Augenblick war seine größte Sorge an diesem Ort zu sterben, und nicht zu wissen warum. Lang zurückgehaltene Tränen bahnten sich nun endlich ihren Weg aus Peters Augen. Es machte ihn nur noch wütender. Mehrmals schlug er mit der flachen Hand gegen die Zellentür. Das dumpfe Echo der Schläge erfüllte den ganzen Zellentrakt. „Bist du fertig?“ unterbrach der Wärter sein Wehklagen, der das Mädchen in die Nebenzelle verfrachtet hatte. „Du bist nämlich als Nächster an der Reihe.“ Sein kurzes, schwarzes Haar glänzte im Sonnenlicht, das durch die Stahlgitter aus Peters Zelle drang. Dieses Exemplar war ein echter Bulle; muskulös, mit kantigen Gesichtszügen. Eben ein Typ, den man gerne auf seine Gefangenen aufpassen lässt. „Ich werd' Gardif stecken, dass du hier Probleme machst, Kleiner, dann wird er mir vielleicht erlauben, dir eine überfällige Lektion zu erteilen!“ „Nur zu!“ Der Elf fletschte die Zähne, hielt sich jedoch zurück. „Glaubst du, du kannst irgendwem mit deinem trotzigen Gehabe imponieren? Du machst hier alles nur noch schlimmer für dich, aber ... he he, mir soll's recht sein. Tu mir doch den Gefallen, und versuch' zu fliehen, ja?“ Immer noch blickte Peter in genau den selben verrückten Gesichtsausdruck, der ihm aber keine Angst einjagte. Vom ersten Augenblick an hatte er gewusst, dass er es bei diesem Exemplar mit einem Handlanger zu tun hatte, der den Teufel tun würde, ihn anzurühren. Trotzdem hielt er sich fortan zurück. Mit einem gewaltigen Ruck riss der Dunkelelf die Zellentür auf, in Erwartung heftigen Widerstands, doch nichts geschah. Peter blieb unbeeindruckt an Ort und Stelle stehen. Gelangweilt musterte die imposante, blaue Gestalt sein Gegenüber und führte den Jungen merklich enttäuscht von dessen Verhalten aus dem Kerker heraus auf den kargen Flur. „Wie Schade, du bist einer der schlaueren Sorte ... nun ja, das wird dir beim Steine schleppen in Berra nicht wirklich weiterhelfen.“ Es widerte Peter an, wie der Fremde seine Situations bedingte Überlegenheit zu jeder Sekunde ausspielte. Der Kerl genoss seinen Auftritt regelrecht, so, als wäre es der Höhepunkt seines Tages mit den Gefangenen seine Spielchen zu spielen. Natürlich wusste der junge Franzose, der in dieser Welt der eigentliche Fremde war, nichts mit dem Begriff Berra anzufangen. Ein trostloses Bild, das der Realität wohl sehr nahe kam, zeichnete sich jedoch umgehend in der verrückt spielenden Fantasie des Jungen ab. „Ich bin übrigens Bacall. Die meisten Gefangenen kommen nach ihrem Verhör in den Norden und bauen für uns einen neuen Außenposten. Dann werden Dunkelelfen deine Vorgesetzten sein, und Gardif dich nicht mehr brauchen. Normalerweise ist er großzügig den Menschen gegenüber, sie sind schließlich so zerbrechlich, ha ha! Ich muss aber sagen, dass ich mich schon jetzt darauf freue, dich ohnmächtig im heißen Wüstensand verrotten zu sehen. Die Schwachen überleben keinen Tag da draußen.“ Den ganzen Weg über redete sich Bacall von der Seele. Drohung auf Drohung folgte Seitenhieb auf Seitenhieb. Die ganze Zeit über musste Peter sich ernsthaft zurückhalten, nicht zu kontern. Seine Gedanken schweiften dabei in alle Richtungen. So halbherzig, wie der Dunkelelf neben ihm herlief, ohne Anstalten zu machen, sein Schwert zu ziehen, kam Peter sogar kurz in den Sinn, die Flucht zu ergreifen. Nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, wohin er fliehen sollte. „Du meinst, dir geht es schlecht, Mensch? Glaub' mir, bist du erst einmal in Berra angekommen, wirst du dir wünschen, dich wieder hier in deiner Zelle um die kalten Winde zu sorgen.“ Der Wärter fing laut an zu kichern, wie die Karikatur eines wahnsinnigen Wissenschaftlers, dessen Plan zur Erlangung der Weltherrschaft endlich aufzugehen schien. Wie armselig er dabei wirkte, behielt Peter – wie so vieles – für sich. „Wird seine Gründe haben, wieso euer Chef ausgerechnet deine Leute dorthin schickt“, konnte er sich aber nicht vollends zurückhalten. Dem einfältigen Blauen fiel nichts dazu ein, außer seinen Gefangenen einen aggressiven Schubser zu verpassen, der ihn auf eine Plattform am Ende des langen Ganges beförderte. Bacall stellte sich neben ihn und betätigte einen Mechanismus, der diesen recht simplen Aufzug in Bewegung setzte. Kein Wort fiel mehr zwischen den Beiden, und das neuerliche Schweigen des Dunkelelfen machte Peter weitaus nervöser, als seine Hasstiraden zuvor. Er hatte ihn doch noch wütend gemacht. Die Fahrt nach oben dauerte ein paar Minuten. Der langsam operierende Aufzug kam an etlichen Etagen vorbei, auf die Peter nur kurze Blicke werfen konnte. Mit ansteigender Höhe veränderte sich das Bild des Interieurs zusehends zum Positiven, was darauf hindeute, dass dieser gigantische Turm eine Art Spiegelbild der Gesellschaftsordnung in Vyers war. Nahe den Wolken schienen die wirklich hohen Tiere der hiesigen Hierarchie zu verweilen, und Peter zog es tatsächlich in das oberste Stockwerk. Vor dem Aufzug erstreckte sich ein langer, beleuchteter Flur. Nur künstliches Licht erhellte den Raum, es gab keine Fenster, die Sonnenlicht hätten hereinlassen können. Überhaupt wirkte diese Etage wie abgeschottet vom Rest des gigantischen Turms. Am Ende des Flurs standen Bacall und Peter vor einem enorm großen, massiven Torbogen. Den blauen Stahl verzierte das Panorama eines Kriegsschauplatzes, zumindest meinte Peter, das erkennen zu können. Drachen flogen über das Schlachtfeld, auf dem sich Ritter in prächtigen Rüstungen mit riesigen Zweihändern einer Horde von Monstern erwehrten. Einhörner, Elfen ... ein fantastischer Weltkrieg, könnte man sagen. Die vollendete Handwerkskunst beeindruckte den Jungen zwar, nicht aber das Motiv. Es war schon fast zu typisch für diesen Ort. Womöglich war der große Anführer, der ihn mit Sicherheit hinter diesem Tor erwarten würde, ein besessener Kriegsherr. Es würde das bisherige Bildnis nur komplettieren. „Erkennst du jemanden wieder?“ Zu Peters Verwunderung sprach Bacall ihn nach langem Schweigen wieder an. „Sollte ich das?“ „Vielleicht. Ich weiß es nicht. Das seid ihr dort auf dem Bild. Menschen.“ Mehr sagte der Dunkelelf nicht. Überrascht sah sich Peter die Bildhauerei erneut an. Menschen erkannte er keine, allein versteckt unter den schweren Ritterrüstungen vermutete er sie. Trotzdem entzog sich dem Jungen der tiefere Sinn. Das Tor öffnete sich schwerfällig nach innen, genau wie die Tore der Festung zuvor. Langsam drang Dirand immer tiefer ins Herz, oder besser: in das Gehirn dieses beunruhigenden Ortes vor. Bacall zog Peter zur Seite und wich respektvoll einer Dunkelelfe aus, die sich just ihren Weg aus dem Raum bahnte. Sie erstrahlte regelrecht in dem flächendeckenden Licht auf dem Flur. Ihre silberne Rüstung war so makellos wir ihre gesamte Erscheinung. Peter sah ihr instinktiv in die Augen, und für einen kurzen Moment erwiderte sie seinen Blick aus den Augenwinkeln, lief anschließend aber unbeeindruckt weiter. „Graue Augen ...“ Bacall versetzte Peter erneut einen Stoß. „Mach schon! Geh' rein!“ Von nun an überließ sein Bewacher Peter seinem Schicksal. Langsam wagte sich der Junge in die große Halle vor, die auf den ersten Blick wie ein riesiger Speisesaal wirkte. Ein unendlich langer, mit goldenem Gedeck geschmückter Esstisch zog sich durch den Raum. Die Wände hier schimmerten genauso abendblau wie anderenorts in der Festung, mit der Ausnahme, dass hier weinrote und strahlend weiße Banner das Innenleben verzierten. Die Beleuchtung der Halle konnte man treffend wohl nur als besinnlich bezeichnen. Einzig Kerzenlicht erhellte den Raum – das allerdings aus fast jedem Winkel – von den unzähligen, goldenen Kronleuchtern aus. Peter suchte nach einem Bezugspunkt. Personen waren keine anwesend; er war ganz allein. Am nördlichen Ende des Tisches erblickte er den einzigen Stuhl, aufgestellt auf einer kleinen Anhöhe, wie ein Thron. Als Peter einen Moment darüber nachdachte, wurde ihm schnell klar, dass es sich dabei wohl wahrlich um einen Thron handeln konnte. Von seinem Inhaber war allerdings keine Spur. „Im Garten, mein Junge!“ Eine erhabene, tiefe Stimme hallte aus dem Nordosten des Raumes, wo Peter den Garten folgerichtig vermutete. Die gläserne Tür zu dem riesigen Biotop stand eine Hand breit offen. Als sich Peter hinein wagte, wurden die Sinne des Neunzehnjährigen erneut auf die Probe gestellt. Er befand sich nun in einer Art Treibhaus, dessen fruchtbarer Boden großflächig von einer einzigen Pflanzenart bedeckt war. Inmitten dieses Gartens stand ein Mann, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Blick gen Sternenhimmel gerichtet. Sternenhimmel? War denn schon wieder die Nacht angebrochen? „Ich habe auf dich gewartet Peter. Viele Jahre schon.“ Der Franzose nahm Gardifs Worte zunächst gar nicht wahr, zu beeindruckt und verwirrt war er ob der neuerlichen Augenweide zu seinen Füßen. Er war nicht sonderlich bewandert auf dem Gebiet der Botanik, aber seine Kenntnisse reichten doch noch aus, um eine Rose zu erkennen. Diese hier waren strahlend weiß. Sie reflektierten das Licht der Sterne, dass auf sie herunter schien. Als Ergebnis gaben sie ihre Pollen in die Luft ab, die golden glühend über das gesamte Areal verteilt die Atmosphäre erhellten. „Rosen“, stieß der Junge in Erstaunen aus. Gardif wandte sich nun zu Peter um und bemerkte wie fasziniert er war. „Ein großartiger Anblick, nicht wahr? Die wohl erhabensten aller Pflanzen in dieser Welt, doch leider auch sehr zerbrechlich.“ Während der alte Mann sprach, rollte er ein frisch gepflücktes Exemplar dieser prächtigen Pflanzen zwischen Daumen und Zeigefinger. Nach einigen Sekunden zerfiel die gerade noch strahlend weiße Blüte zu schwarzen Staub, so fein, dass er in der Luft zirkulierte, genau wie die Pollen. „Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich aus der Zelle geholt wurde?“ Zum ersten Mal richtete Peter seinen Blick auf den Herrscher dieser Festung, der absolut keinen gefährlichen oder bedrohlichen Eindruck auf ihn machte. Sein graues, schulterlanges Haar war kraus und dünn. Viele Falten durchzogen sein schmales Gesicht. Rank und schlank stand er dort in seiner engen, leichten Rüstung, die er er trotzdem nicht ausfüllte. Sein blutroter Umhang war mehrmals über seine Schulter geworfen, um nicht auf dem Boden zu schleifen. Etwas entlarvte den Mann jedoch als Nichtmensch. Die Arme des Herrschers waren unnatürlich lang und dünn, seine Hände überproportional groß, ebenso die spitzen Finger . Seine Erscheinung flößte Peter Respekt ein, aber keine Angst. „Was schätzt du denn?“ Gardif zog ein leichtes Grinsen auf. „Ich weiß nicht. Als ich geholt wurde, war es jedenfalls noch helllichter Tag.“ „Ist es auch jetzt noch. Lass dich von diesem Raum hier nicht in die Irre führen. Es ist nämlich so, dass die Sternenrose nur in der Nacht überleben kann. Sie ist sozusagen die Königin der Schattenpflanzen, was ihr in der freien Natur in fast allen Regionen Minewoods zum Verhängnis wird. Nur das Licht der Sonne, das von den Sternen reflektiert wird, regt diese wundersame Pflanze zu dem Schauspiel an, das dir hier präsentiert wird. Deswegen herrscht in diesem Sanatorium ewige Nacht.“ „Und der Himmel ...“ „... ist lediglich Magie, Peter. Eine täuschend echte Kopie eines atemberaubenden, mitternächtlichen Himmels. Nur die meisterliche Zauberkraft einer Hohepriesterin vermag diese Illusion zu erschaffen. Und glücklicherweise gibt es jene an diesem Ort noch.“ Zauberei – das fehlte gerade noch in diesem Schreckensmärchen, in dem Peter gefangen war. Doch wunderte ihn, wieso er von besagter magischer Fähigkeiten vorher noch nichts erlebt hatte. „Nur wenige, ausschließlich weibliche Dunkelelfen beherrschen in der heutigen Zeit noch diese erhabene Kunst, falls du dich wunderst.“ Es war als lese Gardif den Jungen wie ein offenes Buch. Allerdings gab sich Peter auch nicht wirklich Mühe seine Gedanken und Gefühle zu verstecken, mittlerweile erachtete er dies als zwecklos. „Magie war es auch, die dich hier herbrachte, nicht wahr?“ „Sagen sie es mir!“ Gardif schritt ruhig an Peter vorbei in den großen Saal. Natürlich nahm er auf der einzig angemessenen Sitzgelegenheit platz, die dieser Ort ihm bot. „Das muss alles sehr verwirrend für dich sein, und das tut mir wirklich Leid. Menschen haben es in Minewood wahrlich nicht leicht.“ Peter sprang auf diese Äußerung an. „Was sie nicht sagen! Wie können sie es überhaupt wagen diese falsche Freundlichkeit an den Tag zu legen während Männer, Frauen und Kinder an diesem Ort wie Dreck behandelt werden!? Dafür sind sie doch verantwortlich, richtig?“ Große Emotionen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche, und was der Junge dem Herrscher auf seinem Thron entgegnete, stellte lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Zur Überraschung Peters zeigte sich Gardif reuig. „Und genau deswegen bin ich so froh darüber, dich gefunden zu haben!“ „Was ... ?“ „Lass mich bitte erklären, Peter. Dieses Land, ja diese gesamte Welt, blickt auf eine reine, friedliche Vergangenheit zurück. Viele Jahrtausende lang lebten die Bewohner Minewoods in ihrer Mannigfaltigkeit in Einklang miteinander. Krieg, Mord, Hass – das alles war ihnen völlig fremd. Elfen, Feen, Minari, Gamdscha, alle Wesen hier wurden vor nicht allzu langer Zeit mit dem Schrecken konfrontiert, der euch Menschen nur allzu bekannt ist, da er sich wie ein blutroter Faden durch eure Geschichte zieht.“ Seine Stimme wurde immer düsterer und vorwurfsvoller. „Anders als in eurer Welt, auf der Erde, weiß man hier sehr gut über die Existenz der anderen Seite Bescheid. Es ist lange her, dass es den Hohepriesterinnen der Dunkelelfen gelang, das Portal zum ersten Mal zu öffnen. Und Peter: Du wirst zugeben müssen, dass einer völlig friedlichen Rasse das Bild der Erde und ihrer Bewohner Angst einzujagen vermag.“ Schon möglich, aber noch lange keine Entschuldigung, dachte der Junge. „Warum habt ihr uns dann nicht einfach in Ruhe gelassen? Wieso entführt ihr uns?“ Die Menschen lebten ja nicht mal untereinander in Einklang. Noch nie sprach Peter in so einer verallgemeinerten Form von der Spezies, der er angehörte. Uns ... wir Menschen ... Ein merkwürdiges, aber durchaus existentes Gemeinschaftsgefühl, das Peter so noch gar nicht gekannt hatte. „Weil wir auf euch angewiesen sind, auf dich, Peter. Die Dunkelelfen sogar noch mehr als alle anderen.“ Erneut ergab Gardifs Gerede keinen Sinn für den Franzosen. Nur knapp zwei Tage hatte er bisher in Minewood verbracht, und die Art und Weise wie Menschen an diesem Ort behandelt wurden, ließ Peter an der Glaubwürdigkeit des Mannes zweifeln. „Die Elfen behandeln Menschen wie Vieh! Schlimmer noch!“ „Weil sie die Hoffnung verlieren!“ erklärte Lord Gardif lautstark. „Einige haben das vielleicht schon.“ Sehr schnell zügelte er sein Temperament wieder. „Du musst zunächst verstehen, was sie bewegt. Seit über dreißig Jahren suchen wir jetzt schon nach dem Einen. Viele Menschen fanden ihren Weg hierher, doch noch ohne zufrieden stellendes Resultat. Zu viele Rückschläge mussten wir erleiden, sodass die Sorge der Bewohner dieser Welt vor der drohenden Auslöschung zu stehen sich in große Furcht wandelte. Sie haben Angst, Peter. Wir haben Angst ... Doch du wirst sie uns nehmen, da bin ich mir sicher!“ Tausend neue Fragen schossen Peter durch den Kopf, wichtige und weniger bedeutsame zugleich. „Was zum Teufel ist denn hier geschehen?“ Gardif grinste und rollte die Augen. Es war auf den ersten Blick selbst einem Laien klar, dass er sich dem kreativen Zentrum seines Gehirns zuwandte. „Das ist alles Geschichte. Minewood-Geschichte, wenn du verstehst. Du wirst das alles noch früh genug erfahren, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, ich muss dir nämlich eine ganz besondere Person vorstellen.“ Nun nahm das Gespräch wieder eine unerwartete Wendung. Gardifs Gefangener war noch lange nicht fertig. „Wie kann ich ihnen denn helfen? Ihnen und den Figuren da draußen?“ „Genau das wollen wir jetzt herausfinden.“ Enttäuscht senkte Peter seinen Blick gen Boden. Er würde von diesem Mann keine Antworten auf seine Fragen bekommen. Vor allem nicht, wenn er herausfindet, dass er den Falschen Menschen für seinen Messias hält. Erschrocken wich der Franzose einen Schritt zurück, als er die knochige Hand des nun aufrecht vor ihm stehenden Herrschers auf seiner Schulter spürte. „Komm mit, Prana erwartet dich schon.“ Aus den Augenwinkeln nahm Peter die Gesichtszüge des alternden Mannes war. Ihn beunruhigte sein zufriedenes Grinsen, das in starkem Kontrast zum eher feindseligen Ausdruck seiner Augen und Brauen stand. Der Junge konnte nicht verhindern das sich bietende, neue Bild Gardifs innerlich als verrückt einzustufen. Er führte Peter auf das Podest, auf dem sich auch sein Thron befand, betätigte einen Schalter an dessen Rückseite und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Ein Mechanismus setzte sich in Gang, der die massive Felswand am Ende des Raumes als Tor entlarvte, das in diesem Moment einen weiteren Raum offenbarte. Ein Gemäuer, kaum beleuchtet und trostlos in seiner Gesamtheit. Gardif zögerte nicht und schritt voran, Peter blieb dagegen zunächst zurück. „Willst du dort Wurzeln schlagen?“ Im Endeffekt würde es ja doch keinen Unterschied machen, dachte der Franzose. So schritt er schließlich voran. „Prana ist sehr schwach, Peter. Sie sammelt im Schlaf Kraft und spricht so gut wie nie. Dir wird also gleich eine hohe Ehre zuteil.“ Kaum ausgesprochen schob Gardif seinen neuen Lieblingsmenschen ein Stück in Richtung Bett, das im Zentrum dieses Zimmers aufbewahrt war. Es war sehr schmal und wirkte nicht sonderlich komfortabel. Die weibliche Person darin füllte es fast vollständig aus. Eine ranke, große Figur, mit dunkelblauer Haut und langem, perlweißem Haar. Man konnte auf den ersten Blick erkennen dass es sich um eine sehr erfahrene Frau handelte, nur alt sah sie deswegen keineswegs aus. Wieder führte Gardif in Worten die Gedankengänge des Jungen fort. „Sie altern nicht wirklich, sie reifen nur. Noch eine Gabe, die einigen Bewohnern dieser Welt vorenthalten ist. Zu schade ...“ „Komm näher, Junge.“ Peter hatte gar nicht bemerkt, dass die Frau aufgewacht war. Zögerlich näherte er sich wie aufgefordert dem Bett. Die Ausstrahlung, die von ihr ausging, zog den Franzosen völlig in den Bann der Elfe. Sie hob ihren rechten Arm leicht an, nach der Hand des Jungen bittend. „Es dauert nur einen Augenblick, du musst dir keine Sorgen machen.“ Als ob er seine Erlaubnis einholen wollte, wandte sich Peter mit fragendem Blick an Gardif, der seinen zufriedenen Gesichtsausdruck aufrecht erhielt und voller Zuspruch nickte. Schließlich ergriff der Junge die Hand der Frau. Millionen von Bildern blitzten vor dem inneren Auge Peters auf. Aus seiner Vergangenheit, seiner Kindheit – tausend Impressionen zur selben Zeit, als würde ein Computer das Gedächtnis des Jungen lesen und sein gesamtes Leben in Sekundenschnelle analysieren. Er selbst war daran nur passiv beteiligt, da sein Bewusstsein von der Flut an Informationen völlig überfordert wurde. Nachdem die letzte Erinnerung aufgeblitzt war, fiel der geschwächte Peter in Ohnmacht. ... ... ... ... ... ... Marseille, Frankreich. Vier Jahre früher (Erdzeit) Dort standen sie nun, an diesem besonderen Ort. Sie waren hierher gekommen um nach der Hinterlassenschaft einer Freundin zu suchen, doch die Wiederkehr allein rief bei den Jungen lange verdrängte Emotionen hervor. Viele Male traf man sich – damals noch als Trio – an genau dieser Stelle, am hölzernen Pier, neben all den alten Fischer- und Segelbooten. So viele angenehme, schöne Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten waren mit diesem Ort verbunden. Doch nichts davon konnte die Schwermut der Gegenwart überwiegen. „Eine Idee, wo wir suchen könnten?“ Maurice stand mit verschränkten Armen in seinem weinroten Hemd und seiner kurzen, weißen Hose auf dem Steg. Die Sonne verschwand langsam aber stetig hinter den Dächern der Stadt, und die Dämmerung hüllte die Wasseroberfläche in ein warmes Orange. Am Rande des Piers kniete der Zweite im Bunde nachdenklich über dem fast völlig stillen Nass. „Irgendwo, wo es sicher ist; wo es niemand finden kann, außer uns.“ Der dunkelhäutige, schlaksige Teenager kratzte sich nach Antworten ringend am Hinterkopf. Sonderlich hilfreich war der Kommentar seines Freundes nicht gewesen. Doch ihm kam tatsächlich eine Idee. „Hey, wie wär's, wenn wir die Sprossen des Piers absuchen? Ich meine, deren Unterseite?“ Peter musste auf diese Äußerung hin lachen. Momo bemerkte das jedoch nicht. Ihm wollte er nicht die Hoffnung nehmen. „Gehst du freiwillig baden?“ „Ich dachte, wir machen das zusammen?“ „Ehrlich gesagt, will ich's lieber anderswo versuchen, mir schwebt da auch was vor. Teilen wir uns eben auf. Sollte auch effektiver sein ...“ Maurice gab sich mit diesem Vorschlag zufrieden. „Geht klar, wenn du nicht nass werden willst, übernehm' ich das eben.“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen machten sich die beiden ans Werk. Momo zog sein Hemd aus, und stieg vorsichtig ins kalte Hafenwasser hinab, während Peter zur selben Zeit zielstrebig in Richtung Festland marschierte. Er wusste ganz genau, wo er zu suchen hatte. Viele junge Bäume wurden vor nicht allzu langer Zeit an der Promenade gepflanzt, Peter begutachtete einen von ihnen, einen bestimmten. Mit einem Taschenmesser verewigten sich die drei damals in der Rinde des Bäumchens. „Momo, Petey, Julie“; die drei Namen bildeten ein Dreieck. Weiter oben hatte Maurice noch „l'OM #1“ eingeritzt. Es trug zum allgemeinen Eindruck der Irrealität dieses Augenblickes bei. Peter bückte sich und fing an mit den Händen Erde bei Seite zu schaufeln, ganz am Rande des Bassins. Es verwunderte ihn nicht einmal sonderlich, als er tatsächlich auf etwas stieß, doch ein wahrer Felsbrocken fiel ihm vom Herzen. „Sie ist noch da ...“ Lautes Plätschern ließ Peter zusammenzucken. Maurice stieg aus dem Wasser, und bewegte sich auf ihn zu. Welch' überschwängliche Freude ihn wohl erfüllen würde, wenn er erst erfuhr, dass die Suche tatsächlich erfolgreich gewesen war; wenn dem großen Puzzle um Julies Verschwinden endlich neue Teile hinzugefügt werden könnten. Er hätte sich dieses Erfolgserlebnis wahrlich verdient, das Glücksgefühl so nötig gehabt ... ... doch Peter vergrub seinen Fund wieder, verwehrte seinem besten Freund die frohe Kunde. „Puh! Kein Glück gehabt ...und du?“ Keuchend erklärte sich Momo, dem Peter nicht wagte in die Augen zu sehen. Der Niedertracht seines Verhaltens angepasst gebückt, antwortete er. „Auch nicht ... suchen wir noch etwas weiter.“ Er wusste, dass sie hier rein gar nichts finden würden. Nicht noch mehr. ... ... ... ... ... ... Überraschungsmoment ------------------- Kapitel 4 – Überraschungsmoment Ein Windzug ließ das Feuer, das den Raum erhellte, auflodern und ein beunruhigendes Schattenspiel über die kalten Felswände huschen. Die nächtliche Ruhe wurde von einem stürmischen Sommerwind aufgewühlt, der sich von Zeit zu Zeit auch seinen Weg durch die spärlich gesäten Fenster des Thronsaals erschleichen konnte. Etwas ging vor sich in diesem riesigen Raum; Stimmen hallten aus dem Zentrum, und die steinernen Wände warfen sie noch von den entferntesten Winkeln dieses Ortes zurück. Dann hielt für einen Augenblick Stille Einzug. Ein blecherner Kelch flog quer durch den Raum. Die einst darin aufbewahrte, blutrote Flüssigkeit versickerte nun langsam im Boden. Zurückgelehnt in seinem Thron sitzend, biss sich der Lord dieser Festung nervös auf die Unterlippe. Etwas machte ihn verrückt, ließ ihm keine Ruhe; und es befand sich noch eine Person in dem Raum, ganz in seiner Nähe. Es war die Anführerin seines Jagdgeschwaders. Die jüngste noch lebende Hohepriesterin, deren magische Begabung womöglich der letzte Hoffnungsschimmer dieses ansonsten todgeweihten Kreises war. Uriah, die wie eh und je in so glänzendem, hell leuchtenden Silber vor ihrem Herren stand, dass man fast zweifeln mochte, tatsächlich eine Dunkelelfe zu betrachten. Unter ihrem linken Arm trug sie ihren prächtigen Helm, sodass ihr zu einem wallenden Zopf gebundenes, silbrig weißes Haar frei lag. Wahrhaftig eine anmutende Erscheinung. Zu ihrem Unglück ließ das alles den Machthaber jener gewaltigen Festung völlig kalt. Er war unzufrieden – höchst unzufrieden-, und Uriah ahnte, nein, sie wusste vielmehr, dass sie der Grund für seinen Verdruss war. Gardif erhob sich wuchtig aus seinem Thron und näherte sich mit beunruhigend schwerem Schritt seiner Untertanin. „Der Junge, der Junge ... dieser gottverdammte Junge“, wiederholte er ein ums andere Mal in scharfem Tonfall. Die Elfe wagte es nicht, ihrem Herrscher in die Augen zu sehen. Stattdessen fixierte sie den blass golden schimmernden Kelch, den dieser ihr zuvor vor die Füße geworfen hatte „Weißt du,“ fragte Gardif eindringlich, „Prana meint, er ist nicht der, für den wir ... für den du ihn hältst. Mehr noch: Sie meint, er wäre gar nichts!“ Uriah wollte antworten. „Etwas ...“ „Nur ein weiterer, nutzloser Mensch, der in den Minen oder der Wüste verrotten wird“, wurde sie harsch unterbrochen. „Sag, liebste Uriah, bereitet es dir solches Vergnügen, diese armen Seelen aus ihrem sorglosen Leben zu reißen?“ Mit jedem Wort schwoll seine Stimme an und verzerrte mehr und mehr zu einem verrückten, kratzigen Keifen. Schon bald bahnten sich Verachtung und Wut ihren Weg an die Oberfläche. „So sehr, dass du wieder und wieder diesen Abfall hierher bringst?“ Verängstigt versuchte die Dunkelelfe erneut zu reagieren, doch just in diesem Moment schnellte die knochige Pranke des Tyrannen an ihre Kehle, und stahl ihr mit brutalem Druck den Atem. „Ah ...“ keuchte Uriah bevor ihr die Brutalität ihres Herren gänzlich die Luft nahm. „Ich weiß, dass du sie sehen musst, um sie zu beurteilen – mit ihnen Kontakt aufnehmen musst-, aber wenn du mir diesen Abschaum dann dennoch vorsetzt, nur damit ich mich vor Prana der Lächerlichkeit preisgebe, und das bisschen Leben, das dieser alten Hexe noch bleibt, riskiere ... dann, liebste Uriah ...“ Er drückte noch fester zu, nahm sogar in Kauf, die Elfe ernsthaft zu verletzen, doch sie wagte es nicht, sich zur Wehr zu setzen. Gardif hätte die Frau erwürgen können, ohne den geringsten Widerstand zu verspüren, so vollkommen treu ergeben, war sie ihm. „... lässt mich das stark an deiner Urteilsfähigkeit zweifeln!“ Nach diesem Vortrag ließ er endlich von ihr ab. Uriah wich einige Schritte zurück und sank nach Luft ringend auf die Knie. In der gezwungenen Pose zu Füßen ihres Herren gab die sonst so anmutende Frau ein erbärmliches Bild ab. „Tu das nie wieder, Uriah“, drohte der alte Mann. „Ich war stets nachsichtig, doch auch meine Geduld hat Grenzen.“ Nun, da sich die Situation beruhigt hatte, war die Zeit reif für eine Antwort. Außer Atem entschuldigte sich die Frau für ihren Fehltritt. „Verzeiht ... Der nächste Mensch, der diesen Raum betritt, wird der richtige sein, dafür bürge ich mit meinem Leben, Lord Gardif!“ Ein Versprechen, das nur sehr schwer eingelöst werden konnte. Ihr war das bewusst, genau wie dem ergrauten Tyrannen, der die stolze Magierin scheinbar völlig in der Hand hatte. „Verschwinde jetzt!“ Mit einer abwertenden Geste verabschiedete Gardif die Dunkelelfe. Er wollte sie schlicht aus den Augen haben. Die kümmerliche Entschuldigung ihrerseits war ihm völlig gleichgültig. Zwar war es eigens sein Verdienst, dass sich die stolze Kriegerin so vor ihm erniedrigen musste, doch trotzdem widerte ihn dieses kümmerliche Verhalten mehr an, als der Fehltritt der Frau. Kein Wort wurde mehr gewechselt. Auf ihrem Weg aus dem riesigen Saal nutzte Uriah ihre telekinetischen Fähigkeiten um das Tor zu öffnen. Gardif beachtete diesen kleinen Ausbruch von Emotionen gar nicht; nahm ihn in seiner Gedankenverlorenheit wohl nicht einmal wahr. Uriahs Blick sprach Bände. Es war kein Ausdruck von Wut, oder Verletzung, vielmehr wirkte sie irritiert, ja sogar besorgt. Weniger etwa um des Geisteszustandes ihres Anführers, der gerade drauf und dran war ihr das Leben zu nehmen, sondern viel mehr über Pranas Einschätzung des Jungen. Nie zuvor hatte Uriah eine derart starke Aura bei einem Menschen gespürt. Wenn er wirklich nicht der Eine war, was würde sie in Zukunft noch erwarten? ___________________________________________________________ Am nächsten Morgen standen rund zwei Dutzend Menschen in Reihe und Glied vor den riesigen Toren der Festung. Vor ihnen trabte ein pechschwarzes Pferd von einem Ende der Schlange zum anderen. Auch Peter befand sich unter den armen Seelen, die hier in der kühlen, trockenen Morgenluft gemustert wurden. Es verwunderte den Jungen, dass der Dunkelelf vor ihm auf einem echten Pferd und nicht auf einem derer alptraumhaften Vettern ritt, die ihm vor Kurzem noch das Leben schwer gemacht hatten. Der Reiter sprach zu der Menge. „Die meisten von euch wissen ja bereits, was jetzt kommt. Für alle anderen gilt es, nun die verkümmerten Ohren zu spitzen! Ich bin Ortoroz, erster Offizier seiner Lordschaft und somit Befehlshaber über das Heer der Dunkelelfen!“ Scheinbar genoss es die ergrauende Gestalt, sich wichtig zu machen. „Als Zeichen unseres guten Willens werden die Menschen, die sich aus eurer Welt in die unsere verirren, von uns ehrenvollen Aufgaben zugeteilt, um hier in Caims zumindest einen Zweck zu erfüllen. Arbeitet tüchtig und besonnen im Dienste eures Herren! Für eine bessere Zukunft ... für uns alle ...“ Peter konnte nur vermuten, wie viele Male der bullige, große Ritter diese Worte zuvor schon heruntergeleiert hatte. Von seinem gelangweilten und emotionslosen Tonfall ausgehend wohl verteufelt oft. Vorsichtig blickte der Junge, der zu allem Überfluss auch noch im Zentrum der Reihe stand, nach links und rechts und musterte die Mitgefangenen. Bis auf das junge Mädchen, dem er auch schon vorher begegnet war und einem untersetzten, rundlichen Mann, der nur wenig älter schien als Peter selbst, waren sämtliche Insassen wohl schon länger Gäste in Vyers. Sie alle trugen Einheitskleidung. Eine schäbige, hellbraune Robe, eine Hose aus dem gleichen Stoff und ein paar stümperhaft zusammengeschusterte Latschen. Gleich zu seiner Rechten erkannte Peter auch den blonden jungen Mann wieder, der dabei war als ... er verdrängte den Gedanken wieder. Die Kleidung der Neuen, wenn mittlerweile auch stark mitgenommen, stach deutlich aus der Menge heraus, sodass Ortoroz – wie sich der schwer gepanzerte Elf nannte – keine Probleme damit hatte, die Frischlinge vor sich auszumachen. Er zog die Zügel leicht an und trabte bis auf wenige Schritte an Peter heran, beachtete den Jungen aber nicht weiter. „Wie die meisten von euch wissen, ist der Bau des letzten Außenposten schon fast abgeschlossen, auch dank eurer Tüchtigkeit. Jedenfalls bedeutet die baldige Komplettierung, dass wir in Zukunft weniger Arbeitskraft an diesem Ort benötigen“, erklärte er. „Ich werde nun die Namen derer verlesen, die vom Bau abgezogen und nach Berra versetzt werden.“ Ein Grummeln ging durch die Menge. Geradezu ein heller Aufruhr, verglich man die neuerliche Stimmung mit dem demütigen Schweigen, das noch bis vor einigen Sekunden geherrscht hatte. „Ruhe!“ Aufgeschreckt beendeten die Männer und Frauen das Gemurmel so schnell, wie sie es angefangen hatten. „Hört gut zu! Ich wiederhole mich nur sehr ungern.“ Auch die letzten Flüsterer verstummten schließlich. „Vom Bau abgezogen werden: Leite, Oumar, Benajoun, Dean, Aarve und Riordan.“ Jetzt herrschte wirklich helle Aufregung unter den Gefangenen. Peter vernahm verzweifeltes Schluchzen aber auch einige erleichterte Seufzer, die aus der Menge kamen. Wieder fixierte sich sein Blick auf den Mann neben ihm, Aarve. Sein Name war ihm noch geläufig, und seine Körpersprache verriet, wie die Kunde Ortoroz' einzustufen war. Am ganzen Leib zitterte der muskulöse, große Kerl, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Augen glänzten und er biss sich so stark auf die Zähne, dass man glauben konnte, er wolle sie sich in die Kiefer treiben. Er war den Tränen nahe, und zugleich rasend vor Wut. Wo auch immer man ihn hinschicken würde, seine Erfahrung ließ ihn scheinbar annehmen, er würde nicht mehr von jenem Ort zurückkehren. „Der Zug nach Berra wird von Jesz [engl.“Yes“] angeführt, und bricht sofort auf. Für den Rest geht es vorerst zurück in die Zellen. Sobald General Vash zurückkehrt, werdet auch ihr aufbrechen, also genießt die freie Zeit ... HEIYA!“ Mit lautem Gebrüll trat der Dunkelelf in die Sporen und ritt im Galopp davon. Allein ließ er die Gefangenen jedoch nicht. Den zuvor aufgezählten Männern und Frauen wurden Fesseln angelegt. Einige von ihnen waren wie Aarve völlig apathisch, nahmen die Umgebung um sich herum gar nicht mehr war. Die Anderen wehrten sich verzweifelt, doch ohne Erfolg. Der Schein des hellblauen Kleids des Mädchens fiel Peter ins Auge. Würden sie es fertig bringen, dieses junge Ding zu versklaven? Wie könnte sie beim Bau einer Festung behilflich sein? Vielleicht war es Mut, vielleicht Übermut, der den Franzosen dazu bewegte, diese Frage laut zu stellen. „Ihr werdet doch nicht ernsthaft das Mädchen dazu zwingen, für euch zu arbeiten? Sie ist doch viel zu jung!“ Er richtete seine Worte an den Aufseher, den Ortoroz zuvor beim Namen nannte. Jesz. Ein schlanker Mann, mit kurz geschorenen, schwarzen Haaren. Er war auffallend dunkler, als die meisten seiner Artgenossen, und war am ganzen Körper mit Tätowierungen bedeckt, deren Sinn sich Peter noch entzog. Markantestes Merkmal des Dunkelelfs war jedoch die lange, tiefe Narbe, die sich in hellgrauem Ton fast senkrecht durch seine rechte Gesichtshälfte zog. Sein Auge war ebenfalls von dem Schaden beeinträchtigt worden, so dass sein Lid zweigeteilt war, und er auf dieser Seite völlig blind zu sein schien. Jedenfalls war nur noch das Weiße in diesem Auge zu sehen, keine Spur mehr von der smaragdgrünen, katzenhaften Iris, die seiner besseren Hälfte ein wenig die Bedrohlichkeit nahm. „Zu jung, zu klein, zu schwach. Was würde sie uns nutzen? Beruhigen sollte dich das allerdings nicht, denn nur wer von Nutzen ist, überlebt hier.“ Jesz hatte sich dem Jungen auf einen halben Meter angenähert, die Hand in Erwartungshaltung über den Griff seines Dolches platziert. „Was bist du überhaupt? Ihr Beschützer?“ Er schnüffelte an Peter, als würde ihm sich dadurch sein Charakter erschließen. „Dann pass lieber gut auf sie auf!“ „Das werde ich!“ Das Mädchen hörte jedes Wort mit, und blickte hoffnungsvoll und überrascht in Peters Richtung. Zum ersten Mal fühlte sie an diesem Ort eine andere Emotion als Furcht, Panik oder Entsetzen. Zu Peters Verwunderung ließ Jesz ohne weiteren Kommentar oder Gewaltanwendung von ihm ab. Der Aufseher wandte sich seiner kleinen Karawane zu und murmelte dabei noch einen letzten Satz in die Richtung des Jungen. „Wenn du sie wirklich beschützen willst, bring sie lieber gleich um.“ Jesz trieb die sechs Menschen an, die Ortoroz zuvor ausgewählt hatte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ein Reiter auf jeder Seite; Jesz am Ende der Karawane. Die Beteiligten wussten wohl, wohin die Reise für sie ging, für Peter jedoch brachen sie ins Ungewisse auf. Erst jetzt bemerkte der Franzose, dass ihn das junge, brünette Mädchen beeindruckt anstarrte. Ihre Augen glänzten, eine Träne bahnte sich den Weg über ihr hübsches Gesicht. Sie hatte ihn reden gehört, und er wusste just in diesem Augenblick, dass er sich dazu verpflichtet hatte, Wort zu halten. Sie erinnerte den Franzosen an jemanden ... Jemanden, für den er genauso eingestanden wäre. ... ... ... ... ... ... Camden, NJ, USA. Vor zwei Tagen (Erdzeit) Genau wie seine Anwesenheit, fiel dem größten Teil der Teenager auf dieser ach so typischen, abendlichen Wochenendfete der theatralische Abgang des Außenseiters nicht weiter auf, dem die Seitenhiebe und Sticheleien, die er für sie lange gewillt war, hinzunehmen, schließlich doch den letzten Nerv raubten. Das Unangenehmste für Alicia war dabei, dass ihr Freund wie so oft der Aggressor war. „Könnt ihr ihn nicht ein einziges Mal in Ruhe lassen?“ fauchte die Vierzehnjährige in die Richtung ihres Freundes, der in Gesellschaft seiner Kumpanen einfach nicht auszustehen war. „Was willst du denn?“ Das Schlimme war, dass diese betrunkenen Idioten das wirklich nicht verstanden. „Das der hier überhaupt aufkreuzt, ist schon 'ne Frechheit! Kann mich nicht erinnern, dass ihn jemand eingeladen hätte.“ „Ich habe ihn eingeladen, Ian. So wie du alle deine Freunde ...“ Ihr Blick machte herablassend die Runde in dem pubertären Pöbel. „Nun mach mal halblang, der verkraftet das schon.“ Ian war zwei Jahre älter als Alicia und wahrscheinlich gerade deswegen so interessant für das hübsche Mädchen, dass vom ersten Tag an nicht so recht wusste, wieso sie sich seinem kaum vorhandenen Charme nicht entziehen konnte. „Er is' es doch gewöhnt.“ „Du bist so ein ...“ Alicia biss sich auf die Unterlippe und verkniff sich den Tiefschlag. Es war einer dieser viel zu zahlreichen Tage an denen ihr Schwarm sich derart verachtenswert aufführte, doch das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine Auseinandersetzung mit einer Horde angetrunkener Proleten. Es war an der Zeit ein paar Worte mit einer ganz anderen Person zu wechseln, und so folgte die junge Dame dem Weg des Gepeinigten, in der Hoffnung, ihn noch einholen zu können. Zu ihrer eigenen Überraschung, war er nicht weit gekommen. „Jimmy?“ fragte das brünette Mädchen die kniende Gestalt, die zu sehr vom Schatten der jungen Bäume und des prachtvollen Brunnens im Garten eingehüllt war, um absolut sicher sein zu können, mit wem man es zu tun hatte. „Jepp ...“ „Ich dachte, du wärst gegangen!?“ „Hätte ich das tun sollen? Brauchst es nur zu sagen!“ „Nein!“ Alicia ging neben dem schlaksigen Vierzehnjährigen in die Hocke. „Ich hatte befürchtet, diese Idioten hätten ...“ „Du hast mich eingeladen, nicht die“, fiel Jim ihr ins Wort. „Ich verschwinde nicht einfach, ohne mich zu verabschieden. Ist nicht meine Art.“ Diese durchaus zutreffende Feststellung zauberte ein Lächeln auf das jugendliche Gesicht des Mädchens. „Nein, so bist du wirklich nicht.“ Einen Moment lang schwieg Alicia um sich mit Bedacht die folgenden Worte zurechtzulegen. „Man kann sich auf dich verlassen, du lässt einen Freund nicht hängen. Obwohl du wusstest, dass der Großteil der Leute hier Vollidioten sind, bist du gekommen.“ „Weil du es wolltest“, erklärte der Junge verlegen. „Ja, und es tut mir leid, wie alles gelaufen ist. Ian, dieser Spinner, hat den Vogel mal wieder abgeschossen.“ Alicia erhob sich wieder und machte es sich auf dem Marmorgestein am Rande des kleinen Springbrunnens bequem, den eine mehrstöckige Kelchfigur in Kaskaden bewässerte. Jim schloss sich ihr nicht viel später an. „Mmh, wenn du ihn so gut leiden kannst, wieso seid ihr dann eigentlich zusammen?“ „Wieso?“ Der ganz in schwarz gekleidete und sonst so zurückhaltende Junge, wusste mit dieser direkten und durchaus berechtigten Frage zu überraschen. „Naja ... weißt du ... Ian ist unterm Strich gar nicht so übel. Es ist als wäre er ein ganz anderer Mensch, wenn wir allein sind und ich bin gewillt zu glauben, dass er mir dann sein wahres Gesicht zeigt.“ „Tja,“ Jim lehnte verträumt am Rande des Brunnens und beobachtete das kunstvolle Wasserspiel, „er kann dir trotzdem nicht das Wasser reichen.“ „D-danke“, antwortete Ally merklich verlegen. „Die Hauptsache ist, dass wir immer Freunde bleiben. Versprichst du mir das?“ Er antwortete nicht. Einen Moment lang glaubte Alicia, sie hätte den Jungen mit dieser Äußerung gekränkt, vielleicht sogar verletzt. Womöglich steckte ja doch mehr dahinter, als sie vermutete. Doch das war es nicht, was Jim die Sprache verschlug. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem alten Brunnen, der den Jungen geradezu verzauberte. „Was ist?“ fragte das hübsche Mädchen in ihrem prächtigen, himmelblauen Seidenkleid ungeduldig. „Sieh doch!“ Auf Jimmys Drängen hin blickte nun auch Alicia zur Wasseroberfläche des kleinen Bassins, und auch sie war vom ersten Moment an überwältigt von dem seltsamen Anblick, der sich ihr offenbarte. Das kühle Nass, dass im künstlichen Licht ob seiner Klarheit eigentlich völlig durchschaubar war, war einer absolut undurchdringlichen Schwärze gewichen, die auch das weiter durch den Speier zirkulierende Wasser nicht trüben, ja nicht einmal erschüttern konnte. Da wo die Fontänen auf die Oberfläche trafen, verschwanden sie einfach im Nichts, während der finstere Teppich aus der unerklärlichen Masse immerwährend seine Magie ausstrahlte. Die Gespräche und das Gelächter der anderen Gäste drangen auch ohne diese Ablenkung kaum bis zu den beiden durch, doch in diesem Moment hätte selbst die sprichwörtliche Bombe neben ihnen einschlagen können und es trotzdem nicht geschafft, sie abzulenken. „Was glaubst du, was das ist?“ fragte Jimmy. Er meinte, sie müsse es es wissen, immerhin war das hier die Fete zum fünfzehnten Geburtstag ihrer besten Freundin. „Sieht irgendwie seltsam aus.“ „Das kannst du laut sagen.“ Eine Frage drängte sich geradezu auf. „Wo fließt das Wasser hin?“ Der Junge war drauf und dran die seltsame Flüssigkeit, oder was immer es auch war, zu berühren, wurde jedoch von seiner Freundin in die Schranken gewiesen. Wirklich Besorgt sah sie allerdings nicht aus. „Nicht anfassen!“ Sie sprach diese Worte zwar, gab selbst jedoch keinen Pfifferling auf ihren eigenen Ratschlag. Vorsichtig tauchte sie ihren Zeigefinger in das pechschwarze Etwas, das auch auf diese Berührung hin nicht die geringste Reaktion zeigte. Alicia meinte zwar zu fühlen, in eine Flüssigkeit einzutauchen, als sie die Fingerspitze wieder hinauszog fühlte sie jedoch nichts mehr. Keine Feuchtigkeit, kein Kitzeln - Nichts. „Verrückt“, hauchte sie leise vor sich hin und richtete sich wagemutig auf dem Marmorgestein auf. Jim realisierte erst, was Alicia vor hatte, als es schon zu spät war. Aus purer Faszination und Neugier setzte sie einen Fuß in das einstmals seichte Gewässer, unwissend, dass sich an dessen Stelle ein Abgrund aufgetan hatte, der sie weiter von ihrer Heimat weg führen würde, als sie es je für möglich gehalten hätte. „Nicht!“ versuchte ihr bester Freund sie im letzten Moment noch aufzuhalten. Doch vergebens; Alicia fiel. Sie verschwand im Nichts und das Portal mit ihr. ... ... ... ... ... ... Also hatten sie ihn zurückgeschickt – ein weiteres Mal – in die Trostlosigkeit dieses Gefängnisses, das in den Himmel ragte. Doch es sollte sich herausstellen, dass diesmal zumindest etwas anders war. Aus einem Zufall gebar Hoffnung, und sie sollte zwei junge Menschen an diesem Tag vor der Melancholie der Einsamkeit bewahren. Als Peter nach einigen Minuten begann, in seiner Zelle begann herumliegende Steine für Zielübungen zu verwenden, erweckte er damit unverhofft die Aufmerksamkeit seiner neuen Nachbarin. Die Dunkelelfen hatten sich anscheinend keine Gedanken darüber gemacht, wen sie neben wem einquartierten. Es war eine freudige Fügung für beide. „Psst! Hey! Bist du das?“ Irritiert ließ Peter seinen Blick durch den Raum wandern, um den Ursprung der Stimme auszumachen. Nicht viel später stieß er auf eine Nische in der Wand, an der er lehnte, circa einen halben Meter breit und so niedrig, dass man sie leicht übersehen konnte. Es war eine kleine Verbindung zur Zelle gegenüber, durch ein Gitter versperrt, aber zumindest konnte so die Stimme ungehindert bis zu ihm durchdringen. „Wer spricht da?“ Peter kniete jetzt vor dem Schacht und flüsterte der sanften Stimme zu. „Weißt' schon, wir haben uns draußen gesehen. Wir ... konnten uns noch nicht vorstellen, tja ...“ „Du bist das Mädchen in Blau, richtig?“ „Korrekt!“ Die förmliche Bezeichnung, der Peter wählte, brachte sie zum Lachen. „Ich heiße Alicia, aber mich nennen die meisten nur Ally. Mädchen in Blau ist aber auch nicht schlecht.“ Das verlegene Kichern der beiden versiegte schnell; fast ging es in den Gemäuern unter. Der Situation zu trotzen, war kaum möglich. „Ally, ich bin Peter ... Pete ... Petey, was immer dir gefällt.“ „Mmh? Ich hab die freie Auswahl, huh? Peter klingt völlig in Ordnung. Hi!“ Peter war froh, dass das Mädchen ihren Lebensmut, nach all den Torturen, die sich schon jetzt hatte durchstehen müssen, scheinbar nicht verloren hatte. Die ängstliche Starre, in der er sie bisher ausschließlich angetroffen hatte, schien verflogen. Zum Glück. „Und woher kommst du? Aus dem Norden, vielleicht?“ „Nordwesten – um genau zu sein. Camden, New Jersey.“ Peter war völlig überrascht. Mit Norden hatte er Nordfrankreich gemeint, ob des völlig akzentfreien Französisch. Dann dämmerte es ihm wieder. „Oh, na klar, hatte ich schon fast vergessen ...“ „Wovon sprichst du?“ „Ich bin Franzose. Geboren und aufgewachsen in Marseille. Bisher jedenfalls. Mich wunderte nur, warum ich dich so gut verstehe, aber daran wird wohl dieser Wurm Schuld sein“, erklärte er. Langsam ging ihm die Hocke unangenehm ins Kreuz, und er entschied sich flach auf den Rücken zu legen, auch um so womöglich ja einen Blick auf seine Gesprächspartnerin werfen zu können. Und tatsächlich: Leicht verlegen stellte Peter fest, dass Alicia dasselbe Bedürfnis schon vor ihm in eine ähnliche Position gezwungen hatte. „Wurm? Kannst du mir das erklären?“ „Als ich hier ankam, erwischte mich einer von den Blauen da draußen und hat mir so eine Art winzigen Blutegel ins Ohr gesteckt“, versuchte Peter sein Bestes, jenen unschönen Impressionen Ausdruck zu verleihen. „Kein schönes Gefühl ... Jedenfalls konnte ich kurz darauf das Gerede von diesen Leuten verstehen und jetzt ja auch dich.“ „Oh, verstehe“, säuselte Alicia. Peter war heilfroh darüber, endlich wieder ein Gespräch mit einer Artgenossin führen zu können. So recht konnte er seinen Blick nicht von ihr nehmen, wie sie verträumt das Kinn auf den verschränkten Armen abgestützt dort lag, ihr Gesicht eingebettet in ihrem langen, rotbraunen Haar. Er fuhr fort. „Englisch spreche ich schon, aber sicherlich nicht so gut, wie es bei dir ankommt. Haben die das mit dir nicht auch gemacht?“ Alicia fasste sich unsicher an ihre Ohren. „Ich weiß nicht mehr, scheint wohl so. Ich kann mich kaum noch erinnern. Als ich aufgewacht bin, war alles um mich herum weiß. Sand, wohin man auch blickte; und diese Hitze ... höchstwahrscheinlich bin ich dann irgendwann ohnmächtig geworden.“ „Glück gehabt“, entfuhr es dem Neunzehnjährigen. Alicia lachte daraufhin. Oder weinte sie? „Wie man's nimmt.“ Sie weinte. Jetzt zumindest. Und sie schämte sich dafür; drehte sich weg von Peter. „Ist schon okay; lass es ruhig raus. Das ist es definitiv wert.“ Seine Worte waren natürlich nur gut gemeint; allein er selbst musste an der Wirkung seines Mitgefühls zweifeln. „Ich wollte ihm doch nur helfen! Und jetzt das“, begann das junge Ding in Erinnerungen zu schwelgen. „Was wird hier aus uns? Ich will zu meiner Familie zurück ...“ Peter wagte es nicht, erneut zu sprechen. Ihm fehlten auch die passenden Antworten. „Wie soll man uns hier je finden? Das kann doch unmöglich real sein!“ Da waren sie wieder, Apathie und Furcht, das Zittern. Was sie hier bisher hatte mitansehen müssen, ging weit über das Maß an gesunder Lebenserfahrung hinaus, die ein junger Mensch wie sie gemacht haben sollte. „Was sie diesem Mann angetan haben ...“ Es war genug! Peter konnte nicht länger völlig regungslos mitanhören, wie sich Alicia mit genau den falschen Gedanken herumplagte. Er kroch so nahe wie möglich an die Nische in der Wand heran, und streckte seinen Arm durch die Gitterstäbe, so weit, dass das Mädchen nur noch hätte danach greifen müssen. „Hey, Ally! Schau wieder her, sieh mich an!“ Leicht erschrocken, ob des harschen Tones, reagierte sie in Windeseile und verdrängte die Scham vor ihren Tränen unbewusst. „Komm, nimm meine Hand, Alicia.“ Zaghaft ergriff sie die Möglichkeit. Es war ein gutes Gefühl wieder einen Menschen zu spüren, einen ehrlichen, gut gemeinten Händedruck. Es gab ihr Sicherheit und ließ ihre Angst abschwellen. In diesem Augenblick machte sich Alicia keine Sorgen mehr über das dunkle Gemäuer, das sich hinter ihrem Rücken erstreckte, und die Dinge die sich hinter der schweren Tür ihrer Zelle ereigneten. Sie schluchzte, unterdrückte ihre Tränen nicht. Doch das Selbstmitleid wich der Freude darüber, einen Freund gefunden zu haben, der in diesem Augenblick mehr war als das: ihr Held. „Ich werd' nicht loslassen, keine Angst. Was uns auch erwartet, wir stehen das eben durch; zusammen, okay? Versprochen!“ Alicias Augen funkelten, sie lächelte ergriffen ihrem Wohltäter entgegen. Die Tränen röteten ihre Wangen, sie wimmerte, und dennoch verlor sie nichts von ihrer unschuldigen Ausstrahlung. Es war eine Schande, dass ein Mädchen wie sie hier sein musste. „... versprochen.“ ___________________________________________________________ Wie jeden Tag verteilte Uriah auch heute Aufgaben auf ihre Untergebenen. Sie schickte stets Gruppen aus drei Dunkelelfen – vorwiegend Frauen – auf die Jagd. In jüngster Vergangenheit war es meist Wild, das auf der Abschussliste der Spitzohren stand. Nur einigen wenigen Erlauchten war es vorbehalten, auf Menschenjagd zu gehen, allerdings setzte dies voraus, dass auch mindestens ein Exemplar angekommen sein musste. Lady Uriah spürte die Unzufriedenheit ihrer Untertanen ob der jüngst zurückgehenden Quoten, fertigte sie aber ohne ein Wort darüber zu verlieren, ab. Der letzte Zug verließ mitsamt Getier die Stallungen, sodass mit ihr zusammen nur noch vier Personen anwesend waren. Die Favoritinnen der Hohepriesterin – Braja und Leiria – sowie ihr lästiges Anhängsel Sang. Der durchtriebene, schlaksige Elf hockte mit vielsagender Miene gelangweilt auf der Umzäunung einer Box. Angesichts jüngster Ereignisse hätte er eigentlich einen größeren Respektabstand von dem zweifelsohne gefährlichen Tier nehmen sollen. Doch so, wie das bemitleidenswerte Wesen seinen Kopf von links nach rechts auf dem Boden schleifen lies, mit halb geschlossenen Augen, konnte man annehmen, Sang hätte sich dieser Sache bereits vorher angenommen. Die Situation war denkbar ungünstig: Weder wollten die Frauen in dem kleinen Trupp ihn um sich haben, noch wollte er sich bei ihnen herumtreiben und dennoch gab es keine andere Lösung... „Dein Vater fragt nach dir, Sang.“ „Ach was?“ Zweifelnd musterte die Krummnase seine Vorgesetzte. „Und wieso sagt er mir das nicht selbst?“ „Verschwinde!“ meldete sich Uriah noch einmal entschiedener zu Wort. „Ich würde mich nur ungern wiederholen müssen.“ Sein Trotz war schnell verflogen. Selbst Sang war nicht dumm genug, sich mit Uriah anzulegen. Bei seinem Abgang verpasste er dem Guri von Leiria einen Tritt, weil es ihm seines Erachtens nach einen ungebührlichen Blick entgegnete. Zumindest empfand der Dunkelelf die Fratze des Tieres als solchen. „Du ...“ Die Elfe schäumte über vor Wut. „Der Kerl wird irgendwann nochmal von einem Guri gefressen, jede Wette.“ Braja munterte ihre Freundin auf, die sich jetzt schon fast widerlich liebenswürdig um das hässliche Etwas kümmerte, dass Sang zum Toben gebracht hatte. „Sucht Ortoroz ihn wirklich?“ Uriah trug die Antwort amüsiert vor. „Nein, natürlich nicht. Aber Sang wird ihn sowieso nicht finden; er ist mit dem Großteil der Truppen ausgerückt.“ „Ausgerückt?“ - „Was?“ Die beiden jüngeren Elfen waren sichtlich überrascht. „Es heißt, ein Schiff soll vor der östlichen Küste geankert haben.“ „Die Menschen!“ stellten sie sofort fest. „Wer sonst?“ Es war Leiria, die so überzeugt davon war, den Ursprung des Problems ausfindig gemacht zu haben, doch Uriah konnte ihr nicht zustimmen. „Es würde mich wundern, denn ich spüre nichts. Falls es Menschen sind, dann nicht viele und wohl kaum gefährlich.“ „Hmm ...“ „Das ist allerdings auch nicht das Thema. Ich habe Sang schließlich nicht deswegen weggeschickt, so etwas kann er hier überall aufgreifen. Etwas weitaus wichtigeres liegt mir auf dem Herzen, und ich kann diese Sache nur euch beiden anvertrauen.“ Demütig lauschten die schwarzhaarigen Elfen den Ausführungen ihrer Meisterin. „Erlaubt mir, euch um einen Gefallen zu bitten.“ Wie aus der Pistole geschossen, folgte die Antwort der beiden. „Was immer ihr wünscht, Lady Uriah!“ - „... was es auch ist!“ „Ihr erinnert euch sicherlich noch an den Jungen, den ihr vor kurzem im östlichen Wald aufgelesen habt, oder? Letzte Nacht rief mich Lord Gardif zu sich; nicht sehr ... begeistert von ihm.“ Uriah blickte leicht erzürnt gen Decke dieser eher schäbigen Unterbringung. Der ganze Ort war alles andere als angemessen für eine Persönlichkeit wie sie, doch solchen Oberflächlichkeiten gab sich die Jägerin nicht hin, niemals. Erst jetzt bemerkten Leiria und ihre Kumpanin die Würgemale am Hals der Frau. Sie konnten sich ihren Teil dazu denken. „Prana scheint überzeugt davon zu sein, bei ihm handle es sich nur um einen weiteren Verirrten, einem Fehlschlag ... Ich fürchte allerdings, dass ich ihr bei dieser Einschätzung nicht zustimmen kann.“ Für die beiden jungen Dunkelelfen vor ihr brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. So harmlos diese Botschaft auch begonnen haben mag, von so tiefgreifender Konsequenz war sie. Die schlafende Hexe Prana, eine lebende Legende, der die wenigen noch existierenden Dunkelelfen ihr Dasein verdanken. Wer könnte an ihrer Integrität zweifeln? Wer könnte es wagen? Doch Braja und Leiria schworen in diesem Moment, ihrer Meisterin und Freundin nicht ab; Obschon sich Uriah selbst nicht absolut sicher war, dass sie so reagieren würden. „Schon gut, mir ist sehr wohl bewusst welch' Wagnis ich ... wir, hier eingehen. Trotzdem bitte ich euch, vertraut mir. Mir und nicht Prana, denn sie irrt, was den Jungen anbelangt.“ Jetzt hatte sie es schließlich auch ausgesprochen, offen und ohne Schönrederei. Die beiden Jägerinnen hatten nun quasi die Wahl, entweder ihren Herrscher zu verraten, oder ihre Meisterin, ihre Mentorin, ihre Freundin ... ihre Artgenossin. Zögerlich meldete sich die ältere der beiden Dunkelelfen zu Wort. „M-mit anderen Worten: Er ist es!?“ „Nein, denn das muss es ja nicht heißen“, wiegelte Uriah ab. „Es ist ganz einfach so, dass mir noch niemals ein Mensch mit solch starker Aura begegnet ist. Ob sie für Gardifs Vorhaben ausreicht, sei dahingestellt. Vielleicht – die Möglichkeit besteht.“ Nicht umsonst vertraute sich Lady Uriah gerade diesen beiden Dunkelelfen an. Sie waren ihre Leibwache, ihr bestes Personal und selbstverständlich nicht dumm. Im Prinzip hatte sie ihnen gerade nicht mehr erklärt, als dass Prana höchstwahrscheinlich richtig lag, was die Einschätzung Peters betraf. Uriah sorgte sich lediglich um die ungewöhnlich starke Energie, die sie in seiner Gegenwart vernahm. Gerade jetzt stand die angesehene, magisch so begabte Dunkelelfe mit einem Bein in Teufels Küche. Sich über die Situation im Klaren schloss Uriah ihre Ausführung mit dem notwendigen Maß an Selbstsicherheit ab, das vielleicht nötig war, um Braja und Leiria von ihrem Vorhaben vollends zu überzeugen. „Wird dieser Junge Gardifs Armee nach Panafiel führen und Minewood befreien? Vielleicht, vielleicht nicht. Kann er ihm, und somit auch uns, von großem Nutzen sein? Definitiv! Doch wenn es nach der Gemütslage des Lords ginge, würde er hier verrotten, sein Potential verschwendet werden, und das darf nicht geschehen! Und dafür sollt ihr Sorge tragen. Weil ich nur euch uneingeschränkt vertrauen kann.“ Mit den letzten Worten waren die aufkeimenden Zweifel wie von einer Flutwelle hinweg gespült. Leiria war gerade einmal achtzehn Jahre alt, Braja nur vier Jahre älter. Dunkelelfen wurden im Normalfall über hundert Jahre alt; von einigen Hohepriesterinnen der Vergangenheit wusste man, dass sie jene Lebenserwartung gar fast hatten verdoppeln können. Jung wie sie waren, beeindruckte und verpflichtete sie der Vertrauensbeweis jener Frau, zu der sie aufblickten wie zu ihren eigenen Müttern. Eine große Ehre wurde den beiden zuteil, zumindest empfanden sie es als solche. Wie könnten sie ihr jetzt noch in den Rücken fallen? Nach all den Jahren ... „Also“ Leiria lugte zu ihrer Partnerin herüber, die, nach der Anspannung der letzten Minuten, wieder in gewohnt gelassener Pose am hölzernen Stalltor zu ihrer Rechten lehnte. „Wie stellen wir's an?“ Uriah betrachtete ihr schwach reflektiertes Spiegelbild im glänzenden Silber ihres Helmes. Zufriedenheit zeichnete sich auf dem markanten Gesicht der Elfe ab. Zuletzt schielte sie noch ein Mal aus den Augenwinkeln hinüber zu ihren Mädchen. ___________________________________________________________ Ein weiteres Mal graute der Morgen in dieser fremden Welt. Ein weiteres Mal führten Peter Dirand Erinnerungen an seine Vergangenheit in seinen Träumen nach Hause. Dabei konnte er noch nicht erahnen, wie weit seine Heimat tatsächlich entfernt lag. War er überhaupt eine Distanz, oder eher eine Dimension von Marseille entfernt? Er schlief fest – so fest es eben ging – auf dem steinharten Boden seines Gefängnisses. Nicht fest genug jedoch, um das ohrenbetäubende Donnergrollen zu überhören, mit dem die massive Außenwand der Zelle in einer undurchschaubaren Staubwolke zerbrach und mit ebenso lautem Getöse in den Abgrund hinab stürzte. Wie bei einem Erdrutsch erbebte das gesamte Gebäude, dieser gigantische Turm. Nur wenige Augenblicke nach dem unsanften Erwachen stand Peter orientierungslos und sichtlich geschockt auf den zitternden Beinen. Was passierte hier? Aus dem Tiefschlaf gerissen versuchte der Junge sich zu besinnen und ein Bild der Vorgänge zu erhalten. Vor ihm drangen die ersten Sonnenstrahlen der Morgendämmerung durch die zerstörte Wand und blendeten seine schlaftrunkene Sicht. In seinem Rücken vernahm er das Scheppern von Rüstungen und Schwertern unruhig vorbeilaufender Soldaten. Als sich die Staubwolke langsam verzog, wagte Peter es, bis zum Rand des neuerlichen Abgrundes zu schreiten, um einen Blick auf die Festung zu seinen Füßen zu werfen. Die klare Luft ermöglichte ihm eine atemberaubende Aussicht auf Vyers Faste. Von der Ostseite aus näherte sich eine große Schar berittener Krieger, die mittelalterliche Artillerie im Schlepptau hatten. Gerade als der Franzose geladene Katapulte ausmachte, flog ein brennender Felsen, groß wie ein Kleinwagen, nur wenige Meter von ihm entfernte in den Westflügel des Turms. Überschlagende Flammen und herumfliegende, rasiermesserscharfe Felssplitter zwangen den Jungen in Deckung zu gehen, um nicht verletzt zu werden. Die Eruption jedoch brachte Peter aus dem Gleichgewicht. Er stürzte hinab in die Tiefe, wohl wissend, dass dies sein Ende bedeuten würde ... Zunächst prallte er auf einen kleinen Abhang, nur zwei Meter unter dem, was vor kurzem noch seine Zelle gewesen war. Er schnitt sich an den scharfen Kanten des Trümmerfelds die Kleidung auf. Die Wucht des Sturzes beförderte ihn dann schließlich über die Klippe hinaus, die der Einschlag des Geschosses aus der massiven Felswand des riesigen Turmes geformt hatte. Doch dann, kurz vor dem Aufprall, stoppte er. Peter hörte auf zu fallen. Und wieder schlug ein Geschoss in den Turm ein, diesmal sehr nahe an seiner Spitze, doch zunächst hatte der Junge keine Augen für die drohende Gefahr, die sich in Form zentnerschwerer Felsbrocken rasend schnell näherte. Er versuchte zu verstehen, was mit ihm geschah, als er sanft und sicher schwebend auf dem Boden abgesetzt wurde. Um ihn herum tummelten sich zahllose Dunkelelfen, teils schwer bewaffnet, alle zielstrebig auf ein bestimmtes Ziel zusteuernd, doch Peter hatte nur Augen für eine Person, die ihn aus der Distanz vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Er spürte, dass es die Frau in der leuchtenden Silberrüstung gewesen sein musste, die Elfe, der er vor zwei Tagen im Turm über den Weg gelaufen war. Sie blickte ihn an, zunächst völlig emotionslos. Dann zog sie die blauen Lippen zu einem provokativen Grinsen an und richtete ihren linken Zeigefinger in die Höhe. Peter folgte dem Wink mit dem Zaunpfahl und bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie sich gewaltige Felsbrocken ihren Weg aus schwindelerregenden Höhen genau hin zu seiner Position bahnten. Erschrocken sprang der Junge zur Seite, suchte Unterschlupf in einem überdachten Verschlag nicht weit von ihm entfernt. Das hölzerne Dach schützte ihn zwar vor kleineren Brocken, doch Peter wusste, dass er noch lange nicht in Sicherheit war. Er schlich geduckt auf die Mauer der Festung zu, im Osten, wo er zuvor aus der Höhe die Angreifer ausmachen konnte. Natürlich kannte er auch sie nicht, wusste nicht, wer sie waren, aber Peter war sich in Einem absolut sicher: Sie taten das Richtige. Vor, neben und hinter ihm stürmten Dunkelelfen auf die Angreifer zu und gaben ihm somit die Richtung vor. Keiner von ihnen schenkte dem unbewaffneten Neunzehnjährigen Beachtung. Zunächst vernahm er nur das Schellen und Klappern des Metalls, das die Leute in Form von Waffen und Rüstungen mit sich herumschleppten, doch um so näher er der Grenze der Festung kam, mischten sich Schlachtrufe und Schmerzensschreie in das Ambiente. Wie eine aufgescheuchte Schafsherde irrten die Blauen umher. Sie waren in hellem Aufruhr. Eine kleine Genugtuung für den Jungen, der sich geschickt durch die Festung manövrierte. Immer darauf bedacht nicht aufzufallen. Die Stadt, die zuvor so sicher in ihren Mauern eingeschlossen schien, glich mittlerweile einem Trümmerfeld. Zwar vernahm Peter nur noch sehr selten den donnernden Einschlag schwerer Artillerie, doch hatten die Angreifer schon jetzt großen Schaden anrichten können. Der Junge erreichte die Überreste eines kleinen Steinhauses, das im Zuge der Attacken völlig zerstört wurde. Von hier aus versuchte sich Peter zum ersten Mal einen Überblick über die Situation zu verschaffen, geschützt von den nachtblauen Trümmern. Nur wenige Meter vor ihm prallten die Fronten aufeinander. Ein unvergessliches Schauspiel. Es standen sich mit Schwertern, Armbrüsten, Äxten oder Bögen bewaffnete Männer und Frauen gegenüber. Unter den schweren Rüstungen der Angreifer vermutete Peter zunächst gar keine Menschen. Erst als ein pechschwarzer Hengst aufgeschreckt an seinem Versteck vorbei galoppierte und seinen Reiter abwarf, dämmerte es ihm. Mit großem Schwung wurde der bullige Mann über die eingestürzte Mauer geworfen und prallte direkt neben dem Franzosen auf den Boden. Zunächst starr vor Schreck musste Peter mitansehen, wie der Ritter mit einem letzten verzweifelten Keuchen um sein Leben kämpfte, bevor ihn auch das letzte Bisschen Leben verließ. Ein Pfeil steckte in seiner Brust, geschickt gezielt auf eine der wenigen Stellen, an der die massive, matt-silberne Plattenrüstung dem Körper des Mannes keinen Schutz bieten konnte. Dieses Erlebnis war zu Peters eigenem Erstaunen nicht mal mehr annähernd so traumatisierend wie der Tod des gebrechlichen Gefangenen vor einigen Tagen, den er ebenso hatte aus nächster Nähe miterleben müssen. Auch überwog in all dem Durcheinander die Euphorie einen Menschen entdeckt zu haben, der sich nicht der Unterdrückung der Gefangenschaft ergeben hatte. Eines war Peter jetzt absolut klar: Er musste unbedingt seinen Weg zu den Angreifern finden, die in jenem Augenblick seine einzige Hoffnung auf Rettung waren. Aus sicherer Entfernung sah es tatsächlich so aus, als würden die Menschen die Oberhand gewinnen. Im Zweikampf setzten sich die Ritter gegen die meisten Dunkelelfen durch; gnadenlos, aber Gnade hatten die blauen Unterdrücker auch nicht verdient, rechtfertigte Peter das brutale Vorgehen seiner Artgenossen. Ihm war natürlich bewusst, dass vor seinen Augen Menschen und Elfen starben, sich gegenseitig in mittelalterlicher Manier abschlachteten, doch Mitleid konnte er mit der unterlegenen Partei wahrlich nicht empfinden. Als er seinen Blick jedoch auf eine massive, große Gestalt fixierte, die eine riesige Axt in den Rumpf eines der blauen Spitzohren trieb, wurde es auch ihm zu viel. Rotes Blut ... zumindest das hatten Menschen und Elfen gemeinsam. Er spürte wie sich sein Magen umdrehte, wurde aber zu seinem Glück, noch bevor ihn sein Vorstellungsvermögen völlig verrückt machen konnte, von einem weiteren Steinschlag abgelenkt. Das mittlerweile brennende Trebuchet schleuderte einen weiteren Findling Richtung Turm. Ehrfürchtig erhob sich Peter aus seiner gehockten Stellung und verfolgte den präzisen Flug des Geschosses. Erst jetzt fiel ihm alles wieder ein. Wie hatte er sie nur vergessen können? „Alicia!“ schrie er, ohne dabei auf seine Verborgenheit, die ihn ohne Zweifel am Leben hielt, noch wert zu legen. Ob der Einschlag den Zellentrakt in Mitleidenschaft zog, vermochte der Junge nicht zu beurteilen, aber so ramponiert wie die gen Osten geneigte Seite des Turmes aussah, verließen Peter schlagartig alle Hoffnungen und wichen schmerzlichen Schuldvorwürfen. Er hatte sein Versprechen nicht eingehalten ... Ob sie sie noch am Leben war? Und falls ja, wie würde er ihr jetzt noch helfen können? Entgeistert starrte der Junge zum Himmel, vergaß seine eigene, prekäre Situation für einen Moment vollkommen. „D-du ... willst wohl abhauen, huh?“ Jene heiseren Worte ließen die Realität in des Jungen Wahrnehmung zurückkehren; ein alter Bekannter hatte ihn bemerkt. „J-jetzt kann ich mein Ver...sprechen ... ein...“ Es war Bacall, der Aufseher der Peter vom ersten Moment an gefressen hatte. Allerdings stimmte etwas mit ihm nicht. Bei näherer Betrachtung bemerkte Peter, dass seine gesamte rechte Gesichtshälfte blutgetränkt war. Die dicke, dunkelrote Flüssigkeit strömte aus einer tiefen Wunde an seinem Kopf. Er stammelte nur noch vor sich hin. Dann erlöste ihn eine Reiterin von seinem jämmerlichen Dasein, indem sie ihn hinterrücks mit ihrem Schwert durchbohrte. Peter bemerkte die sich heranpirschende Frau und das imposante, braune Pferd, auf dem sie thronte, schon vorher, konnte erahnen wie diese Szene für Bacall ausspielen würde, bevor dieser auch nur ahnen konnte, was los war. Im entscheidenden Moment wandte Peter seinen Blick angewidert zur Seite. „Du bist hier nicht sicher. Nach Osten – beweg dich nach Osten und halte den Kopf unten! Wenn deren Streitkräfte zurückkehren, haben wir---“ Ein Reiter eilte herbei und unterbrach die Ansprache der Frau. Auch bei ihm handelte es sich um einen Menschen. „Hier bist du! Unsere Späher haben ihre Streitkräfte gut zwei Meilen westwärts ausgemacht, sie befinden sich längst wieder auf dem Rückweg“, berichtete er aufgeregt. „Das ist viel zu nah“, stellte die Ritterin flüsternd fest. Ein paar Sekunden lang hielt daraufhin Stille Einzug; dann meldete sich der Überbringer der schlechten Nachrichten erneut zu Wort. „Eva, wir müssen aufbrechen! Gegen Ortoroz Armee sind wir hoffnungslos unterlegen.“ „Ich weiß.“ Sehnsüchtig blickte die Reiterin zu dem Turm, der jedes Gebäude in dieser Stadt um Längen überragte. „Dann war das alles hier umsonst.“ „Sieh doch mal genau hin! ich bin mir sicher, wir haben ihn erwischt.“ Peter sah die Reiterin lächeln, auch wenn der größte Teil ihres Gesichtes von ihrem martialischen Helm verdeckt war. „Nein, haben wir nicht ... dennoch, wir sollten---“ „UARGH---“ Brennende Pfeile schlugen im Rücken des männlichen Reiters und in den Körper seines Schimmels ein, der sofort den Schmerzen Tribut zollen musste und zu Boden sackte. Auch die Frau wurde getroffen. Ein Geschoss traf sie in den Oberschenkel. Nicht auszumalen, wie schmerzhaft diese Wunde wohl war, doch die Unbekannte biss auf die Zähne und verlor zu keiner Zeit den Überblick über die Situation. Sie ließ ihr Pferd hinter die Trümmer traben und zog sich mit einem Ruck den Pfeil aus dem Bein – nicht ohne dabei vor Schmerz aufschreien zu müssen. Dann streckte sie Peter die Hand entgegen. „Komm schon; spring auf!“ Der Junge ließ sich nicht zwei Mal bitten und ergriff die Hand der Frau, die ihn mit aller Kraft auf ihr Ross zog. Ein edles, rotbraunes Tier. Vor allem war es tatsächlich ein Pferd, und nicht eines dieser zweibeinigen Höllenwesen, auf denen die meisten Dunkelelfen unterwegs waren. „HEYIA!“ Mit kräftigen Stößen gab Eva, wie sie von ihrem bemitleidenswerten Kameraden vorher adressiert wurde, dem Tier die Sporen und ritt gleichermaßen schnell wie geschickt durch das aufgeregte Treiben auf dem Schlachtfeld. Wohin das Auge auch sah: Leichen, Blut, Feuer, Schutt. Das faszinierende Stadtbild war zu einem echten Kriegsschauplatz verkommen. Eine ganze Masse an völlig neuen Sinneseindrücken prasselte auf den Franzosen herein. Der Geruch ... ja, womöglich war der Geruch des Todes in diesen ersten Momenten am überwältigsten für ihn. Nur wenige Meter vor der aufgesprengten, östlichen Mauer, durch die sich zuvor die Menschen ihren Weg in die feindliche Festung gebahnt hatten, wurden die beiden von einer Schar Dunkelelfen eingekreist – so kurz vor dem Ziel. Weit und breit war keine Unterstützung in Sicht, allem Anschein nach hatten die Kameraden der Ritterin längst den Rückzug angetreten. „Nein ... das darf doch nicht wahr sein ...“ Eva verfluchte ihre ausweglos scheinende Situation, dachte dabei aber die ganze Zeit konzentriert über einen eventuellen Ausweg nach. Fünf Blaue näherten sich in einer Halbkreisformation ehrfürchtig der kräftigen Stute, die angriffslustig schnaubte. „Der Lord wird hoch erfreut sein, wenn wir ihm deinen Kopf präsentieren, Menschenfrau!“ Peter wandte sich vor Nervosität leicht stotternd an seine Retterin, da die Rettung als solche zu scheitern drohte. „W-was machen wir jetzt?“ Einer der Dunkelelfen konnte den Jungen sehr gut hören. „Sterben, du Narr! Ha ha ha!“ Peter hatte keinen der Fünf zuvor gesehen. Sie waren lediglich mit Messern, einige gar nur mit Holzprügeln bewaffnet. Sie trugen keine Rüstungen. „Tut mir sehr Leid, aber daraus wird nichts. Heyia!“ Mit diesen Worten gab sie ihrer Stute erneut die Sporen und so schoss das Tier wuchtig durch den Wall, den die Dunkelelfen vor ihm aufgebaut hatten. Keiner vermochte es, das Pferd aufzuhalten, auch wenn sie es aufopferungsvoll versuchten. Im Laufduell waren die Spitzohren genauso unterlegen. Sie hatten es also doch noch geschafft. Peter verdankte der Fremden seine Freiheit und nicht zuletzt sein Leben. Blondes Haar wallte aus ihrem kunstvoll geschmiedeten Silberhelm. Mit ihrer zierlichen, rechten Hand hatte sie den Arm des Franzosen fast in mütterlicher Manier fest im Griff, den dieser gedankenschnell um ihre Hüfte gelegt hatte, als ihr Ross kurz zuvor pfeilschnell aus der Festung stürmte. Das karge, staubige Stadtbild wich mehr und mehr fruchtbarer Graslandschaft. Es war eine Genugtuung sich von der feindseligen Umgebung in Vyers zu entfernen. Eva steuerte zielstrebig auf den Waldrand zu, der – trotz noch großer Entfernung – dank des kristallklaren Himmels am Horizont sichtbar wurde. Blicke über seine Schulter beruhigten den Jungen zusätzlich, niemand schien den Angreifern zu folgen. Doch gerade als sich Peter in Sicherheit wog, wurden Ross und Reiterin in einem Moment der Unachtsamkeit von einer primitiven aber gefährlichen Falle überrascht, meisterlich versteckt in der Landschaft dieses Gebietes. Der grüne Boden unter den Hufen des Pferdes gab nach, als dieses seine Vorderbeine auf den schier unsichtbaren Gefahrenbereich setzte. Vornüber stürzte die braune Stute in den Abgrund hinab. Die Kraft des Sturzes schleuderte Peter in hohem Bogen über die Falle hinweg und ließ ihn hart auf festem Boden aufschlagen. Benommen und beinahe bewusstlos vor Schmerz versuchte der Franzose verzweifelt, seine Sinne zu ordnen. Ohne Zeitgefühl und mit getrübter Wahrnehmung kroch er orientierungslos auf dem Boden umher. Es war ein unwirkliches Gefühl, so als befände man sich auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Ständig schritt er über diese Grenze und wieder zurück ... Schwärze ... der blaue Morgenhimmel ... und wieder Dunkelheit ... ... Die blonde Frau; sie war am Leben; ihr Helm lag weit von ihr entfernt. Peter meinte erkennen zu können, dass sie bitterlich weinte ... Jemand richtete ihn auf, stützte seinen tauben Körper ... Da war ein weißes Pferd ... Er saß zwischen Eva und ... einem Fremden ... Ein Fremder ... Realität -------- Kapitel 5 – Realität Mühsam versuchte Peter, die Augen zu öffnen. Zunächst ließ die ungewohnte Helligkeit keinen klaren Blick auf die Wesen vor ihm zu. Wo war er hier gelandet; wo dieses Mal? Nur langsam erlangte er die Kontrolle über seine Sinne wieder. Peter erkannte auf Anhieb keine der Gestalten, die ihn zuvor aus den Fängen der Dunkelelfen gerettet haben mussten, wieder. Tatsächlich konnte er sich nur noch vage an die Geschehnisse erinnern, die sich kurz vor seiner Bewusstlosigkeit abgespielt hatten ... Vor seinem Gesicht flatterte ein hell leuchtendes Etwas aufgebracht hin und her, sodass der Junge keinen klaren Gedanken fassen konnte. Eine Fee vielleicht? Es hätte ihn jedenfalls nicht gewundert. „Die Ritter haben dich hier hergebracht, ja!“ unterbrach eine im schattigen Teil des Raumes stehende Figur seine Gedanken. Alles war hier sehr eng, der Geruch frischen Grases mischte sich an diesem Ort mit der ohnehin blumig riechenden Luft, völlig anders als ... Peter verdrängte diesen Gedanken und wandte sich aufmerksam der geheimnisvollen Stimme zu. „Und wo genau bin ich hier?“ fragte er wen oder was auch immer mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. „Was ist mit den Elfen?“ Ein Raunen ging durch die Menge, die der benommene Junge zunächst gar nicht bemerkt hatte. Es standen eine ganze Reihe von Wesen zwischen Tür und Angel, einige Augenpaare starrten ihn auch durch die Fenster an, insofern man die Aushöhlungen im Holz an den Wänden als „Fenster“ bezeichnen mochte. Zu seinem Entsetzen musste Peter erkennen, dass ihn die Elfen, nach denen er gefragt hatte, geradezu umzingelt hatten. Er zuckte zusammen und kroch soweit wie nur möglich ans Kopfende des Bettes, in dem er lag. „Au!“ Der fast panische Junge stieß sich äußerst unsanft den Kopf an der abgeschrägten Decke. Alles war hier unförmig und unbequem, allerdings nicht bedrohlich. Aus der Menge vor ihm drang allmählich deutliches Kichern hervor. Peter war überzeugt davon, dass es sich dabei um Schadenfreude handelte, und sein Unwohlsein wich sich sehr schnell der Wut. Lachen war wirklich nicht die Stärke der Elfen gewesen, denen er bisher begegnet war. „Du musst keine Angst haben. Nicht vor uns.“ Wieder sprach der Elf im Schatten, der keine Anstalten machte sich zu zeigen. In der Tat schien es, als ob er und die anderen Fabelwesen in und um diesen Raum herum mehr Angst vor dem erschöpften Menschen hatten, als er vor ihnen. Musternde Blicke wanderten an Peter herauf und herunter, die er postwendend mit grimmiger Miene einem jedem Neugierigen zurückwarf. Peter gab sich größte Mühe seine Gedanken in Blicke umzumünzen. Elfen waren bösartig, soviel hat er in seiner Zeit hier schon lernen können. Aber diese hier unterschieden sich womöglich auch in dieser Hinsicht von ihren Pendants in der Festung. Ihr Äußeres war jedenfalls nicht im Entferntesten mit den hochaufgeschossenen Blauen zu vergleichen, das erschloss sich dem Franzosen nun immer mehr. „Lasst mich mit ihm reden!“ Aus der Menge vor dem Haus wuselte sich eine zierliche Gestalt mit zerzaustem, schwarzen Haar und unverkennbar selbstsicherer Miene hervor. „Abstand ihr Gaffer!“ keifte sie lauthals in Richtung ihrer Artgenossen „Als ob ihr noch nie einen Menschen gesehen hättet; also wirklich!“ Einige Zuschauer zogen sich eingeschüchtert zurück. „Na na na! Äh, ihr dürft schon hier bleiben; rückt mir nur nicht zu sehr auf die Pelle, verstanden?“ Offensichtlich genoss die Elfe ihren Auftritt und wollte ihr Publikum nicht verlieren. Sie war jung; zumindest meinte Peter das erkennen zu können, aber was wusste er schon von dieser seltsamen Welt und ihren Bewohnern? Lautes Gemurmel machte sich unter den immer zahlreicher werdenden Wesen breit. „Was ...“ Noch bevor Peter ausreden konnte, unterbrach ihn die aufbrausende Person vor ihm. „Hör gut zu, Fremder: Das hier ist überlebenswichtig für dich. Also kein Dazwischengequatsche!“ Sie war sich seiner Aufmerksamkeit nun mehr als sicher. „Du kannst wirklich von Glück reden, dass du es bis hierher geschafft hast. Und dieses Glück hat auch einen Namen ... naja, zumindest nehme ich mal an, dass es einen hat. Egal ...“ An der leicht irritierten Miene des Menschen vor ihr erkannte die Elfe, dass sie abzuschweifen drohte. „Nur dank des weißen Ritters konntest du aus den Fängen der Dunkelelfen entkommen. Die meisten Menschen ereilt in dieser Lage ein ganz anderes Schicksal.“ „Ist das hier eine Märchenstunde? Ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr sprecht, und wer zum Teufel bist du überhaupt!?“ Die theatralische Darbietung der Elfe provozierte Peter mehr, als dass sie ihn unterhielt. „KEIN GEQUATSCHE! Hör dir gefälligst an, was ich zu sagen habe, es ist ...“ „Was? Überlebenswichtig? Vielleicht erklärt mir zunächst mal einer von euch ... geflügelten ...“ Peter blickte nach Worten ringend quer durch den Raum. „Flügelwesen, in was für einen Film ich hier eigentlich geraten bin!“ Unglücklicherweise brachten seine Bemerkungen das Fass zum Überlaufen. Während die meisten Anwesenden empört in einseitiges Geschwätz ausbrachen, richtete die freche, mitteilungsbedürftige Elfe vor ihm ihren rechten Zeigefinger wie eine gefährliche Waffe genau zwischen Peters Augen. „Ich warne dich: Noch ein Wort, und ich schrumpfe deinen Kopf auf die Größe einer Zuri-Beere!“ Obwohl Peter nicht auch nur den blassesten Schimmer hatte, was eine Zuri-Beere war, schüchterten Ansprache und Gestik seiner neuen Lieblingselfe ihn doch ein wenig ein. Bisher hatte er schon unzählige höchst seltsame Vorgänge in dieser Welt beobachten können, einige sogar am eigenen Leibe erfahren müssen. Warum sollten diese Wesen keine Zauberkräfte besitzen? „Nun gut! Herrje, du bist wirklich ein enorm widerspenstiges Exemplar. Um es kurz zu machen: Du wurdest – wie alle Menschen hier – durch Gardifs Portal in dieses Land gebracht, um hier als Sklave den Rest deines fortan jämmerlichen Lebens zu verbringen. Eine Tragödie, die sich schon seit etlichen Jahren stets wiederholt. Nur hattest du eben unverschämtes Glück, Fremder! Die Umstände hätten wahrlich besser nicht sein können. Die Geflohenen haben sich zusammengeschlossen, um einen Überraschungsangriff auf die Festung der Dunkelelfen vorzunehmen; um Gardif endlich die Stirn zu bieten!“ Zu Peters Erstaunen rückte die junge Elfe während ihrer begeistert geführten Ansprache immer dichter an ihn heran. Sie hockte nun schon auf dem Bettrand nur eine Handbreit von ihm entfernt und starrte ihn durchdringend an, doch sie schwieg. Zögerlich wagte er eine Frage zu stellen. „Wie ging die Sache aus?“ Niedergeschlagen blickte die Elfe zu Boden. „Ein Fiasko, tja ja ... In der Tat warst du der einzige Gefangene, der befreit werden konnte, und es kamen längst nicht alle Angreifer zurück ...“ Diese Kunde schlug Peter schwer auf den Magen. Der Gedanke, dass andere Menschen für sein Wohl gestorben waren, ließ ihn am ganzen Leib erzittern. Wieder keimten Zweifel in ihm auf, ob er womöglich den Verstand verloren hatte, oder dieses ganze Szenario nur träumen würde. „Weißt du, ich glaube, du solltest noch eine Weile warten, bis du dich den Geflohenen anschließt. Sie sind nicht gerade in bester Verfassung. Keiner von ihnen. Obendrein befürchte ich, könnten sie dir die Schuld am Fehlschlag der Mission geben.“ Die Flut an schlechten Nachrichten wollte einfach nicht abbrechen. Und als wäre das nicht schon genug, schien seine ganz persönliche Lektorin ihm auch noch diebisch ihre Schadenfreude vorleben zu wollen. Sie kicherte und gluckste vor sich hin, während Peter entsetzt nach seinem verlorenen Mut suchte, tief in seinem Herzen. „Zum Helden fehlt dir einiges an Erfahrung und Kraft, wenn du mich ...“ Sie brach ab, um sich Peter urplötzlich von einer ganz anderen Seite zu präsentieren. Ungefragt und völlig frei von jeglicher Scham schmiegte sich das überhebliche Fabelwesen an die Schulter ihres perplexen Gastes, den sie just vor einigen Augenblicken vor Ihresgleichen zu belehren versuchte. „Aber mich fragt ja niemand. Sei nicht dumm! Bleib bei uns! Zieh erst gar nicht mit diesen verrückten Menschen los! Alles was sie dir bieten können, ist ein grauenhafter Tod.“ Keiner der Zuschauer hatte das Haus verlassen. Ganz im Gegenteil: Dutzende funkelnde Augenpaare folgten höchst aufmerksam dem Vorgang, was die Angelegenheit für Peter noch einmal doppelt so unangenehm machte. Die Elfe warf sich mit solcher Selbstsicherheit an seinen Hals, wie es der Junge noch nicht erlebt hatte, immerwährend lächelnd und in ihrer seltsamen Eigenart absolut unwiderstehlich. „Es wäre so eine unnötige Verschwendung, nicht wahr? Du bist so jung, so hübsch ... wirf dein Leben nicht einfach so weg! Bleib hier! Du kannst hier bei uns alles haben, was dein Herz begehrt.“ Das verheißungsvolle Gerede der Elfe riss ihn letztlich wieder aus seinen Träumereien. Ein wahrlich surrealer Augenblick wurde abrupt durch den letzten Satz der mysteriösen Schönheit beendet. „Von wegen! Woher glaubst du zu wissen, was ich ... was mein Herz begehrt?“ In Peter fing die Wut an sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Ihm selbst fiel dies jedoch wie immer zuerst auf, und so zügelte er sein Temperament. „Hör zu: Ich bin ja wirklich wahnsinnig begeistert von eurer Gastfreundschaft, aber ich werde sie nicht länger beanspruchen als unbedingt nötig, verstanden? Du ...“ „Lily!“ Völlig unbeeindruckt streckte die Elfe Peter die Hand entgegen, der die leicht verspätete Vorstellung des Mädchens zaghaft entgegen nahm. „L-Lily. Dann wäre das ja geklärt ... Äh, wo war ich stehengeblieben?“ „Geradewegs dabei, einen fatalen Fehler zu begehen!“ „Wenn du meinst“, ließ Peter das Gerede der Elfe scheinbar kalt. Verunsichert bahnte er sich seinen Weg aus dem Bett, stieß sich den Kopf, stolperte über einen unförmigen Klotz aus Holz und trat auch sonst in jedes nur erdenkliche kleine Fettnäpfchen, dass in diesem engen Verschlag auf ihn wartete. Die unbeholfene Vorstellung verscheuchte die meisten Neugierigen in Sekundenschnelle. Noch in der Tür stoppte Lily den Pechvogel ein letztes Mal. „Oh Peter, du wirst nur hier glücklich; glaube mir! Für Menschen ist dieser Ort die einzig sichere Zuflucht. Frag deine Freunde, wenn du mir nicht vertraust. Sie werden dir genau dasselbe erzählen und ihre Märchen über den Kampf gegen Gardif und den Sinn dahinter ... als ob es den geben würde ...“ Lily deckte Peter mit zu vielen alten und neuen Informationen zugleich ein, sodass auch dieser letzte Versuch, ihn aufzuhalten, zum scheitern verurteilt war. Als Peter gebückt aus der schmalen Tür trat, offenbarte sich schon die nächste Sinnesexplosion vor seinen Augen, die er in einem Moment der Klarheit instinktiv in Worte zu fassen versuchte. „E-eine Stadt in den Bäumen ...!?“ Nein, das wäre eine Untertreibung, dachte er sich nur einen Wimpernschlag nachdem ihm der Anblick diese gestammelte Bezeichnung entlockt hatte. Vielmehr eröffnete sich ihm ein Ozean aus Lichtern, die aus unzähligen kreisrunden Fenstern in die Ferne leuchteten. Unmöglich war es abzuschätzen, in welche Entfernungen sich dieses gigantische Gebilde, diese Hauptstadt der Elfen erstreckte. Er befand sich auf einer der vielen Plattformen aus Holz und Moos, die sich kreisrund um jeden der Bäume wickelten und durch Treppen ähnliche Gebilde miteinander verbunden waren. Durch die Wipfel der riesigen Mammutbäume schienen genau so hell wie spärlich Sonnenstrahlen auf Peter und die Umgebung herab. Sein Blick folgte einem dieser Lichtpfeile und konfrontierte ihn alsbald mit dem nächsten erschreckend schönen Eindruck dieser Fabelwelt: ihrer angsteinflößenden Tiefe. Selbst das Sonnenlicht vermochte nicht bis zum Grunde dieses Waldes vorzudringen, sodass Peter nur grob schätzen konnte, in welcher Höhe er sich tatsächlich befand, so nahe an den majestätischen Wipfeln der mächtigen Bäume, die eine natürliche Weisheit auszustrahlen schienen. Verwurzelt im fruchtbaren Boden bahnten sie sich über Jahrhunderte hinweg ihren Weg in die Sphären des Himmels, den sie nun zu teilen vermochten. Peter wich vor lauter Ehrfurcht einige Schritte zurück, ohne es selbst wahrzunehmen. Tatsächlich beeindruckte ihn die Szenerie so sehr, dass es ihm sein Verstand verwehrte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Bis eine nunmehr vertraute Stimme erklang. „Verstehst du jetzt, was ich meine? Geh' nicht weg; gib das nicht auf!“ Lily hatte sich im Rücken des Jungen an ihn herangepirscht und sich sanft um ihn geschlungen. Einfühlsam flüsterte sie Peter ihre Botschaften zu, dabei einige Zentimeter über dem Boden schwebend, um den beachtlichen Größenunterschied wett zu machen. „Es gibt hier noch so viel mehr zu sehen. Dinge, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermagst. Glaube m---“ Abrupt verstummte die verschlagene Elfe und ihr lieblicher Blick verformte sich zu einer wütenden Grimasse. All das ausgelöst durch ein schweres, metallisches Stapfen, dass sich schneller werdenden Schrittes näherte. Peter rang noch immer um Fassung. „Verschwinde!“ Kühl und gefühlskalt verscheuchte der Neuankömmling die Elfe, die sich so sehr mühte einen bleibenden Eindruck bei dem Fremden zu hinterlassen. Ihrer Miene war deutlich zu entnehmen, wie sehr sie diese Niederlage verärgerte. Auch wenn sie wortlos und blitzschnell in der Ferne verschwand, waren dies keineswegs Anzeichen von Respekt, sondern bloße Verachtung, die sie gegenüber der gepanzerten Gestalt empfand. Das grelle Aufblitzen von Lilys Flügeln und ihre blitzartige Flucht rissen schließlich auch Peter aus seinen Tagträumen. Erschrocken blickte er in alle Richtungen, um nach der Elfe zu suchen, die jedoch längst im Dickicht verschwunden war. Letztlich blieb sein Augenmerk auf eine noch eigenartigere Person zu seiner Rechten gerichtet. „Ich sehe, du hast dich erholt. Dann ist es wohl an der Zeit, zu reden. Folge mir!“ Ihre Stimme schien zwar emotionslos und wurde durch den schweren Helm, der ihr Gesicht zum größten Teil verdeckte, zusätzlich verzerrt, doch war Peter nichtsdestotrotz überzeugt davon, dass er es mit einer Frau zu tun hatte. Sein kürzlich so geschundenes Kurzzeitgedächtnis half ihm zunächst nicht auf die Sprünge. Zu benommen war er noch immer von den jüngst erlittenen Strapazen. So gefährlich gekleidet und selbstbewusst auftretend, wie sie war, wirkte die Ritterin einschüchternd auf den Franzosen, dennoch erkannte er schnell sehr deutlich die Dame unter dem furchteinflößenden Stahl. Ihre Körperhaltung und ihr Gang verrieten, was die schmutzige Plattenrüstung, Kettenhemd, Stiefel und mit Nieten versehene Handschuhe verbergen konnten. Die Rüstung war immer noch imposant anzuschauen, doch war nur noch an wenigen Stellen der klare, leuchtend-silbrige Schimmer zu erkennen, der – da war Peter sich sicher – einmal die gesamte Bekleidung in glänzendes Licht hüllte. Einzig die goldenen Verzierungen an dem schweren Gewand zeugten jetzt noch von der künstlerischen Begabung des Erbauers. Auch dieser Anblick wusste Peters Fantasie anzuregen, doch der Moment, der ihn aus den Träumen riss, ließ erneut nicht lange auf sich warten. Sein Blick schweifte langsam aber zielstrebig zur Waffe der Frau: ein Kurzschwert von brutaler Präzision, ebenso handlich wie tödlich. Schlimmer war jedoch, das Peter geronnene Blutflecken auf der Klinge erkennen konnte, was ihm schlagartig die Ernsthaftigkeit der Situation vor Augen führte. Tausend Gedanken schossen dem Jungen durch den Kopf: Dass er gerettet wurde, der Sturz, der Angriff, von dem Lily sprach – bei dem viele Menschen umgekommen waren-, der alte Mann, der vor seinen Augen hingerichtet worden war. Plötzlich war Peter sich sehr sicher, er könne den Geruch frischen Blutes wahrnehmen. Er ahnte bei dem überwältigendem Gefühl der Übelkeit, dass ihn alsbald überkam, dass es um ihn geschehen war. Ruckartig sackte er schließlich in sich zusammen. „Hey!“ Im letzten Moment bekam ihn die Ritterin zu fassen und bewahrte ihn vor dem Sturz in die Tiefe. „Typisch ...“ Er war ohnmächtig geworden, auch wenn sich der Frau der Grund nicht erschließen wollte. In die Obhut der Elfen würde sie ihn jedenfalls nicht wieder übergeben, und so entschloss sich die Kriegerin, den schweren Körper des Jungen den Weg über zu stützen. Dabei wuchtete sie ihn mühevoll und mit aller Kraft über ihre Schulter. Schnaubend trug die geheimnisvolle Person die schwere Last den weiten Weg in die Tiefe. Von überall lugten funkelnde Elfenaugenpaare aus den Baumhäusern und dem Geäst, darauf hoffend ihre angeborene Neugierde befriedigen zu können, doch sie hielten sich fern von der bedrohlichen Gestalt und ihrem Gepäckstück; sie alle respektierten diesen Menschen. Einige vielleicht aus Angst vor ihr, doch machte das keinen Unterschied. ... ... ... ... ... ... Toulon, Frankreich. Zwei Jahre früher (Erdzeit) Als erst klar geworden war, dass Julie womöglich nicht nur von zu Hause Reißaus genommen hatte, konnte Peter dem Drang nicht mehr länger standhalten, die Kapsel wieder auszugraben, die er zusammen mit seinem Schwarm nur wenige Tage vor ihrem Verschwinden tief im frischen Erdboden in der Nähe der Anlegestellen vergraben hatte. Das Plastik-ei war damals eine fixe Idee Julies gewesen, doch schwor sie feierlich einen Eid, das Behältnis erst in ferner Zukunft zu öffnen und forderte von Peter dasselbe Ritual ein. Dem Mädchen war es dabei durchaus ernst damit. Zehn Jahre ... Das sagt sich so leicht! Als er sie völlig aufgelöst vor Trauer und Angst um Julie mit den bloßen Händen ausgegraben hatte, redete er sich noch ein, die Außergewöhnlichkeit der Situation würde sein Vorgehen rechtfertigen. Heute – fast drei Jahre später – hatte er immer noch nicht den Schneid die Kapsel zu öffnen. Womöglich war es aber auch der Respekt vor Julies Wunsch, der es Peter verwehrte, den Schwur zu brechen. Die Neugierde weckte mehr als einmal die Versuchung in ihm, öfter gar noch Enttäuschung und Verzweiflung. Drei Jahre hatte Peter es ausgehalten, war stark geblieben. Eine unendlich lange Zeit für den Siebzehnjährigen, doch er stand sie durch. Selbst an Tagen wie diesem, an dem er gut daran getan hätte, alles hinter sich zu lassen und mit seinen Freunden das Hier und Jetzt zu feiern, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Missmutig und niedergeschlagen wagte er sich, die silbergraue Kapsel wie ein Neugeborenes in den Händen hütend, ans Fenster. Der kleine Hinterhof des Bungalows war alles was diese triste Unterkunft vom weißen Sand des Strandes und dem blauen Meer trennte. Dort, wo seine Freunde die Unwissenheit genießen und sich ganz sich selbst widmen konnten. Doch getauscht, hätte er mit ihnen auf keinen Fall. Gerade sein bester Freund Maurice, dem Peter so vieles ohne Recht vorenthielt, war in jeglicher Hinsicht schlimmer dran als er selbst. Die Antwort, nach der er schon so lange auf der Suche war, und an deren fragwürdiger Existenz Momo schon längst keinen Gedanken mehr verschwendete, lag womöglich direkt vor ihm. Und doch fehlte Peter der Mut. „Kommst du heute nochmal aus der Hüfte?“ Peters Hände zitterten. Maurice' Timing hätte nicht besser sein können. „E-ein bisschen ... Nur noch ein paar Minuten!“ Er regte sich nicht, verbarg seinem Freund somit die Sicht auf die Kapsel, nach der der neugierige, hochaufgeschossene Schwarze sonst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefragt hätte. „Mmh, wie du meinst, dachte nur schon, du wärst eingeschlafen oder so was in der Richtung.“ „Nein nein!“ Peter drehte seinen Kopf in Richtung Tür. Sein Freund musste sich leicht bücken, um sich den Kopf nicht am Rahmen zu stoßen. „Kannst dich ruhig wieder Lara widmen, ich komm sofort nach.“ „He he, Lara? Ich glaub', die hat es eher auf dich abgesehen.“ „Kein Interesse, danke.“ Peters Miene verriet aber, dass er sich zumindest geschmeichelt fühlte. „Ist das dein Ernst?“ Verwundert verzog Momo das Gesicht, machte aber keine Anstalten, den Raum zu betreten. „Du musst hochgradig verwirrt sein, mein Freund, wenn du ...“ „Sie waren beste Freundinnen. Das weißt du ganz genau. Es wäre ...“ Peter kam ins Straucheln. Nicht etwa, weil ihm die Worte fehlten; er zweifelte nur an ihnen. „Wäre einfach nicht richtig, verstehst du?“ „Ich hoffe Lara versteht das. Wie auch immer,“ Es lag in der Luft, dass Momo derlei Gespräche alles andere als begeisterten. Seit geraumer Zeit vermieden die beiden das Thema „Julie“ untereinander, „das ist für lange Zeit unsere letzte Chance, mal was gemeinsam zu unternehmen, danach bin ich ziemlich weit weg.“, erklärte Momo. „Würde mich freuen, wenn du den ganzen anderen Kram mal einfach vergessen könntest. Nur für diese Woche. Einfach mal abschalten, okay? Ich meine: Deswegen sind wir doch überhaupt hergefahren.“ „Ich ... j-ja, du hast Recht. Natürlich hast du Recht! Ich hab' auch nicht vor, die Spaßbremse zu sein, keine Sorge! Hab ja gesagt, ich komm gleich nach. Nur ist Lara ...“ „Ein anderes Thema. Ich weiß, ich weiß.“ Der erste Eindruck von Verdruss war zum Glück wieder verflogen, auch wenn Peter nicht wirklich fühlte, was er sagte. „Hab schon kapiert, aber ärger' dich im Nachhinein nicht, wenn Lara dann vom Markt ist, klar?“ „Keine Sorge.“ Peter lächelte „Wird nicht passieren.“ „Fünf Minuten!“ Maurice tippte bedrohlich auf seine Armbanduhr, bevor er sich auf den Weg machte. „Länger warten wir nicht; ansonsten kannst du das Mittelmeer nach uns absuchen!“ So wie sich Momo ausgedrückt hatte, schien es, als wollte er unter keinen Umständen mit der Geschichte konfrontiert werden, die Peter noch immer den Kopf zerbrach und es wohl auch noch für eine sehr lange Zeit tun würde. Es wäre einfach für ihn gewesen, die Aussagen seines Freundes als Alibi zu benutzen, ihm die Kapsel vorzuenthalten und sich aus der Verantwortung ihm gegenüber heraus zu stehlen. Jedoch glaubte er nicht wirklich daran, dass er jemals den Mut aufbringen würde, sie zu öffnen. Die Angst davor, die Antwort auf seine Fragen nicht zu erhalten, oder schlichtweg enttäuscht zu werden, war einfach zu groß. Würde er Momo von Julies Vermächtnis erzählen, wäre dieser Schritt dann wohl unumgänglich. In aller Eile verstaute er die schwere Kapsel wieder tief in seinem Gepäck. In dieser Woche würde das silberne Ei das Tageslicht nicht mehr erblicken, dessen war Peter sich sicher. Erst als der junge Franzose begann, sich umzuziehen, erinnerte er sich an den Schlüssel des Behältnisses, den er die gesamte Anreise über in der rechten Hosentasche seiner Jeans trug. Einen Augenblick lang belächelte Peter seinen schlampigen Umgang mit diesem so wichtigen Puzzelteil. Natürlich wäre es in der Not keine Schwierigkeit gewesen, das robuste – trotzdem alles andere als unkaputtbare – Behältnis aus Plastik gewaltsam zu öffnen, sollte er den schmucklosen Schlüssel je verlieren. Dennoch zwang er sich in dieser Sekunde, jenes so bedeutsame Andenken an Julie Lauret in Zukunft wie seinen Augapfel zu hüten. ... ... ... ... ... ... Einmal mehr wachte Peter in einer ihm ungewohnten Umgebung auf, ohne sich genau daran zu erinnern, warum er überhaupt eingeschlafen war. Diesmal wich seine Trance jedoch schneller, und das Bild das sich ihm bot, war nicht annähernd so schwer zu verdauen, wie die zurückliegenden. Er befand sich auf einer unbequemen Holzlade, lediglich ein altes Kissen stützte seinen Kopf. Zu seinem Erfreuen umzingelten ihn diesmal zumindest keine Elfen, ob nun der einen, oder der anderen Art. Peter war sich sicher, im Raum vor ihm eine Schar von Menschen ausmachen zu können, die sich mit Karten und Würfel-spielen beschäftigten. Die kleine Nische, in der er abgestellt worden war, bot kaum Platz für eine einzige Person, dadurch konnte Peter allein und aus sicherer Distanz einige Beobachtungen anstellen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn schon bald. Es waren definitiv Menschen, mit denen er es hier zu tun hatte. Sie sahen gefährlich aus. Zumindest aber nicht gerade freundlich gesinnt. Überall Rüstungen und Helme; Pfeile lagen herum, einiges Kriegsgerät sogar direkt neben ihm. Grobe Schwerter standen wie freie Ware hier und dort an die Wand gelehnt. Der Boden dieses Gebäudes rief ein unangenehmes, aber nichtsdestotrotz hilfreiches Deja-vu in Peters Kopf hervor. Blutflecken vermischten sich hier mit dem harten Holz und dem Dreck, den die Ritter mit ihren Stiefeln hineingetragen hatten. Das war es: Dieser Anblick hatte ihn überfordert, im Einklang mit seiner Fantasie, die völlig verrückt spielte, als Peter das Blut am Schwert dieser Ritterin erkannte. Wo sie wohl war? Er war ihr mindestens eine Danksagung schuldig – eher mehrere-, und die Chance dazu sollte er auch bekommen. Gerade als Peter meinte, niemand würde bemerken wie er langsam auf die Beine kam, schritt eine bekannte Gestalt an sein Bett. „Endlich aufgewacht, ja? Du legst also gerne mal eine Pause ein!?“ Gerade weil sie diese unterschwelligen verbalen Hiebe so trocken und kühl herüberbrachte, trafen sie den stolzen Charakter des Jungen, an den sie gerichtet waren, wie Nadelstiche. „Tut mir leid, ich kann mir das auch nicht erklären. Vielleicht---“ „Schon gut!“ unterbrach sie ihn. „Das ist jetzt sowieso Geschichte. Du bist hier und am Leben, nur das zählt.“ Die Ritterin füllte die winzige, improvisierte Tür zu dem Kämmerchen in dem sich Peter befand völlig aus, sodass nur wenig Licht in die Kammer drang und er erneut Schwierigkeiten hatte, einen vernünftigen Eindruck von ihr zu gewinnen. Sie trug ihren furchterregenden Helm glücklicherweise nicht mehr. Im Schatten war es Peter somit zumindest möglich, ihr Profil und ihr langes, dunkelblondes Haar zu erkennen. Seine Neugier war geweckt. „Und ... wo ist hier?“ fragte er zögerlich „Ballybofey [Bell-Bo-Fei]!“ lautete die knappe Antwort. „Genauer gesagt: am Fuße des Elfenwaldes“, fügte die Frau noch ergänzend hinzu. Peter runzelte die Stirn und versuchte hinter einem seichten Lächeln seine Unwissenheit zu verbergen. „Ehrlich gesagt, wären ein paar mehr Details hilfreich.“ „Hm? Scheint als hättest du in Vyers nicht viel gelernt“, gab sich die Fremde überrascht. Ihre Antworten kamen stets wie aus der Pistole geschossen, als ob diese Art Gespräch zu ihrem Alltag gehörten „Um nicht zu sagen: überhaupt nichts. Ich hatte nicht viel mit den Menschen und den anderen Wesen dort zu tun; war die meiste Zeit eingesperrt.“ Wieder leicht erstaunt legte die Ritterin den Kopf in den Nacken und wich ein Stück zurück, um im nächsten Moment hell erleuchtet vor Peter zu erscheinen. Endlich offenbarte sich ihr Antlitz, das die Welt um sie herum zuvor so geschickt zu verbergen schien. Peters Augen funkelten während er das Gesicht der jungen Frau musterte. Bis auf eine etwa fünf Zentimeter lange Narbe an der linken Wange, die zur Hälfte von ein paar dünnen Haarsträhnen verdeckt wurde, war es geradezu perfekt. Definitiv zu schön, um unter einem so schweren, grotesk verzierten Helm versteckt zu werden; obwohl ihre Wangen schmutzig und ihre Lippen spröde waren. Verständlich, bedachte man die Anstrengungen, die hinter ihr lagen. Ihre kurzzeitige Starre löste sich schnell wieder auf und sie strich sich durch ihr blondes Haar, um den unschönen Makel vollends zu verdecken. Sie hatte die intensiven Blicke des Jungen durchaus wahrgenommen. „Eingesperrt, sagst du? Und warst du die ganze Zeit über allein?“ „Ja, wieso?“ Unangenehme Erinnerung drängten sich auf. An das Verhör beim Lord dieser Festung und an Alicia, die aller Voraussicht nach unter den Trümmern des Zellentraktes begraben lag. „Die ganze Zeit?“ „Wie ich schon sagte ...“ Ob sie wohl tatsächlich auf seinen Besuch bei Gardif hinauswollte? „Nun ja, um genau zu sein: nein. Nachdem mich deren Anführer verhört hatte, warf uns so ein ergrauter Pitbull in einen anderen Trakt.“ „Ortoroz. Ja, ich kenne ihn.“ Die Ritterin schenkte Peter ein mitfühlendes Nicken. Erneute Gedanken an Alicia machten ihn rasend vor Wut. Doch noch bevor er sich in Rage reden konnte, fuhr seine neue Leidensgenossin fort. „Er ist General der Armee, die sich Lord Gardif aufgebaut hat. Das ist jetzt schon Jahrzehnte her. Gardif nimmt sich wen oder was immer er braucht, und in den Dunkelelfen hat er zu allem Überfluss auch noch treue Verbündete gefunden. Was auch immer die sich von dieser Allianz versprechen“, sie driftete ab. „Aber das alles wirst du schon noch selbst herausfinden, wenn du dich erstmal eingelebt hast.“ Während des Gespräches blickte die Frau stets in Richtung Wand, schaute nur gelegentlich den Neuankömmling aus den Augenwinkeln heraus an. Sie wirkte stets nachdenklich, woran auch immer es lag. Peter hoffte insgeheim, zumindest das noch herausfinden zu können. „Entschuldige, aber ich habe wirklich nicht vor, noch viel länger hierzubleiben. Sobald ich kann, werd' ich mich aus dem Staub machen.“ „Machst du Witze?“ „Seh' ich so aus?“ Wieder sonderte die Ritterin diesen mitfühlenden Blick in seine Richtung ab, dieses Mal jedoch mit einem großen Anteil an Unverständnis vermischt. „Wird wohl ein langer Tag werden.“ Seufzend setzte die junge Frau zu einem weiteren Vortrag an. „Hör zu: So wie es aussieht, bist du dir noch nicht im Klaren über deine Situation. Das macht aber nichts, ich werde dich diesbezüglich aufklären. Du solltest dich allerdings auf einiges gefasst machen.“ Sie stoppte und wandte sich mit fragender Mimik an den jungen Mann, als benötigte sie ein wenig Unterstützung. „Peter.“ Stellte sich der Junge so höflich vor, wie es seine Situation eben zuließ. „Peter. Ich bin ...“ Wieder stoppte sie, diesmal – entgegen ihrer üblichen Art – verunsichert und nach Worten ringend. „Eva, richtig?“ versuchte sich der Franzose zu erinnern. Mit Erfolg. „Du erinnerst dich also noch. Scheinst doch nicht so viel abbekommen zu haben.“ „Ist immer besser, dem hübschen Gesicht auch einen Namen zuordnen zu können.“ Das Kompliment entfuhr ihm einfach so; er konnte es sich selbst nicht recht erklären. Womöglich war es unangebracht in dieser höchst seltsamen Situation, doch es schien die Ritterin zumindest nicht zu verärgern. Sie lächelte und wirkte merklich erleichtert. „Lass es mich wissen, wenn du dich erholt genug fühlst. Es gibt einiges zu sehen und noch viel mehr zu erfahren.“ Peter richtete sich auf und trat aus der Kammer hervor. Er überragte Eva nun um eine knappe Kopflänge, nickte ihr zu und stellte sich schließlich neben sie. Auch die anderen Menschen in dem Raum richteten ihre Aufmerksamkeit längst auf die für sie unbekannte Gestalt. Peter nahm sich die Zeit einen jeden Blick zu erwidern, bemüht, keine wertenden Gesten zu zeigen, so unterschiedlich und zahlreich die Eindrücke, die vermittelt wurden, auch waren. Mit diesem mutigen Auftreten wusste Peter zu überraschen, vor allem die nun eher zierlich wirkende Frau zu seiner Linken. Die Leute in der Halle wandten sich sehr schnell wieder ihren Beschäftigungen zu. „Ich denke, ich bin soweit“, zeigte der Junge sich selbstbewusst. „Gut, dann folge mir!“ Eva wies ihm den Weg aus der Taverne, dem Treffpunkt dieser Gruppe aus bunt zusammengewürfelten Männern und Frauen. Es waren ausschließlich Menschen hier; keine Elfen oder andere Fabelwesen, an die Peter vor kurzem noch gar nicht geglaubt, sie als „Fantasie“ abgetan hatte, welche sich in den letzten Tagen jedoch als genauso real erwies, wie sein mittlerweile ungeliebtes zu Hause, sein trauriges Marseille. „Oh!“ Eva blieb stehen, kurz nachdem sich die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. „Bevor ich es vergesse. Das hier,“ Sie zog eine Halskette aus einer ihrer Gürteltaschen hervor, „haben wir bei dir gefunden.“ Erst auf den zweiten Blick erkannte Peter, dass ein ganz besonderes Pendant an der Kette hing. Es war zweifelsohne der münzgroße, silbrig schimmernde Schlüssel, den Peter schon seit Jahren tagtäglich wie einen Schatz mit sich herumgetragen hatte. Fast hatte er ihn vergessen. „Äh ... vielen Dank“ Verwundert nahm er die Kette entgegen. „Wie---“ „Ich dachte, eine Kette wäre sinnvoll. Nur das du ihn nicht nochmal verlierst. Ein Wunder eigentlich, dass so etwas Winziges noch immer in deiner Tasche zu finden war, nach allem, was dir passiert ist.“ Die Bemerkung zauberte ein Lächeln auf Peters geschundenes Gesicht. „Ein Wunder, huh?“ Es war ein schöner Gedanke, den er – in Verbindung mit jenem besonderen kleinen Gegenstand – gerne für voll nahm. „Also?“ pochte Eva auf eine Erklärung. „Also was?“ „Erzählst du mir auch, wofür der ist?“, fragte sie völlig unverblümt, ganz ihrer Art entsprechend. „Na ja ...“ Peter zuckte mit den Schultern. „Eigentlich erfüllt er keinen wirklichen Zweck. Zumindest glaube ich nicht, dass ich ihn jemals verwenden werde.“ „Aha.“ Die blonde Kriegerin, die längst keine Gefahr mehr auf Peter ausstrahlte, begann langsam weiter zu gehen, dabei nickte sie zufrieden mit dem Kopf, als hätte sie den Jungen soeben komplett durchschaut. „Verstehe schon. Wie ein Schlüssel zur Seele, ja?“ Völlig perplex schlug der Neunzehnjährige noch einige Sekunden lang weiter Wurzeln vor der Taverne. War es denn wirklich so einfach, ein Profil von ihm zu erstellen, oder lag es schlichtweg in der Natur der Sache, dass es Eva so leicht fiel, den Nagel auf den Kopf zu treffen? Selbst hatte er dem blechernen Spielzeug in seiner Hand eine so philosophische Bedeutung zwar nie zugemessen, doch fand er nichtsdestotrotz darin dessen Sinn bestätigt. Eine Neue Welt -------------- Kapitel 6 – Eine Neue Welt Ein märchenhaftes Ambiente eröffnete sich Peter am Ziel seines Spazierganges. Neben ihm seine Wegweiserin: Eva, die blonde Kriegerin. Sie hatte den Jungen an diesen Ort, dieses abgelegene Stückchen Natur geführt, um sich in aller Ruhe mit ihm unterhalten zu können. Die Bäume hier waren noch jung, viel jünger als die gigantischen Pflanzen, die in der Elfenstadt gen Himmel ragten; womöglich aber auch von einer anderen Gattung abstammend, was Peter auf den ersten Blick nur schwerlich einzuschätzen vermochte. Durch die weniger kräftigen Strukturen im zarten Laub der Bäume drang weit mehr Sonnenlicht bis zum saftig grünen Erdboden hindurch und ließ die feuchten Gräser und Gewächse aufblitzen und funkeln, wie an einem frostigen Dezembermorgen. Dabei war die Temperatur alles andere als winterlich, sondern schlichtweg angenehm. Der junge Franzose begann sich wohl zu fühlen. Er fühlte sich so, wie man sich in diesem Ölgemälde einer Landschaft ganz einfach fühlen musste. „Willst du dich nicht setzen?“ fragte die junge Dame in gewohnt trockener Art und Weise. Für einen Augenblick hätte Peter beinahe vergessen, dass er in Gesellschaft angereist war. Gute dreißig Minuten Fußmarsch im Schritttempo hatten die beiden hinter sich gebracht, um an diesen Ort zu gelangen. Es war die Mühe alle Mal wert. „R-richtig. Ja ...“ Eva nahm in vornehmer Manier auf einem flachen Findling Platz, der sich nahe des seichten Gewässers befand, das dieses Kleinod Natur vom tieferen Gehölz trennte – die Beine übereinander geschlagen. Sie sah Peter nicht an, ihr Blick war fest auf den Flußlauf gerichtet. Auch die junge Frau schien angetan von der Szenerie, wenngleich sie diesen Anblick auch schon früher hatte genießen können. Den Jungen zog es ganz in ihre Nähe, zu einem weiteren Steinoval. „Da wären wir dann wohl, nicht wahr?“ Irgendetwas trieb in Peter die Überzeugung voran, er müsse das Gespräch ins Rollen bringen. Seine Begleitung konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, was bei ihr schon fast einem ernsthaften Gefühlsausbruch gleichkam. „Richtig! Wir sind angekommen.“ Der Weg hierher war eine unangenehm stille Angelegenheit gewesen. Der blassen Schönheit in ihrer bedrohlich wirkenden Aufmachung schien dies dabei nicht zu missfallen. Peter hingegen war überhaupt kein Freund ausgedehnten Schweigens. „Ich dachte mir, das wäre ein geeigneter Ort, ein wenig zu plaudern. Es gibt einiges aufzuarbeiten, wie du dir sicher denken kannst.“ Zum ersten Mal schenkte Eva ihrem Begleiter einen flüchtigen Blick in die dunklen Augen, der diesen ohne große Gefühlsregungen kurz erwiderte. „Einiges, in der Tat!“ Wahrscheinlich waren es ihre Geschosse gewesen, die Alicia töteten, auch wenn Peter insgeheim noch immer die Hoffnung hegte, dass das Mädchen die Angriffe irgendwie heil überstanden hatte. Er hatte ihr doch geschworen, sie zu beschützen ... Gedanken an die junge Amerikanerin ließen den Jungen schnell alle Schuld vergessen, die er bei seiner Lebensretterin abzuarbeiten hatte. „Es war purer Zufall, dass ich dir begegnet bin, nicht wahr?“ Überrascht baute sich Eva eine passende Antwort zusammen. „Nun ... Ja! Ein glücklicher, möchte ich wohl hinzufügen.“ „Was war also eure wirkliche Absicht?“ wollte Peter wissen. „Wieso habt ihr die Festung überhaupt angegriffen?“ Noch glaubte der Junge, seine Gönnerin würde dem ergrauenden Bild, das sich mittlerweile abzeichnete, wieder etwas Farbe verleihen können; doch es sollten hingegen noch weitere, tiefschwarze Pinselstriche folgen. „Was glaubst du denn? Auf Gardifs Kopf hatten wir es abgesehen!“ verkündete Eva selbstsicher. „Wir wollten ihn ausschalten ... nach all den Jahren.“ Nun begann auch die mysteriöse Vergangenheit der jungen Frau, sie zornig zu machen. Ihr Hass auf den Herren der Dunkelelfen saß tief. „Leider haben wir unser Ziel wohl nicht erreicht. Ich bin zumindest wenig zuver---“ „Deswegen habt ihr den Turm bombardiert!?“ schrie Peter sie fast an. „Sein Untergang ist so bedeutsam für euch?“ Das Temperament des Franzosen loderte auf. „So wichtig, dass ihr es in Kauf nehmt, dabei unschuldige Menschen zu töten?“ „Wir retten Menschen!“ „Wie bitte?“ Peters Zynismus war in seinen Worten deutlich zu lesen. „Was denkt ihr, wer in seinem Turm gefangen gehalten wird? In dem Turm, den ihr in Schutt und Asche gelegt habt!“ Die Tatsache, dass Eva genau zu wissen schien, wovon Peter sprach, machte ihn nur noch zorniger. „Du verstehst das nicht, noch nicht. Es bedarf weit mehr Wissen, das zu begreifen, also ...“ Wieder unterbrach der Junge Evas Erklärungen. „Das kann ich auch gar nicht verstehen! Nie!“ Die Ritterin schoss ungeduldig und sichtbar errötet in die Höhe. Das idealistische Verhalten ihres Gegenübers versetzte sie in Rage. Sie fühlte sich direkt angegriffen von den Vorwürfen die Peter aussprach. „SEI STILL!“, entfuhr es ihr lauthals. „Du bist am Leben. Worüber beschwerst du dich also? Du kennst mich gar nicht, du kennst keinen einzigen von uns. Und Gardif?“ Eva stoppte kurz ihren Vortrag. Jedes Mal, wenn sie den Namen des Mannes aussprach, schürte das ihre Wut nur noch mehr. „Ihn schon gar nicht! Er ist ein Tyrann, ein Diktator ohne Herz, du Dummkopf! Wenn es ihn nicht geben würde, wären du und alle anderen Menschen gar nicht hier, du wärst immer noch daheim – auf der Erde. Woher du dort auch stammen magst. Du wärest niemals aus deinem Leben gerissen, niemals hierher verschleppt worden, wenn Gardif nicht existieren würde!“ Einige Sekunden lang gab sie Peter die Chance zu reagieren, doch er konnte sich in seiner Unsicherheit keine auch nur halbwegs vernünftige Argumentation zurechtlegen. „Aber ...“ „Ja ... Vielleicht starben Unschuldige bei unserem Angriff. Sehr wahrscheinlich sogar“ Die junge Frau wirkte sichtlich niedergeschlagen. Die Vorwürfe haben sie sehr wohl getroffen. „Ich bin nicht stolz darauf. Keineswegs. Denn weil wir keinen Erfolg hatten, sind sie ganz umsonst gestorben.“ Es war ein Rüffel aller erster Güteklasse, und führte man den Denkanstoß der Frau weiter, musste sich der Neunzehnjährige wohl oder übel geschlagen geben. Nicht Eva war dafür verantwortlich, dass die kleine Alicia diesem Krieg zum Opfer gefallen war. Auch war sie nicht diejenige gewesen, die den alten Mann vor ihren und Peters Augen ermordete, oder die vielen Menschen in Vyers einsperrte und versklavte. „Ich wollte dich nicht beschuldigen“, versuchte der Junge, der es nicht mehr wagte, Eva in die Augen zu sehen, zu schlichten. „Verstehst du es jetzt langsam? Was immer du auch erlebt haben magst: Glaube mir, du wirst hier Leuten begegnen, vor denen du dich für jedwedes Selbstmitleid schämen würdest!“ Noch immer zornig, wählte sie ihre Worte bewusst harsch und direkt, auch wenn der Sandsack auf den sie einprügelte, längst Risse bekommen hatte und allmählich alle Kraft verlor. „Es tut mir leid, falls du jemanden verloren hast, der dir nahe stand, aber solange Gardif lebt, wird dergleichen wieder passieren, glaub mir.“ Stille. „Da war ein Mädchen“, flüsterte Peter. „Alicia. An dem Abend vor eurem Angriff haben die Elfen sie neben mir in eingesperrt. Ich hab' ihr versprochen – geschworen-, das zusammen mit ihr durchzustehen. Sie war noch so jung und völlig verängstigt ... Und dann kamt ihr ...“ Der letzte Satz war in keiner Weise als Vorwurf gedacht und auch nicht so vorgetragen. Peter versuchte vielmehr, den eigenen Zorn und das Unverständnis zu erklären, welche die junge Frau so sehr verärgert hatten. Zu seinem Erschüttern konnte die bisher so stark und gefasst wirkende Kriegerin einige Tränen nun nicht mehr zurückhalten. War sie sich doch einer gewissen Schuld bewusst? Es wäre Unfug gewesen, denn sie selbst hatte es zuvor auf den Punkt gebracht. Sie war ganz und gar im Recht. ... ... ... ... ... ... Ballybofey. Vor 6 Tagen (Minewood-Zeit) „Du kommst NICHT mit! Ende der Diskussion.“ So wie die Worte einschlugen, so tat es auch die Holztür der Taverne in ihren Rahmen. Es war späte Nacht, und die meisten Menschen hier lagen längst im Tiefschlaf. Die zierliche Waldelfe Lily überraschte Eva zu dieser späten Uhrzeit mit ihrem seltsamen Anliegen scheinbar mehr als ihr lieb war. Die geschlossene Tür jedenfalls beeindruckte das Elfenmädchen nicht im geringsten. So bahnte sich das gertenschlanke Mädchen eben ihren Weg durch ein offenes Fenster. Gelenk und wendig flatterte sie hindurch und konfrontierte die Menschenfrau erneut. „Ich habe ein Recht darauf, mitzumachen, und das weißt du ganz genau!“ keifte sie mit hochrotem Kopf, dennoch darauf bedacht, nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als unbedingt notwendig. Eva konnte nur müde lächeln. Auch wenn die Elfe mit ihren zotteligen Haaren vor Wut raste. „Mitmachen? Das hier ist kein Spiel, das ist blutiger Ernst! Wie könntest du uns denn weiterhelfen?“ Wie überzeugt sie das aussprach ... Es traf das junge Elfenmädchen schwer. Schwerer, als beabsichtigt. „Du ... du Miststück!“ Die Situation nahte sich der Eskalation. „So wie Mama euch nicht hatte helfen können; wolltest du das sagen? Huh? Ich hoffe, du kommst nicht mehr zurück und leistest deiner verdammten Mutter Gesellschaft im Jenseits!“ Diese Äußerung brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Eva zückte im Affekt ihr Kurzschwert und hielt es der Elfe drohend an die Kehle. „Nur zu: Töte mich! Wie die Mutter, so die Tochter, nicht wahr?“ Kein Wort verlor die junge Ritterin mehr an das Elfenmädchen. Nur ein wütender Blick vermochte auszudrücken, was sie in jenem Augenblick dachte. Lily nahm all das aus ihren großen Mandelaugen heraus wahr. Ein kurzes, verachtendes Mienenspiel später, flog sie schließlich ruckartig davon. Eva ließ ihr Schwert zu Boden sinken, wütend auch auf sich selbst. Wieder einmal war eine Begegnung mit der aufbrausenden Elfe im Streit geendet. Dieses Mal war er gar so heftig wie nie zuvor. Innerlich bedauerte sie das Geschehene, nur zeigen konnte sie es nicht ... nicht ihr gegenüber. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Die Moral der Dunkelelfen in Vyers Faste war merklich getrübt. Niemand ging in diesen Stunden noch seiner Arbeit nach, der gewohnte Trott wurde von Ungeduld, Unsicherheit und Hass auf die Angreifer außer Kraft gesetzt. In den dunklen Gassen der Stadt am Grunde, in den Kasernen vor den Toren der Festung und auch im höchsten Turm, dem nun arg mitgenommenen Stolz des Diktators Gardif, wurden Pläne geschmiedet, die frevelhaften Taten der Menschen zu vergelten. Im Thronsaal war sie versammelt, die gesamte Prominenz der Insel Caims. Ortoroz, der stolze Stellvertreter des Lords, dem er einst ewige Treue geschworen hatte und für den er ohne zu zögern in den Krieg ziehen würde. Uriah, die Geliebte des ersten Offiziers, selbst die unausgesprochene Nummer zwei in der Hierarchie, jedoch erst kürzlich beim Anführer in Ungnade gefallen. Anwesend war auch Vash, der aufstrebende, junge General, dem als solcher die Ehre zuteil wurde, an dieser Art von bedeutungsvollen Treffen teilzunehmen und an den wirklich wichtigen Entscheidungen mitzuwirken. Gardif saß – der Situation trotzend – völlig entspannt in seinem Thron. Jeder seiner Gefolgsleute wusste, dass Prana nicht weit entfernt war. Die legendäre „schlafende Hexe“, wie man sie in weniger privilegierten Kreisen titulierte. Und auch Jesz, der Aufseher des Zellentraktes, war anwesend, demütig im Rücken des Adels versteckt, den Blick ob der Prominenz ehrfürchtig gen Boden gerichtet. Schließlich brach Ortoroz mit seiner wuchtigen, tiefen Stimme zum ersten Mal das Schweigen. „Was hier geschehen ist, ist eine Schandtat, die gesühnt werden muss! Es ist zwar eine lange Reise nach Tapion [Tey-Pi-Jen], doch könnten wir die Menschen ohne Probleme überrennen! Sie sind weder ...“ „Ruhig Blut, mein Freund!“ Gardif unterband die rachsüchtigen Vorschläge seines ersten Offiziers mit erhobener Hand. „Das hat Zeit. Zumal die Menschen so ein Himmelfahrtskommando ganz sicher kein zweites Mal starten werden. Ja, in der Tat: Sie haben uns mit einfachsten Mitteln überraschen und schweren Schaden zufügen können. Wahrlich eine Schande, doch lehrt uns der Fehler, auch jede noch so kleine Bedrohung in Zukunft nicht mehr zu unterschätzen. Ein Vergeltungsschlag wäre zu diesem Zeitpunkt noch verfrüht, denn genau damit rechnen sie wahrscheinlich.“ „Auf dem Kontinent haben sie uns gegenüber zudem einen Feldvorteil.“ „Korrekt!“ Uriah warf diese Äußerung in die Runde, und zu ihrer Erleichterung teilte Gardif ihre Bedenken. Einerseits war ein enges Verhältnis zum ergrauten Herren der Festung essentiell für ihre Zielsetzung, eines Tages in dessen Gunst Prana zu übertreffen und sie womöglich sogar zu ersetzen, andererseits beunruhigte sein launisches Wesen die stolze Dunkelelfe stärker als je zuvor. Die Erinnerung an die letzte Audienz beim Herren, waren noch immer sehr präsent. „Was tun wir stattdessen?“ Ortoroz klang alles andere als begeistert. „Zunächst all das wieder aufbauen, was bei dem Anschlag zerstört wurde. Wir werden ihre gefangenen Artgenossen schuften lassen, sodass die geschundenen Seelen des Volkes zumindest ein wenig Genugtuung erfahren können.“ Ohne mit der Wimper zu zucken unterbreitete der Tyrann seinem Gefolge das Vorhaben. Allem Anschein nach war Gardif wenig daran interessiert, den Angreifern eine Lektion zu erteilen, was allen voran Ortoroz auf sein flammendes Gemüt schlug. In Reihe und Glied mit seiner Geliebten und dem Elf, der aller Voraussicht nach seine Nachfolge antreten würde, wäre seine Zeit eines Tages erst gekommen, stand er vor dem König. Sie alle hüteten ihre charakteristischen Helme wie ihr eigen Fleisch und Blut in den Armen. Das Naturell eines jeden der drei so speziellen Dunkelelfen war auf den ersten Blick ersichtlich, und strotzten sie alle auch vor Selbstbewusstsein, so würde es nur dem ältesten – Ortoroz – einfallen, seinem Herren zu widersprechen, würde ihn das Gefühl beschleichen, dieser läge mit seinem Urteil nicht richtig. Die Widerworte lagen ihm auf der Zunge, doch vertraute Ortoroz auch dieses Mal auf die Weitsicht seines Herrschers. „Lord Gardif, unglücklicherweise konnten einige der gefangenen Menschen bei dem Angriff fliehen. Wir verloren zwei Männer und ein junges Mädchen.“ „Ich weiß Bescheid, Vash. Ihr, so scheint mir, allerdings nur zur Hälfte ... Tatsächlich gibt es noch weitere schlechte Nachrichten.“ Gardif erhob sich aus seinem Thron. „Sicherlich habt ihr euch schon gefragt, warum unser Freund Jesz dieser Audienz beiwohnt.“ Kaum erwähnte Gardif seinen Namen, zuckte der geradezu winzig wirkende Dunkelelf hinter seinen Artgenossen vor Schreck zusammen. Klein war er zwar nicht, auch nicht schwächlich gebaut, doch die gewaltigen Plattenrüstungen, die den Körpern der Generäle ganz neue Dimensionen verliehen, strahlten eine geradezu Angst einflößende Imposanz aus. „Willst du uns nicht erzählen, was geschehen ist? Oder soll dir etwa der Lord diese Bürde abnehmen?“ Vash richtete sich fordernd an den verängstigten Aufseher. Zumindest durfte er sich noch erklären. „N-nein! Natürlich nicht! Verzeiht, mein Herr, und habt Dank!“ Jesz, dem Erschöpfung und Tortur des vergangenen Tages deutlich ins Gesicht geschrieben standen, versuchte sich nun mit aller Mühe zu erklären. „Es geschah nur wenige Minuten, nachdem wir das Territorium um Berra herum betreten haben. D-die Menschen führten eine Revolte herbei, lehnten sich gegen uns auf und versuchten zu fliehen! Wir ... wurden überrascht ... sonst sind sie ja stets gehorsam gew-“ „Sie versuchten zu fliehen, Jesz?“ Wieder war es Vash, der den niedrigsten Rang inne hatte und sich somit dieser Aufgabe wohl verpflichtet fühlte, der das Verhör übernahm.“ „Wir konnten die meisten aufhalten! Nur zwei entkamen, und zwar verletzt! Alle anderen konnten wir letztlich bezwingen! Überlebt haben sie allerdings nicht ...“ „Also sprichst du von sechs verlorene Sklaven!? Und das zum ungünstigsten aller Zeitpunkte! Zu allem Überfluss starb auch ein Mitglied der Wache in Folge des Angriffs, richtig?“ Ausflüchte würden ihm nicht weiterhelfen, soviel war dem zittrigen Dunkelelf klar. So entschloss sich Jesz mutig zumindest seine Würde zu erhalten. „J-ja, mein Herr. Es tut mir leid, Ich war verantwortlich für die Karawane und habe versagt.“ Vash näherte sich dem Untergebenen auf wenige Schritte. Nun stand Jesz vollends im Schatten des hoch aufgeschossenen Generals. Er war recht jung, für solch einen hohen Rang und erhielt sich bisher sein makelloses Gesicht – ganz anders, als man das von einem Kriegsherren erwartete. Vash schien großen Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild zu legen. Der dunkelblaue Stahl seiner Rüstung glänzte, als wäre er erst vor Minuten geschmiedet, geschliffen und veredelt worden. Elegante, dünne Muster aus goldenen Linien verzierten die Ränder der Platten. Eine wahrhaft adelige Gestalt, dessen kurzes, schwarzes Haar eigentlich nur noch die Krone vermissen ließ, die die königliche Ausstrahlung abgerundet hätte. Er legte seine Hand – eingehüllt in einen Panzerhandschuh – auf die Schulter seines Artgenossen und führte ihn so einige Schritte durch den Raum. Zunächst nahm Jesz dies überhaupt nicht wahr, zu viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Falsche Gedanken ... „Richtig! Zumindest Einsicht zählt zu deinen Stärken. Allerdings – so fürchte ich – wird das kaum ausreichen, um Lord Gardif, Kommandant Ortoroz oder gar Lady Uriah zufrieden zu stellen. Ich persönlich bin ja ein Verfechter des „Gnade-vor-Recht-Prinzips“, aber in diesem Falle fürchte ich ...“ Mit seiner sanften Stimme hatte er die Aufmerksamkeit Jesz' zu jeder Zeit sicher. Dieser wusste gar nicht, wie ihm geschah, als ihn Vash mit einem gewaltigen Ruck von den Füßen riss, und mit Leichtigkeit durch das karge Oval beförderte, dass aus dem Turm heraus einen himmlischen Ausblick offenbarte. Vash zeigte sich brutal und ohne jede Gefühlsregung. Der Turm war so hoch, dass man den Aufprall oben im Thronsaal unmöglich hätte wahrnehmen können. Das langsame Verstummen des schrillen, verzweifelten Schreis, den der bemitleidenswerte Elf ausstieß, hörten sie jedoch alle. „War das wirklich nötig?“ Mit scharfem Blick verurteilte Uriah die Aktion des Kriegers. Gardif nahm ihm die Antwort ab: „Wieso? Ich habe mich lange nicht mehr so köstlich amüsiert! Ha ha ha!“ Ortoroz hatte für diese Art Bestrafung nichts übrig, vor allem gegen die eigene Spezies. Dem Getöteten wurde seine Würde genommen. Ein Unrecht, welches den Kommandanten seinen prädestinierten Nachfolger verachteten ließ. Erneut jedoch hielt sich der bullige Offizier im Zaum. „Wie dem auch sei. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir es dem Volk schuldig sind, die Verfolgung aufzunehmen, alles andere würde der Moral nur noch mehr schaden.“ „Ja ja, von mir aus. Aber nicht im großen Stile, in keinem Falle“, sprach der Anführer. „Ich erlaube Uriah, ihre Jäger auszusenden. Sie sollen sich bedeckt halten und herausfinden, welche Pläne die Menschen schmieden. Ich kann und will nicht riskieren die Armee in einem überflüssigen Geplänkel mit den verdammten Erdenbewohnern zu dezimieren. Es stehen große Prüfungen bevor, die weit wichtiger sind, als solche überflüssigen Fehden. Veranlasst alles Nötige und stellt sicher, dass der Unmut unter den Bewohnern nicht noch weiter zunimmt!“ „Jawohl, mein Lord!“ - „Jawohl!“ - „Jawohl!“ Alle drei verließen mehr oder minder zufrieden gestellt den Thronsaal. Uriah spielte der Vorschlag Gardifs perfekt in die Karten, dennoch war sie heilfroh, die Gemäuer nach der jüngsten Untat des sadistischen Generals endlich verlassen zu können. Pausenlos machte sie sich dabei Gedanken, ob Prana in ihrem Kopf herum spukte, und ob sie, als die noch deutlich unterlegene Magierin, dies überhaupt bemerken würde. Die Hexe stellte eine große Gefahr für sie dar; würde sie die Zweifel in ihr erst bemerken, hätte Uriah schon sehr bald verspielt. ___________________________________________________________ Geschlagene zwei Stunden hatten die beiden so unterschiedlichen Menschen nun schon zusammen an diesem verträumten Ort verbracht und tauschten noch immer Geschichten aus. Die junge Frau saß in fast unveränderter Pose nachdenklich auf dem kühlen Gestein, Peter dagegen vertrat sich unlängst die Beine und musterte ehrfürchtig das meisterlich geschmiedete Kurzschwert, dass ihm seine Wohltäterin für einen Augenblick überlassen hatte. Eva erzählte dem wissbegierigen Neuankömmling vieles über die verschiedenen Stämme der Elfen, über die fantastische Artenvielfalt dieser Welt und atemberaubenden Landschaften, die man einfach mit eigenen Augen gesehen haben musste. Nur die in jener Stunde wirklich bedeutsamen Themen, wagte der Franzose seit dem Gefühlsausbruch der jungen Dame nicht mehr anzuschneiden, auch wenn viele Fragen geradezu darauf brannten, gestellt zu werden. Über Umwege versuchte Peter sich einen Weg zurück zum Ursprung zu bahnen. „Und du? Kamst du auch durch das Portal an diesen Ort?“ „Nein. Ich bin hier geboren.“ Die Antwort überraschte den Jungen nicht. „Ich weiß weniger über die Erde, als du über Minewood, eben nur das, was mir Freunde erzählt haben, die dein Schicksal teilen.“ „Ah, ich verstehe.“ Geschickt führte der Franzose das Schwert in seiner rechten Hand, vollführte sogar einige eindrucksvolle Kunststücke mit dem meisterhaft geschmiedeten Stahl, sehr zur Verwunderung seiner Begleiterin. „Kennst du dich damit etwa aus?“ Erst jetzt realisierte Peter, wie seltsam sein Posieren mit dem Schwert auf Eva hatte wirken müssen. „Oh ... nein, nicht wirklich. Ich hab es mal für ein paar Monate mit Kendo versucht. Fechten auch. Hab in den letzten fünf Jahren alles mögliche Zeug ausprobiert, bin aber bei keiner Sache wirklich hängen geblieben, außer ...“ Peter setzte ab, es war ihm unangenehm, weiter von sich zu erzählen. Unglücklicherweise übernahm Eva einfach das Ruder. „Krafttraining?“ „Wie bitte?“ „Ob du trainierst; es sieht jedenfalls so aus.“ Es ließ sich nicht leugnen, dass Peter die Aufmerksamkeit der jungen Dame schmeichelte. „Erwischt!“ „Hab ich's doch gleich gewusst!“ lobte Eva ihren eigenen Scharfsinn. „Ernsthaft: Du würdest einen guten Soldaten abgeben.“ Diese Bemerkung schmeichelte dem Jungen gar noch mehr, doch ließen die unvermeidbaren Bilder, die mit der Vorstellung in den Krieg zu ziehen verbunden waren, die kurzzeitige Hochstimmung Peters sehr schnell wieder abebben. „Soldat, huh? Das muss wirklich nicht sein.“ „Jammerschade. Die reinste Verschwendung deines Talents.“ Eva richtete sich auf, näherte sich dem Jungen und musterte ihn mit einem gewollt eindringlichen Blick. Nur Augenblicke später, entriss sie Peter das Schwert in eleganter Manier und hielt ihm die Waffe bedrohlich unters Kinn. Sicher war es nicht ernst, geschweige denn böse gemeint, was die Sache für den Unterlegenen jedoch nicht angenehmer machte. „Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch, wenn du erst etwas mehr Zeit hier verbracht hast.“ „Ich will hier aber wieder weg, Eva“, machte Peter ihr einmal mehr einen Strich durch die Rechnung. „So schnell wie möglich!“ Sie senkte ihre Waffe wieder und so auch ihren Blick. „Das sagtest du schon“, erinnerte sie den Jungen an an seine eigenen Worte. „Wenn es nur so einfach wäre ...“ „Wieso? Ist es das nicht?“ Wenn es ein magisches Portal gibt, das die Menschen hier herbringt, dann muss es doch auch einen Weg zurück geben, nicht wahr?“ Eva hatte sich längst wieder von dem Jungen abgewendet, ihm den Rücken zugekehrt. Nachdem sie ihm eine Zeit lang eine lebhaftere, unbeschwertere Seite ihrer Persönlichkeit offenbart hatte, zog sie es nun wieder vor, ihre souveräne und wenig umgängliche Art an den Tag zu legen; wohl auch um sich gewisse unangenehme Einzelheiten zu bewahren. Noch war er nicht bereit, alles zu erfahren, soviel war sicher. „Ja! Es gibt ihn, den Weg zurück in deine Welt“, erklärte die Ritterin. „Doch was glaubst du, wer die Kontrolle darüber hat?“ Eine rhetorische Frage. „Und wie gedenkst du, das zu ändern? Kämpfen willst du ja nicht.“ Dummerweise machte all das Sinn. Natürlich waren die Dunkelelfen – allen voran Gardif – Herren über das Portal, soviel hätte er sich auch selbst denken können. Die Hoffnungen, sein zu Hause allzu bald wiedersehen zu können, schwanden. „Und was habt ihr die ganze Zeit über getan? Du sagtest, du wärest hier geboren. Wie alt bist du, zwanzig Jahre vielleicht? In all dieser Zeit habt ihr nichts unternommen? Nicht versucht, Gardif zu stürzen, oder ...“ „Wir haben es versucht! Unser Leben riskiert! Vor kurzem erst ... du erinnerst dich?“ „Ja ... aber ...“ „Aber? Du weißt doch gar nicht, wovon du redest!“ Eine erneute Brandrede lag in der Luft. „Es ist wie es ist: Gardif hat die Macht und die nötigen Mittel, sich sein Monopol auf Caims zu erhalten. Denkst du, mir gefällt das? So viele unsägliche Greueltaten hat dieses Monster schon verübt. An unserer Art, Peter! Du bist doch noch glimpflich davon gekommen!“ Es schien, als wollte sie dem Neunzehnjährigen sein Glück zum Vorwurf machen. „Über die Jahre haben sehr viele Frauen und Männer versucht Lord Gardif zu stürzen. Den alten Mann ... hoch oben in seinem Turm. Doch sie scheiterten alle. Starben.“ Das undankbare Schicksal der Menschen, von denen sie sprach, ging Eva sichtbar nahe. „Auch ich wäre in den Tod gegangen, gern in den Tod gegangen für den Erfolg unserer Mission, doch es sollte einfach noch nicht sein.“ Eine Zeit lang hielt wieder dieses unsägliche Schweigen Einzug. „Achtzehn“, säuselte Eva. „Ich bin achtzehn.“ „So ist das also ...“ Damit hatte Peter nicht gerechnet. Erneut wusste die hübsche junge Frau ihn zu überraschen. Angenehm war das Gefühl jedoch nicht. „In solch jungen Jahren schon vom Sterben zu reden, dass ist das eigentliche Drama“, flüsterte er gerade noch hörbar. „Schon möglich. Liegt wohl in der Familie.“ Wieder stockte die Konversation. Immer wenn das für Peter bedeutsamste aller Themen angeschnitten wurde, drohte ein Pulverfass zu explodieren. „Deine Eltern, sind die auch hier geboren und aufgewachsen?“ Diesmal ohne Umschweife, antwortete Eva dem Jungen, der sie schon zu oft zu unangenehmen Gefühlsausbrüchen gezwungen hatte. „Meine Mutter war sehr jung, als sie hier ankam. Durch das Portal, versteht sich. Meinen Vater habe ich nie kennen gelernt, und das ist wohl auch besser so.“ Abgründe taten sich auf. Es war nicht am Franzosen, weiter darauf einzugehen, dafür war es noch viel zu früh. Trotzdem stimmte Evas Geschichte den Jungen bedenklich, und das konnte er nicht verbergen. „Mach dir nichts draus, das ist Vergangenheit, und ich habe damit abgeschlossen, schon vor langer Zeit. Vergessen wir das einfach. Im Prinzip kann ich deine Aufregung ja verstehen, ich denke, ich schulde dir noch ein paar Antworten, immerhin musst du dich hier ziemlich verloren fühlen.“ „Es könnte schlimmer sein, ich könnte noch immer in dem Verließ festsitzen, oben im Turm, oder für die Spitzohren den Sklaven machen.“ Der Ritterin gefiel diese positivere Sicht der Dinge viel besser, als das ansonsten eher frustrierte Naturell, welches sie von den meisten Menschen gewöhnt war. „Sag, was habt ihr jetzt vor? Du scheinst dir ja sehr sicher, dass Gardif den Angriff überlebt hat. Fürchtest du nicht, wie die Dunkelelfen darauf reagieren werden?“ „Vergeltung wäre eine Möglichkeit, ja. Ein solcher Racheakt wäre allerdings sehr viel wahrscheinlicher, wenn es Gardif tatsächlich erwischt hätte. So oder so werden wir Morgen den Rückzug nach Tapion antreten.“ Peter wurde hellhörig. „Du erwähntest das vorhin schon einmal. Ist das so etwas wie eure Hauptstadt?“ „Es ist der einzige Ort, an dem ausschließlich Menschen leben, Frauen, Kinder, ganze Familien. Unsere Zuflucht, die es nun zu beschützen gilt. Wir werden dich natürlich nicht zwingen, mit uns zu kommen, allerdings würde ich es sehr begrüßen. Einige Männer starben beim Angriff auf Vyers.“ „Ja, die Elfe erzählte davon. Es muss schlimm gewesen sein.“ Eva lächelte verhalten und antwortete schließlich: „Lily ... du solltest sie nicht zu ernst nehmen, sie wird gern melodramatisch. Die meisten schafften es glücklicherweise zurück.“ „Schön das zu hören.“ Peter hatte die versteckte Frage von zuvor nicht bemerkt, oder auch nur unbewusst verdrängt, doch dauerte es nicht lange, bis Eva ihn erneut damit konfrontierte. „Also: Wirst du nun mit uns kommen, oder nicht?“ „Alles andere wäre im Moment wohl die schlechtere Lösung, nicht wahr?“ „Wenn du mich nach meiner ehrlichen Meinung fragst, dann ja.“ „Dann ist es beschlossene Sache, denke ich.“ Eva reichte ihm freundschaftlich die Hand und schenkte dem Jungen ein unwiderstehliches Lächeln, das ihn herzlich einlud, diese Geste zu erwidern. Gerade als Peter einschlagen und somit den nächsten Schritt einleiten wollte, unterbrach eine beunruhigende Geräuschkulisse den ansonsten stillen Moment. Zunächst drang nur ein lautes Rascheln aus den tiefen des Waldes hinter dem Flusslauf bis zu ihnen hindurch. Nur Sekunden später knickten die jungen Bäume vor den Augen des Duos wie Streichhölzer zur Seite, während sich ein dickhäutiges, zweieinhalb Meter hohes, groteskes Fabelwesen wuchtig seinen Weg zu ihnen hindurch bahnte. „Was?“ stieß Peter seine Ungläubigkeit lautstark aus. Die Frau hatte ihr Schwert längst gezückt und sich schützend vor dem größeren und kräftigeren Jungen postiert. Schließlich war ihm überhaupt nicht bewusst, welche Gefahr sich ihm mit gewaltigen Schritten näherte „Verdammter Gamm!“ entgegnete Eva dem Monster mit dem Mute der Verzweiflung „Wie kommst du bloß an diesen Ort?“ Eva war auf den Punkt konzentriert und bereit dem Wesen entgegenzutreten. Auch Peter war dieser Art Monstrum in Vyers schon begegnet, dort allerdings hielten die Dunkelelfen die riesigen Untiere jedoch wie Schoßhunde. Hier – in freier Wildbahn – offenbarte sich erstmals die unverfälschte, raue und brutale Natur dieser Art vor den Augen des Franzosen. „Du solltest schnell verschwinden!“ schrie Eva. „Wir sollten verschwinden! Zusammen!“ „Sieh doch!“ Der Kriegerin fiel just in diesem Moment ein bedeutsames Detail ins Auge. „Es ist verwundet, schwer sogar!“ Auch Peter erkannte immer besser die klaffende Wunde an der Hüfte des Biests, je näher es ihnen kam. „Es fehlt nur noch der Gnadenstoß und ...“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, ereilte das Gamm eben jenes Schicksal. Ein Speer durchbohrte die dickhäutige Brust des Biests und ließ es in ohrenbetäubender Lautstärke aufschreien. Der schrille Ton verstärkte den Eindruck Peters, es handle sich bei diesen Gamdschas um eine abstrakte Form von Schweinen, wie er sie von der Erde her kannte. Der Aufprall des massigen, nunmehr leblosen Fleischbrockens ließ den Erdboden in unmittelbarer Nähe kurz erzittern. Die Gefahr schien alsbald verflogen, und so suchte Peter die Umgebung neugierig nach dem Speerwerfer ab, dem er nicht weniger als sein Leben zu verdanken glaubte. Eva hingegen wandte sich zu allererst dem Wesen zu, das noch einen letzten Atemzug nahm. Sie bemerkte zunächst nicht, wie sich eine Dunkelelfe hinter ihrem Rücken anpirschte, einen Dolch in der Rechten und mit dem unbändigen Willen ausgestattet, ihn ins Fleisch der jungen Menschenfrau zu stoßen. Ohne Peter dabei auch nur eines Blickes zu würdigen, stolzierte sie in aller Seelenruhe auf die abgelenkt scheinende Ritterin zu. Dem Franzosen war sofort klar, was es zu tun galt, und so stürzte er sich mutig auf die Elfe, bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Seines fatalen Fehlers konnte er sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bewusst sein. Ohne Schwierigkeiten rang er die große Frau zu Boden, die erstaunlich wenig Gegenwehr zeigte. Seine Hände schlossen sich fest um ihren Hals, und all die noch so frischen Erinnerungen an die erbarmungslosen Gewalttaten ihrer Artgenossen, die er hatte miterleben müssen, schossen ihm dabei durch den Kopf. Er ließ sich nicht von ihrem majestätischen Gesicht, auch nicht von ihrem ängstlichen Blick irritieren. Er musste Eva vor dem Feind beschützen! „PETER!“ Es war Evas Stimme, die ihn so entsetzt anfuhr. „NEIN!“ Der Junge nahm ihre verzweifelten Schreie zunächst nicht wahr, wohl aber den schmerzhaften Hieb, der seine rechte Schläfe traf, und dessen Wucht ihn glatt von seinem Opfer riss. Gerade als Peter seine fünf Sinne wieder ordnen konnte, stemmte ihn ein schwer gepanzerter Ritter mit auffällig grünem Haar in die Höhe und nagelte ihn gewaltsam am massiven Stamm eines Baumes fest. Er drückte den völlig perplexen Jungen erbarmungslos gegen das Holz, hielt ihn mit nur einer Hand in der Luft und schlug erneut mit voller Wucht zu, dieses Mal in den Magen. Der Schlag wurde durch den Stahlhandschuh des Fremden noch verstärkt. Peter spuckte Blut und fiel anschließend unsanft auf die Knie. Einzig den zitierten Gnadenstoß hätte der Unglücksrabe nun noch nötig gehabt, und es wäre um ihn geschehen gewesen. „Aufhören, verdammt nochmal! Er gehört zu mir!“ Evas fast panische Worte veranlassten den Ritter umgehend, von Peter abzulassen. Falscher hätte dieses erste Aufeinandertreffen wohl kaum ablaufen können, auch wenn er nach dieses erneuten Tracht Prügel zumindest bei Bewusstsein blieb. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht krümmte sich der Franzose am Boden. Den Überblick hatte er erneut völlig verloren. Das Ziel seines überhasteten und offensichtlich völlig überflüssigen Angriffes, erholte sich merklich schnell von den wilden Attacken des Jungen. Wer waren die beiden nur? schoss es dem Neunzehnjährigen unentwegt durch den pochenden Schädel. ... ... ... ... ... ... Ballybofey. Vor Vier Tagen (Minewood-Zeit) Stets im Dunkel der Nacht ... Nur Nachts trieb es die stolze Kriegerin Eva an diesen Ort. Es war ein Garten, umhüllt von undurchdringlichem Dickicht; Auswüchse des Waldes, dem Schutzwall der Lichtelfen und ihrer Gäste. Hier blühten allerdings kaum farbenprächtige Pflanzen. Auf diesem Friedhof trugen die Menschen Minewoods ihre Liebsten zu Grabe und ehrten sie nach ihren ganz eigenen Vorstellungen. Durch die Aufgabe persönlichen Besitzes etwa. Ein Ring hier, ein Schwert dort ... Jeder, der eine Freundin, einen Freund, einen Mann, eine Frau, Mutter, Vater, Sohn oder Tochter an diesem Ort die letzte Ehre erwies, ehrte jenen Menschen auf genau diese Weise. Es war die erste Nacht, in der Eva ihrer Mutter ein Geschenk machte. Eine magische Nacht. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Grab im Zentrum des Gartens unberührt geblieben. Vier lange Jahre. Eva legte zaghaft ein Hufeisen vor den Marmorstein und überschaute wehmütig den gesamten Friedhof. Es lagen schon zu viele Menschen hier begraben; fast alle waren vor ihrer Zeit gestorben. „Hallo Mama ...“ Unbehagen ließ das blasse Mädchen absetzen. Sie war nicht gut in solch sentimentalen Dingen, aber diesmal würde sie ihre inneren Dämonen besiegen und endlich mit sich ins Reine kommen, das hatte sie sich für diese besondere Nacht fest vorgenommen. „Ich hab es gefunden“, berichtete sie ihrer Mutter verlegen. „Du würdest nie drauf kommen wo.“ Ihr Blick wanderte auf den matt schimmernde Glücksbringer. „Lily hatte es eingesteckt und es all die Jahre über aufgehoben. Ich glaube nicht, das sie mich damit ärgern wollte, nein. Ich denke, sie war einfach zu stolz, um es mir auszuhändigen. Kann ich der Kleinen nicht verübeln.“ Ihre Mimik wurde wieder ernster. „Momo kam damals auch nicht zurück, Mama. Wie sollte er auch? Ich frage mich, ob wenigstens er noch lebt und ich ihn wiedersehen werde, wenn ich erst ...“ Jetzt senkte Eva ihren Blick fast schon in Scham. Es war, als könne sie selbst dem irrealen Abbild, dass sie sich in Gedanken von ihrer Mutter schuf, nicht in die Augen sehen. Wie sie auf das Kommende wohl reagieren würde, wäre sie noch am Leben? „Richtig, das weißt du ja noch gar nicht. Mein Entschluss steht fest, wir werden Vyers angreifen und Gardif töten. Der alte Mann ist längst überfällig, und diesmal wird es funktionieren, nicht wie damals! Endlich bringen wir zu Ende, was du angefangen hast!“ Tränen zwangen sich allmählich an die Oberfläche. „Würdest du mich aufhalten? Würdest du mir die Sache ausreden wollen? Wahrscheinlich ... aber es würde nichts nützen, schließlich bist du damals auch aufgebrochen, obwohl ich es nicht wollte.“ Zu keiner Zeit klang Eva vorwurfsvoll. Das hatte sie spätestens seit dieser Nacht hinter sich gelassen. „Sollte ich es dir gleich tun und auf Caims mein Ende finden, so wird zu Hause wenigstens niemand trauern --- Lily hasst mich; die Soldaten zweifeln an mir; jeder ist nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die meisten würden es wohl vorziehen, nach Tapion zurückzukehren, ein für alle Mal. Sie wollen dort ein beruhigtes Leben führen und einfach die Augen vor Gardifs Verbrechen verschließen.“ Zornig ballte das blonde Mädchen in ihrem Schoß die Fäuste. Ihre Fingernägel bohrten sich regelrecht in ihre Handflächen. „Nicht solange es mich gibt! Auf keinen Fall!“ Mit jeder Sekunde, die verstrich, bröckelte ihre starke Fassade vor sich hin, so war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die junge Frau zusammenbrach. „Warum wolltest du zurück? Die ganze Zeit, die du hier verbracht hast, waren das etwa alles verschwendete Jahre? Du hast mich großgezogen, hier in Minewood, und trotzdem war dein Herz immer bei den Menschen auf deiner Erde.“ Eva schien von ihrem Weg der Vernunft abzukommen. „Was ist nur so faszinierend an diesem Ort?“ fragte sie wütend. „Ich verfluche ihn! Dafür, dass er mir meine Mutter gestohlen hat! Dafür, dass ich niemals verstehen werde, was er dir wirklich bedeutet hat! Dafür, dass ich ihn niemals ... niemals ...“ „Dass du ihn niemals sehen wirst?“ Wie aus dem Nichts tauchte das Elfenmädchen Lily auf. Sie flog nicht, wie üblich, sondern tappte geschickt und lautlos durch das feuchte Gras. „Niemals sehen, riechen, schmecken, niemals fühlen ...“ „L-Lily?“ gab sich die junge Frau völlig überrascht. „Was tust du hier? Bist du mir etwa gefolgt?“ „Ich habe das alles schon einmal gehört. Vor vier Jahren.“ Eva wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und konfrontierte ihre Freundin aus unbeschwerteren Zeiten erneut: „Wieso folgst du mir?“ Peinlich berührt neigte Lily ihren Kopf. Sie wollte Eva in diesem Zustand nicht in die Augen sehen, aus noch immer vorhandenem Respekt. Die kleine Elfe wusste genau, wieviel Wert Eva auf ihre Fassade als starke, selbstsichere Anführerin legte, auch wenn sie leichter zu durchschauen war, als sie selbst vielleicht glaubte. „Ich habe dich beobachtet, wie du in meinem Zimmer meine Truhe durchwühlt hast. Es war mein gutes Recht, dich zur Rede zu stellen! Konnte ja nicht ahnen, dass du ausgerechnet hierher unterwegs bist.“ „Es tut mir leid.“ „Das?“ Sie zeigte auf das Hufeisen auf der Grabfläche. „Das muss dir nicht leid tun, wirklich nicht. Es gehört ja dir, du hättest es längst von mir bekommen müssen. Mir tut es leid, dass ich es nicht geschafft habe, auch nur einen einzigen Tag all die Verachtung zu verdrängen, die ich für dich empfinde.“ Gerade als sie dachte, Lily würde Einsicht zeigen, und diese Nacht womöglich die Wende in der zerrütteten Beziehung zwischen den beiden darstellen, musste Eva diesen erneuten Tiefschlag einstecken. „Wieso ist das so, Lily? Ich wollte doch selbst nicht, dass es so endet, und das weißt du!“ „Deine Mutter ist Schuld! Und du bist schon ganz genau so wie sie es einst war! Dasselbe Blut, derselbe Mensch.“ „Ist das etwa der Grund?“, entfuhr es Eva fast schon hysterisch. „Das kann doch unmöglich sein, Lily! Ich würde mein Leben geben, wenn ich sie wieder lebendig machen könnte. Habe ich diesen Hass wirklich verdient? Wie kann ich es wiedergutmachen, was ich ... was sie getan hat? Was muss geschehen, bis du mir verzeihen kannst?“ Lily fühlte sich bedrängt. Sie kannte die Antwort auf alle Fragen, die das Mädchen, mit dem sie aufgewachsen war, ihr stellte, doch sie war zu stolz und zu dickköpfig und vor allem zu jung, sie ihr zu geben. „Was hilft mir das? Du würdest dich opfern, huh? Aber es bringt doch nichts! Alles dummes Geschwätz. Mama wird nie wieder lebendig, und was am Schlimmsten ist, sie ist umsonst gestorben, weil sie Lara blind gefolgt ist. Eine Waldelfe, die auszieht, zu töten!? Soweit hat deine Mutter uns gebracht!“ Niedergeschlagen gab Eva es auf, sich weiter zu erklären. Es hatte ja doch keinen Sinn. „Bitte verzeih mir, Lily“, versuchte sie noch ein letztes Mal an die Vernunft der temperamentvollen Elfe zu appellieren. Die Elfe versuchte angestrengt, sich zu beruhigen und verabschiedete sich mit flüsternder, aber eindringlicher Stimme. „Und du wirst auch sterben, denn das ist es ja, was du willst.“ Es waren die letzten Worte, die in dieser Nacht gesprochen wurden. Beide wussten, das es die letzten überhaupt hätten sein können. Unendlich viele Gedanken an Lily und den wahren Ursprung für all den Hass im Innern der zierlichen Gestalt würden Eva in dieser Nacht einen ruhigen Schlaf verwehren. Ob der richtige ihr Erleuchtung schenken würde? Zumindest hoffte sie das. ... ... ... ... ... ... Ruhe Vor Dem Sturm ------------------ Kapitel 7 – Ruhe vor dem Sturm Wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm verhielt sich die Elfenbeinsee an diesem Nachmittag und zeigte sich somit der kleinen Kogge gnädig, die zu jener Stunde einsam das Meer überquerte, welches Caims – die größte Insel Minewoods – schon seit Jahrtausenden vom sagenumwobenen Kontinent Adessa trennte und nicht selten einen todbringenden Grenzwall darstellte. Nicht so an diesem Tag, und so sollte sich der Aberglaube einiger ängstlicher Dunkelelfen auf dem leichten Passagierschiff zu deren Erleichterung nicht bestätigen. „Einerseits hoffe ich, dass wir so schnell wie möglich dieses verfluchte Meer hinter uns gelassen haben werden, andererseits fürchte ich mich weit mehr vor ... du weißt schon was ...“ Zwei junge, männliche Jäger unterhielten sich am Bug des Schiffes. Sie waren merklich angespannt. Von ihren überwiegend weiblichen Kameraden schienen sie abgekapselt, wie es untereinander jedoch nicht untypisch war. Wo man auch hinsah: Die blauen Spitzohren hielten sich soweit wie möglich entfernt von der Reling, scheuten die Nähe zum offenen Gewässer. Es war schlichtweg nicht das liebste Element dieser stolzen Rasse. Ein Gruppe Frauen besprach einige Meter von dem Duo entfernt wehmütig die anstehenden Aufgaben. „Wieso müssen ausgerechnet wir nach Adessa? Sind dafür nicht die Soldaten da? Was können zwölf von uns dort schon ausrichten?“ „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und alles nur wegen dieser verdammten Menschen!“ Ein verschlagen aussehender, großer Elf mischte sich in die Diskussion ein. Mit einem Augenzwinkern und lässiger Handbewegung versuchte er die verspannte Stimmung aufzulockern. „Was macht ihr euch Gedanken? Sang ist doch dabei, also wird's ein Spaziergang. Der Kommandant würde seinen Sohn doch nicht zum Teufel jagen. Beruhigt euch also wieder!“ Unter Deck, im spärlich bemessenen Stauraum des Schiffes, drängelten sich hinter schweren Gittern die unruhigen Nutztiere der Jäger. Leiria trieb es hier her und auch Sang hockte mit schwerem Blick ganz am Ende des Lagers. Das ständige Auf und Ab des Schiffes bekam dem jungen Dunkelelf überhaupt nicht. Die verhasste Jagdkumpanin amüsierte dieser Umstand zudem – auf Streit war sie aber nicht aus. Braja schritt die hölzernen Stufen zu den improvisierten Stallungen hinab. „Hier bist du! Ich hab dich gesucht, es ist Zeit zu ...“ Kurz bevor sie den Satz beenden konnte, bemerkte auch die Anführerin des ausgesandten Jagdschwadrons die Anwesenheit des ungebetenen Gastes. Zunächst fühlte sie sich auf frischer Tat ertappt, auch wenn noch gar nichts Bedeutendes ausgesprochen worden war. Sang jedoch sah nicht so aus, als hätte er die Ankunft Brajas überhaupt bemerkt. Die Übelkeit stand ihm in sein kantiges Gesicht geschrieben. Mit einem eindeutigen Handzeichen bat die junge wie erfahrene Elfe ihre engste Freundin zu sich und flüsterte ihr ein bedeutsames Anliegen zu. „Ginge es nach Gardif, würden wir die Menschen nur überwachen und Meldung machen, sollten sie tatsächlich weitere Angriffe planen. Lady Uriah will jedoch den Jungen, was für uns bedeutet, dass wir ihn nicht nur ausfindig machen, sondern auch entführen müssen!“ Leiria seufzte niedergeschlagen. „Und wie wollen wir das anstellen? Jeder hier kennt die Instruktionen! Wenn wir intervenieren, obwohl wir es nicht dürfen, ist das Verrat! Dann sind wir alle aufgeschmissen! Vor allem mit dem da im Gepäck.“ Entnervt blickte die junge Dunkelelfe aus den Augenwinkeln in Richtung Sang, der sein spärlich bemessenes Frühstück jetzt kaum noch bei sich behalten konnte. „Wir trennen uns zu gegebener Zeit vom Rest der Gruppe – mit Sang-, damit niemand einen Verdacht schöpft. Dann gelte es nur noch, ihn irgendwie loszuwerden.“ Die blauen Augen Leirias leuchteten, ihre spitzen Ohren ragten in die Höhe und ein kindliches Lächeln komplettierte das abstrakte Mienenspiel. Die hübsche junge Frau agierte fast wie ein kleines Kind, dem man ein heiß ersehntes Spielzeug schenkte. „Sang loswerden? D-du m-meinst ihn um---“ „Willst du noch etwas lauter reden, Mädchen?“ stauchte Uriah ihre Gefährtin zusammen. Ihr kleiner Freudentaumel hatte Leiria die prekäre Situation kurzzeitig vergessen lassen. Peinlich berührt, schlug sie die Hände vor dem Mund zusammen und entschuldigte sich im Flüsterton. „verzeih' mir! Es ist nur ... Himmel, wie lange warte ich schon darauf, ha ha!“ Braja zog verwundert die Augenbrauen hoch und antwortete: „Ist ja allerhand. Du würdest ihn also wirklich töten? Hat er das in deinen Augen verdient?“ „Wer braucht den schon?“ Leiria streckte ihrer Kameradin schelmisch die Zunge entgegen, ebenso lässig, wie sie vom möglichen, tragischen Ableben eines der Ihren sprach. „Selbst seinem alten Herren ist er ein Klotz am Bein, nur zugeben, würde Ortoroz das nicht. Aber ihn in unsere Gefilde abzukommandieren, ist doch Beweis genug.“ In den Worten ihrer Freundin konnte die Anführerin dieser bedeutsamen Mission einige noch nicht gekannte Seiten jener hochgeschätzten Dunkelelfe kennenlernen. Allerdings gefielen sie ihr nicht. Die Leichtigkeit mit der Leiria offen über den Mord an einem der Ihren sprach, war fast schon beängstigend. „Genug jetzt! Das sollte nur der allerletzte Ausweg sein, damit das klar ist!“ wies die Ranghöchste ihren Schützling energisch zurecht. „Völlig klar!“ gab die junge Leiria sich hörig. „Dann verstehen wir uns.“ Braja fühlte sich genötigt, noch den letzten Gefahrenherd vorsorglich auszulöschen. „Lass dir ja nichts anmerken, verstanden?“ Leiria salutierte – ganz wie eine Soldatin – mit dem zufriedensten Gesichtsausdruck, den sie je aufgezogen hatte „Jawohl!“ ___________________________________________________________ Eine ziemliche Bescherung, die sich Peter jedoch ganz selbst eingebrockt hatte. Sein Wutausbruch, der sich gegen die schweigsame Dunkelelfe entlud, war völlig über das Ziel hinaus geschossen. Mittlerweile zeigte der Franzose sich reumütig. Zumindest Eva hatte Verständnis für seinen Kurzschluss. Dirand trabte am Ende der Vierergruppe hinter der Frau her, der er bei ihrer ersten Begegnung glücklicherweise nicht gleich an die Gurgel gegangen war, die Augen stets verlegen auf den Boden gerichtet. Eva wandte sich ihm zu, versuchte ihn aufzumuntern; nur hatte sie mittlerweile wieder zu altem Trott zurückgefunden, die Emotionen gingen ihr ab. „Mach dir darüber keine Gedanken, es ist ja nichts passiert. Reyne ist nicht nachtragend.“ „Danke. Ich könnte mir aber trotzdem in den Hintern beißen.“ „Vielleicht sollte ich mal mit Elmo reden und die Wogen glätten? Wenn er deine Geschichte erstmal kennt, wird er dir deine Tat sicher nachsehen.“ „Nein!“ Vehement wies Peter die helfende Hand, die die blonde Kriegerin ihm anbot, ab. So laut, dass er sich anschließend vor Ärger auf die Zunge biss. Sicherlich hatten die anderen ihn hören können. Eva auf jeden Fall, die deshalb noch leiser flüsterte. „Wieso nicht?“ Das Mädchen war sogar noch jünger als er. Es wäre zwar hilfreich, aber Peters Meinung nach auch völlig unangebracht, sich diese Bürde abnehmen zu lassen, und dabei war völlig egal, welch hohe Stellung sie in ihren Kreisen auch inne hatte. Peter würde sich selbst mit den beiden arrangieren müssen, schon allein um nicht ein noch schlechteres Bild abzugeben. „Danke für das Angebot, aber ich mach das selbst.“ Skeptisch beäugte die hübsche Ritterin den schwer gezeichneten Jungen aus den Augenwinkeln. So recht glauben, konnte sie ihm nicht. Schwer vorzustellen, dass dieser junge Bursche den Mumm dazu aufbringen könnte, auf einen Schrank wie Elmo zuzugehen, und sich ihm zu erklären. Der Gedanke daran ließ Eva kurzzeitig sogar das Laufen vergessen und so zog Peter schließlich an ihr vorbei. Bei dieser Gelegenheit eröffnete sich ihr eine ganz andere Seite des Jungen – voller Überzeugung und Willenskraft. Seine Körpersprache, sein Blick; die junge Dame war beeindruckt, und vor allem gespannt darauf, ob er seinen markigen Worten auch Taten würde folgen lassen können. Peter stapfte gehobenen Hauptes auf den bulligen Soldaten mit dem grünen Haupt und der modischen Frisur zu, der ihm nur wenige Minuten zuvor die Tracht Prügel seines Lebens verpasst hatte. „Elmo, richtig?“ fragte der Franzose ganz unverblümt. Leicht irritiert legte sich der Ritter seine Antwort zurecht. Neugierig, was der Junge zu sagen hatte, war er durchaus. „Richtig. Hab deinen Namen noch nicht aufschnappen können.“ „Peter.“ Eine träge Auf- und Ab-Bewegung mit dem Kopf sollte Elmos zur Kenntnisnahme signalisieren. Bis jetzt lief das Gespräch, insofern man es schon als solches bezeichnen wollte, recht vielversprechend. Peter fuhr fort: „Ich wollte mich entschuldigen. So schnell wie möglich, denn ---“ „Du brauchst dich bei mir nicht zu entschuldigen. Das war ein Missverständnis und sicher nicht dein Fehler.“ „Ich denke doch, denn ich urteilte vorschnell über einen von euch, nur weil er ... sie ... anders aussieht. Deswegen will ich mich zumindest erklären. Bisher hatte ich keine guten Erfahrungen mit der Spezies gemacht, der sie angehört; als sie dann vor mir stand, war ich nicht mehr Herr meiner Sinne.“ So bedacht, wie sich Peter ausdrückte, wortgewandt und mit kräftiger Stimme, wusste er Elmo zu imponieren. Mittlerweile ahnte der Ritter, was den Jungen bewog. Trotzdem sammelte der Jungspund mit dem Schneid, den er in diesem Augenblick bewies, viel Sympathie. „Ich verstehe das. Soweit es mich betrifft, steht einem Neuanfang nichts im Wege. Vergessen wir diese dumme Geschichte, betrachten wir sie als geklärt, in Ordnung?“ Ganz so einfach hatte Peter sich die Sache eingangs nicht vorgestellt, doch auch er durfte zu seiner Erleichterung erkennen, dass der erste Eindruck getäuscht hatte. „Eins noch: Auch ich muss mich entschuldigen, dafür, dass mein Temperament mit mir durchgegangen ist. Es war nicht nötig, dich zu verletzen. Nur war auch ich nicht mehr Herr meiner Sinne, wie du so schön sagtest. Ich hoffe, du akzeptierst auch meine Entschuldigung.“ Mit diesen Worten reichte er Peter die Hand. Elmo überragte ihn um ein paar Zentimeter. Dem Ritter nach den anfänglichen Schwierigkeiten freundschaftlich die Hand schütteln zu können, war eine Genugtuung für Dirand. „Schon vergessen.“ Beide fuhren nun weitaus entspannter mit ihrem Gespräch fort. Es blieb nicht unbemerkt. Eva fiel es in diesem Moment schwer, Peter akkurat einzuschätzen. Lange war es her, dass ein Fremder so zu dem Einzelgänger Elmo durchdringen konnte oder überhaupt nur wagte, es zu versuchen – Sie selbst hatte es nie geschafft. Die komplizierte Attitüde des Mannes widersprach ihrer zielgerichteten Einstellung zum Leben. Womöglich würde der Neue ja seinen Teil dazu beitragen, eine Brücke zu schlagen. „Gibt es viele Dunkelelfen, die an eurer Seite kämpfen?“, drang des Jungen Frage an das Ohr der blonden Frau, die wieder aufmerksam zu lauschen begann. „Ha ha ha, nein, nein“, amüsierte sich Elmo über die Unwissenheit des Neunzehnjährigen. „Viele sind es nicht. Reyne ist gar die einzige, die sich gegen ihr Volk gewandt hat. Das ist nicht leicht für sie, ganz allein unter Menschen. Du verstehst?“ Er beobachtete seine Kameradin bei jedem Wort, das er über sie sprach. Seine Augen funkelten dabei regelrecht. „Den meisten Leuten geht es wie dir, sie haben ihre eigenen Erfahrungen mit ihrer Spezies gemacht, und das waren fast ausschließlich schlechte. Auch wenn sie hier mittlerweile respektiert wird, kann nicht jede Frau und nicht jeder Mann mit ihr umgehen. Viele haben sogar schon Schwierigkeiten damit, sich in ihrer Nähe aufzuhalten.“ „Deswegen ist sie so still.“ „Nicht ganz, schließlich bin ich ja noch da.“ Peter wagte nicht Elmo die Frage nach seinen Gefühlen für die Elfe zu stellen, auch wenn sie sich schon jetzt aufdrängte. Womöglich interpretierte er selbst viel mehr in die spärlichen Informationen, die er bisher sammeln konnte, als sie tatsächlich hergaben. An der Spitze der Gruppe wanderte die Dunkelelfe, die zur Zeit Gesprächsthema Nummer eins war, immer ein wachsames Auge auf die Tiefen des Waldes gerichtet, den sie durchquerten. Sie war hochaufgeschossen, wie es fast alle Dunkelelfen waren, ob nun Männlein oder Weiblein. Längst nicht alle waren jedoch von so natürlicher Schönheit wie sie. Ihr mattschwarzes Haar glich einer Löwenmähne. Zusätzlichen Charakter verlieh ihr der perlweiße Haaransatz, der an einigen wenigen Stellen – wie ihrer Stirn – schon tief in ihr dunkles Haar überging, so als würde die neue Farbe die alte langsam verdrängen wollen. Ihre blaue Haut war relativ hell, sodass sich ihre zahlreichen schwarzen Tätowierungen deutlich von ihrem Körper abhoben. Sie zeichneten die junge Elfe für die Ewigkeit als Soldatin, als Angehörige der Armee, die Lord Gardif vor vielen Jahren aufzubauen begann. Ob nun mit oder ohne die künstlerischen Bemalungen: Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, stand diese in jüngsten Zeiten doch fast ausschließlich für Angst und Leid. Trotzdem hatte sie in den vielen Jahren nie ihren Stolz verloren, nur überwog er nicht ihren Sinn für Gerechtigkeit. „Wie kam es eigentlich dazu, dass sie mit un... euch kämpft?“ Elmo wurde wieder etwas ernster. Sicherlich war es abzusehen, dass diese Frage früher oder später aufkommen würde, trotzdem hatte er sich noch Hoffnungen gemacht, er könne diesem Thema aus dem Wege gehen. „Das ist eine lange Geschichte.“ „Verstehe ...“ Im Allgemeinen wäre die Sache damit wohl erledigt gewesen, doch zu Peters Überraschung begann Elmo nach einem lauten Seufzer tatsächlich, zu erzählen. ... ... ... ... ... ... Skylark Canyon. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit) Das Gebirgsmassiv im Süden Adessas war ein Flecken unberührter Natur. Nur sehr selten verschlug es Bewohner Minewoods in diese Gegend, und das aus gutem Grund. Der riesige, überwucherte Canyon war zwar ein atemberaubend anzusehendes Naturschauspiel, galt aber vor allem als Todesfalle. Ein dichter Wald wuchs auf den Gipfeln der Bergketten bis weit hinunter in die steilsten Täler, die sich kilometerweit durch die Ländereien gruben. Dieses hochgelegene Gebiet überhaupt zu erreichen, verlangte großer Anstrengungen. Wie eine gigantische Plattform ragte das Gebirge aus dem ansonsten flachen Land heraus, so als wäre der Rest des Kontinents über die Jahrtausende hinweg abgesackt, dieser Bereich davon jedoch unbeeinflusst geblieben. Vom Ozean aus gab es keinen Zugang in die fruchtbaren Täler, die so viele fabelhafte Legenden umwoben; zu steil und zu hoch ragten die scharfkantigen Felsen aus dem Wasser. Woher kamen die Eindringlinge also? Aus dem Westen vielleicht? Gar aus dem Norden? Sicher nicht – es handelte sich schließlich um Dunkelelfen! Der Logik nach gab es nur eine Möglichkeit: Sie wurden von Caims aus an diesen Ort gebracht, von Gardif beauftragt. Nur was diese kleine Schar Elfen hier wollte, ließ die beiden Freunde rätseln, die sich in sicherer Distanz im dicken Geäst eines Mammutbaumes einen Überblick über das Geschehen verschafften. „Vielleicht verfolgen sie uns ja?“ Ein allerhöchstens achtzehnjähriger Bursche stellte diese beunruhigende Vermutung auf und wurde dafür postwendend von seinem Anführer gescholten. „Unsinn! Dann würden wir sie wohl kaum bemerkt haben. Sieh sie dir doch mal genau an, Maio: Es sind Soldaten.“ Jetzt fielen dem jungen Kerl auch die schweren Rüstungen und Kriegsbemalungen der Dunkelelfen auf, wenn sie aus so großer Entfernung auch nur sehr schwer zu erkennen waren. Maio hatte darauf gebrannt, den abenteuerlustigen Elmo auf dieser Reise begleiten zu dürfen. Soweit er wusste, war der temperamentvolle Ritter der einzige Mensch, der sich überhaupt schon zuvor so weit in den Süden Adessas vorgewagt hatte. Nach den ersten anstrengenden und allen voran tristen Tagesmärschen verfluchte er seine Entscheidung jedoch schon wieder, behielt seinen Unmut allerdings stets für sich, um seinem Anführer nicht zur Last zu fallen. Immerhin hatte sich der Einzelgänger zunächst gesträubt den Jungspund mitzunehmen. Dessen Wehleidigkeit hätte seine Bedenken nur bestätigt. Wie es in diesem Augenblick allerdings schien, sollte sich die beschwerliche Reise schlussendlich doch noch auszahlen. „Sie sind auf der Suche“, murmelte Elmo. „Aber wonach bloß?“ Maio wurde unruhig. In seinem Bauch begann es, ob der durchaus spannenden aber mindestens ebenso prekären Situation, zu kribbeln. „Wer weiß? Jedenfalls scheint es Gardif das Leben einiger seiner Soldaten wert zu sein. So tief, wie sie in den Canyon vordringen, werden sie vielleicht nicht mehr rauskommen.“ „Äh, das heißt dann wohl, wir folgen ihnen nicht?“ Elmo blickte seinen jungen Kameraden gar nicht an, grinste nur leicht und versuchte dessen Enttäuschung etwas zu lindern. „Nein, nicht heute. Wir können uns glücklich schätzen, ihnen aus solch sicherer Distanz begegnet zu sein.“ „Verstehe ...“ Plötzlich riss Elmo ein Gedanke aus seiner stillen Pose. Aufgeregt wandte er sich an seinen Kameraden: „Maio, reich mir bitte meine Tasche!“ Der Junge nahm es als Aufforderung und händigte seinem Vorbild das schwere Gepäck aus, das über einen massiven Ast neben ihm gehangen war. Ohne seinen Blick von der Elfen-Karawane in der Ferne abzuwenden, packte Elmo die Tasche und zog einen merkwürdigen, schwarzen Gegenstand heraus. Merkwürdig für Maio, der so eine moderne Art Fernrohr noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Es war ein Feldstecher, den Elmo schon bei sich hatte, als er vor vielen Jahren nach Minewood kam. Ein durchaus nützliches Hilfsmittel, wenn es auch sicherlich nicht der Faszination gerecht werden konnte, die Maio im ersten Augenblick dafür empfand. „Willst du mal sehen? Hatte ganz vergessen, dass ich den bei mir habe.“ „Wenn ich darf!?“ In der Tat hatte Elmo ihm das Fernglas schon herübergereicht. Es amüsierte ihn, wie geehrt sich der Nachwuchs-Ritter ob dieser Geste fühlte. „Lass es nur nicht fallen!“, ermahnte er ihn freundschaftlich und instruierte den Jungen anschließend im korrekten Gebrauch des Fernglases. „So herum halten. Ja, genau richtig ...“ Maio hatte die Dunkelelfen nun sehr gut im Blick. Irgendwie schien es den Jungen zu beunruhigen, dem Feind derart über die Schulter zu schauen. Ein gewisser Nervenkitzel war ebenfalls mit von der Partie, da er stets befürchtete, sie könnten ihn und Elmo entdecken. Doch nichts dergleichen geschah. Sieben Männer und drei Frauen konnte er ausmachen. Allesamt Soldaten – wie ihre Körperbemalung verriet. Einige ritten auf Guris, andere liefen nebenher. Inmitten der Karawane zogen zwei der echsenähnlichen Lasttiere eine Art Kutsche durch das überwucherte Gebirge. Die Strapazen waren ihren schwerfälligen Bewegungen anzumerken. Und dann geschah es: Einen kurzen Moment nur schienen die Elfen unachtsam zu sein, und doch reichte es aus, ihr Schicksal zu besiegeln. Zuerst riss es den schwer beladenen Wagen in den Abgrund und mit ihm die unglücklichen Seelen, die versuchten dessen Absturz in höchster Not noch zu verhindern. Dann tat sich der Boden unter den übrig gebliebenen Frauen und Männern auf und verschlang auch sie, zusammen mit dem Dickicht um sie herum. Gräser, Sträucher und sogar Bäume wurden mit ihnen in die Tiefe gerissen. Das Schicksal der Karawane schien auf tragische Art und Weise besiegelt. „Hast du das gesehen, Elmo?“ schrie Maio seinen Kameraden an. „Ja, ja, ich habe es gesehen ...“ Nur was? Elmo war kein abergläubischer und schon gar kein religiöser Mensch, doch wie anders konnte man eben Geschehenes denn beschreiben, als dass sich die Erde auftat und die Dunkelelfen verschlang, sie regelrecht auffraß!? Zum ersten Mal musste der Mann mit eigenen Augen sehen, welche Naturgewalten sich unerwünschten Eindringlingen in Skylark in den Weg stellen konnten. In diesem Augenblick bereute Elmo vor allem, den unerfahrenen Jungen an diesen todbringenden Ort geführt zu haben. „Was ist da nur passiert? Der Erdboden ist einfach eingebrochen, so als ob ...“ „... dieses ganze Gebirge ausgehöhlt und in höchstem Maße instabil ist“, vollendete der ältere Ritter den Gedankengang seines aufgebrachten Freundes. Dazu fiel Maio nichts mehr ein. Natürlich waren die Dunkelelfen ihre Feinde, nur hatte diese kleine Gruppe im Speziellen für die Zwei keinerlei Bedrohung dargestellt. Beide waren ob des Todes dieser Wesen entsetzt. „Letzten Endes wussten sie vorher, worauf sie sich einlassen. Es wird sich auch bis nach Caims herumgesprochen haben, dass man Adessas Südspitze meiden sollte. Ihr Ruf eilt dieser Gegend schon seit Jahrhunderten voraus.“ „Aber meinst du nicht, sie hatten einen guten Grund dafür, hierher zu kommen?“ „Und wenn schon! Wir werden uns ganz sicher nicht aufmachen und es herausfinden“ wies Elmo seinen scheinbar wahnwitzig gewordenen Schützling zurecht. Elmo begann alsbald, sich seinen Weg zurück zum Erdboden zu bahnen. Geschickt kletterte er am Geäst des riesigen, uralten Baumes hinunter, den er und sein Gefährte als sicheren Rückzugsort ausgewählt hatten. Maio tat es ihm kurz darauf gleich, hörte dabei aber nicht auf, auf seinen Mentor einzureden. „Und wenn nun jemand überlebt hat?“ Für einen Moment unterbrach der grünhaarige Heißsporn seinen Abstieg. „Dann wäre das nur noch ein Grund mehr, hier schleunigst zu verschwinden.“ „Ich weiß nicht“ Maio gab sich nachdenklich und seltsam schuldbewusst. „Gebietet es uns nicht die Ehre, zumindest zu versuchen, ihnen zu helfen?“ „Unsere Ehre?“ Scheinbar stand eine längere Diskussion bevor. So viel musste nun auch Elmo einsehen. „Mein gesunder Menschenverstand gebietet mir jedenfalls, mein Glück nicht herauszufordern. Einen maroden Berg willst du erklimmen? Und das alles auch noch, um ein paar Dunkelelfen das Leben zu retten? Klingt für mich so, als wolltest du jung sterben, mein Freund.“ „Ich glaube nicht, dass sie uns was tun würden. Ich meine: Wir sind ja schließlich nicht im Krieg, oder so“, stotterte der idealistische Jüngling. „Und wenn wir nun tatsächlich helfen können, wäre das ja eventuell ein erster Schritt in eine bessere Zukunft, nicht?“ Der große Ritter warf Maio, der sich einen halben Meter über ihm seinen Weg nach Unten bahnte, einen durchdringenden Blick zu. Er war in vielerlei Hinsicht noch ein Kind. Ein naiver Junge. Zum Ritter geschaffen, schien er obendrein nicht wirklich. Zu klein, zu mager, gar zu lebhaft. Einzig an Heldenmut mangelte es ihm nicht, und damit wusste er seinem älteren Kumpanen zu imponieren. Nach einer anstrengenden Kletterpartie erreichten beide endlich wieder festen Boden und sattelten bald darauf ihre Pferde. „Also geht es dir um die Ehre“, ließ Elmo Revue passieren. „Du meinst, wir wären dazu verpflichtet diesen Leuten zu helfen, bestünde die Möglichkeit dazu. Hab ich das richtig verstanden?“ Irgendetwas hatte der Hüne im Hinterkopf, als er diese Frage formulierte, das war offensichtlich. Irritiert gab ihm Maio Antwort: „J-ja, g-ganz recht!“ „Dann soll es wohl so sein!“ „Ist das D-dein Ernst?“ Dem Jungen ging regelrecht das Herz auf. „In der Tat! Ich werde mich auf den Weg machen und retten, was noch zu retten ist, während du hier die Stellung hältst. Wie sich das für einen Anwärter gehört.“ Und so verflog die Hochstimmung des Nachwuchses auch wieder. „Was?“ Entgeistert blickte Maio seinem Vorbild tief in die Augen. „Du hast mich schon verstanden! Zunächst einmal will ich nicht riskieren, so zu enden, wie die Spitzohren zuvor. Deswegen lass ich lieber alle nicht benötigten Pfunde an Ort und Stelle. Am aller wichtigsten aber ist, dass du schlicht und ergreifend zu jung bist, dich in solche Gefahr zu begeben.“ „Aber Elmo---“ „Kein aber! Wenn du auch in Zukunft von mir lernen willst, lerne lieber ganz schnell meine Entscheidungen zu respektieren, verstanden?“ Maio starrte nach dieser Ansprache wütend auf den Boden, würdigte seinen Mentor keines Blickes mehr, zeigte sich jedoch einsichtig. „Verstanden!“ „Gut, Sehr gut!“ Die offenkundige Enttäuschung des Jungen verwunderte Elmo keineswegs. In dessen Alter war er selbst ganz genauso abenteuerlustig und naiv und hätte sich – ohne zu zögern – in derartige Gefahren gestürzt. Doch auch in der seinen Vergangenheit gab es stets Menschen, die ihm diese unsinnigen Gedanken wieder austrieben. „Der Gipfel ist einige Kilometer weit weg von hier, es wird also etwas dauern. Vertreib dir die Zeit, wie immer du willst, aber komm ja nicht auf die Idee, diese Lichtung hier zu verlassen!“ Nachdem Elmo seinem Kameraden diese letzten Anweisungen mit auf den Weg gegeben hatte, griff er zu seinem Schwert und legte seinen Rucksack an, bevor er schließlich aufbrach, noch tiefer in den gefährlichen Canyon vorzudringen. Seine Bedenken, am Ende des Weges womöglich das Schicksal der Dunkelelfen zu teilen, waren nicht kleiner geworden. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Wenngleich es auch die wahre Heimat beider Elfenrassen war, fühlten sich Braja und ihre Untergebenen in Adessa keineswegs heimisch. Die traurige Vergangenheit ihrer gesamten Spezies lag tief im Innern dieser Landen begraben, und das sollte sie – ginge es nach der neuen Generation – auch bleiben. Eine simple Mission hatte sie an diesen Ort geführt, und umso schneller man die Aufgaben erfolgreich zu Ende bringen konnte, desto schneller war man wieder zu Hause. Doch die Anführerin und ihre engste Freundin Leiria wussten es besser: Ganz so einfach und planmäßig würde es diesmal nicht ablaufen. Neun Halbdrachen trugen neun schmächtige, drahtige Dunkelelfen, die von einem steilen Hügel aus ihre Blicke über das riesige Waldgebiet wandern ließen, das sich zu ihren Füßen erstreckte. Die Heimat der Lichtelfen. In allen neun Augenpaaren konnte man Abscheu, Neid und gar Furcht vor diesem fremden Land deutlich erkennen. Von ihrer Position aus war es noch immer ein weiter und beschwerlicher Weg bis nach Tapion. Einen allzu großen Vorsprung hatten die Angreifer allerdings nicht. Hoch über den Köpfen der Elfen kreisten drei prächtige Falken, als würden die Tiere sie beschützen wollen. Braja dirigierte ihr Guri ins Zentrum der Truppe und begann darauf das weitere Vorgehen näher zu erläutern. „Wir werden keine Zeit verschwenden und uns von Ballybofey fern halten! Wir umgehen das Waldgebiet und nehmen anschließend die Fährte der Menschen auf. Vergesst nicht, dass wir hier sind, um zu kundschaften! Wir müssen um jeden Preis vermeiden, entdeckt zu werden; haltet eure Rachegelüste also gefälligst zurück!“ Einige der Männer und Frauen rümpften die Nase und verdrehten die Augen aufgrund dieser Zurechtweisung. Sang meldete sich gar zu Wort. „Den Wald umgehen? Das dauert doch 'ne verfluchte Ewigkeit! Wie sollen wir sie da noch einholen?“ „Ein kleines Jagdgeschwader sollte wohl um einiges schneller unterwegs sein, als eine Horde Ritter. Wir werden eben sichergehen müssen, unser Bestes zu geben! Das heißt: Keine Pausen und keine Entschuldigungen, verstanden?“ Sang antwortete nicht. Sollte diese Belehrung darauf abgezielt haben, ihn einzuschüchtern, hatte sie dieses Ziel verfehlt. Vor seiner verhassten Anführerin Schwäche zeigen, würde der stolze Generalssohn nie im Leben. „Nun gut, die Trupps werden wie gehabt eingeteilt. Leiria, Sang und ich werden gen Westen ziehen. Die beiden anderen Gruppen demnach in Richtung Osten. Wir bleiben in Kontakt. Jeden Tag fliegen wir eine Nachricht von Ost nach West und umgekehrt. Sollte sich etwas ergeben, informiert eure Gruppe das Schiff.“ Einer der Falken, der hoch über Braja und ihren Untergebenen seine Kreise zog, landete während der Ansprache elegant auf der gepolsterten Schulter Leirias, die dem Tier ein Stück Fleisch anbot, das es genüsslich verschlang. Die edlen Flugkünstler waren den Dunkelelfen hörig. Sie dienten ihnen dazu, Nachrichten rasch über größere Distanzen zu überbringen. Jede der Dreiergruppen besaß einen, sodass man sich gegenseitig auf der Höhe des Geschehens halten konnte. Sie alle hatten ihre Herrin, der sie zahm untergeben waren. Für Leiria war es typisch, diese Rolle zu übernehmen, da sie sich zu der gesamten Tierwelt Minewoods in gewisser Weise hingezogen fühlte. Sie liebte die vielfältigen Geschöpfe dieser Welt, ob sie nun so prachtvoll und schön waren, wie der Falke auf ihrer Schulter, oder ... weniger prachtvoll und weniger schön, wie das zweibeinige Ungeheuer, welches sie auf seinem buckligen Rücken trug. „Uns allen steht eine anstrengende Reise bevor, soviel steht fest, doch ich habe vollstes Vertrauen in eure Fähigkeiten und zweifle deshalb auch nicht am Erfolg unserer Mission. Was die Menschen auch vorhaben – ob sie weitere Angriffe planen, oder es von mir aus auch für immer aufgeben – wir werden es herausfinden! Erst dann kehren wir wieder zurück nach Caims, nicht eine Sekunde früher. Ist das bei allen angekommen?“ Brajas Blicke durchbohrten Sang regelrecht. Ihre Untertanen nickten mit entschlossenem Blick. Nur Ortoroz Zögling ging jede Sekunde, die Braja im Rampenlicht ihrer neuerlich erlangten Position verbrachte, auf die Nerven, und das ließ er sie schon ob seiner Teilnahmslosigkeit spüren. Den Rest der Jäger wusste die Ansprache der blauen Elfe jedoch zu motivieren. Keiner wollte auch nur eine Minute länger in Adessa verweilen, als unbedingt notwendig. „Dann brechen wir auf!“, verkündete Braja und appellierte ein letztes Mal an ihre Gefolgschaft. „Vergesst nicht, regelmäßig Meldung zu machen!“ ___________________________________________________________ Seine Geschichte begann gerade, ihren Höhepunkt zu erreichen, doch sah Elmo sich gezwungen, seine Erzählungen zu unterbrechen. Reyne und Eva, die unlängst an den beiden gesprächigen Männern vorbeigezogen waren, hatten die Taverne mittlerweile erreicht, und Peter vermutete völlig richtig, dass es dem Ritter nicht genehm war, vor der Dunkelelfe über die gemeinsame Vergangenheit zu sprechen. So versuchte der Junge seinerseits, den Erzählfluss zu beschleunigen. „Und die Elfen waren alle umgekommen?“ Elmo wurde aus seinen bildhaften Gedankenspielen gerissen. „Alle bis auf eine, versteht sich.“ „Natürlich! Und das war ...“ „... Reyne, die hübsche junge Dame, die du so überschwänglich begrüßt hast. Sie war übel zugerichtet, gar so übel, dass ich sie zunächst auch für tot hielt. Die anderen Elfen waren hoffnungslos verloren, stürzten etliche Meter in die Tiefe. Außer Reyne, habe ich keinen einzigen überhaupt nur zu Gesicht bekommen. Der Canyon hatte sie regelrecht verschlungen, könnte man sagen.“ Elmo fiel der trübe Blick Peters auf. „Obwohl wir beide natürlich wissen, dass dem nicht so war, richtig?“ Etwas überrascht blickte der Franzose zum nun grinsenden Ritter auf. „Wie?“ „Ein Erdrutsch, meine ich. Es war ein Erdrutsch, dem diese armen Seelen zum Opfer gefallen sind. Dafür ist Skylark fast schon berühmt, sicher aber berüchtigt. Natürlich verbreiten sich Märchen von irgendwelchen unerklärlichen Phänomenen und Mysterien besser, und vor allem schneller; doch um sich davon ernsthaft beeindrucken zu lassen, mangelt es uns Menschen wohl an der nötigen Fantasie.“ Elmo wich vom Thema ab. Er versuchte das Gespräch nun zu beenden, da man sich allmählich in Hörweite Reynes befand. Eine Frage konnte Peter ihm jedoch noch stellen. „Und weil du ihr Leben gerettet hast, hat sie sich dir angeschlossen?“ „Ha ha ha, ja! Es klingt seltsam, ich weiß, aber so war es. Ich glaube, diese Demut und diese Dankbarkeit sind tief in den Grundfesten ihrer Seele verankert, in ihren Wesen, wenn du verstehst.“ Peter nickte. Er verstand es sogar sehr gut, auch wenn er bisher nicht die Gelegenheit hatte, die Dunkelelfe näher kennen zu lernen. „Ich finde nicht, dass es seltsam klingt. Klingt nach einer großartigen Geschichte“, gab sich der Junge begeistert. „Na das hört man doch gern! Auch wenn Reyne sie ohne Zweifel noch viel besser erzählen könnte. Du musst wissen, dass sie eine grandiose Rednerin ist, mit einer fesselnden, sinnlichen Stimme. Ganz ehrlich!“ Verwundert fixierte Peter die große Dunkelelfe, die an die hölzerne Wand der Taverne lehnte und mit verträumten Blick in die Tiefen des Waldes blickte, der sie alle umgab. „Sie wirkt gar nicht redselig, eher schweigsam.“ Elmo blieb auf der Stelle stehen, wendete sich Peter zu und sagte: „Es ist in der Tat eher ein seltenes Vergnügen, ihr zuhören zu dürfen, aber dafür auch ein umso größeres. Sie ist mir über die letzten drei Jahre hinweg eine sehr große Hilfe gewesen, eine wahre Bereicherung für mein Leben, und das vieler anderen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, ob diese das nun zu schätzen wissen, oder nicht. Sie passt auf mich auf, hält mir den Rücken frei, und ich tue dasselbe für sie.“ Eva näherte sich den beiden Männern eiligen Schrittes, doch unterbrach sie das Gespräch zwischen ihnen nicht. Peter war der Meinung, es wurde passend beendet. Der Ritter Elmo schien ein gutherziger und vor allem aufrichtiger Mensch zu sein. Der erste Eindruck, den Peter auf so schmerzhafte Art und Weise erlangte, hatte ihn zu seiner großen Erleichterung in eine völlig falsche Richtung geführt. „Was steht ihr hier herum?“ Eva stellte die Frage merklich amüsiert. „Peter, es wird Zeit, dich den Anderen vorzustellen!“ Ihrem Elan nach zu urteilen, freute sie sich darauf, den Neuankömmling ihren Gefährten zu präsentieren; wenn ihn das selbst auch eher einschüchterte, ließen seine jüngsten Erfahrungen mit Elmo zumindest anfängliche Ängste verfliegen. Bewusstlos schlagen, würde ihn wohl niemand mehr so schnell. Der Ritter verweilte noch einige Augenblicke in seiner Pose, nachdenklich gestimmt. Beim Anblick seiner Gefährtin Reyne begann sein Erinnerungsvermögen immer wieder Bilder zu zeichnen. Bilder einer alten Geschichte, welche er in ihrer Gänze noch nie jemandem anvertraut hatte. Auch heute nicht. ... ... ... ... ... ... Skylark Canyon. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit) Dem Feind mittlerweile so gefährlich nahe gekommen, verlangsamte der umsichtige Mann seine Bewegungen zusehends. Sorgenfalten zeichneten seine Stirn. Wieso war er überhaupt hier? Um zu helfen, oder doch nur, um seinem jungen Kameraden, der zu ihm aufblickte, kein schlechtes Vorbild zu sein? Als er geduckt den letzten Hügel erklomm, der ihn noch vom Orte des Geschehens trennte, zweifelte Elmo, ob er wirklich das richtige Tat. Falls die feindseligen Dunkelelfen dieser Naturgewalt tatsächlich hatten trotzen können, würde es sehr wahrscheinlich zu einer Auseinandersetzung kommen, und wenn Elmo auch ein Krieger war, so spärlich war er an diesem Tage bewaffnet: Es bat ihm keinerlei Rüstung Schutz. Mit einem prekären Intermezzo wie diesem, hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. „Jammern hilft dir jetzt auch nicht weiter, du Held ...“ Diese Worte richtete er an sich selbst, um sich den letzten Schub Selbstvertrauen einzuflößen, den er benötigte, um endgültig bis zum Unglücksort vorzudringen. Was Elmo dort zu Gesicht bekam, verschlug ihm schon bald darauf komplett die Sprache. „Mein Gott ...“ Ein Blick genügte, um dem Mann in Erinnerung zu rufen, mit welcher Ehrfurcht dieser Canyon von den Bewohnern Adessas betrachtet wurde. Man hielt sich besser fern von hier, wenn einem sein Leben lieb war, hieß es – völlig zurecht, wie der todbringende Landstrich es einmal mehr unter Beweis gestellt hatte. Das tückische Gebirge war überwuchert von Gräsern, Sträuchern und Wäldern. So dicht, dass sich Steilhänge selbst dem geschulten Auge oftmals verbargen. Hier allerdings, hatten sich vor kurzer Zeit gänzlich neue Abgründe aufgetan, als ein tiefer Riss in diesem so fruchtbar scheinenden Erdboden die gesamte Karawane verschluckte. Kein Elfenkörper war weit und breit auszumachen, kein Guri, nicht einmal Teile der Ausrüstung. So schnell, wie sich das dramatische Ereignis abspielte, hatten die Männer und Frauen nicht die geringste Chance, sich in Sicherheit zu bringen, oder in irgendeiner Form gegen die Urgewalt anzukämpfen, die sie bedrohte. Zunächst lugte Elmo nur über den Abhang hinaus. Aus sicherer Distanz. Doch auch so offenbarte sich ihm Schreckliches. Das andere Ende dieser massiven Wand aus Gestein und feuchtem Erdboden war nach seinen Schätzungen rund fünfzig Meter von ihm entfernt. Auseinandergerissen mit unvorstellbarer Kraft, die jedoch nur das letzte, winzige Überbleibsel einer noch viel gigantischeren Energie darstellte, die ihren Ursprung in den Tiefen der Erde nahm. Genau dahin zog es nun auch die Aufmerksamkeit des Mannes, der sich zwar längst sicher war, hier keine Überlebenden mehr anzufinden, jedoch seine eigene Neugier nicht länger unterdrücken konnte. Er wollte das Grabmal der Dunkelelfen zumindest mit eigenen Augen gesehen haben. Vorsichtig schaute er über die Klippe hinaus in die Tiefe. Kühle Winde ließen ihn im ersten Moment erzittern. Eine leichte Berührung mit der Hand reichte aus, um einen Steinschlag auszulösen. Zwar waren dessen Proportionen zu verachten, doch fuhr dem wagemutigen Ritter nichtsdestotrotz ein Schrecken durch Mark und Bein. „Reiß' dich zusammen, Mann!“ Hochkonzentriert verschaffte sich Elmo einen Überblick über das Schlachtfeld, auf dem vor kurzem der wohl einseitigste Kampf geführt worden war, den dieses Land jemals zu Gesicht bekommen hatte. An einigen der rasiermesserscharfen Klippen aus Gestein klebte das Blut der Gefallenen. Leichen konnte Elmo immer noch nicht ausmachen. Der Abgrund war dafür schlichtweg zu tief. Doch als sein Blick gen Osten wanderte, stieß er doch noch auf einen blauen Körper. Erst als er sich bis auf wenige Meter näherte, bemerkte Elmo, dass es sich in der Tat um eine Frau handelte. Sie war zwar nicht sehr tief gestürzte – prallte auf einen Abhang, der bei dem Erdrutsch entstand-, doch konnte sich der Mann dennoch nicht vorstellen, dass sie überlebt hatte. Er verschwendete zunächst auch keinen Gedanken daran. Unbeeindruckt, wog er längst ab, ob er sich nicht auf die Kletterpartie einlassen sollte, um den Leichnam zu bergen und der Elfe anschließend die letzte Ehre zu erweisen. Eine verrückte Idee, soviel war sicher, aber sein Ehrgefühl gebot ihm das. Auf den Knien hockend, wendete er sich mit dem Gesicht zu seinem jungen Gefährten, der aus großer Distanz das Geschehen mit Argusaugen beobachtete. Wie würde er es wohl allein auf sich gestellt zurück nach Hause schaffen, sollte dem Ritter etwas geschehen? Elmo zögerte einen Augenblick. Herunter zu klettern, stellte nicht das Problem dar. Schon eher, mit der leblosen Blauen auf dem Rücken die Felswand in die Felswand wieder zu erklimmen. Eine schwere Entscheidung, die ihm ausgerechnet die Elfe abnehmen sollte. „Ka...pitän...“ „Huh?“ Verwundert lehnte sich der grünhaarige Draufgänger ein weiteres Mal über die Klippe. Sie war noch am Leben! Es blieb keine Zeit mehr für reifliche Überlegungen. Elmo stieg zum Abhang hinab, ruckartig und sehr zügig, die ihn stets umgebende Gefahr völlig außer Acht lassend. Gerade als er den letzten halben Meter Weg mit einem Sprung abkürzte, brach wieder ein Laut aus dem schwer verletzten Wesen heraus. „...Hil...fe...“ Ob sie ihn wohl überhaupt wahrnahm? Vielleicht wäre einer gesunden Kriegerin diese Rettungsaktion zuwider gewesen, aber all der tief im Wesen der Dunkelelfen verwurzelte Rassenhass, war in diesem Augenblick ausgeblendet. Elmo handelte sowieso lieber, das lag ihm im Blut. Er löste seinen Gürtel von der Hüfte, setzte die Dunkelelfe auf, nahm sie Huckepack, und schnallte die Frau auf seinem Rücken fest. So fest, wie es eben möglich war. Wie er letztlich das Kunststück vollbrachte, mit der schlecht befestigten Last den Steilhang zu erklimmen, sollte Elmo selbst ein Rätsel bleiben. Doch es gelang! Völlig erschöpft rang der Ritter nach Luft, auf allen Vieren im feuchten Grase. Neben ihm lag die schöne Fremde, die zu seiner Erleichterung noch immer atmete. Zu schwach zum Einen, eine Bedrohung darzustellen, zu schwach jedoch auch, um Elmo einen langen Marsch unter erschwerten Bedingungen zu ersparen. Doch auch in diesem Zustand strahlte sie eine ganz besondere Faszination aus. Wer sie wohl war? Ihr schwarzes Haar, mit den weißen Ansätzen. Ihre kunstvolle Rüstung, die Körperbemalungen, ihre gesamte Aura – sie wirkte wie eine Göttin auf ihren Retter. ... ... ... ... ... ... Reyne hatte bis heute nichts von ihrer Ausstrahlung eingebüßt. Auch war sie zum größten Teil immer noch ein Mysterium für Elmo. Über ihre Vergangenheit wusste er – drei Jahre nach den Ereignissen am Skylark Canyon – kaum besser Bescheid als an jenem schicksalhaften Tag ihres Zusammentreffens. Und doch: immerhin mehr als jeder andere Mensch. Der junge Neuling, den es längst zur Tür der Unterkunft gezogen hatte, schaffte es doch tatsächlich – wenn auch ungewollt – im sturen Kopf des Ritters längst vergrabene Erinnerungen ans Tageslicht zu bringen. Eines war Elmo vor geraumer Zeit schon klar geworden: Nie wieder würde er des scheuen Wesens seiner Gefährtin wegen misstrauisch werden. Es würde sich nicht auszahlen. Im Gegenteil. Noch immer stand der kräftige Mann in voller Montur wie angewurzelt einige Meter von seinen Kameraden entfernt. Sicher wäre es ratsam gewesen, endlich aus den Träumereien zu erwachen, doch zuvor wurde ihm noch eine seltene Ehre zuteil, die ihm den Tag zu versüßen wusste. Gerade als Elmo drauf und dran war, aus seiner Starre zu erwachen, trafen sich die Blicke des unzertrennlichen Duos. Für den Menschen war es üblich, ja fast schon affektiv, beim Anblick dieser zeitlosen, himmelblauen Augen, wie die personifizierte Zufriedenheit dreinzuschauen. Das liebevolle Lächeln der Elfe hingegen war gerade deshalb ein solch süßes Geschenk, da es sich über die Jahre der Bekanntschaft seine Besonderheit bewahren konnte. „Eines vorweg: Nach den jüngsten Geschehnissen sind nicht alle von unseren Leuten bester Laune, was man ihnen natürlich zugestehen muss“, erklärte die junge Frau dem leicht angespannt wirkenden Jungen. „Falls du also ein paar schiefe Blicke mit auf den Weg bekommen solltest, denk dir einfach, sie würden mir gelten.“ Vielmehr wollte Eva sich mit dieser kleinen Ansprache wohl selbst beruhigen. Peter war schließlich schon kurz in der Taverne gewesen und böses Blut gegen seine Person hatte er nicht gewittert. Der mitleidige Blick, den der Junge im Affekt in Evas Richtung aussandte, verriet der blonden Kriegerin, dass er sie durchschaute. Alle etwaigen Abneigungen, die in der stickigen Holzhütte – dem Auffanglager der Menschen in Ballybofey – umherschwirrten, waren mit aller größter Wahrscheinlichkeit tatsächlich gegen ihre Person gerichtet. Die zwei vertieften das Thema nicht weiter und drückten fast synchron die schwere Tür auf. Zur Überraschung beider, waren die Männer und Frauen drinnen viel zu beschäftigt, um sie überhaupt zu bemerken, geschweige denn, zu begrüßen. Tische und Stühle waren verschoben und umgestellt worden, und die ganze Meute saß gebannt im Halbkreis um das Zentrum des Gebäudes versammelt. Von überall her drang Gemurmel durch die dicht gedrängten Reihen, einige der Anwesenden bemerkten nach dem lauten Zufallen der Vordertür auch endlich die Rückkehrer und konnten es kaum erwarten, die spannenden Neuigkeiten zu verbreiten, die es, dem Anblick dieser Versammlung nach zu urteilen, durchaus zu geben schien. Ein riesiger, stämmig gebauter Kerl trat aus dem Gemenge heraus. Seiner schulterlangen, zu einem Zopf gebundenen grauen Mähne und dem Vollbart im gleichen Farbton nach zu urteilen, war der Mann längst jenseits der fünfziger Marke angelangt. Das waren dann aber auch schon die einzigen äußerlichen Anzeichen, bis auf ein paar tiefe Stirnfalten, die auf sein gehobenes Alter hinwiesen. Seine Statur war geradezu monströs. Dagegen wirkte sogar der durchaus kräftige und hochaufgeschossene Elmo wie ein Waldelf, dachte Peter im ersten Moment. Als er schließlich noch mit seiner rauen Bassstimme die zierliche Eva adressierte, war das Bild vom stolzen Wikinger, das sich während dieses ersten Kontaktes in des Jungen Hirn einbrannte, perfekt abgerundet. „Wir haben noch einen Gast, Eva! Und zwar einen echten Helden, wie es scheint!“ Der Bärtige schien das völlig ernst zu meinen, jedenfalls lag keinerlei Sarkasmus in seiner Stimme. was sowohl die Ritterin, wie auch den jungen Franzosen neugierig machte. Während sich die beiden ihren Weg vorbei an ihren Kameraden hindurch bahnten, um an den spannenden Diskussionen teilhaben zu dürfen, betrat endlich auch Elmo die Taverne, nur um ganz genauso überrascht zu werden, wie das Duo vor ihm. Der Frau wurde mit angemessener Höflichkeit Platz gemacht, wohingegen sich der Neuankömmling schüchtern durch die Reihen bitten musste. Peters Gefühlswelt änderte sich beim Anblick der ihm gut bekannten, zerlumpten Arbeitskleidung schlagartig. Ebenfalls bekannt kam ihm das Gesicht des Mannes vor, der nun auch Blickkontakt mit Peter aufgenommen hatte. Die kurzen, ungepflegten blonden Haare, das markante Kinn, die ramponierte Nase, und natürlich dieser herablassende Blick, den er genau in dem Moment aufsetzte, in dem er Peter wiedererkannte. Ein Blick, der sich eingeprägt hatte ... „Du!?“ Die Höhle --------- Kapitel 8 – Die Höhle „Keinen Schritt weiter, Junge!“ Der tobende Ausruf der molligen Elfe hallte noch bis weit ins Tal hinein. Grund ihres Wutausbruchs war ihr eigener Sohn, ein – so dachte sie bisher zumindest-, schüchterner, zurückhaltender Elf, dessen Temperament kein Wässerchen trüben könnte. Und nun das! „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Ich bin deine Mutter!“ Empört flatterte die kreidebleiche Frau ihrem Jungen hinterher. Auch wenn sie einige Pfunde zu mobilisieren hatte, gelang ihr ein eleganter Flug durch die Tür ihrer Unterkunft, die nur mit einem seidenen Vorhang behangen war, der die Privatsphäre der kleinen Familie hüten sollte. „Versuch nicht mich bitte aufzuhalten. Es wäre ohnehin zwecklos“, versuchte der dürre Elf die Tiraden im Keim zu ersticken. „Ich kann einfach nicht mehr länger hier bleiben“, fügte er noch an. „Aber Jin, Ich ... Denkst du etwa ...“ Zwar brachte sie in ihrer Ratlosigkeit zunächst keinen vernünftigen Satz zustande, doch konnte die betagtere Elfendame dem Anschein nach gerade deswegen den sprichwörtlichen Schalter im Gewissen ihres Sohnes umlegen. Langsam versiegte dessen Enthusiasmus: Jin senkte sein Haupt, so als wüsste er, dass ihm eine bedeutende Ansprache unmittelbar bevorstand. „Denkst du denn nur an dich selbst?“, begann das Unausweichliche seinen Lauf zu nehmen. „Was wird denn dann aus mir? Erst dein Vater, und jetzt auch noch du! Weißt du denn nicht mehr, was beim letzten Mal geschehen ist?“ Kein Windhauch huschte in diesem Moment mehr durch den Elfenwald. Kein Vogel sang, kein Zweig brach mehr; kein Artgenosse schien weit und breit auch nur einen Ton von sich zu geben, in diesem kurzen, traurigen Moment. Jin drehte sich um, die wütenden Augen starr auf seine Mutter gerichtet, wenn sein Zorn die ihm in sein schmales Gesicht geschriebene Traurigkeit auch nur schwerlich überdecken konnte. Dann brach er das elendige Schweigen. „Ich weiß es noch, Mutter. Ich weiß es noch ganz genau.“ Und so zog Jin schlussendlich von dannen. Er ließ seine geliebte Mutter in Tränen zurück, jedoch nicht aus Gehässigkeit, oder gar Gleichgültigkeit. Ihr Wohl lag ihm am Herzen; mehr wahrscheinlich, als alles andere, war sie doch die einzig verbliebene Familie, die er noch besaß. Aufhalten, konnte sie ihn trotzdem nicht, dazu war er viel zu entschlossen und zu verzweifelt. ... ... ... ... ... ... Ballybofey. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit) Zu dritt wanderten die halbstarken Elfen durch den dichten, überwucherten Wald. Längst dämmerte es, und die letzten Sonnenstrahlen, die es noch vermochten, das Geflecht aus Ästen, Zweigen und dem Laub der riesigen Bäume zu durchdringen, verstarben nach und nach. Keiner der jungen Reisenden wirkte beunruhigt. Es war ihre Heimat. Sie kannten sich in diesem Labyrinth aus brusthohen Gräsern, dichtem Gebüsch und gewaltigen Mammutbäumen gar besser aus, als viele der Tiere, die hier stets und ständig hausten und immerhin noch genauso gut, wie die übrigen. Einer der Ausreißer – ein zierlicher Jüngling, der sich ganz rechts aufhielt – blickte mit schelmischem Grinsen über seine Schulter, als wollte er sich versichern, dass ihm und seinen Freunden niemand folgte, zugleich aber die Hoffnung hegte, es wäre so. Sein ebenso drahtiger Artgenosse, der seinem Kumpanen bis auf den struppigen schwarzen Schopf verblüffend ähnlich sah, erkundigte sich nach dessen Gemütslage. „Was ist denn los, Keean [Kie-ahn] ?“ Zufrieden stemmte der Waldelf die Hände in die Hüften,und plusterte sich auf. Kurz darauf hob er vom Boden hab. Seine dünnen, seidenen Flügel begann hell zu leuchten. Goldene Staubkörner regneten unerlässlich von ihnen herab und versiegten nur Augenblicke später im seichten Abendwind. „Wir sind weit genug gelaufen!“, tönte der Elf. „Uns folgt niemand, und sehen, kann uns hier auch keiner mehr!“, belehrte er seinen gleichaltrigen Kumpanen triumphierend. Noch bevor der seiner Empörung freien Lauf lassen konnte, erhob sich auch das junge Mädchen zu seiner Linken in die Höhe. Dasselbe fantastische Schauspiel wiederholte sich dabei. „Herrlich!“, frohlockte die Elfe. „Mir taten von der Lauferei schon die Füße weh.“ „Pst! Verdammt, kommt gefälligst wieder runter!“ Flüsternd, aber in strengem Ton, versuchte der einzige noch bodenständige Waldelf der Gruppe, seine Freunde zu später Vernunft zu bringen. „Und wenn euch nun jemand sieht? Dann sind wir geliefert!“ „Mach dir nicht in die Hosen, Jin!“ Die weibliche Begleitung amüsierte die forsche Art von Keean, was er mit einem flüchtigen Augenzwinkern genüsslich zur Kenntnis nahm und ihn anspornte, noch eine Schippe drauf zu legen. „Niemand wird uns entdecken, sogar Herz weiß das“, verhöhnte er seinen Artgenossen und wies ihn anschließend leiser, jedoch noch laut genug, dass auch das Mädchen jedes Wort verstehen konnte, darauf hin, dass er ihr mit Feigheit sicher nicht würde imponieren können. Erzürnt überwand Jin seine Bedenken. Nicht um dem zuckersüßen Elfenmädchen mit den pinken Haaren und den rosigen Wangen zu imponieren, nein, das hatte er nicht nötig, aber als Feigling wollte er nicht dastehen. „Können wir endlich von hier verschwinden?“ Die leicht ins Glühen geratene Atmosphäre zwischen den beiden rivalisierenden Jünglingen entspannte sich wieder. Gedanken an das, was noch bevorstand, euphorisierten Keean regelrecht. „In Ordnung, wir sollten keine Zeit verlieren! Das ganze Mondtal wartet darauf, von uns erkundet zu werden, he he!“ Elegant flatterte Jins blasser Zwilling mit dem karamellbraunen Haar im Halbkreis zum anderen Ende der kleinen Gruppe hinüber, und stimmte die zierliche Gestalt in pink auf das bevorstehende Abenteuer ein. „Na Herzchen, schon panische Angst vor den Wölfen?“, fragte Keean in gewollt höhnischem Tonfall. „Herzchen? Was hat dich denn gebissen, Kleiner?“, hallte es ihm gespielt empört entgegen. Der sanfte Klang ihrer Stimme durchdrang das Wesen der Elfen wie der nie in Vergessenheit geratene Genuss eines der sahnig milden Kirschbonbons, mit denen die Mütter der Jungspunde ihre Zöglingen in früher Kindheit für außergewöhnlich gute Manieren belohnt hatten. Das Spiel der beiden – so stand es ihm ins Gesicht geschrieben – machte Jin neidisch. Eingestanden, hätte er sich das niemals, aber so war es. Es bereitete ihm Magenschmerzen, dass Keeans Aufdringlichkeit auch noch von ihr belohnt wurde, mit etwas so unvergleichlich schönem, wie etwa einem Lächeln oder einem liebevollen Blick. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, hübsches Fräulein.“ Herz versuchte ein verlegenes Lachen hinter ihrem Handrücken zu verstecken. Ihr gefielen die Schmeicheleien des Jungen, genauso, wie auch die Zurückhaltung des anderen. „Aber ehrlich: Fürchtest du dich denn nicht? Nicht mal ein kleines bisschen?“ Keean flog jetzt vor ihr her, dem Weg, den sie eingeschlagen hatten, den Rücken zugekehrt. „Hm, vielleicht ein klitzekleines bisschen. Aber dann sage ich mir einfach: Wölfe haben keine Flügel! Ist doch so, oder? Wovor also Angst haben?“ „Ha ha, wie Recht du hast!“ Keean klatschte in die Hände, so begeistert war er vor der Furchtlosigkeit seiner Begleiterin. „Trotzdem“, fügte diese hinzu, „wäre es mir lieber, sie würden schlafen, oder sich sonst wo herumtreiben, dass wir ihnen erst gar nicht begegnen. Werwölfe sollen sehr schlau sein und sich Gesichter gut einprägen können. Wenn du einem entwischst, merkt er sich das und ...“ „... kommt dich irgendwann holen, ach ja: alle unartigen Kinder, die ihr Frühstück nicht aufessen, ebenso! Tz, die Geschichten haben mir meine Eltern auch aufgetischt. Daran glaubst du doch nicht wirklich, oder?“, fauchte Jin regelrecht. Natürlich glaubte Herz nicht mehr daran, dass ein Werwolf in der Nacht kommen und sie auffressen würde, wenn sie zu Hause nicht spurte. Sie fragte sich, womit sie diese grantige Bemerkung eigentlich verdient hatte und wandte ihren Blick beleidigt für den Rest des Weges von Jin ab, dem es fortan leid tat, sie so angefahren zu haben. Es tat ihm schon leid, als er die Worte aussprach, sogar schon, als er sie sich in Gedanken zurecht gelegt hatte. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Fernab vom Treiben in Ballybofey und doch in unmittelbarer Nähe berieten sich die Menschen aufgeregt in ihrer provisorischen Unterkunft. Um das weiträumige Gebäude aus Holz herum wurde ein beachtliches Stück Land dem Erdboden gleichgemacht. Eine Unart der Spezies, wie die Waldelfen es bezeichneten, sich mit der Natur nicht zu arrangieren, sondern sie auszubeuten. Gestattet worden, war es ihnen dennoch, als eines vieler gutherziger Geschenke ihrer Gastgeber im fremden Land. Die Pinkies, wie die Menschen hier hin und wieder von all den Wesen gerufen wurden, die des Sprechens mächtig waren, hatten sich ganz am Rande der Heimat der Elfen des Lichts ein kleines Fort errichtet, inklusive Hauptquartier, Schlafplätzen, Stallungen, Vorratskammer und Übungsplatz. Doch weder feilte jemand im Hof hinter der Taverne an seinen Fähigkeiten, noch kümmerte man sich um die zahlreichen Pferde, die dort angebunden waren. So erschöpft sie nach den jüngsten Erlebnissen aber auch immer sein mochten: Zu ruhen, wagte niemand! „Wartet bitte einen Moment!“ Eva unterbrach das wilde Durcheinander. „Wenn es recht ist, würden Peter und ich die Geschichte gern von Anfang an hören. Das heißt: Wenn es dir keine Umstände macht ...“ „Aarve!“, stellte sich der Flüchtling schroff vor. Einige der Anwesenden verzogen ihre Mienen, sowie es Eva schon vorausgesehen hatte, echte Einwände brachten sie jedoch nicht hervor. Wie jung das Mädchen auch immer war: Sie blieb ihre Anführerin, und als solche wurde sie respektiert. „Nun gut, Aarve“, sagte Eva in gewohnt ruhigem, fast gefühllosem Tonfall und legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls vor ihr, auf dem ein blutjunger Soldat, als er sie in seinem Rücken bemerkte, sofort verlegen Anstalten machte, aufzustehen. Eva jedoch, wies ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung an, sitzen zu bleiben. „Dann verrate uns doch zunächst einmal, wie du aus Vyers fliehen konntest, geschah das während unseres Angriffes?“ Kurz blickte sich der stets grimmig und angespannt wirkende Blondschopf im Halbkreis um und musterte die teils in bedrohlicher Montur, teils in kaum mehr als Hemd und Hose gekleideten Männer und Frauen um ihn herum. Diesen Punkt hatten sie zweifelsohne schon besprochen, aber das änderte jetzt auch nichts mehr. „Als ihr die Festung attackiert habt, war ich leider schon längst weg“, entgegnete Aarve der jungen Frau scharf und blickte aus den Augenwinkeln indes in Peters Richtung, der hinter den breiten Schultern eines Ritters in Kettenhemd fast vollständig verdeckt war. Der Franzose musste bis zu dieser Stelle noch genau wissen, wovon er sprach. „Das hätte ich zu gern gesehen!“ Das hätte Arve wirklich, soviel war sicher. „Sie haben mich mit fünf anderen Männern nach Berra geschickt. Hmpf ... mich ... Ich wusste, aus Vyers zu fliehen ist zwecklos, um nicht zu sagen unmöglich, also habe ich stets das Beste aus der Situation gemacht. Hab mir den Hintern für diese dreckigen Spitzohren aufgerissen und so wurde es mir letztlich gedankt!“ Den Blicken der meisten Zuhörer nach zu urteilen, erzählte er die Geschichte diesmal weitaus emotionaler und somit wohl auch spannend genug, um auch die letzten von ihnen erneut in seinen Bann zu ziehen. „Kein Schwein schafft es je aus Berra raus. Wen die Hitze nicht umbringt, den ... du bleibst eben so lange da und schuftest weiter, bis sie es doch tut.“ Arve hatte die Augen jetzt auf den Holzboden gerichtet, zitterte wie Espenlaub, und zwar vor Wut – nicht etwa aus Angst. Sein Blick, so erkannte Peter auf der Stelle, war genauso apathisch und hasserfüllt wie damals vor den Toren der Festung, als man ihn abfertigte und sprichwörtlich in die Wüste schickte. Der Franzose konnte es nicht verhindern: Er fühlte sich schuldig. Nichts von dem, was Aarve auch immer geschehen sein mochte, hatte sich in des Jungen Taten begründet, aber er hielt ihn auf Grund der wenigen flüchtigen Eindrücke, die er von ihm hatte erhalten können, für einen schlechten Menschen. Dabei versuchte er schlicht und ergreifend, zu überleben, wie Peter selbst auch, wie all die anderen, wie Alicia ... „Mit einer Revolte haben diese Mistkerle jedoch nicht gerechnet, das sah man schon an der Eskorte. Wir waren nicht mal gefesselt, das tun die Idioten nie; verlassen sich zu sehr auf ihre eigene Stärke. Es waren zwei Aufseher – einer am Nord-, der andere am Südende – und ein Gamm. Die Viecher mögen zwar sehr kräftig sein, aber sie sind auch mindestens genauso dämlich und träge. Ich sagte Ben vor mir, dass wir etwas unternehmen sollten. Er zögerte zwar zuerst, aber unterm Strich war ihm genauso klar, dass wir entweder etwas riskieren, oder stattdessen in der Gluthitze der Wüste verrotten konnten. Tja, und so kämpften wir dann um unser Leben ... Ich überwältigte den Blauen ganz am Ende. Wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ich nahm seinen Speer und rammte ihn dem Monster ins Bein.“ Aarve grinste kurz und kicherte auch leise, als ob das, was nun folgen würde, ganz besonders amüsant sein würde. „Um den anderen Kerl brauchten wir uns gar nicht erst zu kümmern, der hatte genug mit seinem Haustier zu tun. Das Vieh rastete vor Wut so aus, das es ihn glatt von seinem Pferd riss. Na ja – ihr wisst schon-, diese hässlichen Biester, die eigentlich nur noch von den Gamdscha übertroffen werden. Hat danach leider noch einige von den Gefangenen erwischt, die ich allerdings gar nicht kannte. Sie waren im ersten Moment genauso ahnungslos, wie die Aufseher. Das war eben ... Pech ...“ Er stockte. Wirklich zu interessieren, schien ihn das tragische Schicksal seiner einstigen Mitgefangenen nicht. In gewisser Weise war er mitverantwortlich für ihren Tod, ob sie nun später in Berra tatsächlich gestorben wären, oder nicht. Eva stellte eine Frage, um das Gespräch voranzutreiben. „Und am Ende hast nur du es geschafft, zu entkommen?“ „Nein, wir waren zunächst noch zu dritt. Ben, den ich gut aus der Zeit in Vyers kannte, Riordan und meine Wenigkeit. Wir sind gerannt, als würde uns der Teufel auf den Fersen sein, und in gewisser Weise, war er das ja auch. Wäre Ben nicht gewesen, wäre ich hier nie aufgetaucht, ich wusste schließlich nichts über Caims, gerade mal, dass es eine Insel war, aber nicht, wo genau sich Vyers befand oder wie wir den Ozean überqueren konnten. Doch Ben war schon mal am Hafen im Osten, hat zu seiner Zeit sogar Bauarbeiten daran vorgenommen. Huh ... am Ende war's wohl doch nicht so schlau, uns zu versklaven und die Drecksarbeit machen zu lassen ...“ „Und wie ging es nun weiter?“ - „Genau, was ist aus deinen Freunden geworden?“ - „Wurdet ihr verfolgt?“ Allgemeines Gemurmel begann sich auszubreiten. Allem Anschein nach, näherte sich Aarve dem Teil seiner zweifellos abenteuerlichen Geschichte, an dem er zuvor von den Rückkehrern unterbrochen worden war. „Ben hat die Strapazen nicht überstanden. Wir mussten schließlich fast einen ganzen Tag marschieren, Ruhepausen konnten wir uns kaum erlauben, und Schlaf ... wäre wohl unser sicherer Tod gewesen. Fragend blickte Eva dem jungen Mann in die Augen und stellte die Frage, die, den Gesichtsausdrücken ihrer Kumpanen zu urteilen, nicht nur ihr auf der Zunge brannte: „Wie meinst du das, gerade noch rechtzeitig?“ Aarve grinste triumphierend. Er hatte Neuigkeiten im Petto, die der Gruppe glatt den Boden unter den Füßen wegziehen sollten. „Ihr glaubt doch wohl nicht etwa, ich wäre bis nach Adessa geschwommen, oder?“ ___________________________________________________________ Zur selben Zeit hatte Jin sein altes zu Hause weit hinter sich gelassen und befand sich auf geradlinigem Wege zu Eva. Es war ein großer Vorteil für ihn, dass die Anführerin der Menschen unter Elfen aufwuchs; zumindest hoffte er stark, dass dem so wäre. Des Jungen Nervosität spielte aber keine größere Rolle. Sein Entschluss stand schließlich fest, und falls die Menschen ihn tatsächlich nicht mitnehmen sollten – wann genau es nun auch immer sein mochte, dass sie sich wieder aus dem Staub machten-, würde er eben allein losziehen müssen. Eine Leibgarde kampferprobter und bewaffneter Soldaten um sich scharren zu können, wäre jedoch zweifellos die angenehmere der beiden sich bietenden Möglichkeiten. Außerhalb Ballybofeys lauerten viele Gefahren, insbesondere für einen jugendlichen Lichtelf. Todbringende, herzlose Wesen durchstreiften den Kontinent nördlich vom heimischen Wald, die nicht davor halt machen würden, ihn zu jagen und zu töten. Gesehen hatte er zwar noch keines davon, aber trotzdem wusste er – schon von den Erzählungen vieler Menschen oder mutigen Artgenossen, die sich weit ins Innere Adessas vorgewagt hatten-, dass es sich dabei keineswegs nur um Märchen handelte. So, wie es sich bei den reißenden Wölfen im Mondtal auch nicht um Märchen gehandelt hatte ... „Hey, wo willst du denn hin?“, rief eine altbekannte Stimme schrill durch den Wald. Jin blickte sich leicht erschrocken zur Quelle des Rufes um und fand sie weit oben in Nähe der Wipfel, wo die meisten Elfen hausten. Es war Lily, die den Ausreißer auf frischer Tat ertappt hatte. Trotz der bevorstehenden verbalen Auseinandersetzung mit der frechen Göre war Jin doch recht froh seine Aufmerksamkeit von den sich tückisch heranschleichenden Gedanken an vergangene Tage abwenden zu können. Ihr Timing war grandios. „Brauchst gar nicht erst zu versuchen, abzuhauen, ich bin eh schneller als du.“ Nicht, das er es versuchen wollte, aber Recht hatte sie trotzdem. Eilig flatterte Lily von hoch oben in der erhabenen, königlichen Zone der gewaltigen Pflanzen bis fast ganz hinunter auf den mit Moos überdeckten, nassen Erdboden. Das Fliegen war für Jin seit jener besonderen Nacht zu einer echten Qual geworden: Eine tiefer Riss entstellte seinen rechten Flügel, und wann immer er ihn zu benutzen gedachte, spürte er den Schmerz, der unter der längst verschlossenen Narbe noch zu wüten imstande war. Seiner Seele erging es sogar noch schlimmer. „Treibst dich mal wieder rum, huh?“, feixte das blasse Elfenmädchen in ihrem weinroten Dress. „So weit weg von zu Hause. Sollte man sich Sorgen machen?“ „Falls du es wirklich wissen willst“, kündigte Jin unbeeindruckt an, seine wahren Beweggründe zu offenbaren. „Ich bin auf dem Weg zur Taverne. Hab' dort was mit den Menschen zu besprechen, wenn du verstehst.“ Lily lächelte schwach und flatterte zwei gemächliche Runden um ihren gleichaltrigen Artgenossen herum. Die beiden hatten nie wirklich viel miteinander zu tun gehabt. In ihrer Jugend – in ihrer frühen Jugend – interessierte sich Lily immer nur für Eva und die Menschen, während Jin mit seinen Freunden Keean und Herz ein unzertrennliches Trio bildete. „Na sieh mal einer an! Das trifft sich ja geradezu perfekt. Ich bin nämlich auch auf dem Weg dahin“, wusste die kleine Elfe zu überraschen. „Wie?“ Jin verstand nicht recht, worauf sie abzielte. „Und was willst du von ihnen?“ Auch wenn Jin sich erinnern konnte, dass Lily an der Seite einiger Menschen aufgewachsen und eng mit Eva befreundet war, so war ihm doch nicht bewusst, was die jüngste Vergangenheit an den Beziehungen der jungen Elfe alles verändert hatte. „Tja, mein Lieber: Ich schließe mich ihnen an!“ Ein Paukenschlag, der Jin die Sprache verschlug. „Ich will endlich raus aus dem Wald und Adessa erkunden.“ „Was für ein Unterfangen ...“ Die zierliche kleine Gestalt tänzelte vor lauter Euphorie in der Luft hin und her, drehte eine Pirouette nach der anderen und tätschelte dem perplexen Elf am Boden sogar das Gesicht. „Du also auch?“ Urplötzlich – als wären ihr die Batterien ausgegangen – hörte Lily auf, ihren Freudentanz zu vollführen und schwebte mit ernster Miene auf den Boden der Tatsachen zurück. „Auch?!“, stellte das Mädchen klar, dass sie ihn auch richtig verstanden hatte. „Was meinst du bitte denn damit?“ Man brauchte keine außergewöhnliche Elfenkenntnis zu besitzen, um erkennen zu können, dass Lily etwas nicht in den Kragen passte. Nein, das wäre eine riesenhafte Untertreibung gewesen. Diesem zerbrechlichen kleinen Wesen mit dem strubbeligen Haar und den großen Mandelaugen, stand in ihr hübsches Gesicht geschrieben, dass ihr etwas gehörig gegen den Strich ging. Und plötzlich waren sie wieder da: all die unschönen Erinnerungen, deren Vordringen ins Zentrum seiner Gedanken Jin kurz zuvor noch hatte abwehren können. ... ... ... ... ... ... Mondtal. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit) Die drei wagemutigen Kinder waren umzingelt. Eingekreist von den Wesen, über die sie nur Minuten zuvor noch scherzten; die, so hatten sie gedacht, nur in ihrer Fantasie existierten. Doch Herz, Keean und Jin hatten sich geirrt. Es waren die wohl mit Abstand scheußlichsten Kreaturen im gesamten Waldgebiet. Werwölfe, doch ohne den geringsten Hauch von Eleganz oder Anmut, so knochig und abgemagert, mit ihren riesigen Köpfen, den langen, vernarbten Schnauzen und im Mondlicht leuchtenden Reißzähnen. Es mussten über ein Dutzend gewesen sein, und sie trieben ihre Beute wie Vieh zusammen. Hoch oben in den Bäumen wären sie vor dieser brutalen Spezies in Sicherheit und müssten nicht um ihr Leben fürchten, doch eine Flucht kam nicht in Frage: Keean war verletzt. Eines der Biester, der Rudelführer, wie der Elfen Instinkt ihnen suggerierte, hatte ihm ein großes Stück seines Flügels abgerissen, als er für einen Augenblick unaufmerksam war. Hätte er sie doch nur nicht provoziert! Hätte er bloß nicht schon wieder versucht, dem Mädchen zu imponieren! Ihr aller Ende nahte. „Wir müssen in die Luft“, flüsterte Jin seinen Freunden zu. Die Angst war seiner Stimme zu entnehmen. Keean wandte sich mit Tränen in den Augen seinen Freunden zu. Er war verzweifelt. „Lasst mich hier nicht allein!“, schluchzte er völlig aufgelöst. Es tat Jin Leid, ihn so zu sehen, vor allem für Keean selbst, aber jemand musste jetzt einfach handeln, ansonsten würden die Wölfe sie allesamt zerfleischen. Unter keinen Umständen würde er das zulassen. „Herz, bist du in Ordnung?“, fragte er mit neu gewonnener Entschlossenheit. „W-was?“ Entgeistert wandte das Mädchen ihren Blick von dem Wolfsrudel ab. „Ja, b-bin ich. Noch ...“ Die verdreckten, zerlumpten Biester fletschten ihre Reißzähne und entblößten ihr fauliges Zahnfleisch. Sie schabten mit den Hinterpfoten auf dem kalten Fels unter ihnen, so als wären sie schon auf dem Sprung und warteten nur noch auf den Befehl zur Attacke. „Wir fliegen! Auf drei, verstanden?“ Jin wartete nicht auf eine Antwort, sondern begann einfach zu zählen. „Eins,“ Herz ergriff die Hand des Jungen, „Zwei,“ Die Wölfe nahmen die Laute des Elfs als Provokation und warfen alsbald jede Rangordnung über den Haufen, „DREI!“ Herz schoss gar noch schneller gen Himmel als Jin, auf den sie während ihres Manövers einen sorgenvollen Blick warf. Schnell erkannte sie, was ihn aufhielt. Er hatte Keean unter den Armen gepackt und ihn mit aller Kraft hochgerissen, die er aufbringen konnte. Es gelang ihm tatsächlich! Er rettete den verletzten Jungen auf diese Weise buchstäblich in letzter Sekunde vor den Werwölfen, die vor Wut jaulend ihrer verlorenen Beute am Nachtimmel hinterher starrten und sich kurz darauf frustriert untereinander in Kämpfe verstrickten, wie es Bestien ihrer Art eben taten, wenn sie die eigene Dummheit um eine Mahlzeit gebracht hatte. „Ich ... Ich kann bald nicht mehr! Lasst uns hier ... rgendwo runtergehen!“, prustete Jin die Worte hinaus, während seine Kräfte schwanden. Er hatte Keean das Leben gerettet, auch wenn ihm das in diesem Moment selbst gar nicht bewusst war. Herz jedoch musste vor Glück weinen. Sie alle hätten im Tal sterben können, Keean schien gar schon verloren, doch auch er hatte letzten Endes überlebt. Die junge Waldelfe wischte sich mit ihren kleinen Händen die Tränen aus dem Gesicht und dankte dem Himmel für ihr Heil und das Wohlergehen ihrer Freunde. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ „Also sind sie uns doch gefolgt! Eva, du weißt, was das bedeutet!“ Unbeeindruckt vom Geplärre des cholerischen Soldaten mit dem lichten, roten Haar zu ihrer Linken, hörte Eva weiter gebannt den Erzählungen Aarves zu. „Sekunde!“, zügelte jener die versammelte Mannschaft, die zum größten Teil wieder in Gemurmel ausbrach. „Ich sagte, ein Schiff wurde gerade zum Ablegen vorbereitet, nicht mehr und nicht weniger.“ Es kehrte vorerst wieder Ruhe ein. „Wir zählten zwölf Blaue, die das Schiff mit ihrem Viehzeug und Vorräten beluden. Ich kannte auch einige von ihnen: Das waren Jäger, Kundschafter, keine Soldaten. Bewaffnet waren sie auch nicht sonderlich schwer.“ „Und wie habt ihr es an Bord geschafft?“, fragte Eva. „Wir haben uns im Laderaum versteckt, als der Zeitpunkt günstig war. Ich sagte ja bereits, die Dunkelelfen fürchten die Menschen nicht, für die sind wir nicht mehr als Nutztiere, sie hätten uns vielleicht bemerkt, wenn wir ein Sauflied angestimmt hätten, aber so? Tz, arrogantes Pack!“ Peter fühlte sich genötigt sich instinktiv nach Reyne umzuschauen, als Aarve aufs Neue über ihre Rasse herzog. Günstigerweise hatte sie sich unlängst entschieden, dem Gespräch nicht länger beiwohnen zu wollen. Der Junge erhaschte nur einen kurzen Blick auf Elmo, der ebenso neugierig wie alle anderen den Ausführungen des Flüchtlings lauschte und dabei entspannt am Rahmen der offenen Türe lehnte. „Als wir ankerten, warteten wir solange, bis wir keinen Mucks mehr aus dem Inneren des Schiffs hören konnten. Dann wagten wir uns langsam ans Oberdeck. Erst dachten wir, wir hätten es geschafft, mussten dann aber leider feststellen, dass die Spitzohren Wachen aufgestellt hatten.“ Also doch nicht so dumm, dachte Peter, und ihm entfuhr affektiv eine etwas zu scharfe Bemerkungen, wie er hinterher fand. „Und die habt ihr dann mal eben überwältigt!?“ Einen Moment lang fühlte sich Peter verteufelt unbehaglich, als ob alle Augenpaare im Raum ihn anstarrten. „Nein, einfach war es nicht“, warf Aarve vorwurfsvoll in den Raum und blickte an seinen geschundenen Körper herunter. Erneut fiel Peter auf, wie mitgenommen der Mann war: Seine Kleidung zerrissen, geronnenes Blut auf dem Stoff. Mittlerweile bekam der Franzose eine Vorstellung davon, was er wirklich hatte durchmachen müssen, um an diesen Ort zu gelangen. „Wir haben sie mit Steinen erschlagen, nachdem wir uns angeschlichen hatten, so gut es uns eben möglich war. Doch waren sie zu dritt, und so konnten wir schlecht alle überraschen. Riordan kämpfte mit dem Übriggebliebenen und ... tja, was soll ich groß erzählen, er ist nicht hier, oder?“ Schweigen, dann erklang erneut Evas Stimme. „Woher wusstest du, wo du uns finden kannst?“ „Hab es auf dem Schiff aufgeschnappt. Das und auch ein paar Geschichten von eurem Angriff und wie sehr die Dunkelelfen die Seefahrt lieben, ha ha.“ Er wollte sich die restlichen Informationen nicht aus der Nase ziehen lassen, und so fuhr Aarve fort, noch bevor ihm die nächste Frage gestellt werden konnte. „Die Spur der restlichen Jäger verlor ich in dem Moment, als ich die Klippen erreichte. Das Gebirge im Osten meine ich, mit dem schönen Ausblick auf diesen Wald hier. Wahrscheinlich sind sie wirklich so gut, wie man es ihnen nachsagt.“ „Oder sie wollen uns gar nicht verfolgen“, warf der Schrank ende Fünfzig ein, den Peter vor kurzem als Nordmann ausgemacht hatte. „Was sie hier auch immer wollen, es wird uns ganz sicher nicht gefallen“, sagte daraufhin ein weit jüngerer, verzweifelt wirkender Zeitgenosse. „Und was tun wir? Wir sitzen hier herum und veranstalten eine verdammte Märchenstunde!“ Die scharfe Kritik warf wieder der Rotschopf ein, der Peter vom ersten Augenblick an unsympathisch war, und obgleich er in Aarves Fall immer mehr eines besseren belehrt wurde, war er sich sicher, dass sich dieser Umstand in Bezug auf diesen schroffen Kerl so schnell nicht ändern würde. Zu seinem Erfreuen nahm Eva das Zepter wie erwartet in die Hand und offerierte ihren Untergebenen einige Vorschläge. „Es war notwendig zu erfahren, was Aarve zu erzählen hatte, Rios, also beruhige dich wieder!“, wies sie den bedeutend älteren Krieger zurecht, dem in sein vernarbtes Gesicht geschrieben stand, was er davon hielt. „Wenn Gardif uns Jäger hinterher schickt, heißt das, er will uns auskundschaften, womöglich um das Risiko eines Vergeltungsschlags seinerseits auszuloten.“ Einige der erfahreneren Krieger rümpften die Nase oder schlugen wütend auf das hölzerne Mobiliar ein. Einer dunkelhäutigen Frau mit braunem, streng anliegendem Haar, entfuhren sogar einige Flüche. Jüngere Ritter starrten mit leerem Blick gen Boden, als hätte ihnen gerade jemand die Nachricht überbracht, mit ihren Müttern ginge es zu Ende. „Ich weiß ... Das sind denkbar schlechte Neuigkeiten, aber wir mussten letzten Endes damit rechen, dass, wenn wir scheitern, Gardif unsere Taten nicht ungesühnt lassen würde.“ „Richtig, aber was jetzt, wo wir wissen, dass uns eine Schar Jäger auf den Fersen ist?“ Eva wusste sofort, worauf der niedergeschmetterte Junge mit dem unschuldigen, makellosen Gesicht, der gerade in ihrem Alter war, hinauswollte. Im schlimmsten Falle wusste Gardif längst alles über Tapion, bestenfalls gar nichts. Was also, wenn der gesamte Sinn ihrer Mission darin bestand, Tapion ausfindig zu machen? So würden Eva und ihre Leute sie direkt ins Herz der menschlichen Zivilisation in Adessa führen, würden sie tatsächlich aufbrechen. Eva war innerlich zwiegespalten, doch wie die Retterin in der Not, schaltete sich plötzlich Reyne in die zerfahren scheinende Diskussionen ein, nachdem sie gänzlich unbemerkt bis nahe an die Gruppe heran geschritten war. „Du sagtest, ihr hättet die Wachen beim Schiff getötet!?“ Ihre Stimme klang so kräftig, so voller Willensstärke, dass die Elfe sofort die Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen Menschen auf sich zog. „W-was macht die Dunkelelfe hier?“, rief Aarve lauthals aus und wich dabei erschrocken einige Schritte zurück, bis ihm ein massiver Eichenholztisch den Weg versperrte. Eva beruhigte ihn mit einem eindeutigen, Einhalt gebietenden Handzeichen. „Sie gehört zu uns! Antworte ihr bitte.“ Sicher würde Aarve auf dieses Thema noch einmal zurückkommen, zu gegebener Zeit. Die Erklärung „Sie gehört zu uns“ stellte ihn doch reichlich wenig zufrieden. Vorerst zeigte er sich nachsichtig mit den seltsamen Marotten seiner Gönner. „J-ja ... und zwar alle!“, sagte er selbstzufrieden. Er prahlte mit dem Mord an ihren Artgenossen, in der Hoffnung, sie damit aus der Reserve locken zu können. Vergebens. „Dann dauert es nicht mehr lange, bis die anderen das herausfinden. Die einzelnen Trupps stehen in ständigem Kontakt zueinander. Sie tauschen Nachrichten mit eigens darauf abgerichteter Turmfalken aus. Per Luftpost, wenn man so will. Bleibt die Antwort aus, ziehen sie sich wahrscheinlich zurück.“ Für Reynes Verhältnisse waren die paar gesprochenen Sätze schon fast eine Kurzgeschichte, und sie war noch nicht fertig. „Es wäre ratsam, ihnen die Rückreise zu verwehren.“ „Sie ihnen zu verwehren? Du meinst ...“ „ ... ihr Schiff versenken, und das unsere zur Sicherheit auch“, unterbrach die souverän auftretende, anmutende Gestalt ihre Anführerin. „So werden wir viel Zeit gewinnen. Noch mehr, wenn wir uns aufteilen.“ Eva fühlte sich keineswegs bevormundet oder in ihrer Ehre angekratzt. Für den gut gemeinten und sinnvollen Rat Reynes, war sie der Elfe sogar sehr dankbar. Nur die Order gab sie lieber selbst. „Sie hat vollkommen recht!“, rief die junge Frau aus und wurde so wieder Zentrum des Geschehens. „Wir werden nach Tapion aufbrechen, komme was da wolle! Unsere Freunde dort brauchen uns. Eure Familien warten auf euch ... Ich werde allerdings eine Gruppe Freiwilliger hier zurücklassen müssen, die den Rückweg erst später antreten werden. Es werden diese Männer sein, die die Sabotage der beiden Schiffe ausführen.“ „Da stecken Monate harte Arbeit drin“, brachte Rios kleinlaut hervor. Er wusste selbst, dass er sich diese Bemerkung hätte sparen können, doch seine Verachtung gegenüber Eva zwang ihn fast schon dazu. „Wir werden es sowieso nicht mehr benutzen. Die Elfenbeinsee zu überqueren ist gefährlich genug, und nach Caims zieht es dich doch auch nicht mehr, oder?“, fertigte Eva ihren Rivalen eiskalt ab. „Falls Gardif einen Angriff planen sollte, hätten wir genügend Zeit uns ausreichend darauf vorzubereiten, um ihm einen echten Kampf liefern zu können. Seine Späher müssen schließlich erst überfällig sein, bevor man nach ihnen schickt.“ „Das klingt logisch, oder besser gesagt: klänge es logisch, wenn Gardif ein rational denkender Me... ihr wisst schon was, wäre.“ Dieser ernüchternde Hinweis kam aus Elmos Mund. „Wenn wir Pech haben, steht Tapion in Flammen, bevor wir angekommen sind und die Jäger wurden nur ausgesandt, um uns in Sicherheit zu wiegen.“ Es war wirklich nicht hilfreich, mögliche Horrorszenarien aufzuzählen, die die Gruppe in der Heimat erwarten könnten. Absolut nicht hilfreich, und genau so fassten die Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Brüder und Schwestern in diesem Raum es auch auf. „Hoffen wir lieber, dass das nicht der Fall ist, Elmo, für uns alle.“ ___________________________________________________________ Den ganzen Weg über hatte Lily versucht dem dickköpfigen Jungen sein Vorhaben wieder auszureden, da sie genau wusste, wie Eva auf dessen Bitten reagieren würde, und sich sicher war, dass die Menschen zwei Elfen auf keinen Fall mit auf ihre Reise nehmen würden. Somit sah das verschlagene junge Ding ihre eigenen Chancen stetig sinken. Ununterbrochen fauchten sich die beiden an, jeder fest auf seinem Standpunkt beharrend. Erst kurz vor ihrer Ankunft brachte es Jin mit einer klugen Frage auf den Punkt, die er in Retour selbst nur sehr ungern beantwortet hätte und sie dem Mädchen deswegen erst so späte stellte. „Was willst du eigentlich wirklich von den Pinkies, huh?“ Wie vom Blitz getroffen verstummte Lily und begann vor Verlegenheit rot anzulaufen, was bei ihrem typisch blassem Teint schwer ins Auge fiel. „Hm, wie ich schon sagte, mit nach Tapion reisen ... Adessa von außerhalb des Waldes sehen. Diese Dinge eben“, stammelte Lily verlegen. Und schließlich geschah, was Jin tunlichst vermeiden wollte. „Und was willst du überhaupt von ihnen, kannst du mir das vielleicht verraten?“ „Nein!“, fuhr Jin ihr patzig in die Parade. „Denn es geht dich nichts an!“ Mit derlei Frechheiten kam bei Lily normalerweise keiner durch, doch ließ sie es sich ausnahmsweise gefallen. Anscheinend hatten beide Elfen ihre Geheimnisse, ein Umstand, der ihre heißblütigen Gemüter zu beruhigen wusste. ... ... ... ... ... ... Mondtal. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit) Herz, Jin und der verletzte Keean hatten sich in einer Höhle hoch oben im Steilhang des Tales verschanzt, die für die Wölfe unerreichbar sein sollte. Sie hatten den Plan geschmiedet dort bis zum Morgengrauen zu verweilen. Am Tag, so hatten die Kinder gehört, verloren Werwölfe einiges an Schrecken. Angeblich verwandelten sie sich dann in weit weniger gefährliche Vierbeiner zurück. Ob diese Geschichte der Wahrheit entsprach? Sie hofften es. Keean war schon fast weggetreten, die Strapazen schienen ihm schwer zugesetzt zu haben. Sein ramponierter Flügel schmerzte zwar nicht, wenn er ihn nicht gebrauchte, doch seine Seele tat es, und es sollte in jener Nacht nicht besser werden. „Hey, pst! Jin, bist du noch wach?“, flüsterte Herz dem ausgelaugten Jungen zu. „Ja, noch. Fühl' mich nur, als wäre ich gerade einer Horde Werwölfe entflohen.“ Herz kicherte, ein wenig zu laut, wie sie dachte, immerhin wollte sie Keean auf keinen Fall wecken. „Genau so war es, mein tapferer Held“, schmeichelte die Waldelfe ihrem Artgenossen. „Du hast mir und Keean das Leben gerettet.“ Jin spielte die Ereignisse der Nacht herunter, stets auf die Lautstärke achtend. „Wie du gesagt hast: Flügel haben die Werwölfe nicht. So war es ja nichts besonderes.“ „Nichts besonderes?“, wieder stieß es laut aus Herz hervor, die sich auf allen Vieren in der engen Höhle jetzt immer näher auf Jin zubewegte. „Ich stand wie angewurzelt da, völlig starr vor Angst. Glaub' mir: Wenn du mich nicht aufgeweckt hättest, mich nicht angesehen hättest, dann wäre ich jetzt nicht mehr am Leben, da bin ich mir sicher. Und Keean? Du hast ihn den ganzen Weg hierher getragen! Mut und Aufopferung ... dafür muss man sich nicht schämen, Jin. Du hast dir die Anerkennung verdient.“ Ihre Worte schmeichelten ihm. Dieses Glitzern in ihren Augen, dessen Urheber er selbst war, rührte Jin fast zu Tränen, die der Elf allerdings eisern zurückhielt. Er genoss diesen Augenblick, weil er seiner besten Freundin in diesem Moment näher war, als je zuvor; auf einer Ebene, die bloße Freundschaft zum ersten Mal weit überschritt. Was für ein Glückspilz er doch war, dass der Impuls obendrein noch von ihr ausging, dem Mädchen seiner Träume. Dann – wie aus heiterem Himmel – küsste sie ihn! Es war sein erster Kuss, ihr erster Kuss, ein erster Kuss. So sanft, so still, so ehrlich und unvergleichlich, dass Jin sich in diesem Augenblick einzig und allein wünschte, er würde niemals enden. Doch er endete: Er gipfelte gar in roher Gewalt. Keean hatte alles mitangehört und alles mit angesehen. Was für Herz und Jin in der Zukunft zu einer der schönsten Erinnerungen ihres jungen Lebens werden sollte, verzerrte die Eifersucht ihres besten Freundes zu einer tiefen Narbe auf ihrer beider Seelen. Wortlos beugte sich Keean über Jins zitternden Körper und zog ein Messer aus seinem Stiefel. Sein Mitbringsel zum Äpfel schälen oder Holzfiguren schnitzen, nie dafür vorgesehen oder erdacht, es gegen einen Freund zu richten. Doch er tat es und riss Jin eine tiefe Wunde in den linken Flügel. Der Junge schrie auf, obschon er den Schnitt kaum spüren konnte. Herz hämmerte und brüllte auf den Attentäter ein, als er zum zweiten mal ausholte, doch Keean nahm sie in seinem Zustand gar nicht wahr, auch nicht, als sie urplötzlich von ihm abließ. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff des Messers so fest er nur konnte und wuchtete den federleichten, doch umso schärferen Stahl über seinen Kopf. Der nächste Hieb würde der letzte sein, dachte Jin. Er konzentrierte sich nur noch auf die Klinge, als Keean schließlich, bitterlich weinend, einen letzten, vorwurfsvollen Satz sprach. „Warum nimmst du mir alles weg?“ Es waren die letzten Worte seines kurzen Lebens. Der schwere Stein, der hart auf seine Schläfe prallte, zerschmetterte dem Waldelf den Schädel. Er war tot, noch bevor er auf dem kalten Fels aufschlug. Diesmal rettete Herz Jin das Leben, aber zu welchem Preis? Die nächsten Sekunden kamen Jin vor wie Tage, Wochen ... drei Jahre ... Auf ihnen sollte sich sein gesamtes Leid begründen. Als er fühlte, das Keean tot war. Als Herz völlig apathisch jeden Lebensmut verlor. Als er ihr in die Augen sah, die ihn zu fragen schienen: Wieso hast du mich nicht gerettet? Als er ihr nicht folgen konnte während sie davon flog. Für immer ... ... ... ... ... ... ... Überrascht mussten Lily und Jin feststellen, dass die Ritter, die noch in Ballybofey hausten, bei ihrer Ankunft schon drauf und dran waren, aufzubrechen. Vor der Taverne sattelten sie ihre Pferde, legten ihre Rüstungen an und bewaffneten sich. Damit, dass die Menschen es so eilig hatten, hatten die zwei Elfen wahrlich nicht gerechnet. „Nun sieh sich das einer an! Die sind ja schon so gut wie verschwunden! Ist das zu fassen?“, fragte Lily ihren Begleiter empört. „Und sie hielt es nicht mal für nötig, mir Bescheid zu sagen“, fügte sie zornig flüsternd hinzu. „Dann sollten wir uns beeilen, nicht wahr?“, antwortete Jin. In seiner Stimme verdeckte einst gefühlte Entschlossenheit jetzt nur noch spärlich immer größer werdende Sorgen. Noch bevor er aussprechen konnte, ergriff Lily den letzten Strohhalm einer Chance und schoss an dem Jungen vorbei auf Eva zu, die gerade zwei jüngeren Männern ihre Aufgaben zuteilte. Ein paar Bruchstücke der Konversation zwischen dem Trio konnte Lily noch auffangen, doch interessierte sie das nicht im Geringsten „Es steht euch frei nachzukommen, wann immer ihr wollt.“ Eva musterte ihre Ritter. „Ich übertrage dir die Verantwortung über die Gruppe, Alain. Ich vertraue euch allen.“ „Verstanden!“, antwortete der junge Mann ehrfürchtig. „Laut Aarve wird das Schiff der Elfen verwaist sein. Seid aber trotzdem auf der Hut!“ Freundlich und zuversichtlich verabschiedete sich die blonde Frau von denjenigen ihrer Männer, die dazu auserkoren waren, den Dunkelelfen ihren Rückweg in die Heimat zu verbauen. Sie bemerkte dabei zunächst nicht, wie ein aufgeregtes, fliegendes Etwas eilig auf sie zusteuerte. Erst die Blicke ihrer Untergebenen machten sie auf das Geschehen aufmerksam. Mit Lily hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Wer hatte da nur wieder geplaudert? Doch bevor sie sich eine Ausrede zurechtlegen konnte, ging die alte Geschichte zwischen den beiden auch schon in die nächste Runde. „Einen wunderschönen guten Morgen“, versprühte Lily ihr Gift mit beißendem Sarkasmus in der Stimme. „Nehme an, ihr geht jagen!? Oder nein, warte ... macht ihr euch etwa heimlich aus dem Staub? Falls ja, solltet ihr dringend üben, wie das gemacht wird, denn es klappt schon wieder nicht!“ Das letzte, worauf Eva jetzt noch Lust hatte, war eine kindische Diskussion mit einer Elfe vor all ihren älteren und vor allem nur zum größten Teil treu ergebenen Gefährten zu führen. Also fasste sie sich kurz. „Was willst du noch?“ Beleidigt keifte Lily zurück, so laut, dass es jeder hören konnte. Peter, der sich an die Elfe noch zu gut erinnern konnte und gerade dabei war, von Elmo im Umgang mit einem ältlichen Hengst unterrichtet zu werden. Seinem Aushilfslehrer selbst, sowie dessen treue Anhängerin, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Aber eben auch Gestalten wie Rios und dessen Sympathisanten, die sich mit ihm unterhielten und nach einer Bloßstellung Evas geradezu lechzten. „Was glaubst du? Ich sagte doch schon, dass ich hier weg will, und deswegen schließe ich mich euch auch an!“ Als wäre das letzte Wort in dieser Sache damit gesprochen, verschränkte Lily, die noch immer einige Zentimeter über dem Boden schwebte, um auf Augenhöhe zu sein, die Arme vor der Brust. Sie nahm ihre typische Abwehrhaltung ein. „Du träumst wohl?“ Eva lachte über die sture Waldelfe, weil sie ihre Querelen mittlerweile einfach nicht mehr ernst nehmen konnte. „Was bitte ist so komisch daran, huh? Ihr marschiert doch nur nach Tapion, was ist schon dabei, mich mitzunehmen?“ „Erstens ist Adessa jenseits dieses Waldes nicht das paradiesische Fleckchen Erde, für das du es vielleicht hältst.“ Es begann einmal mehr eine Belehrung zu werden. „Wieso bist du nur so wild darauf, dein Leben zu riskieren, Lily?“, fragte die Ritterin, als würde sie etwas wittern. „Zweitens haben wir einige Dunkelelfen dicht auf den Fersen, auch wenn dich das eigentlich gar nichts angeht.“ Evas Blick schweifte vom zornigen Gesicht der Elfe ab und begegnete kurz darauf dem sich nähernden Elfenjungen, dessen Profil sie mühsam versuchte, einen Namen zuzuordnen. „Du hast dir Verstärkung mitgebracht?“, zeigte sich die Kriegerin verwirrt. Lily antwortete nicht, sie wollte sehen, wie sich Jin schlagen würde, bei dem Unterfangen, Eva davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, ihn mitzunehmen. Entschlossen näherte er sich der Frau, die jedoch unbeeindruckt davon begann ihr Pferd zu satteln. „Eva, ich ...“ Natürlich hörte sie ihn, ließ sich jedoch von ihrer Arbeit nicht abbringen. Es half der Entschlossenheit Jins nicht weiter. „I-ich will mich euch anschließen!“, gab er schließlich doch noch von sich. „Na sieh mal einer an! Und deine Komplizin am besten noch dazu, nicht wahr?“, fuhr Eva den mageren Elfenjungen an, ohne ihn dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. „Sie gehört nicht zu mir“, versicherte Jin. „Und ich verlange ja auch nicht, dass ihr mich mit euch nehmt. Ich bitte lediglich darum.“ Eva grinste. „Hörst du, Lily? Ein bisschen Höflichkeit würde dir auch nicht schaden.“ Die folgende Geste der Elfe war unmissverständlich. „Hör dir bitte wenigstens an, was ich zu sagen habe, ja?“ Jins Stimme klang aufrichtig und ehrlich. Falls diesem Jungen etwas auf dem Herzen lag, gebot es Eva schon der Anstand, ihn anzuhören. Für kurze Zeit, ließ sie von der kastanienbraunen Stute ab, und wandte sich dem Jungen zu. „Also?“ Einen Augenblick lang zögerte Jin. Er wusste, dass er nur eine Chance hätte, wenn er ehrlich zu der blassen Frau war, die in ihrem noch jungen Leben schon so viel Leid hatte ertragen müssen. Doch gerade in diesem Punkt waren sich die zwei sonst so unterschiedlichen Personen sehr ähnlich. „Vor einiger Zeit – du kennst die Geschichte vielleicht – starb ein guter Freund von mir und eine Freundin lief davon.“ In der Tat war Eva diese Geschichte bekannt. Nun konnte sie dem Jungen auch endlich einen Namen zuordnen. „Das war vor mehr als drei Jahren. Keiner hat sie seither wiedergesehen. Sie verschwand spurlos und galt irgendwann als verloren. Ihre Eltern und die anderen mögen sich damit abgefunden haben, dass sie tot ist, ich aber will Gewissheit.“ Eva verschlug es glatt die Sprache. Das war tatsächlich ein ernstes Anliegen, und Jin war noch lange nicht fertig. „Versteh' mich nicht falsch: Ob nun mit oder ohne euch, ich werde gehen! Doch bin ich nicht dumm. Mir ist bewusst, wie meine Chancen ganz allein da draußen stehen, deswegen wäre es mir lieber, an eurer Seite zu reisen.“ „Wir haben eine feste Route, der wir folgen, eher unwahrscheinlich ...“ „Ist mir egal, den Versuch ist es mehr als wert!“ Eine schöne Bescherung, denn Jin meinte ernst – todernst – was er sagte. Einige elendig lang erscheinende Sekunden schwiegen alle Beteiligten, dann zog Lily die Schlinge, die sich langsam um Evas Hals legte, immer enger. „Ihn lasst ihr doch auch nicht hier, oder?“, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf Peter, der seit geraumer Zeit dieses kleine Drama aus der Ferne beobachtete. Er war nicht der Einzige. „Er ist ...“ „Einer von euch, wissen wir! Und wir wissen auch, dass es in Tapion keine Elfen gibt. Wen interessiert das? Wir wollen schließlich hier weg. Außerdem werdet ihr mit der da,“ Lily nickte kurz in Richtung Reyne, die, wie fast die gesamte Mannschaft, schon länger bereit war, aufzubrechen, „weit mehr Probleme haben, als mit uns.“ „Reyne macht keine---“ Entnervt gab Eva es auf, sich zu erklären, noch bevor sie richtig damit anfangen konnte. Sie gab sich letzten Endes geschlagen. „Fein! Ihr wollt also den sicheren Hafen verlassen und euer Leben riskieren? Eure Entscheidung! Aber sorgt dafür,“ Nun wanderte ihr durchdringender Blick zu Lily, „hier niemandem zur Last zu fallen! Sollte irgendwas sein, wendet euch an mich, ausschließlich an mich, alles klar?“ „Ja.“ - „An wen sonst, hi hi?“ Bedient schwang sich Eva auf ihr Pferd und musterte die Elfen aufmerksam, dann orderte sie das Tier mit leichten Sporentritten in die Weichen an, sich zum Zentrum des Weges zu begeben, der in schwachem Kontrast zum Dickicht den Pfad aus dem Wald wies. Der kräftige, nordisch anmutende Mann, der in der Taverne des Öfteren das Wort ergriffen hatte, gesellte sich alsbald zu ihr. „Und was hat es damit auf sich?“ Sofort war der Anführerin klar, dass er die beiden jungen Elfen meinte, die sich in geringem Sicherheitsabstand an sie gehängt hatten. „Frag lieber nicht, Lester, frag lieber nicht“, seufzte das Mädchen, das in Gesellschaft des riesigen ergrauten Kriegers wie ein kleines Kind wirkte. „Da hab ich uns ja wohl den Hintern gerettet, was Kleiner?“ Kleiner, so stichelte Herz früher gern gegen Keean und ihn. Und auch sonst, so fühlte Jin plötzlich, waren sich Lily und Herz verblüffend ähnlich. Allerdings konnte er das selbstverliebte Gehabe des strubbeligen Plappermauls im Moment gar nicht gebrauchen, und so wies er sie ganz nüchtern in die Schranken. „Machst du Witze? Eva hätte dich an einem Baum festgebunden, wenn ich nicht gewesen wäre.“ „Huh? Pff! Was fällt dir eigentlich---“ Doch Jin war längst aus Hörweite verschwunden. Lange Zeit, beleidigt drein zu schauen, sollte Lily nicht haben, da ihre einst beste Freundin nach einer raschen Zählung ihrer Leute die Gruppe anwies, aufzubrechen. Und so setzte sich die Karawane in Bewegung. Vor ihnen lag eine lange, mühsame Reise voller Gefahren. Eva, Elmo, Reyne, Lester und die anderen Ritter hatten diese schon häufig hinter sich gebracht und wussten daher, was sie erwarten würde. Für Peter, Aarve und die zwei Waldelfen Lily und Jin war es das erste Mal. Letztere verließen Ballybofey aus persönlichen Gründen, die für die beiden schwer genug wogen, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Peter war erst seit so kurzer Zeit in Minewood, dass ihm der Weg auch dieses Mal vorgegeben wurde. Was würde ihn wohl außerhalb des riesigen Waldes erwarten? Was noch? Er war nervös, auch, weil er kein guter Reiter war, und ihm Reyne ein eigenes Pferd anvertraut hatte – ihr Pferd-, was ihn zwar in gewisser Weise mit großem Stolz erfüllte, andererseits jedoch auch mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht vor diesem erhabenen Wesen, dem er fortan eine größere Last sein würde, als die gertenschlanke Schönheit es war. Seitdem er durch das Portal geschritten war, kam er nicht zur Ruhe. Bisher stürzte er von einem Abenteuer ins Nächste, und auf die meisten davon hätte er gerne verzichtet. Wieso um alles in der Welt er einer Gestalt wie Neil Vertrauen geschenkt hat, und ihn sein gesunder Menschenverstand zu jener Zeit nicht Einhalt gebot, nagte noch immer stark am Selbstbewusstsein des Franzosen. Auch wenn sie ihn nicht zufrieden stellte, musste er sich jedoch eingestehen, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Für Julie wäre er wahrscheinlich auch in den Höllenschlund herabgestiegen. „Julie“, entfuhr es Peter unbewusst. „Hast du was gesagt?“ Eva holte ihn aus seinen Tagträumen. Sie trabte jetzt dicht neben ihm, am hinteren Ende der Gruppe, um einen guten Überblick über ihre Kameraden zu haben. Jin und Lily – noch zu Fuß – bewegten sich jeweils zu ihrer Rechten und Linken. Es war jedem auf den ersten Blick ersichtlich, dass sich die beiden nicht gut riechen konnten. „Ich dachte, ich hätte Julie verstanden.“ Peter wurde auf der Stelle hellhörig. „Sagt dir der Name etwas?“, fragte er aufgeregt. „Sollte er das?“ Die kurze, hoffnungsvolle Hochstimmung des Franzosen verzog sich wieder, und er richtete seinen Blick erneut in Richtung Ungewissheit. Seine Enttäuschung konnte er nicht verbergen. „Nein ... wahrscheinlich nicht.“ Machtstreben ------------ Kapitel 9 – Machtstreben Vierzehn Seelen durchquerten bei Wind und Wetter die Wälder. Viele von ihnen waren Peter Dirand noch völlig unbekannt, denn bisher hatte sich kaum die Möglichkeit ergeben, sich ihnen feierlich vorzustellen. Es war schließlich nicht einmal eine Woche her, dass er dem gerissenen Zwerg Neil auf den Leim ging und sich von ihm einreden ließ, in die Dunkelheit hinab zu schreiten. Eine Tat, die er noch lange Zeit bereuen würde, soviel war dem Franzosen sicher. Einen Sturz sowie den zwangsläufig folgenden, schmerzhaften Aufprall später, fand er sich in dieser fremden Welt wieder. Minewood ... Wahrlich kein Ort der Gastfreundschaft, auch wenn die Elfen hier in Ballybofey ihren dunkelhäutigen Namensvettern glücklicherweise nicht im Entferntesten ähnelten. Anfangs, als er gejagt und schließlich eingefangen wurde, fürchtete Peter vor allem um sein eigenes Leben. Dann, in der Festung, in die ihn seine Unterdrücker verschleppten und wo er fortan gegen seinen Willen festgehalten wurde, sorgte er sich mehr um das eines jungen Mädchens, der dasselbe Schicksal zuteil wurde. Heute, inmitten so vieler geplagter Seelen, hatte er seit seiner Ankunft zum ersten Mal die Zeit gefunden, ausgiebig über seine Lage nachzudenken. Mit wem war er unterwegs? War es die bloße Tatsache, dass er anderen Menschen begegnet war, warum er sich der Gruppe anschloss, ohne je deren Absichten zu hinterfragen? Zweifelsohne war ihm die Gesellschaft der Frauen und Männer hier lieber, als die der Dunkelelfen in Gardifs Festung, doch sicherer fühlte er sich deswegen nur bedingt. Stets mit dem Wissen im Hinterkopf verfolgt zu werden und auf der Fahndungsliste einer ganzen Rasse zu stehen, drehte sich dem Jungen der Magen um, wann immer er diese Art Gedanken aufkeimen ließ. Möglicherweise wäre es in seiner Situation eine nachvollziehbare Reaktion gewesen, Hoffnung und Halt zu verlieren, doch Peter war fest davon überzeugt, dass eine Möglichkeit existierte, wieder nach Hause zurückzukehren. Es musste einfach so sein; und er würde den Weg finden! Dieses Ziel vor Augen zu haben, bewahrte ihn vor dem Abgleiten in die Resignation, die wie ein Tumor in seinem Unterbewusstsein lauerte. Schließlich gab es noch Eva, seine Bezugsperson unter so vielen Fremden. Elmo, Reyne – auch mit ihnen hatte er sich binnen kurzer Zeit anfreunden können, zumindest hoffte er, das richtig einzuschätzen. Fast im Reflex wanderte sein Blick abwechselnd zu ihnen herüber. Eva war stets in Bewegung. Sie ritt von einer Seite der Karawane zur anderen um stets einen Überblick über die Moral der Gruppe zu haben. Sie war eine außergewöhnliche Person. Mit achtzehn Jahren sogar jünger als Peter und dennoch eine echte Anführerin. Ihre eigenen inneren Dämonen, mit denen sie zu kämpfen hatte, verdrängte sie gekonnt, um sich als vor ihren Mitstreitern keinerlei Blöße zu geben. Sie heiterte die jüngsten unter ihnen schon fast mütterlich auf, hörte den ältesten gebannt zu, wann immer sie das Wort ergriffen und bot dem Quartett um den verschlagenen Rotschopf Rios herum schweigend die Stirn, wann immer ihre Nähe die regen Gespräche innerhalb des Grüppchens urplötzlich verstummen lies. Die schweigsame Dunkelelfe Reyne wich, nachdem sie Peter in einer freundlichen und ungemein großzügigen Geste ihr Pferd für die Reise überließ, ihrem Mentor Elmo nicht von der Seite – gemeinsam auf dem kräftigen Rücken des stattlichen, rostbraunen Hengstes gesattelt. Allein die bisher absolvierte Strecke zu laufen, hätte Peter – so musste er sich eingestehen – längst die letzten Reserven gekostet, und der Elfenwald um Ballybofey lag noch immer nicht hinter ihnen. Die Ausmaße dieses Biotops waren kaum fassbar. Umso erstaunlicher erschien ihm die Leistung der beiden Elfen, die sich unerwartet und zum Ärgernis Evas kurz vor der Abreise der Karawane angeschlossen hatten. Seit der ersten Minute schwirrten sie mal links, mal rechts von ihm, in jedem Tempo, das die Reiter vorgaben, unbehelligt mit der Karawane mit, ohne sich dabei merklich zu erschöpfen. Das gelblich-weiße Schimmern ihrer Flügel faszinierte den Franzosen. Sie sonderten bei heftigeren Flügelschlägen eine Art Goldstaub ab, der in Peter verblasste Erinnerungen an einige fantastische Märchen weckte. „Etwas Wasser?“, unterbrach seine Gedankengänge eine Frauenstimme zu seiner Rechten. „Ich dachte, du könntest was vertragen.“ Da er schon seit geraumer Zeit kein Wort mehr mit jemandem gewechselt hatte, überraschte ihn die Annäherung der Fremden ein wenig, doch ihr Angebot konnte und wollte der Junge nicht abschlagen. Sie bot ihm ihre in raues, dunkelbraunes Leder gehüllte Feldflasche. „Danke ...“ „Viola“, half die hübsche Frau ihm auf die Sprünge. „Und du bist Peter, wenn ich das richtig mitbekommen habe, nicht wahr?“ „Ja, Volltreffer.“ Der Junge versuchte witzig zu klingen, wusste aber, dass sich seine neue Bekanntschaft das schelmische Kichern aus purer Höflichkeit entrang. Sie war eine wirklich faszinierende Frau. Die einzige Farbige in der Gruppe. Ihre karamellbraune Haut hob sich nur leicht vom eher rötlich braunen Leder ihres hautengen Ganzkörperanzugs ab, den sie anstatt einer Rüstung trug und einer abgespeckten Variante eines Motorradanzugs verteufelt ähnlich sah. Bis auf die Elfen und dem erst kürzlich dazu gestoßenen Flüchtling, war sie auch die einzige, die so außergewöhnlich gekleidet war. Ihr pechschwarzes Haar reichte nicht ganz bis zu ihren Schultern und war streng mit einer Art Gel – hier sehr wahrscheinlich nach eigenem Rezept hergestellt – zurückgestrichen. Dementsprechend feucht und zusätzlich düster wirkte ihr Schopf. Ihr Gesicht war dank der Frisur gänzlich einzusehen und Peter gefiel, was er sah. Er hatte es mit einer hübschen, auf ihr Äußeres bedachten Frau zu tun. Sogar unter diesen widrigen Umständen gelang es ihr, die Zeit für solch banal erscheinende Dinge, wie dem Zupfen ihrer Augenbrauen oder dem Auftragen eines dezenten, hellbraunen Lippenstifts zu finden, was Peter imponierte und den Eindruck der Mannigfaltigkeit ihres Charakters stärkte. „Du hast Eva schon kennen gelernt, richtig?“, fragte sie, ohne zunächst den geringsten Verdacht zu erwecken, etwas im Schilde führen zu können. „Ja, ein wenig. Eine bemerkenswerte junge Frau!“ Die Schmeichelei war zwar völlig ernst gemeint, doch wunderte sich Peter kurz darauf, wie spielend ihm das Kompliment über die Lippen ging. „Zweifelsohne“, erwiderte Viola, und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Das ist sie. So jung und schon so viel Verantwortung auf den schmalen Schultern. Sie ist wahrlich nicht darum zu beneiden, findest du nicht auch?“ „Hm, da bin ich wirklich überfragt. Wie gesagt, kenne sie noch nicht sonderlich gut, aber, ja, es ist schon merkwürdig, dass ausgerechnet sie die Soldaten anführt.“ Hörte er sich da eben wirklich Eva hinterfragen? „Allerdings wird es schon seine Gründe haben. Gute Gründe, da bin ich mir sicher.“ Viola ritt jetzt dicht an Peters Seite, durchgehend ein sympathisches Lächeln auf den Lippen. Peter fühlte sich vom ersten Moment an wohl in ihrer Gesellschaft. „Es ist ihre Mutter, weißt du?“ Natürlich tappte er völlig im Dunkeln. „Oder besser gesagt: Sie war es, die ihr das hohe Ansehen verschaffte.“ Viola klang jetzt nicht mehr sonderlich freundlich, da sie begann über Evas Vergangenheit zu erzählen. „Lara. Sie war eine echte Heldin, machte sich in vielerlei Hinsicht verdient für die Menschen in Minewood. Ob es nun die Beziehungen zu den Waldelfen, Tapion oder den Aufbau eines Heeres anging.“ Peter lauschte interessiert den Ausführungen der Frau. Wohl, war ihm dabei jedoch nicht mehr. „Leider besiegte der sehnliche Wunsch nach Rache ihre Vernunft eines Tages, und sie zog aus, Gardif auf eigene Faust zur Strecke zu bringen.“ Viola hielt einen Moment lang inne. „Sie kam nie mehr zurück. So wie viele unserer Freunde bei unserem Angriff vor kurzem, fand auch sie den Tod auf Caims, einem Ort, auf den Menschen meiner Meinung nach nie hätten einen Fuß setzen sollen. Natürlich haben die meisten keine Wahl.“ Wollte Viola darauf hinaus, dass Eva für das Fiasko auf Caims verantwortlich war? Ein schwerer Vorwurf, zumal Peter insbesondere der blutjungen Kriegerin sein eigenes Leben zu verdanken hatte. „Siehst du, Lara war bewusst, dass ihre Chancen äußerst schlecht standen. Selbst wenn es ihr gelungen wäre“, erwähnte Viola noch beiläufig, als wollte sie nur fürs Protokoll noch einmal festhalten, dass Evas Mutter scheiterte, „so hätte sie es nie mehr zurück geschafft aus Vyers.“ In diesem Moment streifte Peters Blick Elmo, der zwar in einiger Distanz zu ihm ritt, dem die Annäherungsversuche Violas jedoch nicht entgangen waren. Als der Franzose bemerkte, dass er beobachtet wurde, blieb seine Aufmerksamkeit an dem Ritter haften. Elmo schüttelte langsam und bedächtig den Kopf, wohl wissend, dass Peter ihm zusah. Der Junge verstand sofort, wie die Geste gemeint war. Auch Viola entging es nicht. „Wer sich nach Caims vorwagt“, flüsterte sie in Peters Ohr und war sich seiner Aufmerksamkeit ein letztes Mal sicher, „muss damit rechnen, dort auch sein Leben zu lassen. Eva weiß das besser als jeder andere.“ Sie lächelte Peter nachdenklich an. Weiter wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht gehen – es lieber seinen kombinatorischen Fähigkeiten überlassen, zu entziffern, worauf sie hinauswollte. „Falls du in Zukunft plaudern willst, oder dir mal etwas auf der Seele liegt, findest du mich bei den Herrschaften dort drüben.“ Mit dem rechten Zeigefinger wies sie Peter die Richtung zu ihren Kumpanen, als würde sie ihm eine Visitenkarte aushändigen. Ähnlich vielsagend war es allerdings auch. Den bulligen Rotschopf in der Mitte des Trios hatte er noch gut von seinem Gezeter in der Taverne in Erinnerung. Kein Zweifel, was sie mit dieser ganzen Aktion beabsichtigte. Sie wollte das Frischfleisch weich klopfen und auf die Seite der Opposition lotsen. „Ich komm' drauf zurück“, entgegnete Peter der Frau gereizt. Am liebsten hätte er Viola gehörig auflaufen lassen, so niedergeschlagen war er, wie sehr ihn sein erster Eindruck von ihr getäuscht hatte. Dieses intrigante Verhalten entzog sich völlig dem Verständnis des Jungen. Noch bevor ihn sein Temperament dazu verleiten konnte, etwas Dummes tun, hatte sie längst das Weite gesucht. Was ihn jedoch am meisten störte, war, dass Viola mit ihrem Denkanstoß ihr Ziel tatsächlich erreichen konnte. Die Zweifel wollten nicht versiegen. ___________________________________________________________ Zielstrebig und ausdauernd waren die Wanderfalken, die sich ihren Herren so bedingungslos ergaben, wenn es denen erst gelungen war, ihre wilde Natur zu brechen. Ihrem ausdruckslosen Mienenspiel war nur schwerlich zu entnehmen, wie es dabei um ihre Gefühle bestellt war, welche die Herrin dieses besonderen Exemplares ihrem gefiederten Verbündeten zweifelsfrei zugestand. Doch konnte man wohl die Behauptung aufstellen, dass einem wilden Tier, das sich einem anderen völlig ergab, ein tragender Bestandteil seines Wesens abhanden ging. Verloren sie erst einmal diesen wilden Teil ihrer Seele, blieb er das auch, was die stolzen Vögel letztlich zu solch treuen Nutztieren der Dunkelelfen machte. „Schaut, wer wieder hier ist!“ Es ärgerte Leiria, dass ausgerechnet Sang als erstem die Rückkehr des Falken auffiel. Nur Sekunden später landete das Wesen auch schon auf ihrem ausgestreckten linken Arm, den sie für derlei Manöver mit einem Handschuh aus braunem Leder schützte; so dünn, dass man daran gut das von Vertrauen geprägte Verhältnis zwischen der Dunkelelfe und ihrem Haustier ablesen konnte. „Und?“ „Du wirst dich schon eine Sekunde gedulden müssen, Sang.“ Mit jedem Wort, das von dem jungen Kerl in Richtung Braja und Leiria abgesondert wurde, schwangen Spitzen und negative Emotionen mit. Mal überwog die eine, mal die andere. Im Moment war es wohl vor allem Langeweile. Leiria rollte einen Zettel braunes Pergament auf, der um das Bein des Falken geschlungen war. Keine zehn Sekunden später, verbreitete sie die darauf geschriebene Kunde. „Bis zu dieser Stunde müssten sie die Hälfte des Weges hinter sich gebracht haben und werden jetzt rasten.“ „Gut, wir werden es ihnen gleich tun!“, befahl Braja daraufhin. „Na endlich! Ich glaub' mein Vieh hätte es auch nicht mehr lang gemacht“, beschwerte sich Sang über den minderwertigen Zustand seines Guris. Besorgt um dessen Gesundheit war er sicherlich nicht, viel eher, den Rest des Weges zu Fuß hinter sich bringen zu müssen, oder, was er als weitaus schlimmere Strafe empfunden hätte, zusammen mit einer seiner verhassten Kolleginnen. Seine Kritik rief Leiria auf den Plan, die das abscheuliche Tier sofort näher unter die Lupe nahm, mit einer Hingabe die den Reiter regelrecht anwiderte. „Hm, es braucht dringend Wasser. Etwas zu Fressen wäre auch nicht verkehrt.“ Sie wandte sich vorwurfsvoll an ihre ältere Freundin. „Wird es bekommen, keine Sorge!“, versicherte sie. „Ich sagte doch, wir machen hier Halt.“ Mütterlich streichelte Leiria dem Wesen die runzlige, verbeulte Stirn. Ein Zeichen der Zuneigung, das dem Tier ein warmes, nasales Schnaufen abrang. „Eine Ration extra würde ihm sicherlich helfen ...“ Natürlich konnte Sang über so einen Ratschlag nur lachen. „Ja, richtig! Und wie kommen wir über die Runden? Prioritäten meine Liebe, Prioritäten!“ Leiria schüttelte nur den Kopf über die Ignoranz des jungen Mannes und griff selbst in die Tasche an ihrer Hüfte um ein nicht mehr wirklich frisches Stück geräucherten Fleisches hervor zu holen, welches das Tier ihr schon aus der Hand riss, bevor sie es ihm richtig anbot. Den streng riechenden Speichel des Tieres, den es dabei auf Hand und Unterarm der jungen Frau absonderte, wischte sich Leiria ohne auch nur das geringste Anzeichen von Ekel im feuchten Gras ab. „Das schmeckt dir, nicht wahr?“, fügte sie ihrer großzügigen Geste bei und tätschelte dem kleinen Drachen die lange Schnauze. „Wir haben mehr als die Hälfte des Weges hinter uns gebracht, eine beachtliche Leistung.“ Bei der Verteilung des Lobes blickte Braja in Sangs Richtung, als fehlte bei ihrer Aussage noch das „Trotz allem“. Er winkte ab, und schloss die Augen. „Sobald die Nachricht vom Hafen eintrifft, geht es für uns weiter. Ruht euch also gut aus, der schwierige Teil steht erst noch bevor.“ „Was soll so schwierig daran sein, ein paar dumme Menschen auszuspionieren?“ „Zum Beispiel nicht entdeckt zu werden!“, konterte Leiria scharf. „Vor allem mit dir im Schlepptau!“ Das einzige was Sang an der blutjungen Jägerin zu schätzen wusste, war ihr Temperament. Zumindest konnte er dadurch stets einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nachgehen. Sich zu streiten. ___________________________________________________________ In der anbrechenden Nacht würde sich ein seit fast vierundzwanzig Stunden gehegter Wunschtraum Peters erfüllen. So lange waren die Männer und Frauen nämlich schon unterwegs und wenn sie auch nicht zu Fuß marschieren mussten, fühlte sich der Junge trotzdem so ausgelaugt wie nach einem Marathonlauf quer durch Marseille, welchen er vor einigen Jahren tatsächlich absolviert hatte. Die Erinnerung an die damaligen Strapazen taten ihr Übriges. Der Wunsch, der ihm schon bald erfüllt werden sollte, war das Aufschlagen des längst überfälligen Nachtlagers. Die Ritter ließen sich ihre Erschöpfung zwar nicht anmerken, waren aber sicherlich ähnlich froh über die bevorstehende Ruhepause, welche die Führerin dieser Karawane vor einigen Minuten angekündigt hatte – ungefähr zu dem Zeitpunkt, als man endlich den Rand des gigantischen Waldes vollends aus den Augen verloren hatte, woran Peter noch immer nicht so recht glauben mochte. Erstaunt war er über das Durchhaltevermögen Jins, dem Elfenjungen, der nach wie vor mit den Flügeln schlug, als kostete ihn das nur ein müdes Lächeln. Bei genauerer Ansicht bemerkte man jedoch, dass die Betonung mehr auf müde, als auf Lächeln liegen musste. Lily, seine Artgenossin, hatte sich schon vor Stunden ins Land des Schlummers verabschiedet und dabei einen Platz auf dem Rücken des Pferdes ergattert, das den jüngsten der Ritter trug, von dem sie keine Widerworte zu befürchten hatte. Nun schlief sie tief und fest an des Mannes Rücken gelehnt, der ob dieser kleinen Anmaßung tatsächlich eher peinlich berührt war, sich aber einfach nicht traute, das junge Ding zu verscheuchen. Einen Moment lang wunderte sich Peter, wieso sie sich nicht an ihn heran geschmissen hatte, immer im Hinterkopf, wie ihre erste Begegnung verlaufen war. War sie ihm böse oder einfach nur zu müde? Und was zum Teufel kümmert es dich eigentlich, dachte er. „In Ordnung.“ Eva hob die linke Hand in die Höhe und stoppte die Bewegungen ihres Rosses. „Zeit für eine Pause.“ Die meisten verstanden diese Äußerung als Kommando von den Pferden hinabzusteigen und sich an die Arbeit zu machen. Sogar Peters neue Bekanntschaft Viola, so konnte er aus der Distanz feststellen, ließ sich nicht zweimal bitten. Nie im Leben, hätte er sich der kleinen Splittergruppe um Rios angeschlossen, auch wenn es die zweite Hälfte des Weges durchaus angenehmer gestaltet hätte, ein wenig Gesellschaft zu haben. Eva kümmerte sich in erster Linie um die Führung der Leute und sprach kaum mit ihm. Elmo und Reyne brauchten und nutzten die viele Zeit, um untereinander sparsam Worte zu wechseln. Die Anderen kannte er gar nicht. „Peter!“ Wie auf Knopfdruck begann ihm just in diesem Moment wieder jemand Beachtung zu schenken. Es war Eva, die ihm aus einigen Metern Entfernung zurief, was er als nächstes zu tun hatte. „Siehst du die Tasche zu deiner Rechten?“ Er sah und spürte sie. Das klobige Gepäck hatte ihm schon die ganze Zeit über in den Oberschenkel gestochen, während der holprige Gang des stämmigen Schimmels Riemen und Sattel langsam aber stetig in sein Fleisch drückte. „Ja, sehe ich.“ „Alles was du brauchst, befindet sich darin“, versicherte ihm die junge Frau. „Such dir einfach einen freien Platz in der Nähe und schlag dein Zelt auf!“ „Jawohl ...“, murmelte Peter vor sich hin während er kurz nickte, um der Dame zu signalisieren, dass er alles verstanden hatte. Der sperrige Beutel erinnerte den Franzosen an seine erste Reisetasche, die ihm seine Mutter noch zu Lebzeiten anlässlich eines Schulausflugs geschenkt hatte. Die war zwar knallrot gewesen und sicher nicht annähernd so groß, doch das letzte Mal, als er das alte Ding unter seinem Bett im guten alten Marseille hervorgeholt hatte, wirkte sie noch auf ihn, wie die, die er nun in den Händen hielt. Wie befohlen suchte sich Peter einen freien Platz nahe – doch in sicherem Abstand – der Anderen. Er entschied sich für den Fuß eines kleinen grasbewachsenen Hügels, wo ihm ein Bäumchen – mehr war dieses Exemplar nicht – ein wenig Schatten spenden würde, wenn die Sonne in der Früh wieder aufging. Der Elfenwald nahm das gesamte Blickfeld gen Süden ein. Im fernen Norden erkannte Peter massive Gebirgsformationen. Er hoffte dabei inständig, diese nicht aus der Nähe erkunden zu müssen. „Na, was versteckst du noch?“ Es war an der Zeit, das Gepäck zu durchsuchen, das ihm eigentlich gar nicht gehörte. Ein Blick in die Runde reichte aus um zu wissen, wonach er Ausschau halten musste. Die Ritter bauten in Windeseile kleine Ein-Mann-Zelte um sich auf. Nichts außergewöhnliches, aber auch nichts, was man auf der anderen Seite unter Gartenzubehör im Katalog finden würde. Der praktische Nutzen ging vor. Keine zwei Minuten nachdem Peter die Stoffplane und alles nötige Zubehör aus der Tasche hervorzaubern konnte, hätte er sich allerdings gewünscht, das Aufstellen eines simplen Zeltes fiel in die Kategorie Raketenwissenschaften, dann hätten seine Bemühungen sicher weniger kläglich gewirkt. „Kommst du klar?“, erschrak ihn eine schläfrige Frauenstimme. „Ich ...“ Peter schwenkte den Kopf und sah Lily einige Zentimeter über den Boden flattern. Sie war, ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, wohl gerade erst aufgewacht. „Was machst du denn hier?“ „Na ja ...“ Lily machte keine Anstalten ein lautes Gähnen zu unterdrücken, oder die Hand vor den Mund zu nehmen. „sieht doch so aus, als könntest du ein bisschen Hilfe gebrauchen.“ „Es ist nur ein Zelt! Das kriege ich wohl hin“, wiegelte Peter gereizt ab. „Huh, warum gleich so angefressen? Ich biete dir doch nur ein Paar helfende Hände an! Aber wer nicht will der ...“ „Ist ja schon gut“, gab Peter nach „Pack einfach mit an, dann hab ich's hinter mir. Könntest du das Ende dort!?“ In einiger Entfernungen nahmen Eva und ihre Kameraden das Schauspiel amüsiert zur Kenntnis. Die junge Anführerin hatte mit Elmo, Reyne, Lester und den beiden Jungspunden der Gruppe, die zumeist demütig schweigsam daherkamen, das Gros des Trupps um sich gescharrt. Unbehagen bereitete ihr weniger die Einzelgänger Attitüde, die Peter in dieser Nacht an den Tag legte, sondern eher Rios und seine Anhänger, die sich plakativ in weiter Entfernung von den anderen abkapselten. Zudem schienen die Zweifler an Evas Person in Aarve Zuwachs bekommen zu haben. Das sich die ganze Sache mittlerweile so verquer entwickelte, spiegelte sich in Besorgnis im Gesicht der jungen Frau wieder. „Lass die nur predigen, Eva. Sie werden bald merken, dass sie falsch liegen, da bin ich mir sicher. Rios mag zwar manchmal ein echter Dreckskerl sein, aber ein Verräter? Niemals.“ „Danke Lester, lieb von dir“, antwortete Eva und nahm sich vor, seinem Rat zu Folgen und keine Gedanken mehr an die Außenseiter zu verschwenden. „Zerbrich dir nicht den Kopf wegen denen! Querulanten gab es schon immer und wird es immer geben.“ Wann der alte Mann auch sprach, Eva war stets ganz Ohr. Lesters Ratschläge waren Gold wert, das wusste sie, und wenn er ihr empfahl sich nicht den Kopf zu zerbrechen, dann würde sie das auch nicht tun! „Das junge Glück da drüben ist sowieso ein viel interessanterer Anblick, meinst du nicht auch? Ha ha ha!“ Ob Lily und er Grund des allgemeinen Gelächters im Camp waren, konnte Peter zwar nicht mit Sicherheit sagen, doch so naiv es auszuschließen, war der Junge definitiv nicht. Auch der letzte Bolzen ankerte schlussendlich tief im Erdboden, sodass die erwartete Tortur ausblieb. Eine wirkliche Hilfe war Lily dabei nicht gewesen. „Wie kann man sich nur so ungeschickt anstellen?“, verhöhnte sie Peter. „War ich jemals Zelten?“ Er war es! Wie sich der Junge leider eingestehen musste. „Diese primitiven Gestänge unterschreiten einfach meine Auffassungsgabe! Eine Bedienungsanleitung wäre hilfreich gewesen!“ „Himmel ... könnte ich jetzt einfach meine Ruhe haben? Mir fallen schon die Augen zu.“ „Deine Ruhe?“ Wahrlich grotesk, das aus dem Mund der aufgekratzten Waldelfe zu hören, deren zerzauste, schwarze Haare, die sie gewiss ständig derart wild zu tragen pflegte, den Eindruck der Müdigkeit verstärkten. „Wie meinst du das? Du hast doch nicht ernsthaft vor, in diesem Zelt zu---“ „Aber selbstverständlich! Oder denkst du, ich schufte mir hier völlig umsonst die Hände wund?“ Lily tütete die Angelegenheit mit einem kleinen Zusatz schließlich zu ihren Gunsten ein. „Irgendwo muss ich schließlich unterkommen! Es gibt nicht genug Zelte für alle und falls du es nicht weißt, teilen sich deine beiden bunten Freunde da drüben“, sie nickte mit dem Kopf in Richtung Elmo und Reyne, „wegen dir auch ein einzelnes.“ Hatte sie da gerade teilen gesagt? Dieses großzügige Angebot Lilys, von der er eigentlich annahm, sie würde den kleinen Unterschlupf nun allein für sich beanspruchen wollen, war dem zurückhaltenden Jungen sogar noch unangenehmer. Eine Weile überlegte Peter, wollte aber einfach keine überzeugende Ausrede finden, die hätte herhalten können. „Nun gut. Wenn es unbedingt sein muss ...“ „He he, keine Angst!“, beruhigte Lily ihren neuen Mitbewohner, während sie sich auf allen Vieren ihren Weg in das schmale Nachtquartier bahnte. „Ich werd' dich schon nicht beißen!.“ „Mach dich lieber auf eine unruhige Nacht gefasst“, murmelte Peter. „Ich werde schnarchen! So laut wie eine Kettensäge!“ „Was immer das auch sein mag: Eine Hundertschaft davon könnte meinen königlichen Tiefschlaf nicht stören!“ ___________________________________________________________ Zur selben Zeit trieb die Ungeduld Jin fast in den Wahnsinn. Jetzt, wo er bekommen hatte, was er wollte, drängte sich ihm die Frage auf, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich den Menschen anzuschließen. Sein Gefühl hatte ihn hierher geführt, entgegen den Stimmen der Vernunft, die ihm das ausweglose Unterfangen, seine Jugendliebe nach drei Jahren in Adessa finden zu wollen, stets auszureden versuchten. Doch auch in dieser Nacht, in der er unter den dumpfen Schmerzen einer alten Verletzung leidend das fruchtbare Flachland überflog, gab er diesen inneren Stimmen nicht nach. Was man über das Land, das sich hinter den Grenzen Ballybofeys erstreckte, auch für düstere Legenden spann: Herz hätte kein Monster und keine Naturgewalt dieser Welt kleinkriegen können, dazu war sie viel zu gerissen, davon war Jin fest überzeugt; aber wie sehr er sich selbst auch aufzubauen versuchte, blieben doch stets die Zweifel bestehen. Hatte sie den überhaupt den Willen gehabt, um ihr Leben zu kämpfen, nach allem was vorgefallen war? Jin blieb in der Luft stehen und starrte mit leeren Augen gen Norden, wo weit hinter den fernen Bergen, die durch das grelle Mondlicht erleuchtet wurden und dessen schneebedeckte Spitzen glänzten wie tausend Sterne am wolkenlosen Nachthimmel, irgendwo die Stadt Tapion liegen musste. Nach drei langen Jahren hätte es sie mittlerweile überall hinziehen können, sogar in die Obhut der Menschen dort im Norden. Bisher hatte Jin zwar kaum einen von ihnen näher kennengelernt, trotzdem missfiel ihm der Gedanke nicht. Würde es sich bewahrheiten, so malte sich der Junge im Kopf ein mögliches Szenario aus, dann würde er dort bei ihr bleiben, für immer, sofern dies ihr Wunsch wäre. ___________________________________________________________ Es war die Hochburg einer gesamten Spezies, die Zuflucht der Heimatlosen: Caims und allen voran Vyers Faste waren für die Dunkelelfen Balsam auf die geschundenen Seelen. Ein neuer Anfang, denen Gardif ihnen ermöglicht hatte. Eine Spezies, die vor nicht allzu langer Zeit alles verloren hatte, begann sich langsam wieder in der Welt zurechtzufinden, die sie einst zu beherrschen vermochte. Auf dieser Insel wurde eine weitere Legende in der Geschichte Minewoods geschmiedet. Ob der weiße Ritter jemals Teil dieser Geschichte werden würde, war zu bezweifeln. Seinen Aufenthalt an diesem Ort versuchte die mysteriöse Gestalt immerwährend geheim zu halten. Nie zeigte er sich den Dunkelelfen, niemals hatte er dies je vorgehabt. Am Tag des Angriffs der Menschen auf die Festung wagte er sich weiter hinter feindliche Linien, als jemals zuvor. Aus sicherer Distanz beobachtete er all die Geschehnisse, die sich letztlich zu der kurzweiligen, kriegerischen Auseinandersetzung aufbauschen, und der er schlussendlich entscheidend beiwohnen sollte, indem er zwei Menschen, die dem Tode geweiht waren, das Leben rettete. Trotzdem befürchtete der einsame Reiter, der auch in dieser Nacht wieder durch das Ödland Caims streifte, nicht, dass seine Tarnung aufgeflogen war. Die Dunkelelfen, die ihn vor ein paar Tagen sahen, hielten ihn zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit für einen der Angreifer, und was die Zwei Geretteten anbelangte, musste er sich sowieso keine Sorgen mehr machen. So begab er sich auch in diesen stürmischen Zeiten tief ins Feindgebiet. Immer auf den Pfaden unterwegs, die sich über Jahre als sicher erwiesen hatten. Stets auf dem Rücken seines besten, vielleicht einzigen Freundes. Obwohl jener den Vierbeinern ähnelte, war er kein Pferd und schon gar kein Guri, die hier auf Caims beheimatet waren. Bei dem strammen, schneeweißen Tier handelte es sich um einen waschechten Einhornhengst, was das dünne, in silbrig-metallischen Farbtönen erstrahlende Horn auf dessen Stirn unverkennbar machte. Wie der Einzelgänger es auch immer vollbracht haben mochte, sich dieses fabelhafte Wesen zu unterwerfen, es erhob seine eigene Person in ähnlich mystische Sphären. Zumeist war es dem Ritter möglich, die Festung in aller Seelenruhe unter die Lupe zu nehmen, da sich die Dunkelelfen ihrer Unantastbarkeit innerhalb der hohen Mauern gar zu sicher waren. Nach den jüngsten Ereignissen ging er jedoch kein unnötiges Risiko ein und bewegte sich durch die anliegenden Wälder auf die Ostflanke Vyers' zu. Womöglich war sein nächtlicher Ausflug allein schon zu gefährlich, doch gerade jetzt unbedingt notwendig. Bis zu dem Trümmerfeld, das die Menschen bei ihrem Himmelfahrtskommando hinterlassen hatten, waren es allerdings noch einige Kilometer, sodass er seinen Augen kaum trauen wollte, als er die Umrisse eines Zweibeiners inmitten der hügeligen Ebenen ausmachte. Nur eine Person weit und breit. Das machte den Reiter stutzig: Es konnte sich dabei um eine Falle handeln. Ein Hinterhalt vielleicht, dem er mit Sicherheit nicht zum Opfer fallen würde. Er ließ das Einhorn versteckt im Dickicht des Waldes zurück und näherte sich auf leisem Fuße der fremden Gestalt. Sorgen, dass ihm das erhabene Tier womöglich entlaufen würde, hatte er keine. Seine rechte Hand ruhte wenige Zentimeter über dem Griff des Schwertes, dessen Scheide an seinem Gürtel befestigt war. Würde ihm das Wesen zu Nahe kommen, bedurfte es nur eines einzelnen Hiebes, und das letzte Kapitel seiner Geschichte würde in Blut geschrieben. Doch schien eine solche Reaktion mit jeder weiteren verrinnenden Sekunde unnötiger. Einen schwerfälligen Schritt nach dem anderen trottete die Gestalt stur geradeaus, bis sie schließlich wie angewurzelt stehen blieb. Ihr langes Haar wehte eine kurze Zeit lang im kühlen Luftzug eines Windhauchs, was den sich seit geraumer Zeit aufdrängenden Eindruck verstärkte, dass es sich um eine Frau handeln musste. Dann sackte die Schattengestalt in sich zusammen, ging erst in die Knie und kippte anschließend wie vom Schlag getroffen zur Seite. Nein, Gefahr ging von diesem bemitleidenswerten Wesen nicht aus, das war dem Reiter nun endgültig klar. Einen Moment zögerte er noch, der fremden Person zur Hilfe zu eilen. Weniger war es die Angst entdeckt zu werden, die ihn dazu veranlasste, sondern viel mehr die Bürde, die er sich selbst auferlegen würde, rettete er ihr hier und jetzt das Leben. Letzten Endes gewann das gütige Herz den Kampf gegen alle Zweifel. Ohne Zeit zu verlieren und darauf bedacht, sich nicht länger aus seiner Deckung zu begeben als absolut notwendig, eilte er hinüber zu dem leblosen Körper inmitten der Ödnis. Auch wenn es so aussah, als sei in dieser Nacht kein Elf auch nur in der Nähe, hätte es sich hierbei immer noch um einen Hinterhalt handeln können. Doch keines der befürchteten Szenarien, die sich der weiße Ritter in Gedanken ausmalte, sollte sich abspielen. Er versuchte erst gar nicht, das Mädchen anzusprechen, da sie ganz offensichtlich das Bewusstsein verloren hatte. Nur ihren Puls prüfte er am dürren Handgelenk nach um sich zu versichern, dass sie noch am Leben war. Das Pochen war nur schwach zu spüren, aber dennoch die erste gute Nachricht in dieser Nacht. Entschlossen hievte er das federleichte Kind in die Höhe und trug sie mit Bedacht davon. Als er die geschundene Gestalt musterte, dachte er daran, was dieses junge Ding in Vyers wohl hatte durchmachen müssen, falls sie tatsächlich bei dem Angriff geflohen war und in so kurzer Zeit einen solch weiten Weg hinter sich gebracht hatte. Welch Verzweiflung trieb sie nur an? Ihr Gesicht war schwer gezeichnet von den Strapazen, die sie hatte erleiden müssen. Überall verunstalteten sie Schürfwunden. Ihre Kleidung war völlig verdreckt. Ihr braunes Haar verfilzte und verhärtet. Sicherlich steckte unter all den Narben, der Erschöpfung, dem Hunger und der Angst ein bildhübsches, junges Mädchen; im Moment jedoch war die Person in seinen Armen nicht mehr als das dunkle Spiegelbild eines solchen. „Mama ...“, hauchte sie in ihrer Trance. Sie war ganz offensichtlich nicht gänzlich bewusstlos und begann zu halluzinieren. „Shh“, beruhigte ihr Lebensretter sie sofort wieder. „Nicht sprechen, bewahre dir deine Kraft, Kleines! Ich bin Pearce. Ich werde dir nichts tun!“, versicherte der Ritter mit sanfter Stimme. „Jetzt sprich nicht mehr weiter, ruh dich einfach aus. Es ist vorbei!“ Hinter Geschlossenen Türen -------------------------- Kapitel 10 – Hinter Geschlossenen Türen Wie es ihr gelingen konnte, aus der Festung zu fliehen, war Pearce ein Rätsel. Es musste während des Angriffs geschehen sein, ansonsten hätte es eine Gefangene unbemerkt kaum so weit geschafft. Auch eine zierliche Person, wie dieses Mädchen nicht. Völlig erschöpft von den Strapazen ihrer Wanderung durch die Wildnis Caims, war sie in seinen Armen eingeschlafen, als der Ritter sie fand, und bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder aufgewacht. Die Ruhepause war mehr als notwendig und stand dem Kind alle Mal zu. Frische Kleider hatte Pearce in seinem Versteck zwar nicht im Angebot, immerhin aber ein Bett und reichlich Vorräte, sodass die Kleine nicht Hunger leiden musste. Während sich in der Fantasie des Mannes Geschichten zu seinem Gast zeichneten, bereitete er ihr ein nahrhaftes Frühstück zu. Speck und frische Eier, welcher Art Vogel sie auch immer abstammten, brutzelten auf einem improvisierten Herd, der in der Tat nicht mehr war, als eine ausgebaute, offene Feuerstelle. Fast schon wirkte es mütterlich, wie er auf der Tischfläche seiner kleinen Küche, die zugleich auch Vorratskammer war, das exotische Oval einer weinroten, einheimischen Frucht mit einem Dolch portionierte. Das mit jener Klinge auch schon weit gefährlichere Schlachten geschlagen wurden, stand außer Frage. Das Geräusch eines heftigen Aufpralls und anschließender eiliger Schritte auf dem Holzboden, ließ Pearce seine Arbeit schlagartig einstellen. Es kam aus dem Nebenraum – dem Schlafzimmer – und konnte demnach nur von ihr stammen. Lief sie ihm davon? Draußen in der rauhen Wildnis der Insel würde sie auf sich allein gestellt nicht den Hauch einer Chance haben, schon gar nicht in ihrem Zustand. Pearce folgte dem Mädchen also auf dem Fuße. Es war eine kurze Suche: Nur ein paar Schritte vor die Tür seines steinernen, am Waldrand gut versteckt gelegenen Steinhauses, kniete das magere Kind und würgte ihre Übelkeit aus der rauen, trockenen Kehle. Sie war kreidebleich, sodass Pearce' erster Gedanke war, sie hätte sich in der Kälte etwas eingefangen. Seinen zweiten, durchaus existenten Gedanken unterdrückte er zunächst. „Du bist hier in Sicherheit. Weit weg von der Festung.“ Sie antwortete nicht, kauerte nur auf dem Boden, verkroch sich in ihrer eigenen, innigen Umarmung, das Gesicht unter Strähnen ihres zerzausten Haares versteckt. „Ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt dafür, aber solltest du in nächster Zeit Hunger bekommen, wartet im Haus alles was du brauchst“, versuchte ihr Wohltäter das Mädchen aufzumuntern, als ihm einfiel, dass erwähnter Gaumenschmaus noch immer unter Feuer stand. „Und darum sollte ich mich jetzt dringend kümmern!“ Alicia bewegte keinen Muskel ihres Körpers. Sie saß einfach nur so da, verloren in ihren Gedanken. Sie hörte, wie Pearce sich am heißen Eisen in der Küche verbrannte. Wie er unter lautem Zischen das Feuer löschte. Sie vernahm den wohligen Geruch gebratenen Fleisches. Ihre Sinne nahmen das zwar alles auf, Beachtung aber schenkte sie einzig ihren Gedanken. Nur allzu gern hätte sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas so banales wie eine Mahlzeit gerichtet, die sie ohne Zweifel nötig hatte. In Alicias Kopf jedoch spielten sich Dinge ab, die es schlicht und ergreifend nicht zuließen, sich abzulenken. Sie kämpfte mit ihrem Verstand einen erbarmungslosen Kampf, der Preis war ... Vergessen. ... ... ... ... ... ... Vyers Faste. Drei Tage zuvor In dieser Nacht genoss Alicia einen ruhigen und angenehmen Schlaf. Sie verdankte dem Jungen mehr, als er sich vorzustellen vermochte: Es war ihm gelungen, ihr wieder Hoffnung zu geben. Das Mädchen träumte von der Heimat, ihren Eltern, ihren Geschwistern. Wie weit all das auch entfernt lag, es beeinflusste die Klarheit ihrer Träume nicht. In dieser Sphäre des Bewusstseins schienen die Ängste und Gefahren, denen sie noch am Tage zuvor ausgesetzt war, wie die eigentlichen Träume. Ihre wohligen Erinnerungen zauberten gar im Tiefschlaf ein Lächeln auf das junge, unschuldige Gesicht. Der harte Boden: Er war in dieser Nacht das weiche Bett in ihrem Zimmer, oben, im zweiten Stockwerk des kleinen Reihenhauses ihrer Eltern, ganz am Rande der Stadt. Ihre dünne Jacke war das Federkissen, dem sie sich so oft anvertraut, und welches über die Jahre viele Tränen der Trauer und der Freude aufgesogen hatte. Doch der Schleier fiel. Die schmutzige, verhornte Pranke eines Aufsehers, mit der ihr gewaltsam der Mund zugehalten wurde, um sie am Schreien zu hindern, ließ das fantastische Konstrukt ihres Unterbewusstseins in Windeseile zersplitterten. Was eben noch wohliger Tiefschlaf war, verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde zu blankem Entsetzen und Furcht. Die nächste Bewegung riss sie unsanft vom steinigen Boden weg. Der Dunkelelf presste das zierliche Wesen gegen seinen bulligen Körper. Sie wehrte sich mit aller Kraft und mit jeder Sekunde wich auch die letzte Müdigkeit aus ihren Gliedmaßen. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, der Elf behielt die Oberhand, bis sie dieser Ungerechtigkeit schließlich nachgab und sämtliche Bemühungen einstellte. „Shh, du willst doch meine Freunde nicht wecken, oder? Das würden sie dir übel nehmen, ha ha ha!“ Bacall hatte das Mädchen fest umklammert, seine rechte Hand durchweg auf ihren Mund gedrückt, damit sie kein Aufsehen erregen konnte. Wie ein großes Paket trug er sie aus der Zelle. Er kümmerte sich nicht mal darum, die Tür zu verschließen. Als er Alicia die paar Schritte bis zu Peters Zelle geschleppt hatte, hob er sie ein wenig höher, sodass sie durch die Gitter der Zellentür schauen konnte. Das Mondlicht, das in den Raum eindrang, erhellte den schlafenden Körper des Jungen. „Wo ist dein Held, wenn du ihn brauchst, huh?“ flüsterte der Elf ihr direkt ins Ohr. Seine Nähe widerte Alicia an, genau wie sein warmer Atem, den sie auf ihrem Hals spürte. Einen einzigen, verzweifelten Blick konnte sie in die Zelle Peters werfen. Wäre sie in der Lage gewesen, zu sprechen, hätte sie ihn angefleht ihr zu helfen, auch wenn er gar nicht dazu in der Lage gewesen wäre. Sie weinte. Aus Angst, aus Verzweiflung, Wut. Sie weinte, weil das alles unmöglich geschehen konnte und es trotzdem geschah. Bacall beeilte sich nicht den Turm zu verlassen. Er schlenderte in aller Seelenruhe den Zellentrakt entlang, ohne noch ein weiteres Wort an das Mädchen zu verschwenden. Die stählernen Türen des Aufzugs schlossen sich mit einem dumpfen Knall, dessen Echo womöglich einige der Gefangenen aufzuwecken vermochte, darüber hinaus jedoch rein gar nichts änderte. Nicht für Alicia. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Die gesamte Gruppe hielt nun schon seit geraumer Zeit auf der Spitze einer Gebirgsformation, der Hochstraße von Baylhe [Beyl], ein wahres Biotop für die fantastischsten Auswüchse der Natur Minewoods, wie Lester Peter erklärte, als sich die Karawane anschickte, den mühseligen Aufstieg in Angriff zu nehmen. Noch mehrere Kilometer erstreckte sich dieser Pfad nahezu frei von Hindernissen in die angepeilte Richtung. Niemand war verletzt. Die nächste Verschnaufpause stand auch noch längst nicht auf dem Plan. Dennoch machte keiner der Reisenden in diesem Augenblick irgendwelche Anstalten weiter zu reiten. Peter tat es also den Frauen und Männern gleich und stieg von seinem Pferd hinab, um sich der versammelten Menge anzuschließen. „Was ist denn los?“ fragte er seine Gefährten. „Sieht so aus, als hätte Cecil ein echtes Einhorn ausgemacht!“ antwortete ihm eine noch unbekannte Stimme aus der Gruppe, die gemeinschaftlich gebannt in Richtung Tal starrte. „Ein Einhorn?“ Peter stand der Äußerungen des jungen Mannes sehr skeptisch gegenüber. „Wenn man bei mir zu Hause behauptet, man kann Einhörner sehen, ist es meist kein weiter weg mehr in die Irrenanstalt ...“ Jetzt wandte sich Tom ihm zu. An seinem Blick konnte der Franzose unschwer erkennen, dass der Witz nicht gezündet hatte. „Es ist auch nur ein einziges“, versicherte ihm der Junge. „Vergiss es einfach ...“ Wahrscheinlich war dieser junge Bursche in Minewood geboren und hatte keinen Schimmer, was auf der Erde vor sich ging. Vorwerfen konnte man ihm das wohl kaum, genau so wenig wie man Peter, der in den letzten fünf Tagen zweierlei Arten von Elfen, zweibeinigen, albtraumhaften Pferdewesen und einigen haushohen, mordlüsternen Verwandten von Wildschweinen begegnet war, vorwerfen konnte, den Gedanken an die Existenz von Einhörnern sofort als absurd und abwegig abzutun. „Kannst du denn etwas erkennen?“ Tom hatte sich längst wieder dem Tal zu ihren Füßen zugewandt, dass sich weit in Richtung Osten erstreckte, wo es von einem Flußlauf zweigeteilt wurde. „Nein, nicht wirklich“, antwortete der Ritter ziemlich enttäuscht. „Vielleicht hat sich Cecil ja geirrt!?“ Peter selbst konnte ebenfalls nichts erkennen was einem Einhorn ähnelte. Tatsächlich konnte er keinerlei Getier ausmachen und wunderte sich – verständlicherweise-, wie dieser Cecil aus solch schwindelerregender Höhe eine solche Entdeckung machen konnte. Sein nächster Gedanke war, inwiefern es die ganze Schar überhaupt interessierte, schließlich waren sie hier oben, und das Biest dort unten. Als Peter sich gerade krampfhaft ein Gesicht zu dem Namen zurechtzulegen versuchte, unterbrach ihn Lilys aufgeregtes Gebrüll. „Da! Da drüben, zwischen den Felsen!“ Keine Sekunde nach ihrer Entdeckung sprang sie auch schon von der Klippe und schockierte damit nicht nur Peter. Selbstverständlich geschah dem jungen Ding nichts, da sie noch im Sprung ihre Flügel ausbreitete und wieder in die Höhe schoss, bevor sie schließlich ihre Entdeckung ansteuerte. Eva zeigte sich wenig begeistert. „Lily, bist du verrückt geworden?“, schrie sie der Elfe hinterher. „Komm sofort zurück!“ Doch alles Gezeter half nichts. Nicht zu fassen, dass, nach allem, was Eva für das Gör getan hat, sie es wagte, die sonst so besonnene Frau derart vorzuführen. Und Lily setzte noch eins drauf. „Nun macht schon, ihr Angsthasen!“, rief sie den Männern und Frauen zu. „So eine Chance darf man sich doch nicht entgehen lassen!“ „Großartig, jetzt dürfen wir also doch noch Babysitter spielen.“ Natürlich war es Rios, der bei dieser, wie auch sonst jeder sich bietenden Gelegenheit, Spitzen in ihre Richtung absonderte. „Hast du deine Freundin eigentlich noch unter Kontrolle?“ Sie ignorierte den Mann so gut sie nur konnte. „Was hat die denn überhaupt vor?“ fragte Aarve. „Sie will uns dazu bringen, das Tier einzufangen“, antwortete Viola. „Es heißt, wenn ein Einhorn erst den Wald verlässt, den es behütet, unterwirft es sich.“ Aarve verstand nicht wirklich, war aber gewillt, mehr zu erfahren. „Und wem unterwirft es sich?“ „Dem, der es schafft, es einzufangen, natürlich.“ Als hätte sie es gehört und als Vorschlag verstanden, orderte Eva ihre Leute an, den Abstieg hinab ins Tal zu wagen. Sicher hätte sich Lily der Gruppe bald wieder angeschlossen, hätte sie Desinteresse geheuchelt und ihre Leute angewiesen, einfach weiter zu ziehen. Doch schien es so, als würde Eva selbst von dem Gedanken angetan sein, dieses kleine Abenteuer zu bestreiten. ___________________________________________________________ Stunden waren verstrichen. Stunden des Schweigens. Alicia hatte noch kein Wort gesprochen, seit sie aufgewacht war. Sicher gab es dafür triftige Gründe, daran zweifelte Pearce nicht, nur konnte er den Anblick des gebrochenen Mädchens schon fast nicht mehr ertragen. Gegessen hatte sie wenigstens – und wie! Der blonde Ritter, der sich nicht darum zu scheren schien, seinen Dreitagebart zu stutzen, hatte also durchaus Gründe, zu hoffen, ihr helfen zu können. Die meiste Zeit über, ließ er sie allein im Haus, da er sich sicher war, dass sie seine Gesellschaft nicht benötigte, ihr diese wohl auch unangenehm war. Wie nur sollte er sich ihr annähern, ohne ihr noch mehr Angst einzujagen? Ein Blick in Richtung Wald, wo sein schneeweißes, gehörntes Pferd ein leises Schnaufen von sich gab, reichte aus, um ihn auf eine hervorragende Idee zu bringen. Für den Mann selbst war der Anblick seines treu ergebenen Dieners nach Jahren des Zusammenhalts schon zur Gewohnheit geworden, doch war sich Pearce sicher, dass ein junges Mädchen wie Alicia von dem fantastischen Tier beeindruckt sein würde. Einen Versuch war es mindestens wert. Der Blondschopf wandte sich dem Einhorn zu, dass keiner Zeit Anstalten machte, zu entlaufen, obschon es das hätte tun können, und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Gepaart mit sanften Streicheleinheiten schien sich Pearce sehr sicher zu sein, dass es seine Anweisungen verstand. Tatsächlich trabte der Hengst kurz darauf vor die offen stehende Türe des Verschlages, den der Gast des Hauses in diesem Augenblick bewohnte, und den es nun herauszulocken galt. Auf faszinierende Art und Weise spielte das Pferd bei diesem Plan seine Rolle und begann zu schnauben, zu wiehern und im Galopp ein paar Runden zu drehen. Alicia musste es gehört haben. Es blieb nur zu hoffen, dass sie Lärm und Aufruhr auch dazu bewegen würden, einen Blick zu riskieren. Es musste der vierte oder fünfte Spurt des Tieres gewesen sein, als sich der braune Schopf des Mädchens endlich an der Tür des kleinen Hauses vorbei schob und Alicia einen verlegenen Blick nach draußen wagte. Pearce hatte längst begonnen sich mit dem Einhorn zu beschäftigen, da er mit Voranschreiten der Zeit befürchtete, das intelligente Tier würde sich schon sehr bald verschaukelt vorkommen. Doch sein As stach schlussendlich. Womöglich sah sie aus der Ferne nicht richtig, mit was für einem Wesen sie es hier eigentlich zu tun hatte, wahrscheinlicher war jedoch, dass sie es einfach nicht glauben konnte. „Komm her, Dima!“ beorderte Pearce das Einhorn zu sich, das aufs Wort gehorchte. „Guter Junge ... ruhig!“ Er schreckte leicht zurück, als ihm sein tierischer Freund in einer ruckartigen Geste der Zuneigung einen Kuss mit auf den Weg gab. Jetzt fiel auch ihm auf, dass sich Alicia dem unzertrennlichen Duo näherte. Sie schritt behutsam auf die beiden zu. Ihre Augen funkelten ob des erhabenen Anblickes und verrieten ihre Faszination. In diesem Augenblick vergaß sie alles andere um sich herum: Nur der leuchtend weiße Hengst mit dem silbrig glänzenden Horn auf der Stirn interessierte jetzt noch. Pearce wich einige Schritte zurück, verschränkte die Arme und gab keinen Laut von sich, bis das Mädchen es schließlich nicht mehr wagte noch näher an das Tier heranzuschleichen. Da stand sie nun, völlig rat- und hilflos unter ferner liefen, die Augen weit aufgerissen. „I-ist das ... wirklich?“, stammelte sie. „Es ist genau das, was du siehst.“ Alicia wirkte nicht gefasster. Was sie sah, war ein schneeweißes Märchen nur einen Meter weit von ihr entfernt. Ein Fabelwesen, das, wie so vieles hier, nicht hätte existieren dürfen. Bisher vermochte ihr Verstand alles Fremde und Abstrakte in dieser Welt zwar zu verarbeiten, doch die Schönheit dieses perfekten Wesens war scheinbar zu viel für das junge Ding. Pearce ergriff wagemutig die Initiative, da ihre Sprachlosigkeit der gesamten Situation nicht weiterhalf. „Er heißt Dima.“ „Woher weißt du das?“ „Nun ja, ich habe ihn getauft“, erklärte Pearce dem immer noch verblüfften Mädchen. „Du kannst ruhig näher kommen.“ Während er Alicia dieses verlockende Angebot unterbreitete, ging er selbst auf Tuchfühlung mit dem Pferd und rieb ihm väterlich den Hals. „Er tut dir nichts, ist absolut harmlos.“ „Wirklich?“ Sie konnte es gar nicht fassen wie großzügig ihr Wohltäter ihr gegenüber war, obschon ihm selbst gar nicht recht bewusst war, welch große Bedeutung dieses Erlebnis für sie hatte. „Nur zu!“ Zögerlich streckte Alicia den Arm aus. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, als sie sich dem Tier so weit näherte. Mit Pferden kannte sich das Mädchen scheinbar aus, da sie die nun nach vorn gerichteten Ohrmuscheln Dimas schnell bemerkte, und die dadurch ausgedrückte Neugierde des Tieres mit einem erleichterten Lächeln zur Kenntnis nahm. Als ihre zierlichen Finger den Kopf nur leicht berührten, presste Dima sich geschmeichelt in ihre Handfläche und schnaufte leicht. Das Mädchen war zu Tränen gerührt, fasziniert über alle Maßen. Mit der freien Hand versuchte sie verlegen ihr begeistertes Glucksen zu verstecken. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich Alicia völlig in der Zweisamkeit mit Dima verloren hatte. Nichts schien in diesen unschätzbar wertvollen Augenblicken mehr übrig von dem gebrochenen Mädchen. „Darf ich dich etwas fragen, Alicia?“ Pearce versuchte so mitfühlend zu klingen, wie irgend möglich. „Klar“, antwortete sie unbehelligt. Erleichtert legte er sich seine nächsten Worte zurecht. „Wie hast du es eigentlich aus der Festung heraus geschafft?“ Beide hielten einige Sekunden lang inne. Pearce überlegte, das Thema nicht vielleicht doch lieber aufzugeben, noch bevor er es richtig ansprechen konnte, doch Alicia antwortete schließlich. „Irgendwas ist passiert. Die haben alles stehen und liegen gelassen. Keiner hat überhaupt auf mich geachtet. Ich war nicht wichtig ...“ ... ... ... ... ... ... Vyers Faste. Drei Tage zuvor Sie hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan, lag stundenlang wach; hatte Angst davor, zu träumen und die bittersüße Illusion zu verlieren, wenn sie einschlafen würde, nicht mehr aufwachen zu müssen. Vor der Dunkelheit hatte sie keine Angst, viel eher vor dem Morgen und dem, was sie erwarten würde, was noch. So saß sie dort in der Ecke dieses Kabuffs, in das er sie eingesperrt hatte, mit leerem, glasigen Blick, immerwährend einen kleinen Fetzen Stoff in der linken Hand faltend, der ihr von ihrem himmelblauen Kleid abgerissen worden war, das mittlerweile einer verschlissenen, alten Robe glich. Es war kalt. Auch wenn die schwachen, nächtlichen Sommerwinde milde Temperaturen mit sich trugen, fror sie. Nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie man sich in einer solchen Lage wohl fühlen würde. Und nun? Hätte sie es tun sollen? Hätte ihr das weitergeholfen? Was in Alicias Kopf vorging, waren reine Selbsterhaltungsmaßnahmen. Die Bilder der vergangenen Nacht konnte sie nicht verdrängen, egal, wie sehr sie sich auch bemühte, und so lief vor ihrem geistigen Auge ein immerwährend jener Horror ab, unterlegt von ihrer liebsten Musik. Den schönsten Klängen, die es noch vermochten, sie zu erfreuen und ihre Konzentration vollends von den erniedrigenden Bildern zu nehmen. Doch das war unmöglich. Das eindringende Licht brachte an diesem Morgen – entgegen aller Erwartungen Alicias – frohe Kunde mit sich. Hoffnung in Form des Donnergrollen, das die Stadt um sie herum unaufhörlich erschüttern ließ und diese in hellen Aufruhr versetzte. Sogar sie selbst erwachte aus ihrer selbst auferlegten Apathie, als die Einschläge näher kamen und sie deutlich vernehmen konnte, wie vor den Türen ihres schäbigen Gefängnisses ganze Horden der Blauen aufmarschierten. Sie wagte es, durch eines der zahlreichen Löcher im morschen Holz des Verschlages einen Blick nach draußen zu riskieren. Auch wenn ihr nicht klar wurde, was vor sich ging, schoss ihr ein fixer Gedanke durch den Kopf: Würde sie jetzt nicht versuchen zu fliehen, würde sie es sicher nie mehr schaffen! Bacall hatte sich nicht die Mühe gemacht, Alicia anzuketten oder zu fesseln. Sicher wäre ein Fluchtversuch unter normalen Umständen auch ein Himmelfahrtskommando gewesen, allerdings schien sich der Dunkelelf auch keine all zu großen Gedanken darüber gemacht zu haben, ob sich das Mädchen nicht vielleicht etwas antun würde, während er es allein ließ. Wahrscheinlich war es ihrem Peiniger auch völlig gleichgültig ... Die Tür dieser ausrangierten Stallung hatte er zumindest verriegelt, denn sie ließ sich auch unter größten Anstrengungen nicht öffnen. Alicia gab es schon bald auf, die hölzerne Tor zu bearbeiten, war es in dieser morschen Hütte wohl noch die standfesteste Vorrichtung. Es zog sie instinktiv zu den rissigen Stellen an der gegenüberliegenden Wand, vor der sie sich auf den Rücken legte, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Jedes Mal, wenn draußen ein neuerlicher Einschlag den Boden erschütterte, trat sie mit voller Kraft zu. Als das morsche Holz dem Kraftakt schlussendlich nachgab, achtete sie aus lauter Euphorie überhaupt nicht mehr auf den Geräuschpegel und vermochte es letztlich ein schmales Loch in die Wand zu treten, aus dem sie einen vorsichtigen Blick auf die Geschehnisse warf, bevor sie sich letztlich darunter hindurch ins Freie schob. Vorsichtig presste sie sich an die kalte Felswand des Gebäudes, in dessen Anbau sie untergebracht gewesen war. Das Herz des Mädchens raste wie wild. Die Furcht entdeckt zu werden und wieder in Gefangenschaft zu geraten, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Wäre es nicht um ihren Herzschlag bestellt gewesen, hätte Alicia vielleicht früher bemerkt, dass es in ihrer unmittelbaren Umgebung absolut still war. Die ganze Stadt schien sich im Zentrum des Geschehens versammelt zu haben, nichts war mehr zu sehen von dem regen Treiben, das die Straßen und Seitengassen sonst rund um die Uhr belebte. Ängstlich schob sich das brünette Mädchen an den kargen Mauern der vielen Steinklötze entlang, die die Dunkelelfen bewohnten. Der Turm, der alle anderen Gebäude hoch überragte und in dem sie selbst schon gefangen war, diente Alicia als Orientierung. Sie wusste noch aus dem Gedächtnis, wo die Grenzen der Stadt lagen und dort sollte es sie schließlich hinziehen. Die meiste Zeit über rannte sie so schnell sie nur konnte. Im Moment war sie für die Dunkelelfen vielleicht uninteressant, doch konnte sie unmöglich voraussehen, wie lange dieses Glück für sie noch bestand haben würde. Es war Erschöpfung, die drohte, dem tapferen Mädchen ihre Hoffnung zu nehmen. Das Wirrwarr aus sandigen, spärlich gepflasterten Straßen und Steinhäusern wollte einfach keine Ende nehmen. Wo war bloß der Grenzwall, der diese Stadt umhüllte? Hätte sie ihn nicht längst erreicht haben müssen? Sie ging in die Knie und keuchte ihre Ermüdung aus dem Leib, als würde sie vor dem finalen Akt dieses Dramas noch einmal Kraft tanken wollen. Endlich war sie angekommen an dem steilen Wall aus massivem Gestein. Eine passende Grenze des Albtraums, in dem sie seit Tagen gefangen war, die es zu überschreiten galt, um alldem endgültig zu entfliehen. Hier in den abgelegenen Teilen der Festung schien die Mauer zwar immer noch unüberwindbar, allerdings meinte das Schicksal es endlich einmal gut mit ihr, und so eröffnete sich Alicia die Gelegenheit, ein nahe stehende Stallung zu erklimmen, die an den Wall grenzte. Auf dem hölzernen Dach angelangt, wandte sie sich ein letztes Mal dem Stadtinneren und dem höchsten Turm Vyers zu. Ihr Kleid und ihr zerzaustes Haar wehten schwach im Wind, der sie erfasste. Mit Tränen in den Augen sah sie die Stadt brennen. Vom Turm stiegen tiefschwarze Rauchschwaden empor und auch aus niedrigeren Gefilden drangen ähnliche Schleier in die Luft. Was auch geschehen war, es erfreute Alicia, diesen Ort im Feuer lodern zu sehen. Sie hoffte sogar, dass es möglichst viele der Blauen in den Tod riss, denn sie alle hatten nichts besseres verdient! So würde sie Vyers in Erinnerung behalten wollen: als brennende Ruine! Alicia schwor, sich auf ihrem Weg ins Nirgendwo nicht mehr umzusehen und kletterte den Felswall hinab in die Ungewissheit. ... ... ... ... ... ... „Ich hatte Glück.“ Wie sie dieses Wort aussprach, machte Pearce Sorgen, wie in einem Anflug von Hysterie. „Du lebst, das allein ist wichtig, Alicia.“ Die Faszination war zwar gewichen, doch wenigstens fand das junge Ding Halt bei Dima, der sich kaum rührte und ihr nicht von der Seite wich. Sie lehnte jetzt am Bauch des großen Tieres und genoss das angenehm warme Gefühl, verlor sich im rhythmischen Pochen seines Herzschlags. Längst wusste Pearce nicht mehr, ob der Augenblick der richtige war, seinen Verdacht auszusprechen. Er zweifelte auch daran, dass dies zu tun das Richtige war. Doch einfach leugnen, was er zweifellos vermutete, konnte er auch nicht. „Alicia“, sprach er mit eindringlicher Stimme, als wollte er die volle Aufmerksamkeit des Mädchens erzwingen, „du bist womöglich schwanger ...“ Nichts, rein gar nichts geschah. „D... Du hast dich heute Morgen---“ „Warum?“ wimmerte das Mädchen in ihrem Zorn und richtete ihren völlig verzweifelten, unvergesslichen Blick genau auf Pearce. „Warum passiert mir das?“ Und mit einem einzigen Ruck, unter innerlichem Schmerz, der auf das junge Mädchen wie ein Dolchstoß in die Brust wirkte, brach alles wieder an die Oberfläche. All die Angst, die Pein, die Demütigung und der Schmerz. Es zwang sie in die Knie und ließ sie zum ersten Mal seit jener Nacht bitterlich über das Unrecht, das ihr widerfahren war, weinen. ___________________________________________________________ Wie er sich in diese Lage hatte manövrieren können, war Peter bei ernsterer Überlegung ein Rätsel. Sie hatte ihn schließlich nur provozieren wollen – nichts weiter-, aber der Junge musste ja unbedingt auf das Spielchen eingehen und nun stand er da, auf offenem Terrain, einem wilden Einhorn direkt gegenüber, das ihn mit seinem Blick zu durchbohren schien. Überhaupt zu versuchen, das Tier einzufangen, ging auf Lilys und Evas Kappe. Eine solche Gelegenheit, darf man sich nicht entgehen lassen, hatte Lily geschwärmt, die selbst natürlich einen Teufel tat, sich um das heilige Wesen, wie sie es genannt hatte, zu kümmern. Eva war nach kurzer Zeit wirklich von dem Gedanken angetan gewesen, auf die Jagd nach einem Einhorn zu gehen, weswegen das letzten Endes so war, entzog sich Peter jedoch. Neugierig hatte er seine engeren Bekannten im Kreis der Karawane nach dem zweifelsohne faszinierenden Tier ausgefragt und sich vielleicht ein Stück zu begeistert gezeigt. Viola war es dann schließlich, die – für jeden in der Gruppe hörbar – vorschlug, dass sich doch der Neue versuchen sollte. Den Rest der Geschichte konnte man dann in die Kategorie Hochmut einordnen, der, so war sich Peter in diesem Augenblick zu einhundert Prozent sicher, nicht nur sprichwörtlich vor dem Fall kam. Das Lachen der Meute konnte der stolze Franzose einfach nicht auf sich sitzen lassen und bot Viola tatsächlich die Stirn. „Ganz tolle Idee, wirklich!“ „Mit wem redest du?“ ertönte zur Überraschung des Jungen eine samtene Stimme neben ihm. „Reyne?“ Es war tatsächlich die Dunkelelfe, die dem ängstlichen Neunzehnjährigen zur Hilfe kam. Ungebeten, wohlgemerkt. „Was tust du denn hier?“ Sie lächelte leicht. So, dass es nur mitleidig wirken konnte. „Das Tier kann dich töten, wenn du nicht auf der Hut bist, Peter. Ich hoffe, darüber bist du dir im Klaren!?“ Daran hatte der Junge noch keinen ernsthaften Gedanken verschwendet. Natürlich war ihm bewusst, über welche Kraft Pferde verfügten. Auch konnte er sich ausmalen, was geschah, wenn man so unglücklich war, in die Bahn ausschlagender Hufe zu geraten, ansonsten jedoch waren ihm die edlen Vierbeiner doch eher als sanftmütig bekannt. Was wusste er schon von Wildpferden? „Ich schlage vor, du hältst dich zurück!“ Auch wenn das eine geradezu brillante Idee der Dunkelelfe war, schlug Peters übertriebener Stolz seinen Verstand wieder einmal in der ersten Runde K.O. „Kommt nicht in Frage!“, plärrte er. „Ich sagte, dass ich das schaffe, und das werde ich auch!“ Ob ihr nun Anerkennung oder – was wahrscheinlicher war – vollkommenes Unverständnis ins Gesicht geschrieben stand, war ob der über die Maßen verblüfften Miene der blauhäutigen Schönheit kaum zu enträtseln. „Ein offenes Ohr für ein Angebot?“, fragte sie listig. „Kommt drauf an ...“ „Lass uns den Hübschen gemeinsam einfangen, in Ordnung?“ Ein auch nur halbwegs klar denkender Mensch konnte ihr dieses Angebot gar nicht abschlagen, und sogar Peter hielt es für sinnvoll, die helfende Hand der Dunkelelfe entgegenzunehmen. „Dann mal los!“ Das ungleiche Duo einigte sich darauf, klare Rollen zu verteilen; wobei Peter, einleuchtend begründet in mangelnder Erfahrung bei der Jagd, den Part des Lockvogels übernehmen sollte und sich so mit der Aufgabe konfrontiert sah, das emsig vor sich hin dösende Tier in Rage zu versetzen, was letztlich bedeutend einfacher war, als er zunächst angenommen hatte. Als die Aufmerksamkeit des Einhorns geweckt war, spürte der Junge zum ersten Mal, auf welch gefährliches Spiel er sich da eingelassen hatte. Nur die ruhigen, souverän wirkenden Bewegungen Reynes ließen ihn Contenance bewahren. „Was für eine Vorstellungen!“, applaudierte Lester auf dem Felsvorsprung, auf dem der Rest der Meute noch immer dicht gestaffelt versammelt war. „Ich gebe dem Jungen noch zwei Minuten. Und das wäre schon allerhand, ha ha ha!“ „Wie kannst du darüber bloß Witze reißen?“, zeigte sich Eva ihrem großväterlichen Fürsorger gegenüber empört. „Wenn ihm nun etwas zustößt ...“ „Selber schuld, würde ich sagen.“ Aarve wirkte wenig beeindruckt von dem Spektakel. „Nun macht euch mal nicht ins Hemd“, warf Rios ein. Einen Moment schien es so, als wollte er die besorgten Männer und Frauen tatsächlich aufmuntern. „Elmos bessere Hälfte ist ja schließlich bei ihm.“ „Spar dir die Sprüche, Pops!“ Elmo würdigte Rios keines Blickes. Er lehnte mit dem Kopf auf seinen Handrücken, die er auf dem zurückgelassenen Langbogen der Elfe gefaltet hatte. „Zusammen schaffen die beiden es vielleicht.“ „Niemals“, entfuhr es Eva versehentlich, was Lily auf den Plan rief. „Wie kannst du dir so sicher sein? Was, wenn sie es wirklich schaffen, huh? Das wäre das erste Mal seit---“ „Hör auf!“ unterbrach die junge Frau ihre Gefährtin harsch. „Du träumst ja!“ Im Tal auf sich allein gestellt wartete Peter ungeduldig auf Reynes Eingreifen. Das Einhorn war so aufgebracht, dass die Nervosität Peters Begeisterung für das Tier überstieg. Es scharrte aus, wieherte in schrillem Ton und schnaufte wie ein wilder Stier. In sein Revier einzudringen, war eine ganz dumme Idee gewesen, und genau das wollte es dem wagemutigen Jungen nun zu verstehen geben. Er hatte das Einhorn wie befohlen vor eine Steinformation aus drei großen Findlingen gelockt. Von Reyne fehlte jede Spur. Ein Umstand, der drohte, Peter in Panik zu versetzen. Der Junge beruhigte sich jedoch wieder, als er den Plan der Dunkelelfe zu durchschauen begann. Sie pirschte sich über die Felsen unbemerkt im Rücken des Einhorns heran. Als sich die passende Gelegenheit bot, sprang Reyne waghalsig auf den Rücken des wilden Tieres und begann einen aufopferungsvollen Kampf mit ihrem Gleichgewicht zu fechten, das der Hengst – tobend vor Wut – auf eine harte Probe stellte. Sie klammerte sich um den Hals des schneeweißen Pferdes und suchte unter größten Anstrengungen nach Halt. Sie wurde durch die ruckartigen Bewegungen des kämpfenden Wesens von einer Seite auf die andere geschleudert wie eine Puppe. Zweifellos schmerzte ein jeder Aufprall, ihr Griff jedoch war nicht zu lösen. Die spektakulären Geschehnisse ließen ein Raunen durch die Gruppe ziehen. Elmo war schon auf dem Sprung, seiner Gefährtin zur Hilfe zu eilen, als plötzlich etwas Unerwartetes geschah. Nach einiger Zeit ebbte die Aggression des Tieres merklich ab. Es lief nun schnaubend im Trab orientierungslos durch die Ebene, Reyne eng um sich geschlungen. Peter war sich sicher, erkennen zu können, dass die Dunkelelfe dem Pferd etwas ins Ohr flüsterte, und was immer es auch war, es schien eine beruhigende Wirkung zu haben. Bald darauf verlangsamten sich die Bewegungen des stolzen Tieres immer mehr, bis es endlich aufzugeben schien und in der Nähe eines jungen Laubbaumes still verweilte. Die plötzliche Ruhe wirkte trügerisch auf die Zuschauer. „Was war das?“ fragte Tom. „Hat sie es geschafft?“ „Ich hab nicht die leiseste Ahnung.“ Eva war nicht verlegen darum, ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen, da sie wusste, dass es all den anderen genauso erging wie ihr. „Was hat sie da gemacht?“ Nun wandte sich der Jüngste an Reynes engsten Vertrauten Elmo, der weiterhin mit besorgtem Blick hinab ins Tal schaute. „Wen interessiert das?“ Zeitgleich war die Dunkelelfe Reyne damit beschäftigt, sich behutsam vom Rücken des Hengstes hinunter zu begeben. Ihren vorsichtigen, durchdachten Bewegungen konnte man ansehen, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Kaum hatte sie den ersten Fuß auf den Boden gesetzt, schnappte das Tier erneut völlig über. Es riss die Vorderbeine in die Höhe und schleuderte die Elfe, die von dieser Reaktion völlig überrascht zu sein schien, mit brutaler Wucht mehrere Meter durch die Luft. Der unausweichliche Aufprall war alles andere als elegant, landete die Frau auch im weichen Nass der Graslandschaft. Peter erhaschte gerade noch, wie sich Reyne vor Schmerz auf die Unterlippe biss, bevor seine Aufmerksamkeit wieder dem eigenen Dilemma zugewandt war. Die Elfe war das Einhorn losgeworden, nun war also Peter an der Reihe, der in diesem Augenblick seinen Übermut erneut verfluchte. War der verdammte Stolz es wert, dafür zu sterben? „Genug!“ Elmo ergriff die Initiative und schwang sich den steilen Abhang hinunter in das Tal. „Wenn es sein muss, bring ich es um!“ In kurzen Abständen folgten ihm Eva, Lester, Tom und Tatum. Sie würden zu spät kommen; scharrte das wunderschöne und mindestens genauso gefährliche Wesen doch unlängst angriffslustig mit den Hinterbeinen im fruchtbaren Boden seines Tals. Wer ein solch wildes, reines Tier seiner Natur berauben wollte, verdiente wohl das Schicksal, das nun auf Peter wartete. Das ihm seine Freunde zur Hilfe eilten, bemerkte er gar nicht, dazu war er viel zu konzentriert auf den nächsten Zug seines Gegenübers. Vielleicht, so dachte er, würde es ja sein Horn als Waffe gegen ihn einsetzen, und ihm drehte sich bei der bildhaften Vorstellung der Magen um. Dann war es soweit, das Einhorn bäumte sich ein weiteres Mal auf und sprang wiehernd auf den hilflosen Jungen zu. Peter schloss die Augen, wohl wissend, sie wohl nie mehr öffnen zu werden. Doch nichts geschah! Auf der pechschwarzen Leinwand vor Augen, hatte das mystische Tier den dummen Jungen längst überrannt und aufgespießt, aber in der Realität verlief die Geschichte weitaus faszinierender. Seine Lider hob Peter in dem Moment, als er den warmen Atem des Tieres auf seinem Gesicht spürte, und es ihn mit Nase und Stirn leicht anstupste, als würde ihm schlicht nichts besseres einfallen. „Sieh sich das einer an!“, stammelte Elmo, der seiner verletzten Freundin wieder auf die Beine half. Auch Reyne war sichtlich überrascht vom Resultat dieser Jagd. „Peter!“ rief Eva dem Jungen zu, der sich vor ein paar Sekunden noch in Lebensgefahr befunden hatte. Noch immer beschnupperte und liebkoste das prächtige Tier den Franzosen, der immerhin schon wagte, es ebenfalls zu berühren. „Was tut es da?“, fragte er noch immer ängstlich. „Sag du es uns!“ Am Geschrei der Frau bemerkte der Junge erst, welch ehrfürchtigen Sicherheitsabstand die Gruppe noch immer von ihm und – vorrangig – von dem Einhorn hielt. „Danke für die tatkräftige Unterstützung!“ erwiderte er ironisch. Endlich kamen die umstehenden Frauen und Männer näher, da ganz offensichtlich keine Gefahr mehr von dem perlweißen Vierbeiner auszugehen schien. Lester schlug Peter hochachtungsvoll auf die Schulter. Die Kraft hinter diesen nett gemeinten Hieben zwang ihn fast in die Knie. „Was beschwerst du dich, Kleiner? Du schlägst dich doch wunderbar, ha ha!“ „Danke ...“ Peter wandte sich der Gruppe zu. Auch Reyne und Elmo, der die angeschlagene Elfe stützte, hatten sich mittlerweile zu ihm gesellt. „U-und was geschieht jetzt?“ „Du hast es gefangen, du darfst es behalten“, erklärte ihm Eva kurz und knapp. „Moment mal! Ich hab doch gar nichts gemacht! Wenn einem irgendwas zusteht, dann Reyne.“ Die Dunkelelfe reagierte sofort darauf. „Nein, Peter, das ist nicht richtig. Er hat sich dir ergeben, nicht mir, somit kann und wird er auch nur dir gehören.“ „Sie hat Recht!“, bestätigte Eva dem Jungen. „Du hättest jetzt sowieso keine Wahl mehr.“ Peter nahm es hin, wie es war. Er konnte sich weitaus schlimmere Verpflichtungen vorstellen, als einem Einhorn Herr zu sein, zumal sich plötzlich die ganze Truppe brennend für ihn zu interessieren schien. Auch mit dieser Situation würde er leben können. „Sieht ganz so aus, als hätte ich Harad zurückgewonnen“, sprach Reyne ihr Pferd an, das sie Peter für die bisherige Reise zur Verfügung gestellt hatte. Reyne lächelte den Jungen verlegen an. Ihre strahlend weißen Zähne hoben sich kontrastreich vom matten Blau ihrer Haut und dem noch etwas dunklerem Ton ihrer Lippen ab. Peter verlor sich für einen Moment lang in diesem Anblick, so, wie zuvor in dem des prachtvollen Einhorns. Ohne ihre Hilfe wäre alles anders gekommen, dessen war er sich sehr wohl bewusst. ___________________________________________________________ Er fühlte sich schuldig, das Mädchen belogen zu haben. Sie wusste ja gar nicht, wie ihr geschah, als sie der Müdigkeit erlag; gerade, als sie begann, sich ihm anzuvertrauen. Es war eine leichte Droge, die keinerlei Nachwirkungen hinterlassen würde, doch wenn sie erst erneut in einer fremden Umgebung aufwachen würde, brächte sie das womöglich um den Verstand. Pearce machte sich nichts vor, sie würde ihn fortan verachten, auch wenn er nur ihr Bestes wollte. So stand der Ritter in voller Montur nun schon seit geraumer Zeit am nördlichen Ufer der Insel, an dem altbekannten Platz, dem verabredeten Treffpunkt. Hier draußen musste er stets mit einer ungewollten Begegnung mit den Dunkelelfen rechnen, weswegen er es vorzog kampfbereit zu sein. Doch es lag kein Gefecht in der kühlen Nachtluft. Er spürte einzig und allein die Präsenz des schlummernden Mädchens, bis die sonst fast völlig stille See vor ihm begann, Wellen zu schlagen. Nicht viel später vernahm er das plätschernde Geräusch des Ruders, das die Wasseroberfläche in gleichmäßigem Rhythmus immer wieder durchdrang. Ein kleines Boot näherte sich unbehelligt dem Ritter und dem Mädchen in seinen Armen. Zwei Personen, in pechschwarze Seidenmäntel gehüllt, die Köpfe unter Kapuzen versteckt, befanden sich an Bord. Noch ehe das Boot anlegte, empfing Pearce die Fremden mit wohlwollendem Gruß. „Es ist lange her, Miraaj.“ Die größere der beiden vermummten Gestalten stieg aus dem kleinen Kahn und trat dem Ritter in der glänzenden, Ehrfurcht erweckenden Rüstung entgegen, während ihre Begleitung das Boot sicherte. Miraaj lüftete den Schleier, der ihr Gesicht verbarg und offenbarte ihr faszinierendes Antlitz dem Mann, der selbst keinerlei Mühen andeutete, seinen Helm abzunehmen. „Das ist sie also?“ fragte die Dunkelelfe mit tiefer Stimme, die so wirkte, als würde eine leisere zweite und höhere Stimmlage sie überblenden. Miraaj war zweifelsohne eine schöne Frau, doch etwas war nicht in Ordnung mit ihrem Äußeren, etwas war nicht richtig. Ihre Haut war so hell wie die keiner anderen Dunkelelfe. Ein blasses Türkis. Dazu die schneeweißen Haare und dunkelroten Augen. Sie strahlte eine mysteriöse Schönheit aus, die Pearce jedoch längst vertraut war. Er kannte diese Frau gut, sehr gut sogar. „Ja“, antwortete er schwermütig. „Das ist sie.“ Ohne weitere Fragen händigte er Miraaj die zierliche Person aus. Eine Weile hielt die Elfe mit den reich verzierten, spitzen Ohren und dem glänzenden Haarschmuck das Mädchen in den Armen, und ein bläulicher Schimmer legte sich um sie. Das Phänomen verzerrte die Luft um Alicia herum, bevor die Nebelschwaden wieder verschwanden. Verblüfft stellte Pearce fest, dass Alicias Teint in merklich gesünderem Rosé erstrahlte und die tiefen Augenringe, in deren Form sich die zuletzt schlaflosen Nächte abgezeichnet hatten, plötzlich verschwunden waren. „Was hast du---“ „Nur ein simpler Heilzauber, gar nicht mal so kräftig, wie du vielleicht denkst“, beruhigte Miraaj den Mann, noch bevor er seine Frage zu Ende stellen konnte. „Überanstrenge dich nur nicht!“, mahnte Pearce die Elfe. „So etwas kostet mich kaum mehr Kraft als ein Wimpernschlag, aber trotzdem ...“ Miraaj trat nahe an Pearce heran und küsste symbolisch den kalten Stahl seines Helmes. „Danke, dass du dich um mich sorgst.“ Anschließend wendete sie sich wieder von ihm ab und überreichte ihrer Begleitung, die sich noch immer nicht zeigen mochte, das schlafende Kind. Als sie bereit waren, diesen Ort wieder zu verlassen, wandte sich Pearce ein letztes Mal an die Dunkelelfe. „Sie ist ...“ „Ich weiß, Will.“ „Passt gut auf sie auf und gebt ihr etwas Zeit, ja?“ „Ihr wird es gut gehen“, versicherte Miraaj dem Ritter, als sich ihr Boot langsam aber stetig vom Ufer entfernte. „Sie ist eine Kämpferin, William. Ich spüre das.“ Pearce verweilte noch so lange am Ufer, bis das Boot vollends außer Sicht war. Er wusste, für Alicia war dies die beste, die einzige Lösung. Dieses Mädchen verdiente eine zweite Chance, weit weg von Vyers Faste. Doch eines versprach der weiße Ritter Alicia hoch und heilig, als sie schlief. Für die Verbrechen, die sie an ihr verübt hatten, würden die Dunkelelfen bezahlen müssen. In dieser Nacht sattelte Pearce Dima nicht, um den Weg nach Hause anzutreten. Dieses Mal war die Richtung eine andere. Wut trieb ihn an, Hass sogar. Er wusste, dass jene Beweggründe seinen Untergang bedeuten konnten. Gefühle wie diese verzerrten die Wahrnehmung eines jeden Menschen. Es war immer so, und es würde immer so bleiben. Die größte Prüfung des weißen Ritters stand bevor. Scheideweg ---------- Kapitel 11 – Scheideweg Die letzten paar Stunden waren für Peter wohl die schönsten gewesen, die er bisher in Minewood verbrachte – mit Sicherheit waren es die angenehmsten. Erst war ihm das Kunststück geglückt, ein leibhaftiges Einhorn einzufangen, und nun konnte er die verdiente Anerkennung für diese Großtat auch noch in aller Bescheidenheit auskosten, da er zum Mittelpunkt des Interesses der gesamten Gruppe geworden war. Die ganze Zeit über versuchte irgendwer einfach nur ein bisschen mit Peter zu plaudern um dem Einhorn nahe zu sein und sich vielleicht sein Geheimnis abzuschauen, das natürlich gar nicht existierte. Zumindest er selbst war sich dessen sicher. In diesem Augenblick näherte sich ihm Reyne. Zur freudigen Überraschung des Jungen war die Dunkelelfe, die ihm zuvor so tatkräftig zur Seite gestanden war, ganz allein. Lily und Jin hielten von der Frau einen gehörigen Respekt-Abstand und schwirrten nun nicht mehr um den neuen Helden der Karawane herum. „Stört es dich, wenn ich ihn ein wenig beobachte?“, fragte sie fast schon verlegen. „Nein, überhaupt nicht.“ Peter war erfreut darüber, wie offenherzig sie daherkam. Die meisten anderen versuchten seine Person bei ihren Annäherungen stets höflich in den Vordergrund zu rücken, obwohl jedem klar war, dass das eigentliche Augenmerk auf dem schneeweißen Hengst lag. „Einhörner sind magische Wesen, weißt du das?“ fragte Reyne den Jungen und klärte ihn anschließend auf. „Es heißt, sie seien unsterblich, wenn sich das auch schwer beweisen lässt, da sie nicht unverwundbar sind. Jedoch altern sie nicht mehr, wenn sie erst ausgewachsen sind, wodurch es schier unmöglich sein dürfte, das Alter dieses Exemplares zu schätzen.“ Sie tätschelte dem Tier bei ihren Ausführungen eher unbeholfen den Hals. Es schien fast so, als hätte sie einen Schuss zu viel Respekt vor dem Pferd. „Und noch einige ganz außergewöhnliche Fähigkeiten werden den Einhörnern nachgesagt. Es heißt, ihre Tränen vermögen es Tote wieder zurück ins Leben zu holen, und ihr Blut verleiht demjenigen ewiges Leben, der es sich einverleibt. So sagt man ...“ Eine Weile lang schwiegen beide und bewunderten das sagenumwobene Wesen, das in diesem Augenblick so unscheinbar wirkte. „Pass gut auf ihn auf, Peter!“ wies Reyne den Jungen an, während sie mütterlich ihre Hand auf die seine legte. „Er wird dir treu ergeben ohne Furcht in jede Schlacht folgen, die es zu schlagen gilt. Nur ein hasserfülltes Herz vermag es, das Band wieder zu zerreißen, das euch nun zusammenhält. Denk immer daran!“ Mit einem Lächeln auf den Lippen verabschiedete sich die geheimnisvolle Frau wieder, was eine aufgebrachte, blasse Waldelfe auf den Plan rief. „Pff! Hast du gesehen, wie gierig sie das arme Ding angestarrt hat?“ „Ich weiß wirklich nicht, was du meinst“, wiegelte Peter, gelangweilt von Lilys Querelen, ab. „Ach Papperlapapp! Du lässt dich doch bloß von der hübschen Verpackung hinters Licht führen“, warf das Mädchen ihm vor und setzte das Kompliment für die Dunkelelfe dabei symbolisch in Anführungszeichen. „Aber ich durchschaue das blaue Biest! Ja, oh ja!“ „Nun mach mal halblang, ja!?“, empörte sich Peter an den Lästereien der Waldelfe. „Außerdem kenne ich sie mindestens so gut wie dich, oder irre ich mich? Sie macht auf jeden Fall einen freundlichen Eindruck. Vergiss nicht, dass sie mir geholfen hat, ihn einzufangen.“ Peter gab dem Einhornhengst einen sanften Klaps auf den Rücken. „Genau das mein ich doch, du Idiot!“ Idiot? Das beleidigte den Jungen ein wenig, wo er sich doch sicher war, dass man solch oberlehrerhaftes Geplänkel normalerweise mit Dummerchen oder schlimmstenfalls mit Trottel beendete. „Geht's auch 'was genauer?“ „Oh um Himmels Willen!“ Lily schlug die Hände vor ihrem Gesicht zusammen und setzte sich anschließend elegant vor ihren Gesprächspartner. Das alles fand natürlich in der Luft statt – wie es die Elfe bevorzugte. „Fandest du es nicht merkwürdig, wie sie für dich aus heiterem Himmel in die Bresche gesprungen ist? Sie wollte ihn selbst einfangen! Weil sie besessen ist!“ „Besessen?“, entfuhr es Peter so laut, dass er für einen Augenblick die Aufmerksamkeit einiger Ritter erweckte. Er zog verlegen den Kopf ein und beschloss, im Flüsterton weiter zu reden. „Was redest du da nur?“ „Du hast mich schon verstanden, Peter! Weißt du eigentlich, was unsere Primadonna vor ihrer Karriere als Verräterin an ihrem eigenen Volk so getrieben hat?“, fragte Lily provokativ. „Komm schon, das geht wirklich zu weit, findest du---“ „Sie war Jägerin!“, unterbrach sie ihn mitten im Satz. „Sie hat die meiste Zeit ihres Lebens damit verbracht, Menschen ausfindig zu machen und sie nach Vyers zu verschleppen.“ In der Tat löste diese Information in Peter Unbehagen aus. Mit Jägern hatte er es auf der Insel Caims zu tun bekommen, und seine Erinnerungen an diese Begegnung hätte er am liebsten verdrängt. Kaum vorzustellen, dass Reyne einst ähnlich mit Menschen umgesprungen sein soll. Dennoch zweifelte der Junge viel eher an den Intentionen der bedeutend jüngeren Waldelfe. Wollte sie ihn vor einer Enttäuschung bewahren, oder doch nur Zwietracht sähen? „Es ist nicht wichtig, was sie war, Lily, sondern was sie ist.“ „Bitte ...“ Doch es stimmte, was er sagte, und auch Lily wusste das. Trotz allem zog die junge Elfe eine enttäuschte Miene, da sich zum wiederholten Male alle Welt gegen sie zu verschwören schien. Für einen Moment glaubte Peter gar, sie würde sich nun für den Rest der Reise von ihm fern halten, stattdessen aber gab sie sich in dieser besonderen Argumentation schlicht und ergreifend geschlagen und wechselte nun das Thema. „Ihm fehlt noch ein Name“, sprach sie mit heiserer Stimme, die eine Nuance ihrer Traurigkeit offenbarte. „Huh?“ „Dem Einhorn, du Genie, du musst ihm noch einen Namen geben! Vorher wird er dir nicht nicht wirklich gehören.“ „Ach, ist das so?“ fragte Peter verblüfft. „Aber ja! Ein Pferd ohne Namen bringt dich vielleicht durch die Wüste, aber nicht durchs Leben.“ Der Franzose konnte sich ob dieser Weisheit? kaum mehr im Zaum halten. Er lachte Lily nicht aus, sondern gab der errötenden Elfe mit seinem Aufsehen erregenden Gelächter Recht. Was ihn so über die Maßen amüsierte, verschloss sich der Elfe jedoch. „Ha ha! Einen Namen also!? Hm ...“ Wie Peter feststellen musste, war die Namensfindung für ein Einhorn keineswegs so simpel wie er zunächst angenommen hatte. Wie sollte man denn ein Einhorn nennen? Welchen außergewöhnlichen Namen hätte ein so außergewöhnliches Wesen verdient? Was wäre passend, was angebracht? Lily bemerkte die innere Zerrissenheit Peters und versuchte ihm einen weiteren Ratschlag zu geben, einen, der, so hoffte sie, nicht wieder in gellendes Gelächter ausarten würde. „Nun ja, such dir etwas aus, das dir zusagt. Probier nicht herauszufinden, was dem Tier, oder den anderen gefallen würde, das macht dich nur verrückt.“ Ein Name, der ihm gefallen würde ... Leichter gesagt, als getan, dachte der Junge. Dann schwebte einen Moment lang der Spitzname seines besten Freundes vor seinem inneren Auge. Momo, zugegebener Maßen nicht sehr anspruchsvoll, was Peter zunächst auch zögern ließ. Sonderliche Ähnlichkeiten zwischen dem schneeweißen Hengst und seinem Kumpel gab es auch nicht, aber wenn er eine Sache auf der Erde mehr vermisste, als alles andere, dann seinen besten Freund. Auf diese Art könnte er die Sehnsucht nach der Heimat vielleicht ein wenig kompensieren und etwas heimisches mit auf die Reise nehmen, abgesehen von seiner zerschlissenen und schmutzigen Kleidung. Ja: Auch nach reiflicher Überlegung schien Peter dies eine sehr gute Idee, und so stand sein Entschluss letztlich fest. „Ich denke, ich habe mich entschieden“, verkündete er triumphal. „Und?“ fragte Lily ungeduldig. „Darf man es erfahren?“ „Momo!“ Peter fuhr dem Hengst durch die perlweiße Mähne, der die Streicheleinheiten schnaubend entgegennahm. Der Junge bemerkte in diesem Moment nicht, dass Lily wie versteinert in der Luft zu stehen schien und er an der perplexen Gestalt vorbeizog. Welche Erinnerungen oder Ängste es auch waren, die dieser Name in ihr hervorrief, es stahl ihrem zierlichen Elfengesicht auf einen Schlag jede Lebensfreude. ... ... ... ... ... ... Ballybofey. Sieben Jahre früher (Minewood-Zeit) An diesem Morgen erhellte das sonst so spärlich durch die Wipfel dringende Sonnenlicht den Elfenwald auf zauberhafte Weise. Tauwasser reflektierte die Strahlen auf den Gräsern und Blättern und hüllte die Stadt in den Bäumen in ein glitzerndes Meer aus winzigen Lichtern. Es war nur ein einziger flüchtiger Blick nötig, um einen jeden der geflügelten Bewohner dieses friedlichen Landes in frühlingshafte Hochstimmung zu versetzen. Und es war ihnen anzumerken! Ganz besonders gut gelaunt war eine junge Elfe, die sich in Höchstgeschwindigkeit zielstrebig durch die verworrenen Luftstraßen ihren Weg zu bahnen wusste und dabei stets die Zeit fand, noch das ein oder andere Kunststück zu vollführen. Hier und da schreckten einige ihrer älteren Artgenossen auf und wiesen sie mit empörten Belehrungen zurecht. „Dir wird noch ein Unglück geschehen, wenn du so weiter machst, kleines Fräulein!“ „Tschuldigung!“ Wirklich ernst nahm sie die Warnungen nicht. Sie war an diesem Frühjahrsmorgen einfach zu aufgeregt um die Dinge um sich herum überhaupt richtig wahrzunehmen. Ihr Ziel erreichte sie, als auch die letzten Baumhäuser und deren spitzohrige Bewohner weit hinter sich gelassen waren, und sich ein schmaler Waldweg unter ihr abzeichnete, der durch die offensichtlich rege Benutzung wie ein einziger, rotbrauner Acker inmitten der saftigen Graslandschaft wirkte. Auf ihm übte sich eine einzelne, winzige Gestalt im Schwertkampf. Es war ein junges Mädchen mit schulterlangem, goldenen Haar, die ihre schon weit fortgeschrittenen Künste durch schweißtreibende Übungen verbesserte. Sie bemerkte die Elfe zunächst gar nicht. „Noch niemand da, Eva?“ „Huh?“ Leicht irritiert suchte das junge Mädchen die nähere Umgebung nach ihrem Gast ab. „Lily, bist du das?“ „Ja-ha!“, antwortete sie und landete elegant auf einer der Extremitäten eines der vielen hölzernen Sparringspartner, die für das Training der Ritter einstecken mussten. „Noch niemand hier ...“ Eva legte den schwertförmigen Holzprügel in ein blechernes Behältnis am Rande des kleinen Übungsplatzes. „Ich wette, deine Mutter rastet aus, wenn sie dich so sieht!“ „Erzähl keinen Quatsch!“, fuhr das Mädchen die Elfe an, wirkte dabei aber wenig überzeugt. „Sie macht sich bloß Sorgen um mich. Meint, sie müsse mich beschützen. Aber eines Tages wird sie schon merken, wie gut ich bin und mich endlich ernst nehmen.“ „Und dann?“, hakte Lily nach. „Was meinst du?“, entgegnete Eva ihrer lebhaften Freundin, die kaum eine Sekunde ruhig sitzen konnte und ständig mit den winzigen, nackten Füßen wackelte. „Was macht ihr dann? Hier gibt's doch nichts zu bekämpfen“, wunderte sich die Waldelfe. „Es ist doch friedlich hier ... schön, oder nicht?“ Natürlich war es das, und so kam die junge Eva einen Moment lang ins Grübeln. „Hier vielleicht, aber die Dunkelelfen quälen die Menschen immer noch! Dagegen muss etwas unternommen werden, und meine Mutter wird auch etwas unternehmen!“ „Hm ...“ Lily blickte nachdenklich gen Himmel, der zum größten Teil vom frischen Laub und dem Geäst der riesigen Bäume verdeckt war. „Meinst du, meine Mama wird auch kämpfen?“ „Ich weiß nicht.“ Eva hatte sich jetzt mit dem Rücken an die Holzpuppe gelehnt und blickte aus den Augenwinkeln zu ihrer besten Freundin hinauf. „Vielleicht. Deine Mutter ist stark. Irgendwie anders, als die anderen Elfen.“ „Ja“, antwortete Lily und schwieg danach für ein paar Sekunden. „Ich hoffe, dass sie es nicht tut.“ Eva konnte diese Äußerung zu diesem Zeitpunkt einfach nicht verstehen, auch wenn sie sich selbst große Sorgen um ihre eigene Mutter machte, wann immer von Kampf oder sogar Krieg die Rede war. Das Mädchen fürchtete sich zwar davor, wusste aber auch, wie viel ihr daran lag, gegen die Dunkelelfen in die Schlacht zu ziehen. Deswegen verstand sie es auch nicht, dass sie von ihrer geliebten Mutter stets zurechtgewiesen wurde, wann immer sie Interesse für den Schwertkampf, Reiten oder das Rittersein bekundete. Das elfjährige Mädchen wollte nur Eines: In ihre Fußstapfen treten! „Da sind sie ja!“, rief Lily lauthals aus und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung einer kleinen Gruppe von Reitern, die sich im Schatten der riesigen Bäume bewegten. Als die verspielte Waldelfe ein ihr nur allzu bekanntes Gesicht in der Ferne ausmachte, hielt sie nichts mehr an Ort und Stelle, und sie schoss – so schnell sie nur konnte – den Rückkehrern entgegen. Eva tat es ihr gleich, wenn auch zu Fuß und nicht halb so enthusiastisch. „Mama!“, jubilierte Lily und warf sich der einzigen Elfe inmitten der Gruppe um den Hals. „Langsam, langsam mein Schatz!“, beruhigte die etwas stämmige, von zwei außergewöhnlich schönen Flügeln getragene Elfe, mit dem gelockten, schwarzen Haar ihre Tochter. „Du erwürgst mich noch!“ „Würde ich nie tun!“ Während die beiden Umarmungen, Küsse und Kosenamen austauschten, erreichte auch Eva die Karawane und schaute sich nach ihrer Mutter um, die sie zunächst nicht ausfindig machen konnte, was sie beunruhigte. „Onkel Lester“, wandte sie sich an den ältesten der Reiter, der in diesem Moment von seinem Pferd herabstieg, „wo ist denn Mama?“ Die großväterliche Figur tätschelte dem Mädchen liebevoll den Kopf. Mit seiner gewaltigen Pranke hätte er dem zierlichen Dreikäsehoch selbigen auch mühelos abreißen können. „Sie wird gleich hier sein, Eva.“ „Ach, und Kleines ...“ Lilys Mutter meldete sich zu Wort, ihre Tochter immer noch fest um sich geschlungen. „Sie hat dir etwas ganz besonderes mitgebracht!“ „Ehrlich?“ flüsterte das Mädchen erstaunt vor sich hin. Und kaum den Bruchteil einer Sekunde später erschien ihre Mutter inmitten des Getümmels. Zwischen dem halben Dutzend Rittern stach sie nicht nur ob ihrer gottgegebenen Schönheit, sondern dieses Mal vor allem auch wegen dem Blickfang, auf dem sie angeritten kam, heraus. Die bildhübsche Frau mit dem kastanienbraunen, vollen Haar, deren Körper in eine maßgefertigte, leichte Plattenrüstung gehüllt war, die bis ins kleinste Detail perfekt ausgearbeitet war und ihre Trägerin wie ein Gemälde erscheinen ließ, thronte doch tatsächlich auf einem leuchtend weißen Einhorn, einer Gottheit und den Tieren und, so dachte Eva völlig überwältigt von diesem Anblick, wohl auch unter Seinesgleichen. Noch bevor ihre Tochter irgendetwas sagen konnte, vergrub das schneeweiße Pferd die gehörnte Schnauze lieblich in ihren Händen. Voller Ehrfurcht begann das blonde Mädchen das Tier sanft zu streicheln und berührte dabei auch das glänzend silberne Horn. Es schien das Pferd überhaupt nicht zu stören. „Er mag dich, Eva“, versicherte die Reiterin ihrer Tochter mit einem Lächeln auf den samtenen Lippen. Das Einhorn ließ Eva einen Moment lang sogar vergessen, wie groß die Sehnsucht nach ihrer Mutter tatsächlich war, die sie eine viel zu lange Zeit nicht gesehen hatte. Ihre warme, sanfte Stimme frischte die Erinnerungen jedoch wieder auf. „M-Mama“, schluchzte das kleine Mädchen. Die Gefühle überwältigten sie in dieser Sekunde. „Da bist du ja endlich wieder!“ ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Als an diesem Tag in Caims der Morgen graute, lag eine ungleiche Schlacht in der trockenen Luft. Ein erneuter Kampf würde die Mauern der Festung Vyers erschüttern, wenn der weiße Ritter seinen Zorn gegen die armen Seelen richtete, die so dumm waren, sich ihm in den Weg zu stellen. Er würde keine Armee anführen. Sein Herz war der Antrieb, sein messerscharfer Verstand sein General und das Schwert seine Hundertschaften. Das Leid des Mädchens, das es verdiente, gerächt zu werden, könnte er mit dieser Tat nicht lindern, aber er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und ihnen ein blutgetränktes Bild vom Ausmaß der eigenen Schandtaten zu vermitteln. Heute würden keine Unschuldigen sterben! Die drei Männer, deren Blut als erstes den glänzenden Stahl des Bastardschwertes verdunkeln sollte, wussten gar nicht, wie ihnen geschah, als das weiße Ross die noch in Trümmern liegende Westflanke der Festung übersprang, und dessen Reiter ihnen mit brutaler Präzision die Leiber zerschnitt. Drei Hiebe reichten aus. Einer für jeden von ihnen. Die nächsten Toten, die nur noch darauf warteten, über ihr Ableben aufgeklärt zu werden, brachen aus einem Haus nicht weit von Pearce entfernt heraus, als sie die Schreie ihrer Artgenossen vernahmen. Einige wenige, übermütige Exemplare nahmen den Kampf gegen den weißen Ritter auf, der in voller Rüstung, das Gesicht unter seinem ausdruckslosen Helm vergraben, wie der Todesengel auf sie wirken musste. Sein Schwert durchbohrte auch noch den letzten Angreifer mit unmenschlicher Kraft. Der Schrei des Dunkelelfen alarmierte nun mehr und mehr Bewohner der befestigten Stadt. Pearce entschied, sich nicht mehr länger mit dem Fußvolk aufzuhalten und stürmte im Galopp ins Zentrum Vyers', wo er sich symbolisch vor den Toren des höchsten Turmes aufbaute, während sich dutzende Soldaten um ihn herum zu positionieren begannen und ihn schon bald eingekreist hatten. Dima wich nicht zurück und sein Herr war ebenso fest entschlossen, diese ungleiche Schlacht zu schlagen. Lange zögerten die Spitzohren. Sie waren eingeschüchtert vom imposanten Anblick des Fremden. Waren erstaunt, dass er auf einem so mystischen Wesen daherkam. Dem Signal eines ihrer Artgenossen folgend, stürmten die Kämpfer schließlich auf den Eindringling zu und versuchten mit aller Macht, ihn zu stürzen. Sie versuchten ihre Ängste mit lautem Gebrüll zu verjagen. Mit zunehmender Mühe wehrte Pearce ohne Gnade eine Welle des Angriffs nach der anderen ab. Er schlachtete die blauhäutigen Elfen dahin wie Vieh und bemerkte dabei gar nicht, wie ihn seine Feinde immer schwerer verletzten. Einmal in Rage versetzt, verjagte das Adrenalin jedwedes Schmerzempfinden des Mannes. In dieser besonderen Nacht fühlte Pearce die vollkommene Ekstase, weil er wusste, dass diese Monster den Tod verdient hatten. Eine rostige Lanze durchbohrte schließlich den Hals des Einhorns, das dieser fatalen Verletzung sofort erlag und zu Boden sackte. Erst, als sich Pearce auf seine eigenen Beine angewiesen sah, begann ihn der Schmerz zu überwältigen, doch er kämpfte weiter, immer weiter. Gerade, als die Dunkelelfen vor Ehrfurcht zurückzuweichen schienen und sich Pearce wieder Erwartens des Sieges sicher war, hinderte ihn eine unerklärliche Macht sein Schwert nur mehr in der Hand zu halten. Jede Selbstkontrolle und all seine noch verbliebenen Kräfte verließen den Krieger, der so aufopferungsvoll wie naiv den Kampf gegen eine ganze Stadt aufgenommen hatte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was mit ihm geschah. Niemand in Reihen der umstehenden Soldaten wollte ihm den finalen Schlag verpassen, obschon selbst der letzte Anfänger das in jener Lage hätte tun können, und sie alle, so stand es in ihren hasserfüllten Augen geschrieben, geradezu danach lechzten. Dann trat eine prachtvolle, weibliche Gestalt aus der Menge hervor, die Pearce sofort mit den Augen fixierte und ihm schlagartig klarmachte, welches Schicksal ihn ereilt hatte. Ihr silbernes Haar und die prächtige Rüstung verrieten sie auf den ersten Blick: Es war eine Magierin, die ihn nun vollends in der Hand hatte und der das alles nicht einmal eine einzige Schweißperle in das makellose Gesicht trieb. Sie schritt über die vielen leblosen Körper und die Pfützen aus dem Blut ihrer Artgenossen hinweg auf den weißen Ritter hinzu, dessen Mut ihr zumindest Respekt abverlangte. „Unglaublich ... diese Macht ...“ Uriah stand jetzt genau vor dem Mann, der, seither Uriah ihn paralysiert hatte, in unveränderter Pose wie angewurzelt vor dem Haupttor von Gardifs Turm weilte. Uriah entfernte vorsichtig den Helm von seinem Kopf, und es offenbarte sich ihr, sowie den mordlüsternen Dunkelelfen in ihrem Rücken das Gesicht eines Menschen, ganz wie sie es erwartet, wenngleich auch nicht gehofft hatten. Ob es der Magierin nun gefiel oder nicht: Ohne Zweifel passte das Gesicht zu der Entschlossenheit, der Wut und den Fähigkeiten, die der Ritter im Kampf unter Beweis gestellt hatte. „Sag mir, Mensch, wer bist du?“ „Lady Uriah, wen interessiert das? Wir reißen ihm die Eingeweide heraus!“ dröhnte es aus der Menge. „Noch nicht! Erst will ich Antworten!“, hielt sie ihre Untertanen im Zaum und richtete sich anschließend wieder an den Menschen. „Also?“ Kontrolle hatte er nur noch über seine Augen und sein Denkvermögen. Letzteres zwang ihn einen flüchtigen Blick auf Dima zu werfen, diesem erhabenen Wesen, das nun tot in einem See des eigenen Blutes lag. Der Anblick rührte den Mann zu Tränen. Tränen der Trauer und der Wut. „Mein Name ... ist Rache ...“, keuchte Pearce, der sich kaum noch bei Bewusstsein halten konnte. „Mein Name ist ... Vergeltung! Mein ... N-name is-t ...“ Die Welt um den weißen Ritter herum, wurde allmählich pechschwarz. ___________________________________________________________ Noch immer folgte die bunte Gemeinschaft der Hochstraße, die sie in den letzten Stunden über die facettenreiche und schlichtweg atemberaubende Landmasse Adessas getragen hat. Beinahe drei Tage lang konnte die Karawane ohne größere Schwierigkeiten nach Norden durchmarschieren. Für Peter verlief die Reise bisher sogar überraschend erfolgreich. Das zufriedene Grinsen auf seinem Gesicht konnten ihm selbst bevorstehende schlechte Nachrichten nicht vertreiben. Ein weiteres Mal wies Eva die Gruppe an, Halt zu machen. Dieses Mal nur mit einer Handbewegung. Den linken Zeigefinger legte sie bezeichnend über ihre Lippen. Schlagartig wurde es um Peter herum still. Sogar die beiden Elfen verschlug es auf den harten Boden der Tatsachen, da das Lichtspiel ihrer Flügel zu viel Aufmerksamkeit erregte. „Was ist da wohl los?“, flüsterte Peter in Lilys Richtung. „Shh!“ Sie wies ihn mit der selben Geste zurecht, die Eva an der Spitze des Zuges noch immer aufrecht erhielt. Wie es aussah, sollte er keinen Laut mehr von sich geben – weswegen auch immer. Peter sah, wie einige der Frauen und Männer – darunter Eva, Elmo und Reyne – vorsichtig und auf absolute Ruhe bedacht von ihren Pferden stiegen und sich gebückt bis zum Rande des Hügels vorwagten. Eine Minute später zogen sie sich wieder zurück; nicht mehr darauf erpicht den Geräuschpegel so niedrig wie nur irgend möglich zu halten. Peter vernahm die beginnenden Gespräche und beschloss, sich in den erhabenen Kreis der Redner und Zuhörer zu wagen. Zu seinem Erfreuen störte sich niemand daran. Der Franzose suchte sich einen freien Platz in der Nähe der blonden Anführerin und kam noch gerade rechtzeitig, um den Grund für die plötzliche Besorgnis der Leute zu erfahren. „Gamdscha. Ungefähr ein Dutzend.“ „Wohl eher mehr“, warf Elmo ein. „Wirklich großartige Neuigkeiten!“, Rios resignierte. „Und“, meldete sich Cecil, der Mann in der Mönchskutte zu Wort, dem Peter seit Verlassen des Lagers in Ballybofey zum ersten Mal so nahe gegenüberstand, „was gedenkst du nun zu tun, Eva?“ Auch wenn Cecil ganz eindeutig zu der kleinen Fraktion um Rios herum gehörte, mangelte es ihm, anders als seinem Freund, nicht an Höflichkeit und Manieren. Tonfall und Wortwahl des Mannes hinterließen einen positiven Eindruck bei Peter, wie auch sein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild. Eva war um eine Antwort auf seine Frage sichtlich bemüht. Mit einer solchen Entdeckung hatte sie nicht gerechnet. Sie strich sich mit der Hand durch die Haarsträhnen, die ihre Narbe verdeckten. Er wusste es zwar nicht mit Sicherheit einzuschätzen, doch erschien Peter diese unscheinbare Bewegung wie ein erstes Zeichen von Nervosität und Hilflosigkeit. „Wir sollten warten, bis sie sich zurückziehen“, schlug die junge Frau schließlich vor. „Worauf sollen wir warten?“, entfuhr es Rios mit zorniger Stimme. „Die werden wahrscheinlich nie mehr verschwinden, schließlich gibt es hier ja alles, wonach es ihnen sinnt!“ „Es ist eine kleine Herde. Womöglich hat Rios recht, sie könnten hier noch eine lange Zeit verweilen.“ Lester schloss sich nur sehr ungern der Meinung des Querulanten an, wie er Rios vor kurzem noch so vortrefflich betitelt hatte. Eva gab letztlich nach und bat ihre Mitstreiter um Hilfe. Eine echte Premiere, dachte Peter. „Also ...“, seufzte sie. „Was schlagt ihr stattdessen vor?“ „Wir nehmen einen anderen Weg! Versteht sich doch von selbst!“ In der Tat war das die logische Konsequenz. Der eigentliche Weg wurde der Karawane von dutzenden Monstern versperrt, die in ganz Minewood für ihre blutrünstige, aggressive Natur bekannt und gefürchtet waren, demnach musste man ihnen wohl oder übel ausweichen. „Das sollten wir nicht tun“, drang es aus Elmos Kehle fast ängstlich hervor. „Dann doch lieber durch die Gamms hindurch.“ „Was? Hast du etwa Angst?“, verspottete Rios den stolzen Krieger, in dessen Gesicht man unschwer lesen konnte, was er daraufhin am liebsten mit dem älteren Mann gemacht hätte. „Du bist doch nicht etwa abergläubisch, oder? Kann mir nicht vorstellen, dass einer wie du an diese kindischen Spukgeschichten glaubt.“ „Spukgeschichten sind das also? Kindisch, ja?“ Elmo redete sich schnell in Rage. „Wie nennst du das denn?“ fragte er provokant und zeigte auf das Einhorn, dessen rechtmäßiger Herr mal wieder gehörig im Dunkeln tappte. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber vor sechs Jahren noch hätte ich die Existenz von Elfen und Einhörnern auch vehement abgestritten – aber sie existieren, verdammt noch mal! Wie kannst du also so selbstsicher bestreiten, dass die Legenden um die verlorene Stadt wahr wären, huh?“ „Geistergeschichten fallen auch hier in Minewood in die Kategorie Schwachsinn, du Feigling!“ Reyne musste ihren engsten Vertrauten zurückhalten. Auch Eva bemerkte, dass dieses Zwiegespräch kurz davor stand, zu eskalieren, und schritt ein. „Genug jetzt! Beruhigt euch wieder, alle beide!“ Die zierliche Person stand jetzt mit ausgebreiteten Armen zwischen den bulligen Kerlen. „Ob hinter den Legenden um Ballymena [ Bell-Me-Na ] nun Wahrheit steckt, oder nicht, es sieht ganz so aus, als hätten wir keine andere Wahl, als das herauszufinden, denn das wird unser Weg sein! Verstanden?“ Sogar Rios, der diesen internen Machtkampf mit dem grünhaarigen Heißsporn gewonnen zu haben glaubte, rang sich ein Jawohl ab. Die Entscheidung war also gefallen, was für Peter wenig Unterschied machte, da ihm jeder vor ihm liegende Quadratmeter dieser Welt noch völlig unbekannt war. Natürlich beunruhigten ihn die Andeutung Elmos, vor allem, da es dem sonst so selbstbewussten und risikofreudigen Mann große Sorgen zu bereiten schien, diesen bestimmten Weg einzuschlagen. „Ihr solltet euch das wirklich nicht entgehen lassen, Leute!“, rief Aarve der Gruppe zu, die auch während der hitzigen Diskussionen immer bemüht war, den Flüsterton beizubehalten. Umso schockierter waren sie alle, dass der hellblonde Neuling so gedankenlos herumschrie. „Was denkst du dir eigentlich?“ Eva stürmte auf den Mann zu und wollte ihn gerade die Leviten lesen, als sie ebenfalls sah, was er entdeckt hatte. „Oh Gott ...“ Durch Evas Entsetzen wurde der gesamte Zug hellhörig und schob sich neugierig bis an den Rand des Hügels vor. Sie alle teilten schon bald darauf die Gefühle ihrer Anführerin. Die Schweine ähnlichen Riesen waren in helle Aufregung versetzt. Grund dafür war eine Gruppe todesmutiger Dunkelelfen, die wohl eher unabsichtlich in diese lebensgefährliche Situation geraten waren. Jedem der Beobachter war klar, dass die vier Frauen und zwei Männer nicht die geringste Chance hatten, aus dieser Sache wieder heil heraus zu kommen. Keiner konnte wegsehen, als die Gamdscha ihre unerwarteten Gäste wie Vieh zusammenpferchten und schließlich über sie herfielen. Es dauerte keine Minute und die blauen Zweibeiner waren in einem blutigen Massaker völlig aufgerieben worden. Mit ihren riesigen Pranken erschlugen einige Gamms die Elfen mit einer grotesken Leichtigkeit, die ihre barbarische, abnorme Kraft offenbarte. Eine der Frauen wurde von zwei kleineren Abkömmlingen dieser grässlichen Wesen buchstäblich in zwei Hälften gerissen. Ihre panischen Schreie verwandelten sich in diesem Augenblick zu einem nassen Röcheln. Auch wenn Gamdscha Fleischfresser waren, hatten sie kein Interesse an den blutigen Überresten der Spitzohren. Einige jüngere Exemplare vollführten ein paar abstrakte Kunststücke mit den toten Körpern, spielten damit, bis sie letzten Endes von ihnen abließen und die Kadaver inmitten ihres Lagers der Natur überließen. Bis auf Lily und Jin hatte sich ausnahmslos jeder längst von der grausamen Szenerie abgewandt. Selbst Aarve, der zunächst große Genugtuung empfand, als er erahnte, was den verhassten Dunkelelfen widerfahren würde, dem das Schlachtfest nach kurzer Zeit aber ebenfalls schwer auf den Magen schlug. Die kleinen Elfen jedoch waren völlig starr vor Schreck. War Lily von Natur aus blass, dann in diesem Moment so kreidebleich wie ein Blatt Papier. Die Hände hielt sie vor dem Mund verschränkt. Endlich bemerkte Peter ihren Zustand und zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich herunter. Ihr zierlicher Körper zitterte wie Espenlaub. „Um Himmels Willen!“, schluchzte Maio, der seit Jahren in Elmos Präsenz kaum mehr ein Wort gesprochen hatte, es in diesem Moment aber nicht mehr zurückhalten konnte. „Waren das die Jäger, die uns auf den Fersen sein sollten?“ „Es waren Jäger“, antwortete Reyne. Sogar ihre Stimme bebte. Das Geschehene war auch für die standfeste Dunkelelfe nicht ohne weiteres zu verarbeiten. „Doch muss das nicht heißen, dass wir nicht mehr gejagt werden.“ „Lasst uns bitte schleunigst von hier verschwinden!“, brachte es der zweitjüngste Ritter der Gruppe, Tatum, auf den Punkt. „Ausgezeichnete Idee“, hallte es bestätigend aus der Gruppe zurück. Rios gab die Richtung vor. Während die Truppe ihre Pferde sattelte und sich bereit machte, in die entgegengesetzte Richtung aufzubrechen, um einen Weg in nordwestliche Gefilde einzuschlagen, den man vor rund einer Stunde passiert und guten Gewissens keine größere Beachtung geschenkt hatte, war Peter damit beschäftigt, einer Elfe den Schrecken auszutreiben. „Lily?“ „Was hat sie?“ Es war Jin, der sich dem Jungen angenähert hatte; seine Augen glänzten, doch hielt er seine Tränen zurück. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: eine Überdosis Gesichter des Todes.“ Er wollte eigentlich gar nicht witzig sein, somit misslang es dem Franzosen zumindest nicht. „Sie kommt einfach nicht zu sich.“ „Und was machen wir jetzt?“ „Peter! Beeilt euch!“ Eva rief in scharfem Ton nach den Spätzündern. Die gesamte Karawane war schon wieder in Bewegung. „Ich kann sie tragen“, schlug Jin vor. „Das schaffe ich!.“ „Nein ... Nein danke, nicht nötig.“ Peter bemerkte, dass Lilys Augen mittlerweile geschlossen waren, offensichtlich hatte sie das Bewusstsein verloren. „Ich werde sie mitnehmen.“ ... ... ... ... ... ... Ballybofey. Sieben Jahre früher (Minewood-Zeit) Lily und Eva waren den ganzen Tag nicht von dem Tier zu trennen gewesen. Sie waren gleichermaßen begeistert von dem Einhorn, dessen Ankunft längst eine ganze Schar von Elfen zur Taverne gelockt hatte. Jung und alt standen beeindruckt und tuschelnd vor den Stallungen und ergötzten sich am Anblick des weißen Pferdes mit dem prächtigen Horn auf der Stirn. Die beiden Mädchen und deren stolze Mütter genossen indes das verdiente Privileg, dem Einhorn viel näher sein zu dürfen, als die anderen. „Schau!“, wies Lily ihre beste Freundin an, als der Hengst ein kurzes Schnauben von sich gab. „Ich glaub er hat geniest.“ Die Elfe flüsterte ganz leise, so als ob sie befürchtete, das Tier zu erschrecken, würde sie zu laut sprechen. „Wie süß!“ Nicht weit von ihnen entfernt unterhielten sich die Mütter der verzauberten Mädchen. Sie wirkten dabei so sehr wie nie wie ältere Ausgaben ihrer Sprösslinge. „Da hast du ja was angerichtet, Lara!“ „Was meinst du?“, fragte Evas Mutter die Elfe neben ihr, die nur einen Kopf kleiner war als sie. „Nun ja, jetzt gibt es hier noch jemanden, den die zwei auf keinen Fall werden gehen lassen wollen.“ Es war scherzhaft gemeint, traf den Nagel aber auf den Kopf. Eine Reise vom Elfenwald nach Tapion war nicht nur strapaziös, sie war vor allem auch gefährlich. Hinzu kam, dass Lara und Daimia ihren Töchtern während ihrer Abwesenheit keine Nachrichten zukommen lassen konnten, mit denen sie ihren geliebten Töchtern die Angst um das Wohlergehen ihrer Mütter, die sie Tag für Tag begleitete, hätten nehmen können. „Mama, er ist klasse!“ feierte Lily die Bescherung gestenreich. „Er ist sooo groß und richtig zahm, man kann sogar sein Horn berühren!“ „Das mag es nicht!“, mischte sich Eva belehrend ein. „Und wie kommst du überhaupt darauf, dass es ein Er ist, hast du nachgeschaut?“ „Tja ... naja.“ Verlegen wandte sich die zerbrechliche kleine Gestalt den Erwachsenen zu. „Ha ha, es ist ein Junge, ja!“ Daimia war amüsiert über den frechen Mut ihrer Tochter. Im krassen Gegensatz dazu stand wiederum Evas übertriebene Scham. Die Charaktere ihrer Eltern hatten zweifelsohne abgefärbt. Daimia hatte keinerlei Probleme damit, sich im Verhalten ihrer Tochter wiederzuerkennen, schließlich erzog sie das Mädchen mit strenger Hand, so wie sie es einst selbst erfahren hatte. „Hat er denn schon einen Namen?“, fragte Eva ihre Mutter neugierig. „Nun ...“ Lara hielt einen Moment lang inne, das sie es ihrer Tochter natürlich gegönnt hätte, das Einhorn taufen zu dürfen, doch war diese Möglichkeit leider schon verwirkt. „Ja, den hat er.“ Das Mädchen ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Ihrer Mutter gegenüber war sie stets bemüht, die Fassung zu bewahren, auch wenn es ihr in so jungen Jahren nicht immer gelang. „Verstehe. Und wie lautet der?“ Lara zog es in die unmittelbare Nähe ihrer Tochter. Sie legte ihre warmen Hände mütterlich auf die Schultern des Mädchens und musterte die traurigen, dunklen Augen des Pferdes, die immerwährende Melancholie ausstrahlten. Wurden diese Tiere den Ausdruck der Schwermut nicht los, war Lara seit jeher in ihr gefangen. Einzig das zarte Wesen, dessen hübscher, blonder Schopf an ihre Brust gelehnt war, ließ sie vergessen. „Momo.“ ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Der Rachefeldzug, auf den Pearce sich für ein fremdes Mädchen begeben hatte, und der von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, endete letztlich in Gefangenschaft. Erst beraubten ihm die Dunkelelfen seines besten Freundes, schließlich auch seiner Rüstung und seiner Waffen. Was ihm jetzt noch blieb, war sein Leben, zumindest so lange er der Hexe noch von Nutzen sein konnte. „Warum nur kann ich deine Gedanken nicht lesen, mein stolzer Krieger?“ Uriah klang zwar besonnen und ausgeglichen, verspürte dem Mann gegenüber allerdings großen Zorn. Dabei maßgebend war wohl der Umstand, dass sie den ganzen Tag lang versucht hatte, Informationen aus ihm herauszuquetschen, bisher ohne jeden Erfolg. Es wollte sich der mächtigen Hohepriesterin nicht erschließen, wie ein Mensch in seinem Zustand eine so widerstandsfähige, mentale Barriere aufzubauen im Stande war. Da dieses Hindernis aber ohne jeden Zweifel, wurde Uriah erst recht neugierig. „Wie nur?“ Uriah erhob sich von der steinernen Bank, die ihr in diesem zur Folterkammer umfunktionierten Kellergewölbe als Sitzgelegenheit diente, und bewegte sich Schritt für Schritt auf Pearce geschundenen Leib zu. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß vor den anderen setzte, fügte sie einer Frage, die ihr schon lange auf der Zunge brannte, ein weiteres Bruchstück hinzu. „Wie nur kann ich ... diese ... harte Schale ... DURCHBRECHEN?“ Das letzte Wort schrie sie heraus und ohrfeigte den Mann, der ihr völlig ausgeliefert war. Seine Arme und Beine waren gefesselt. Er hing an einer rostigen Stahlkette, die um seine Handgelenke befestigt war, von der Decke des Raumes, den nur noch spärliches Kerzenlicht erhellte, da die Nacht sich allmählich herabsenkte. „Du ...“ Pearce keuchte mit letzter Kraft einige Worte in Uriahs Richtung. „Du bist nicht die einzige ...“ Er sah das sich ausbreitende Entsetzen in ihren geheimnisvollen, silberfarbenen Augen und wusste sofort, dass sie ihn ganz genau verstanden hatte. Das Letzte, was Pearce in diesem Leben von sich gab, war ein kraftloses Lachen. Uriah brach ihm das Genick, ohne dabei auch nur einen Finger zu rühren. ___________________________________________________________ Es war kalt im dunklen Territorium. Viel kälter, als auf den Pfaden, die die Karawane bisher beschritten hatte. Den beiden Elfen und Peter schien das einmal mehr stärker aufs Gemüt zu schlagen, als dem Rest der Truppe. Lily und Jin waren um ihre leichte Bekleidung zudem nicht zu beneiden. Dieser Ort war in keiner Weise zu vergleichen mit dem schwül-warmen Paradies, das sie Heimat nannten. „Ich hoffe wir sind bald da!“, sprach Jin in Peters Richtung aus, der gleichwohl ebenso fror, es allerdings besser zu verstecken wusste. „War das jetzt eine Frage?“ Ratlos schaute er dem Elf in die großen, dunklen Augen. „Ich hab nämlich nicht die leiseste Ahnung, wo wir überhaupt sind.“ Das dunkle Territorium war passenderweise die ursprüngliche Heimat der Dunkelelfen, auch wenn man – so hatte es Eva den unwissenden Neulingen auf deren Drängen hin erklärt – dieses Gebiet erst nach dem großen Krieg auf diesen unheilvollen Namen umtaufte. Die Mühe, noch tiefer in die Geschichte Minewoods einzutauchen, machte sie sich allerdings nicht. Wahrscheinlich hätte das auch mehr Fragen aufgeworfen, als letzten Endes beantwortet. „Unser Ziel ist Ballymena, die Hauptstadt des früheren Königreiches.“ Viola hatte sich unbemerkt an Peter und die beiden Elfen, die sich stets in der Nähe des Jungen aufhielten, herangeschlichen. „Einst war sie ein Knotenpunkt des Lebens in Adessa, verband Norden und Süden, Licht- und Dunkelelfen. Was davon allerdings übriggeblieben ist, wird mit der belebten Metropole von damals wohl nicht mehr viel gemein haben, fürchte ich.“ „Heißt das, du weißt gar nicht, was uns erwartet?“, fragte Peter überrascht nach. Wieder einmal wusste die Unerfahrenheit des Franzosen die Kriegerin zu amüsieren. „Woher denn auch? Bisher hat sich noch kein Mensch in das zerstörte Königreich vorgewagt! Und soweit ich weiß ...“ Ihr Blick wanderte zu Lily herüber. „auch kein anderes Wesen.“ Die Nachrichten bedrückten den Jungen, und es beschlich ihn das dumpfe Gefühl, dass Viola genau darauf abzielte. Zum ersten Mal seit Stunden sprach das zusammengekauerte Mädchen im Schoß des Jungen wieder einen Satz, der klar und deutlich zu verstehen war und ihre Übelkeit kurzzeitig vergessen machte. Im Dunkel der Nacht wirkte die ohnehin eher blasshäutige Elfe nicht mehr so kränkelnd bleich, sprach aber so mut- und kraftlos, dass das Bild, welches sie abgab, noch immer in hohem Maße Mitleid erregend war. Welch grauenhafte Bilder das sonst so lebenslustige und freche junge Ding am Vorabend dieses Tages hatte mitansehen müssen, stand ihr noch immer ins kindliche Gesicht geschrieben. „Und?“ Lily setzte das Gespräch fort, an dem der Neunzehnjährige gerade Interesse zu verlieren schien. „Was glaubst du, wird uns dort erwarten?“ „Was immer die Zeit noch nicht wieder zu bereinigen imstande war, Kleines.“ Obwohl sich die Frau im engen Lederanzug ganz genau darüber im Klaren war, dass ihre Andeutungen beunruhigende Gedanken in der lebhaften Fantasie ihrer Zuhörer auslösen würden, lächelte sie wie eine Heilige. „Doch eine unschuldige, junge Elfe wie du es bist, muss sich darüber doch nicht den Kopf zerbrechen, oder? Wer oder was könnte denn so herzlos sein, einem so hilflosen und friedfertigen Wesen etwas anzutun?“ Mit ihrem unentwegt aufrecht erhaltenen Grinsen zog Viola wieder an der kleinen Dreiergruppe vorbei, deren Nerven sie soeben genüsslich strapaziert hatte, und gesellte sich zu Ihresgleichen. Lily und Peter teilten Beunruhigung und Wut gleichermaßen. Wo es dieses überhebliche Frauenzimmer auch hinziehen mochte, sie war dort besser aufgehoben, als in der Nähe der beiden. Peter hatte in sehr kurzer Zeit die Wandlungsfähigkeit dieser Dame zu Gesicht bekommen und war sich unsicher, wie viele Facetten noch unter ihrem trügerischen Lächeln verborgen lagen. In gewisser Hinsicht galt dies auch für die Elfe in seinen Armen, die nach den jüngsten Ereignissen ihre sonst so aufbrausende Art vermissen ließ. Sie war eben noch ein Kind und konnte diese unumstößliche Tatsache in ihrem augenblicklichen Zustand nicht mehr so gekonnt verbergen, wie es sonst tat. Zumindest war sie wieder bei Bewusstsein. Die Karawane stoppte in mehreren Wellen. „Sind wir da?“, fragte Lily schlaftrunken. „Ich weiß nicht.“ Auch Peter konnte mit dem plötzlichen Halt nichts anfangen. „Sind wir?“ Entschlossen, nicht wieder im Dunkeln tappen zu wollen, ließ der Franzose Momo zur Spitze des Zuges traben. Es wäre vermessen gewesen, zu behaupten, Peter hätte es innerhalb eines einzigen Tages geschafft, zu einem deutlich besseren Reiter heranzureifen – das Einhorn aber reagierte mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf seine Befehle, dass es ihm leicht gemacht wurde, zu brillieren. „Wieso halten wir, Eva?“ „Es ist Nacht“, stellte sie emotionslos fest. „Die Stadt ist wahrscheinlich auch am Tage zu gefährlich, um sie zu durchqueren. In der Nacht kommt das aber überhaupt nicht in Frage. Nicht unter meiner Führung.“ Peter fühlte sich stark an das erste Gespräch mit der jungen Frau erinnert. Wie er vor einigen Tagen erfahren hatte, litt sie sehr unter den Folgen des fehlgeschlagenen Angriffs auf Gardif. Es hatte keines Psychologen bedurft, darauf zu kommen, dass sie sich schuldig fühlte – wahrscheinlich tat sie es noch immer. Es bedurfte demnach auch jetzt keines Experten, um festzustellen, dass etwas nicht stimmte. „Kannst du die Tore Ballymenas erkennen? Dort,“ Sie wies dem Jungen mit dem linken Zeigefinger die Richtung, „wo sich der Wald lichtet?“ Er bemühte sich – sehr sogar-, doch alles, was Peter in der Ferne erkennen konnte, war der Wald, den Eva erwähnt hatte und den Fuß einer Gebirgskette, die so düster wie die angebrochene Nacht den Horizont verdunkelte und von Nebelschwaden eingehüllt war. Die letzten paar Stunden folgten die Frauen und Männer einem Pfad, der sich zweifellos in dieser Region verlor und die Gruppe genau dorthin führen würde, wo Peter nur karge Gesteinsmassen auszumachen im Stande war. „Nicht wirklich, fürchte ich.“ „Du siehst doch aber das Felsmassiv, oder?“, versuchte die junge Frau es weiter. „Äh, ja ... Ist das etwa?“ „Ganz genau!“ Peter kniff ungläubig die Augen zusammen und bemühte sich das Gebiet in der Ferne nach Anzeichen von Zivilisation abzusuchen. Doch vergebens. „Natürlich ist die Stadt nicht mehr das, was sie einmal war. Ballymena war schließlich das Zentrum der Auseinandersetzungen.“ Eva brach ihre Ausführungen für kurze Zeit ab. „Allerdings kann ich dir nicht sagen, was uns dort erwarten wird. Ich war schließlich auch noch nie hier. Überhaupt trifft das auf jeden hier zu, bis auf Lester, musst du wissen. Alles was ich über die Dunkelelfen weiß, habe ich bei ihm aufgeschnappt. Falls du also Fragen hast, bist du bei Lester an der richtigen Adresse.“ „Verstehe.“ Peter zweifelte nicht an der Auffassungsgabe der hübschen Frau. Sie hätte die Geschichten des alten Kauzes, der sie nie aus den Augen ließ, vermutlich sogar besser erzählen können, als ihr Urheber, schien aber kein großes Interesse daran zu haben. Ein wenig kränkte den Franzosen das, der jedoch Verständnis für ihre Ungeduld zeigte. „Und was geschieht jetzt?“ „Wir machen Rast bis zum Morgengrauen!“, verkündete Eva lauthals, sodass der gesamte Zug hellhörig wurde. „Zudem halte ich es für angebracht, schichtweise Wache aufzustellen. Zum einen gehen wir so kein unnötiges Risiko ein, zum anderen erlaubt uns das ein zentrales Feuer aufrecht zu erhalten. Der Kälte wegen.“ Niemand machte Murren. An ihrer Order gab es schlichtweg nichts auszusetzen, auch wenn die junge Anführerin Rios zugetraut hätte, dass er ohne zu zögern auch in tiefster Nacht durch das unbekannte Gebiet geritten wäre. Für den Augenblick lief alles nach Plan. Die Unsterbliche Seele I ------------------------ Kapitel 12 – Die Unsterbliche Seele I Nerven bewahren – so die Devise des kleinen Spionagetrupps-, nun, da man endlich die Fährte der Menschen hatte aufnehmen können. Unter normalen Umständen wäre die Entdeckung der Hufspur, über der Braja seit geraumer Zeit hockte, Grund zur Freude gewesen, doch bedrückte die drei umherziehenden Dunkelelfen eine andere Sache zu sehr, um den Moment wirklich auskosten zu können. In der Tat hing der Erfolg ihrer Mission in diesen Augenblicken am seidenen Faden. Der Kontakt mit ihren Gefährten am Strand war schon vor geraumer Zeit abgebrochen, zudem war vom zweiten Zug noch immer keine Spur, obschon Braja, Leiria und ihr lästiges Anhängsel Sang ihnen mittlerweile längst hätten begegnet sein müssen. Was die beiden jungen Frauen ahnten, sprach der Sohn des Kommandanten dann schließlich aus. „Etwas ist schief gelaufen. Sie werden nicht mehr kommen.“ „Was macht dich da so sicher?“ Die Irritation in ihrer Stimme verriet, dass Leiria selbst starke Zweifel hegte. „Vielleicht wurden sie nur aufgehalten!? Wir müssen immer noch auf Fin warten!“ „Dein dummer Vogel scheint sich aber verflogen zu haben!“ „Unsinn!“, wiegelte die Elfe scharf ab. „Er verliert niemals die Orientierung.“ „Was du nicht sagst ...“ Einmal mehr führte der Dialog der beiden jungen Elfen ins Nirgendwo. Überraschenderweise war es diesmal jedoch Sang, der von den Streitigkeiten ablenkte. „Fakt ist, dass diese Idioten überfällig sind, genau wie eine Nachricht vom Strand“, stellte der schlanke Elf fest, der nachdenklich am Stamm eines vereinsamten Baumes lehnte. „Was für Schlüsse kann man daraus denn bitte ziehen?“ Natürlich handelte es sich dabei um eine rein rhetorische Frage, die keine der beiden Frauen bereit war, zu beantworten. „Na, sag ich's doch! Wir sollten schleunigst von hier verschwinden!“ Nun schaltete sich endlich auch Braja in das Gespräch ein. Sie wandte ihr Augenmerk nach der genauen Inspektion von Huf- und Fußspuren im Sand ab und blickte Sang scharf an, der den kritischen Ausdruck in ihrem Gesicht nur schwerlich nachvollziehen konnte. „Ruhig Blut! Das ist noch lange kein Grund die Mission abzubrechen.“ „Wie bitte?“ Sang stand nun mit ausgebreiteten Armen und wild gestikulierend in der Prärie. Die Ratlosigkeit sprang ihm geradezu aus dem kantigen Gesicht. „Kein Grund? Das ist der Grund schlechthin! Einen triftigeren kann es ja wohl gar nicht geben!“ „Wir können unseren Auftrag immer noch ausführen“, belehrte Braja ihren Untergebenen. „Tz, erzähl doch keinen Unsinn du ...“ Sang verkniff sich die Beleidigung, da er trotz aller empfundener Abneigung zumindest noch Respekt vor seiner Anführerin und deren Fähigkeiten hatte. Zudem bewahrte die ältere der beiden Frauen ihrerseits stets einen angemessenen Ton ihm gegenüber. „Ich meine, unsere Leute wurden höchstwahrscheinlich von den Menschen aufgerieben. Das wisst ihr genauso gut wie ich. Wir sind also nicht mehr inkognito unterwegs, falls euch das etwas sagt.“ „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn sie wirklich entdeckt und in einen Kampf verwickelt wurden, wäre es gut möglich, dass die Menschen nicht mehr mit weiterer Verfolgung rechnen.“ Während Sang sich mit seiner Anführerin auseinandersetzte, untersuchte Leiria fast geistesabwesend den Himmel nach dem Flügelschlag ihres gefiederten Freundes, dessen treues Gemüt sie zu vermissen begann, vor allem jetzt, da sie Schlimmes befürchtete. Immer weiter entfernte sie sich von ihren Kameraden. Die junge Dunkelelfe erklomm einen steilen Hügel um eine bessere Aussicht zu erlangen. „Was zur Hölle wollen wir noch hier?“, fauchte Sang. „Wir sind doch sowieso nur in Adessa, um die Gemüter drüben abzukühlen. Wenn wir mit der Nachricht zurückkommen,“ Der listige Elf rollte die Augen, „dass die Menschen unsere Leute hier getötet haben, wird Gardif die Armee ausrücken lassen, da bin ich mir sicher! Wenn du dann immer noch so scharf drauf bist, in Adessa auf Wanderschaft zu gehen, melde dich eben freiwillig, ha ha!“ Braja war alles andere als amüsiert. „Hör mir gut zu Sang.“ Sie hatte den Finger drohend zwischen die Augen des jungen Mannes gerichtet. „Wir verschwinden hier genau dann, wenn ich es sage! Alles verstanden?“ Sie musste eingestehen, dass Sang guten Grund hatte, die Mission abbrechen zu wollen. Unter normalen Umständen wäre dies wohl auch geschehen. Doch Braja konnte und wollte nicht vergessen, was Lady Uriah ihr und Leiria in Caims mit auf den Weg gegeben hatte. Sie mussten den Jungen finden und zu ihr zurückbringen. Uriah zu enttäuschen, war gar keine Option. Das Sang früher oder später Schwierigkeiten machen würde, war ihr von Anfang an bewusst und trotzdem versuchte sie, das Unausweichliche noch aufzuschieben. „Verstanden“, erwiderte Sang nach einer kurzen Pause, in der er alle Abscheu gegenüber der Dunkelelfe in Gedanken zu blumigen Phrasen wandelte, jedoch nicht eine davon aussprach. „Gut. Wir brechen auf so---“ Braja vernahm den Schrei des Turmfalken, der die Aufmerksamkeit der Streithähne auf ihre Kameradin lenkte, die gute einhundert Meter entfernt von ihnen auf einer Anhöhe der Graslandschaft stand. Fin setzte zum Sturzflug an, kreiste einige Male mit stetig sinkender Geschwindigkeit um sein Frauchen herum und landete schließlich auf dem ausgestreckten Arm der zierlichen Person, die anscheinend genauso von dem anmutenden Tier überrascht worden war, wie ihre beiden Gefährten, da sie noch nicht den schützenden Handschuh übergezogen hatte. Die Krallen des Greifvogels richteten bis auf ein paar leichte Kratzer allerdings keinen ernsten Schaden an, die hervorragende Abrichtung des Tieres machte das schützende Leder fast überflüssig. Verzückt von den guten Manieren der gefiederten Schönheit, hielt Leiria dem Tier verspielt den Fing vors Gesicht, woraufhin es den Schnabel darum schloss – zu sanft um es einen Biss zu nennen. Es war dieser unscheinbare Moment, in dem die Elfe eine bedeutsame Entdeckung machte: Aus dem Geäst eines lichten Waldes nicht weit von ihrer Position, wateten zwei offensichtlich schwer geschundene Guris ins Freie. Das Geschirr schleifte auf dem Boden, von den Reitern keine Spur! Als Leiria die Tragweite ihrer Entdeckung realisierte, wandte sie sich in Richtung Braja und Sang, alarmierte das Duo mit einem lauten Pfiff und gab spurtend die Richtung vor. „Das sind definitiv unsere“, stellte Braja keuchend fest, nachdem sie mehrere hundert Meter gesprintet war. „Ja! Aber was ist mit ihnen geschehen?“ Tierlieb, wie sie war, besorgte sie die erbärmliche Erscheinung der verwirrten Wesen. Nichts erinnerte mehr an die Furcht einflößenden Zweibeiner, die auch diese beiden Exemplare einstmals verkörpert hatten. Ein Blick in die Augen der beiden, die wie geprügelte Hunde ihr Haupt baumeln ließen, verriet ihre Angst. Was sie auch durchgemacht hatten: Sie waren darum zu bemitleiden. „Arme Schweine“, brach es aus Sang heraus, der sich sonst wortwörtlich einen Dreck um die Nutztiere kümmerte. „Verzeihung ihr Zwei!“, unterbrach Braja ihre Leute. „Aber mich interessiert mehr, was mit den Reitern geschehen ist.“ „Was meinst du?“, fragte Sang irritiert. „Nun ja, wie es scheint, haben unsere Freunde eine andere Route eingeschlagen. Womöglich als sie auf die Karawane stießen, deren Spuren wir vorhin aufgespürt haben. Das würde einiges erklären.“ „Und?“ Der männliche Part des Trios wusste noch immer nicht, worauf seine Anführerin hinaus wollte. „Und? Wir werden es ihnen gleichtun! Die Spuren der beiden tapferen Kerle hier,“ Braja tätschelte einem der Drachenpferde die Stirn, „werden uns genau dort hinführen, wohin es unsere Gefährten verschlagen hat.“ „Von wo es ganze zwei verletzte Guris zurück geschafft haben, hast du vergessen!“ „In der Tat! Aber uns wird nicht dasselbe Schicksal ereilen, da wir nun nicht mehr überrascht werden können.“ „Das hoffst du ...“ „Mmh? Wie war das? Das ist eine großartige Idee?“, zog die Älteste der Gruppe Sang auf. Das wiederum war unmissverständlich. Der schlaksige Kerl trat den Rückzug an, mit der Absicht, Braja zu verärgern. Sie wusste nur leider genauso gut wie er, dass ihre Guris noch immer an der Fundstelle einige hundert Meter weit entfernt auf Abholung warteten. Es war die Gelegenheit unter Frauen einige Dinge zu klären. „Es fällt mir schwer das zuzugeben Bra, aber ich verstehe genauso wenig wie er, was eigentlich los ist.“ „Hör mir gut zu!“ Braja ergriff die Schultern ihrer Freundin und redete eindringlich auf das junge Ding ein. „Die anderen sind tot, Leiria. Davon müssen wir ausgehen. Was immer ihnen widerfahren ist – ich bin nicht versessen darauf es herauszufinden. Doch für unser Sang-Problem,“ Sie rollte die Augen, woraufhin Leiria einen Blick auf die ahnungslose Gestalt in der Ferne warf, „kommt das alles gerade recht. Sind wir ihn erst los, wird der Rest ein Kinderspiel!“ Als Braja auf dem Schiff das makabere Thema angeschnitten hatte, reagierte die junge Elfe noch euphorisch; doch nun, da sich die Situation so dramatisch zuzuspitzen begann, erkannte sie, dass dies nur daran gelegen hatte, dass sie damals den Ernst der Lage völlig verkannte. Würden sie Sang wirklich beseitigen? Könnten sie das überhaupt? „Hey!“ Braja spürte die Zweifel, die in ihrer besten Freundin aufkeimten und wie ihr Blick von ihr abwanderte. „Sieh mich an! Es gibt keinen Grund sich Sorgen zu machen. Alles läuft genau nach Plan. Wir tun das für Lady Uriah, für ein übergeordnetes Ziel, viel wichtiger als ... sein Leben.“ „... wirklich?“ „Aber ja! Auch wichtiger als unseres, Leiria. Ein Ziel, das es wert ist, dafür Opfer zu bringen.“ Einen Moment lang schwieg sie, obwohl ihre Ansprache gerade Früchte zu tragen schien. „Eine Zukunft!“ Was Braja auch sagte, wie richtig sie auch liegen mochte, der Gedanke daran, einen Artgenossen zu töten, drehte der Jägerin den Magen um. ___________________________________________________________ Bedachte man, an welchem Ort seine Gefährten und er für die Nacht halt gemacht hatten, konnte Peter wohl ohne Umschweife behaupten, eine ruhige und erfrischende Portion Schlaf genossen zu haben. Von Bedrohlichkeit oder unmittelbarer Gefahr war jedenfalls nichts zu spüren gewesen, und auch jetzt, da ihn der Lärm, den seine Kameraden draußen veranstalteten, aufweckte, schien alles bestens. Als Peter sich aufrichten wollte, bemerkte er, dass ein blasses Mädchen in seidigem, roten Kleid in der vergangenen Nacht erneut seine Gastfreundschaft in Anspruch genommen hatte. Diesmal ohne um Erlaubnis zu bitten, was ihn allerdings nicht weiter störte. Womöglich war es auch besser so, bedachte man, wie miserabel sie sich vor wenigen Stunden noch fühlte. Die Waldelfe lag mit dem Rücken zu Peter, der das zierliche Wesen in seinem halb wachen Zustand fasziniert musterte. Zumindest der Schlaf konnte ihr Temperament zügeln und sie dadurch so kindlich-ehrlich erscheinen lassen, wie sie wirklich war. Peter erinnerte sich affektiv an die erste Begegnung mit Lily in Ballybofey. Ihr überschäumendes Selbstbewusstsein zum Einen und wie sie ihm nur wenig später auf so hinreißende Art und Weise eine sinnlich weibliche Seite gezeigt hatte. Auch wenn er sich bei dem Gedanken daran vor allem peinlich berührt fühlte, bekam er auch jetzt noch eine Gänsehaut. Nur eine Sekunde später bereute es Peter, überhaupt darüber nachgedacht zu haben. Eva riss in voller Montur die Stoffplane am Zelteingang beiseite und benötigte einige Zeit, die Situation zu erfassen. Letztlich verkniff sie sich bemüht Gelächter, grinste jedoch sichtbar amüsiert und ließ sich einen Kommentar in Form einer unterschwelligen Botschaft nicht nehmen. „Na zumindest war sie die Nacht über in guten Händen.“ „Lustig ...“ Peter rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Ich lach mich kaputt, ehrlich. Zu deiner Information: Ich hab schon geschlafen als ...“ „Ja, da bin ich mir sicher“, unterbrach Eva den Jungen. „Wie auch immer, das macht dann Eine auf der Habenseite. Fehlen immer noch Sechs!“ Verwirrt blinzelte der Franzose Eva an. „Äh, wie bitte? Nochmal langsam bitte.“ Eva rollte die Augen. „Würde es ihnen etwas ausmachen?“, fragte sie in übertrieben höflichen Tonfall, während sie Peter aus seinen Gemächern heraus winkte. Er tat sein Bestes, die Elfe neben ihm nicht aus ihrem erholsamen Schlaf zu reißen. Sie hatte sich eine ausgiebige Ruhepause verdient, nach all den verstörenden Bildern der jüngsten Vergangenheit. „Was ist denn los?“, fragte Peter bei seinem tollpatschigen Versuch, sich aus dem engen Zelt zu zwängen. „Uns sind einige unserer Kameraden abhanden gekommen, könnte man sagen.“ So wie Eva das formulierte, schien es für sie von nicht sonderlich großer Bedeutung zu sein. Ein aufmerksamer Blick hinein ins Lager verriet jedoch das Gegenteil. Die noch anwesenden Frauen und Männer brachen, eingehüllt von einer nasskalten, morgendlichen Schicht aus Nebel, eifrig ihre Nachtlager ab. Dem Fortschritt nach zu urteilen, waren die Verbliebenen schon länger in Aufbruchsstimmung. Es ärgerte Peter, nicht früher geweckt worden zu sein – als hätte man ihm unnötigerweise irgendwelche Privilegien einräumen wollen. „Wer ist denn alles verschwunden?“ „Wie es aussieht Rios, Cecil, Maio, Tatum, Jin und Elmo. Nur ihre Pferde sind noch hier.“ Die ersten drei der aufgezählten Personen würde hier wohl niemand ernsthaft eine Träne nachweinen. Überhaupt deutete sich eine Art Revolte von Seiten der Opposition schon länger an. Wenig Sinn ergab jedoch, wieso Elmo und Jin sich dieser Splittergruppe angeschlossen hatten, vom loyalen Jungspund Tatum ganz zu schweigen. Und wieso war sie nicht bei ihren Freunden? Peters Augenmerk war auf Viola gerichtet, die in eine verbale Auseinandersetzung mit Reyne verstrickt war. „Was passiert da?“, fragte der Franzose neugierig. „Reyne will aufbrechen und auf eigene Faust nach Elmo suchen. Das passiert.“ „Aha. Und was tun wir währenddessen?“ Eva stand jetzt ganz nahe bei dem Neunzehnjährigen und schaute ihm eindringlich in die Augen. „Gar nichts, Peter“, eröffnete sie dem Jungen ihre Pläne. „Wir werden auf direktem Wege Ballymena durchqueren; so wie es geplant war. Wir haben weder die Zeit die Gegend nach ihnen abzusuchen, noch würde ich dieses Risiko eingehen wollen.“ Der Junge verstand die Welt nicht mehr. „Also belassen wir es einfach dabei? Sie sind verschwunden und das war's? Und wenn Reyne nun auch ...“ „Sie würde unsere Hilfe sowieso nicht entgegen nehmen, da sie so gut wie ich weiß, wie gefährlich dieser Ort ist. Deswegen ist Viola ja überhaupt so wütend – sie will sich ihr anschließen. Als ob das einen Unterschied machen würde!“ Bedeutete das, die vermissten Männer waren verloren? Der Gedanke daran löste starkes Unbehagen in Peter aus. Noch mehr jedoch die Selbstverständlichkeit, mit der Eva diese prekäre Situation behandelte. „Du solltest die Zeit nutzen und dich vorbereiten.“ Da war er wieder, dieser kalte, gefühllose Ton in der sonst so sanften Stimme der blonden Frau. „Wenn der Nebel sich verzogen hat, brechen wir auf. Du solltest dich waschen ...“ Einer dieser sagenumwobenen Momente, in denen Offenheit und Ehrlichkeit weh tat, versetzte Peter einen Schlag in die Magengrube. „Das sagt sich so leicht! Ich stecke seitdem ich hier angekommen bin in den selben Klamotten fest. Eure Boutique lässt zu wünschen übrig!“ „Mach das Beste draus!“ Mit einem freundschaftlichen Schulterklopfen verabschiedete sich Eva vom Stinker. So zumindest fühlte sich Dirand in diesem Moment. Bei näherer Betrachtung war es wohl ihre ganz besonders freundliche Art das Thema zu wechseln. Es hatte funktioniert! Als Peter sich zur Wasserstelle aufmachte, konnte er den Blick nicht von der Dunkelelfe Reyne nehmen, die sich penibel auf Bevorstehendes vorbereitete. Sie hatte ihrer leichten Lederrüstung zusätzlich gepanzerte Schulterstücke hinzugefügt, die genauso reich verziert waren, wie ihr Brustpanzer. Jagdbogen und Köcher auf dem Rücken wiesen genauso wie zwei Dolche und ein Kurzschwert, die an einem Waffengürtel um ihre Hüften herum festgemacht waren, daraufhin, dass sich die Elfendame auf eine Auseinandersetzung einstellte. Innerlich hoffte Peter, dass es nicht darauf hinauslaufen, und sie unversehrt, zusammen mit Elmo, wieder zurückkommen würde. Gerade als sie ihr Pferd sattelte, bemerkte Reyne die vernebelte Gestalt in der Ferne, und auch wenn Peter es nicht mit Sicherheit erkennen konnte, meinte er, sie lächelte ihm zu. „Na, das Mädchen sieht jedenfalls entschlossen aus.“ Lester hielt sich ebenso an dem kleinen Teich am Rande des Lagers auf. Aus naheliegenden Gründen hatte er den schweren Stahl, der ihm sonst Tag ein Tag aus Schutz bot, abgelegt und offenbarte ganz ungeniert seinen vernarbten Oberkörper. Sein volles, graues Haar trug der Ritter offen. Auch ohne die Plattenrüstung hatte man es in seiner Gegenwart mit einem Tier von einem Manne zu tun. Einem echten Krieger! „Hoffe, sie ist so gut, wie sie zu sein glaubt.“ Peter begann sich in respektablem Abstand vom ergrauten Riesen die letzte Müdigkeit aus dem Gesicht zu waschen. Die Kälte des kristallklaren Wassers tat ihr Übriges dazu. „Glaubst du nicht, wir sollten sie unterstützen?“ „Doch!“ Auch er schien wenig begeistert von Evas Entscheidung. „Allerdings würde das wahrscheinlich alles nur noch schlimmer machen.“ Ein weiterer Ritter gesellte sich zu Peter und Lester, hatte jedoch nicht die beiden im Auge. Schnell bemerkten auch der Franzose und sein Gesprächspartner, der sein Großvater hätte sein können, worauf Toms Aufmerksamkeit lag. „Seht mal, wer da kommt!“, stieß er sichtlich erleichtert aus. „Endlich mal gute Nachrichten“, tat es Lester seinem jungen Kameraden gleich und pfiff in ohrenbetäubender Lautstärke den Rest der Gruppe heran. „Was ist denn los?“ Es war Jin, der aus der Nebelwand schwebte, wie der Messias höchstpersönlich. „Hab ich was falsch gemacht?“ „Außer dich, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen, aus dem Staub zu machen? Nein!“ Verlegen sank der zottelige Elf zu Boden und versuchte sich zu erklären. „Es tut mir Leid. Ich dachte, ihr würdet noch schlafen.“ „Aha?“ Eva, Aarve und Viola waren jetzt ebenfalls zu der Gruppe gestoßen, und komplettierten die Versammlung. „Und was heißt das im Klartext?“ „I-ich ...“ „Spar dir die Erklärung“, nahm die Anführerin der Karawane ihm die Last vorerst von den Schultern. „Wenigstens bist du jetzt hier. Wir vermissen aber immer noch fünf unserer Freunde! Hoffen wir, dass Reyne sie findet.“ „Genug von diesem Mist!“ Violas Wutausbruch sicherte der Karamel braunen Assassine die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. „Wenn die Männer, um die es hier geht, tatsächlich eure Freunde wären, würdet ihr euch auf die Suche nach ihnen machen und sie nicht einfach so abschreiben!“ Sie tat vielen ihrer Leute mit dieser Äußerung Unrecht. Sogar Eva, obschon sie sich natürlich am meisten an den Pranger gestellt fühlte. „Halt den Mund!“ Zur Überraschung aller wagte es ausgerechnet der erst siebzehnjährige Tom Viola so harsch zu rügen. „Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest! Ich kenne Tatum seit meiner Geburt; bin mit ihm aufgewachsen! Ich würde sofort losziehen und ihn suchen, wenn ...“ „Wenn?“, kitzelte Viola eine Antwort aus dem Jungen heraus. „Ich mache, was immer Lady Eva mir befiehlt.“ Lady Eva ... so hatte sie noch nie jemand genannt, zumindest nicht in seiner Gegenwart, dachte Peter. Tom war wirklich eine treue Seele. Er stand voll und ganz hinter der jungen Frau, die ja kaum älter war als er. „Das ist doch das Problem!“ „Du hast ja nicht die leiseste Ahnung!“ Schweren Schrittes stapfte Lester in die Runde und machte sich so selbst zum Zentrum dieser Zusammenkunft. „Was Elmo und die anderen veranlasst hat, nach Ballymena zu gehen, geht weit über euer aller Vorstellungskraft hinaus. Eva kennt die Geschichten, und du,“ Die Ebenholz-Schönheit wich beiseite, als der Riese sich ihr zuwandte, „solltest auch wissen, wovon ich spreche!“ „Ja.“ Viola wählte ihre Worte mit Bedacht. „Ich kenne die Märchen, die man sich über die dunkle Stadt erzählt.“ „Lass mich dir, nein, euch allen versichern, dass es sich dabei nicht um Märchen handelt. Auch wenn ich mir wünschte, es wäre so.“ Lesters tiefe Stimme klang wie die eines Erzählers und genauso wusste es der stämmige, weise Mann seine Zuhörer mit eindringlichem Ton in seinen Bann zu ziehen. „Einige der Flüche der Hohepriesterinnen suchen die Ruinen dieser Stadt und dem Rest dieses ehemals so stolzen Reiches noch immer heim. Wahrscheinlich werden sie das bis in alle Ewigkeit.“ „Woher nimmst du eigentlich dieses Wissen?“, fragte Aarve trotzig, der zwar weit länger als Peter in Minewood war, in dieser Gruppe jedoch genauso frisch. „Weil ich dabei war, junger Mann!“ Das Antlitz des bulligen Kriegers wirkte jetzt wie vom Wahnsinn erfüllt. Er riss die faltigen Augen weit auf und ließ einen Angst einflößenden Blick in der Runde kreisen. Verdrängte Erinnerungen trieben tiefe Emotionen in jede Faser des gestählten Körpers des Riesen. An Evas Besorgnis meinte Peter erkennen zu können, dass auch sie vom Verhalten ihres engsten Vertrauten mehr als überrascht war. Gerade als sie dem beunruhigendem Schweigen selbst ein Ende bereiten wollte, fuhr Lester fort. „Das ist jetzt fünfunddreißig Jahre her. Gerade fünfunddreißig Jahre ...“ Zähnefletschend rang der erfahrene Krieger, der in seinem Leben schon so viele Schlachten geschlagen hatte, mit der tief in den Abgründen seiner Seele vergrabenen, fünfunddreißig Jahre jüngeren Inkarnation seiner selbst und bezwang sie letztlich. „In einer Zeit, in der die Dunkelelfen die Pforten ihrer Hauptstadt für Reisende geöffnet hielten und sogar Handel mit den Menschen trieben, kam das Ende dieses Friedens und beinahe einer ganzen Zivilisation genauso fatal wie überraschend.“ ... ... ... ... ... ... Ballymena. Fünfunddreißig Jahre früher (Minewood-Zeit) Es war der Tag an dem die Elfen vom Himmel fielen. Niemand weiß bis heute ob sie diese Fähigkeit in Folge der Auseinandersetzungen einbüßten, oder der Krieg erst aus der Panik gebar, die infolgedessen über die Ländereien der einst so stolzen Rasse zog. Lester verschlug es nicht oft nach Ballymena, trotzdem hatte die Stadt in der Vergangenheit stets einen sicheren Hafen abgegeben. Die Dunkelelfen beachteten Menschen auf der Durchreise meist gar nicht, gingen unverfälscht ihren Tätigkeiten nach und faszinierten die Frauen und Männer mit ihrer Grazie. Auch der junge, hochaufgeschossene Lester konnte sich dem Charme dieser Rasse nicht entziehen und so genoss er seine Wanderschaft durch die gigantische Hauptstadt. Ob der bemitleidenswerte Jüngling, der vor seinen Augen auf der gepflasterten Straße zerschellte, der Anfang vom Ende war, oder sich der Fluch schon länger über die Gebirge im Nordwesten ins Zentrum ihrer Zivilisation geschlichen hatte, würde den wenigen Überlebenden dieses traurigen Tages wohl stets ein Rätsel bleiben. Es traf sie völlig unvorbereitet. Diejenigen, die der Schwerkraft trotzten und in halsbrecherischen Gefilden schwebten, ereilte das Ende wenigstens schnell und schmerzlos. Überall fielen die grazilen Gestalten wie Steine zu Boden. Ihre Schreie rührten die gesamte Stadt auf. Auch aus den Häusern, Türmen und von den Marktplätzen drangen Schreie. Nicht, wie Lester zunächst dachte, ob des grausamen Schauspiels in der Luft, sondern weil jede Frau, jedes Kind und jeder Mann realisierte, dass sie einer magischen Selbstverständlichkeit von einer Sekunde auf die andere beraubt worden waren. Kümmerliche schwarze Stümpfe erinnerten nur noch entfernt an das, was noch ein paar Wimpernschläge zuvor prächtige, feingliedrige Schwingen gewesen waren. Das Pferd des groß gewachsenen jungen Mannes riss ihn aus seinem Erstaunen. Schutz konnte er in diesem heillosen Durcheinander nicht finden, doch den benötigte er auch nicht. Bis auf einige wenige arme Seelen, die ihre eigene Verzweiflung um Hilfe flehend, ja, bettelnd zu ihm trieb, beachtete man den bedeutungslosen Menschen gar nicht. An jenem Tag war es, als würde er gar nicht existieren. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelten sich unvergessliche Bilder wieder. Hier und heute wurde Geschichte geschrieben. Düstere Kapitel, die die Zukunft nachhaltig prägen sollten. ... ... ... ... ... ... „Der Tod zog unaufhaltsam und in seiner ganzen Vielfalt über das Königreich. Es waren Dunkelelfen, die dieses unsagbare Leid über ihre eigenen Artgenossen gebracht hatten. In der Annahme, ein Fluch der Hohepriesterinnen hätte sie verwandelt, lehnten sich die Bürger gegen diese höchste aller Kasten auf und wurden brutal in die Schranken gewiesen. Die Magierinnen ließen ihre eigene Heimat in Feuer und Eis; Tod und Verderben untergehen bevor sie sich letztlich selbst gegenüberstanden. Angeführt von Königin Athlea [Ass-leh-à] setzten sich die Wenigen, die nicht dem Wahnsinn verfallen waren, gegen die Hohepriesterinnen zur Wehr und besiegten sie letzten Endes. Nicht jedoch, ohne dabei fatale Verluste hinnehmen zu müssen. Athlea starb in diesem Krieg, genau wie König Samur und Hunderttausende ihres einst treu-ergebenen Volkes. Die Magierinnen, deren Vergeltungswahn durch die Mauern des Königreichs wütete, verfluchten zudem diejenigen ihrer Kameradinnen, die sich auf die Seite des Königspaares geschlagen hatten, über den Tod hinaus, sodass die Dunkelelfen nach ihren Flügeln, ihrem Reich und ihrem Leben auch noch ihre Magie verloren.“ Mittlerweile befanden sich die Reisenden tief in den Überresten Ballymenas, der Stadt, über die Lester seinem gebannten Publikum unentwegt zu erzählen hatte. Viele Erinnerungen, die er am liebsten verdrängt hätte, verbanden den Koloss noch immer mit diesem Ort. „Ich habe gesehen wie die gigantischen Türme und Kathedralen, durch deren Trümmer wir heute marschieren, einst in Flammen aufgingen; die Elfen zu Stein und Eis erstarrten und gewaltige Wirbelstürme ganze Häuser von ihren Fundamenten rissen.“ Langsam schien Lester den Halt zu verlieren, den er aufbringen musste, sich diese Geschichte von der Seele zu reden. „Ein junger Kerl war ich damals ... zur Hölle damit! Ich habe nicht darum gebeten mitansehen zu müssen, wie sich Frauen und Kinder gegenseitig zerfleischen, oder von einem Moment auf den anderen zu Staub zerfallen! Ganze Horden von ihnen, denen es in den Feuersbrünsten, die ihre eigenen, angebeteten Priesterinnen direkt aus der Hölle heraufbeschworen hatten, das Fleisch verbrannte, stapften in ihren letzten Zügen an mir vorbei, während sie ...“ Eva war dicht an ihren alten Freund heran geritten und legte ihm so fürsorglich die Hand auf seine Schulter, wie er es selbst auch getan hätte, wäre der jungen Frau so zumute gewesen. Lester erwiderte mit einem verbitterten Lächeln die liebevolle Gäste und ergriff die zierliche Hand seiner Gefährtin. „Und ich sage euch, die Flüche der Hohepriesterinnen, die sie im Sterben voller Hass über dieses Land verhängten – Sie haben noch immer Bestand!“ Zwar wusste der graue Krieger, wie wenig hilfreich diese Feststellung war, allerdings hielt er es auch für seine verdammte Pflicht, jeden einzelnen von ihnen einzubläuen, die Augen offen zu halten. Nichts davon stellte nach so vielen Jahren mehr eine unmittelbare Bedrohung für die Karawane dar, die es gezwungener Maßen durch die Ruinen Ballymenas zog. Trotzdem beeindruckte Jin und Lily diese Geschichte zutiefst, deren Details ihnen nie zuvor zu Ohren gekommen waren. Sie wagten es nicht, sich in die Lüfte zu erheben, weniger aus Angst denn aus Respekt vor der Geschichte dieses Landes. Kurze Zeit hielt Lester inne, war bedacht darauf, die Worte wirken zu lassen. Auch wenn ihn das erzählen dieser Geschichte eine enorme Last von den Schultern nahm, die er schon viel zu lange mit sich herumgetragen hatte, beunruhigte auch den hartgesottenen Krieger die trügerische Stille in der toten Stadt. „Peter?“ Lily wandte sich flüsternd an den Jungen, der die kleine Elfe auf seinem prächtigen Einhorn reitend, fast übersah. „Du hast ihnen gegenüber Momos Namen doch noch nicht erwähnt, oder?“ „Nein, wieso?“, antwortete er knapp. Das blasse Mädchen ergriff die Wade des Franzosen. Am liebsten hätte sie in diesem Moment seine Hand gehalten, die sie jedoch nicht erreichen konnte. Seiner Aufmerksamkeit war sie sich trotzdem sicher. „Falls das mal zur Sprache kommt. Kannst du dann erzählen ...“ Sie zögerte. Etwas schien das junge Ding schwer zu bedrücken. So wie sie ungeduldig auf den Fingernägeln kaute, beunruhigte Peter die mögliche Tragweite von dem, was noch folgen sollte, schon im Voraus. „Kannst du dann bitte sagen, ich hätte mir das ausgedacht? Ich meine ... den Namen!?“ Der Neunzehnjährige blies seine Erleichterung aus vollen Lungen. Das war es schon? „Das ist alles?“ Seltsam war diese Bitte zwar, aber unterm Strich halb so wild. „Tja, kommt darauf an! Darf ich denn erfahren, warum dir das am Herzen liegt?“ „Huh?“ Es lag ihr sogar unheimlich am Herzen, dass die anderen nicht erfuhren, wie Peter seinen einzigartigen Fang benannt hatte. Doch warum dem so war, musste sie sich zunächst selbst fragen. Glaubte sie denn wirklich, dass Peter ... sie konnte den Gedanken nicht mal zu Ende führen, da die Konsequenz aus dieser Annahme nicht nur für die anderen, sondern auch für Lily persönlich unfassbar gewesen wäre. „I-ich denke einfach, so könnten wir Eva ein wenig eifersüchtig machen. Immerhin ist das eine große Sache, verstehst du?“ Peter lief auf der Stelle rot an, als er das hörte. „Eifersüchtig? Wie kommst du darauf?“ „Merkst du denn nicht, wie sie dich anschaut?“ Es war nicht die Absicht der jungen Elfe, Peter falsche Hoffnungen zu machen – noch glaubte sie selbst ein Wort von dem, was sie sagte-, doch sie glaubte den Jungen mit dieser Geschichte letztlich überzeugen zu können. „Das wird sie sicher aus der Reserve locken! Tu mir den Gefallen, ja?“ „Ich weiß zwar ehrlich nicht, wie du immer auf solche Ideen kommst, aber in Ordnung! Ist ja keine große Sache.“ „Klasse! Dafür hast du wirklich was gut bei mir.“ Lily wagte es sogar für einige Sekunden in die Luft emporzusteigen, um auf den Rücken des schneeweißen Pferdes zu flattern und sich dem peinlich berührten Reiter um den Hals zu werfen. So behutsam sie ihr Anliegen durchgebracht hatte, so schnell wechselte sie nun das Thema, „Sag, wo kommst du eigentlich her?“ Ihre helle Stimme zitterte merklich. „Dort in deiner Welt, meine ich.“ „Du musst mich jetzt nicht bei der Stange halten, weil ich dir einen Gefallen getan habe ... ehrlich nicht.“ „Nein, nein!“, wiegelte Lily ab. „Es interessiert mich wirklich.“ Spätestens seit dem gestrigen Tage, tat es das so sehr wie nie. „Marseille. Sagt dir das was?“ Peters Stimme klang hoffnungsvoll. „Mmh, leider nicht, aber ...“ „Ja?“ Noch einmal hakte er nach, weniger zuversichtlich dieses Mal. Hatte sie diesen Namen vorher schon einmal gehört? Vielleicht, aber auf keinen Fall von ihr, daran hätte sich Lily erinnert. „Nichts. Tut mir leid.“ „Muss es nicht“, wiegelte Dirand ab. „Hätte mich auch gewundert ...“ Es war das erste Mal seit seiner Rettung aus der Festung auf Caims, dass der Junge wieder daran erinnert wurde, mit welch erfüllender Hoffnung er an diesem schicksalhaften Abend in seiner Heimatstadt in die Dunkelheit hinabstieg. Alles, was er seitdem erlebt hatte, hätte er für Julie in Kauf genommen, doch wo war die versprochene Belohnung für seinen Mut? Wo seine verlorene Liebe? Wo der Betrüger, der es wagte, ihn auf so feige Art zu täuschen? ___________________________________________________________ Sie folgte den Spuren bis tief in das ehemalige Stadtzentrum hinein. Dabei hatte die Dunkelelfe auf kurzer Distanz schon mehrere grundverschiedene Welten durchquert. Zuerst die verwüsteten Überreste einstmals gigantischer Bauwerke von faszinierender Architektur, wie sie sie in Caims, ihrer alten Heimat, niemals zu Gesicht bekommen hatte, mit Ausnahme des Turmes, und doch völlig anders. Schon am Maße der Zerstörung war festzustellen, dass vor nicht allzu langer Zeit hier ein brutaler Krieg gewütet hatte. Einen weitaus seltsameren Eindruck hatte, nur wenige hundert Meter östlich von den Ruinen, der fast komplett erhaltene Marktplatz hinterlassen, den eine seichte Schicht Schnee unter sich begrub, obschon sich Reyne zum Zeitpunkt ihrer Ankunft völlig entzog, wie das bei den vorherrschenden Witterungen überhaupt möglich sein konnte. Erst als die Dunkelelfe sich vorsichtig in eines der Häuser vorwagte, wurde ihr schlagartig bewusst, womit sie es hier zu tun hatte. Die gefrorenen Körper vieler ihrer Artgenossen erinnerten an den ungleichen Kampf, den sie vor vielen Jahren zu führen gezwungen waren. Skulpturen aus Eis waren letztlich alles, was von ihnen übrig geblieben war. Den Ausdrücken auf ihren starren Gesichtern nach zu urteilen, hatten sie das Unheil gar nicht kommen sehen. Wenigstens die Fährte ihrer verlorenen Kameraden konnte Reyne im perlweißen Schnee leicht aufnehmen, was sie schließlich in eine weitere, neu art von Realität führen sollte. Erneut Ruinen, die allerdings mit den Auswüchsen der Flora dieses Ortes verwachsen schien. Überall rankten sich die Tentakel unbekannter Schlingpflanzen um den kargen Fels und verliehen dem tiefblauen Gestein ein bedrohliches Erscheinungsbild. Alles hier schien ... lebendig. Mit Bedacht und großer Vorsicht schlängelte sich die grazile Gestalt durch das bedrohliche Wirrwarr bizarrer Pflanzen. Ihre Hände und Füße berührten mit erstaunlicher Präzision immer nur die spärlich gesäten Flächen des kalten Gesteins, die nicht völlig überwuchert waren. Wie ein Schutzwall erstreckte sich eine undurchdringlich scheinende Wand aus kahlem Dornenstrauch längs der eingeschränkten Sicht Reynes, doch sie war fest entschlossen, auch diese Hürde zu überwinden – Elmo hätte das Risiko auch auf sich genommen! Tatsächlich hatte er sich schon vor Jahren in Lebensgefahr begeben, um die schweigsame Schönheit, die er damals gar nicht kannte, zu retten. Ein Rascheln im Dickicht ließ Reyne aufschrecken. Es drang aus keiner großen Distanz zu ihr hervor, sodass sie sich selbst dazu überwand, das mysteriöse Geäst, das ihr den Weg versperrte, mit einem ihrer Dolche zu durchtrennen. Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich, als Reyne aus der Ferne den leblosen Körper eines Ritters erkannte. Ihr Herz klopfte so schnell wie ihre Gedanken verrückt spielten. Doch er war es nicht. Egal wie unangebracht und verachtenswert das plötzliche Glücksgefühl auch immer war, das sie verspürte, sie konnte ihre Erleichterung nicht leugnen. Die Kälte des Körpers, seine leblosen Augen und die kreidebleiche Haut verrieten schon vor der endgültigen Bestätigung, die Reyne durch das Fühlen seines Herzschlages einholte, dass keinerlei Leben mehr in Tatum steckte. Was dem jungen Mann widerfahren war, konnte die findige Dunkelelfe sich nicht erklären. Er sah so friedlich aus, als hätte er den ewigen Schlaf angetreten, ohne zu wissen, wie ihm geschah. Verständlicherweise lag die Vermutung nahe, Gift hätte ihn dahingerafft. Für Reyne wäre das nur ein Grund mehr gewesen, vorsichtig zu sein. Als sie sich von der Seite des Leichnams erhob – noch immer fest entschlossen, weiter ins Zentrum der toten Stadt hervorzudringen-, ließ sie die Erinnerung an ein altes, menschliches Ritual einen Moment lang zögern. In Gedanken rang sie mit einigen heftigen Zweifeln. Ob es angebracht war, dem Toten diese so menschliche Geste entgegenzubringen? Sie entschied sich letzten Endes dafür und neigte sich ein weiteres Mal mit spürbarem Respekt dem leblosen Leib am Boden zu. „Im Jenseits wie im Diesseits“, begann Reyne mit sanfter Stimme zu sprechen und kreuzte dabei die Arme des Toten über seinem Bauch, so wie sie es bei den Menschen einst beobachtet hatte, „möge dein Pfad gesäumt sein von Glückseligkeit und möge die Reise in das Himmelsreich dich führen in die Heimat, denn vom Himmel, bist du einst gekommen.“ Zuletzt schloss sie die Augen des Jungen und bekreuzigte sich. Sie vollführte diese ehrenhafte, kleine Zeremonie mit aller Ernsthaftigkeit und fehlerfrei. Dennoch war ihr unwohl beim Aussprechen des Gebetes, das ihr vor Augen führte, wer sie wirklich war und immer bleiben würde. „Reyne“, flüsterte das verzerrte Abbild einer ihr vertrauten Stimme im Rücken der Frau. „Reyne“, wiederholte sich das Gänsehaut erregende Hörspiel. Diesmal meinte die Elfe, die starr vor Schreck in ihrer knienden Position verweilte, den eiskalten Atem des Mannes in ihrem Nacken spüren zu können, der so eindringlich nach ihr verlangte. „Komm zu mir ...“ Und obwohl die geisterhaften Klänge ihr zunächst wie Einbildung erschienen, musste sie sich einfach nach ihm umdrehen. Das Verlangen war gar größer, als die Angst. Die Unsterbliche Seele II ------------------------- Kapitel 13 – Die Unsterbliche Seele II In Erwartung großen Unheils bewegte sich die dezimierte Gruppe achtsam aber zügig durch die geschichtsträchtigen Überreste der Stadt. Mit jedem Meter, den die Gefährten der Grenze näher kamen, wuchs die Nervosität der bunten Gesellschaft. Man merkte es mittlerweile sogar den Pferden an. Lily hatte sich längst wieder an Peter geheftet und auch Jin lief im Gleichschritt an der Seite des Einhorns Momo. Sogar Lester war unruhig; sein Blick wanderte regelmäßig von einer Himmelsrichtung zur anderen, als erwarte er jeden Augenblick einen Angriff. Von wem, wusste der stolze Krieger sich zwar selbst nicht auszumalen, aber überzeugt davon, dass noch immer Gefahren in den Tiefen Ballymenas lauerten, war er mehr als jeder andere der tapferen Pioniere, die es gewagt hatten, nach fünfunddreißig Jahren die ersten zu sein, Fuß in das ehemals so prächtige Königreich zu setzen. Viola schien als einzige wenig beeindruckt von der beunruhigenden Stimmung, die in der Luft lag. Es nagte an ihr, dass ihre Leute sie nicht in ihre Pläne eingeweiht hatten und ohne Vorwarnung in einer Nacht und Nebel Aktion allein aufgebrochen waren. Zudem hatte es den Anschein, als würde sie nicht viel auf die mysteriösen Gruselgeschichten des alten Kauzes geben, die den Rest der Truppe so fasziniert hatten. So war es schließlich auch ihr vorbehalten, als erste zu bemerken, was vor sich ging, während ihre Leute sich von Sorgen geplagt einzig mit dem Erreichen des Ausgangs der Stadt beschäftigten. „Halt!“, befahl die scharfsinnige Frau streng, und ihrer Aufforderung wurde auf der Stelle Folge geleistet. „Seid ihr denn alle taub geworden?“ Den Gesichtsausdrücken ihrer Kameraden nach zu urteilen, war sie tatsächlich die einzige, die etwas Ungewöhnliches vernahm, was Eva für einen kurzen Augenblick Sorgen bereitete. Dann aber ließ ein deutlich hörbares Rascheln im Dickicht zur Linken der Karawane die gesamte Gruppe aufschrecken. „Bleibt ruhig!“ Wieder reagierten die Frauen und Männer auf die Anordnung der wenig beliebten, aber dennoch anerkannten Frau hörig. Aus den Gebüschen näherten sich eiligen Schrittes mehrere Wesen. Welcher Art, war für die illustere Gemeinschaft nicht auszumachen. Sie bereiteten sich jedoch auf das Schlimmste vor. Einer nach dem Anderen stiegen sie von ihren Pferden. Eva, Viola, Lester und Tom zückten ihre Schwerter in weiser Voraussicht. Aarve und Peter schlossen sich instinktiv zusammen, da sie unbewaffnet waren und ihr Verstand ihnen riet, sich besser aus dem Gröbsten herauszuhalten. „Peter!“ Lily klammerte sich instinktiv an den Franzosen, an dessen Seite das zierliche Wesen – mit den Füßen auf festem Boden – wie seine kleine Schwester wirkte. „Was geht hier vor?“ „Wir stecken in der Scheiße, Kleine, das geht hier vor.“ Komischerweise eckte die unflätige Ausdrucksweise Aarves bei dem neunzehnjährigen Einhornfänger mehr an, als sein deprimierender Pessimismus. „Warte doch erst mal ab!“ Doch auch Peter machte sich längst schon Gedanken darüber, wie er sich im schlimmsten Falle wohl verteidigen könnte, gegen eine Schar von Dunkelelfen, die er überzeugt war, jeden Augenblick auftauchen zu sehen. An die wahrscheinlichere Möglichkeit dachte er zunächst gar nicht, vielleicht, weil er nach all den beunruhigenden Geschichten schon nicht mehr daran glaubte, die verschwundenen Kameraden je wieder zu sehen. Er wurde letztlich eines Besseren belehrt. „Oh ... um Himmels Willen ...“ Eva fiel die Anspannung auf einen Schlag wie ein Stein vom Herzen, als sie in die Gesichter ihrer Kameraden blickte. Selten zuvor war sie so erfreut darüber gewesen, Rios oder Cecil zu sehen. Maio arbeitete sich ebenfalls aus den überwucherten Ruinen hervor, keine Spur jedoch von Elmo, Tatum oder Reyne. „Ihr habt uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, rief Eva erleichtert in die Richtung der Rückkehrer. „Ich hoffe, ihr habt eine plausible Erklärung für all das auf Lager“, fügte Viola hinzu, die sich ihren Freunden mit vorwurfsvollen Blick entgegenstellte. „Wo habt ihr die anderen gelassen?“ Lester stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag. „Es gibt keine anderen, nur uns und euch“, antwortete Cecil. Etwas lag in der Stimme des Mannes, etwas Ungewöhnliches, das vor allem Jin beunruhigte und sie wie angewurzelt auf der Stelle stehen ließ. Überhaupt war Cecil doch eher ein schweigsamer Geselle, der gerade in Anwesenheit Rios' selten das Wort ergriff. „Irgendwas stimmt hier nicht.“ Die Unruhe übertrug sich jedoch nur auf einen Teil der Gruppe, dem Rest war die Abartigkeit der Situation nicht annähernd so augenscheinlich. Symbolisch schritt Eva an ihren bulligen Beschützer heran, festen Willens jede Bedrohung für die Gruppe schon früh im Keim zu ersticken. „Was zum Teufel geht hier vor?“, riss die blonde Kriegerin das Gespräch an sich. „Rios, wo seid ihr gewesen?“ Noch machte keiner der Anwesenden Anstalten die Waffe zu erheben, doch lud sich die kühle mittägliche Luft immer mehr mit einer bedrohlichen Spannung auf. Peter tappte genauso im Dunkeln, wie alle anderen auch, worin die spürbare Feindseligkeit ihrer ehemaligen Kameraden begründet lag. Falls die Splittergruppe um ihren rothaarigen Anführer nun tatsächlich das Ruder an sich reißen wollte, war dies doch ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für eine derartige Vertrauensfrage, ganz zu schweigen vom gewählten Schauplatz. „Lily?“ „I-ich b-bin noch da.“ Dankbar dafür, dass Peter ihr in diesem Moment seine Aufmerksamkeit schenkte, ergriff sie wieder die Hand des Jungen, blieb jedoch hinter seinem Rücken versteckt. Ob Peter sie im Falle einer Eskalation beschützen konnte, wagte nicht nur der Junge selbst zu bezweifeln, auch die ängstliche junge Elfe steckte ihre Hoffnungen wohl vor allem in das vierbeinige, schneeweiße Fabeltier in ihrer unmittelbaren Nähe. „Etwas beeinflusst sie! Vielleicht ein Zauber“, stellte Jin zum Erstaunen seiner Artgenossin fest. „Woher willst du das denn wissen?“, entgegnete ihm Lily trotzig, und auch der Blick des Menschenjungen verriet seine Skepsis. „Spürt ihr es etwa nicht? Es ist überall in dieser Geisterstadt.“ Viola war die Nächste, der es auffiel. „Es verfolgt uns schon die ganze Zeit, doch so stark wie jetzt, war es bisher noch nicht.“ „Was ist los, hast du etwa Angst?“, triezte Aarve die sonst so souveräne, starke Frau, als wäre alles in bester Ordnung. Viola hielt inne. Noch immer konfrontierten Eva, Lester und Tom ihre Kameraden an der Spitze des Zuges. Keiner der Ritter wusste die Situation zu diesem Zeitpunkt richtig einzuschätzen. Vorsicht und Instinkt geboten den erfahrensten der Krieger auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Zu Lesters Überraschung bemerkte Cecil die bedachte Handbewegung zum Griff seines Schwertes. „Aber, aber! Komm ja nicht auf dumme Gedanken, alter Mann!“ „Genug jetzt!“, schrie Rios. „Es ist an euch, einem Blutbad aus dem Wege zu gehen. Legt eure Waffen nieder und schließt euch uns an! Eure Belohnung wird ... ein Wunder sein!“ „Wovon redest du da?“ „Nicht, Eva! Bleib weg von ihm!“, beorderte der Koloss seinen jungen Zögling zurück, als sich das Mädchen dem Rotschopf, der sie bedrohte, gefährlich näherte. „Nun habe ich nicht mehr den geringsten Zweifel.“ Lester schob sich schützend vor seine Anführerin, die sich glatt drei Mal im Rücken ihres Schutzpatrons hätte verstecken können. „Selbst nach so vielen Jahren, nach so elendig langer Zeit ... Noch immer ziehen die Flüche der Hexen durch die Ruinen dieser Stadt. Noch immer haben sie die Macht den Geist der Schwachen zu vergiften!“ „Schwach?“ Nun zückte Maio als erster sein Kurzschwert und hielt es drohend in Richtung Lester. „Wen nennst du hier schwach, Alterchen? Ihr seid es, die schwach sind! Unwürdig, die Erleuchtung zu erfahren, die uns längst zuteil wurde!“ „Diese Stadt ist der Schlüssel zu allem, wonach ihr verlangt“, führte Cecil die Ausführungen seines Kumpanen fort. „Ihre Magie vermag es, euch jeden Wunsch zu erfüllen.“ Nun war es wieder Rios, der sprach. „Entweder ihr schließt euch uns an, oder ...“ „Ihr findet hier euer Ende!“, beendete Maio die verrückten Ausführungen seines Anführers ab. Eva war vor Schreck völlig gelähmt. Sie war sich sehr wohl im Klaren darüber, welche Konsequenzen diese neuerliche Entwicklungen nach sich ziehen würden. In ihrem Gesicht, das schon vor geraumer Zeit vom Krieg gezeichnet gezeichnet worden war, stand die Verzweiflung geschrieben. Gäbe es nur irgendeinen Weg, die Auseinandersetzung zu vermeiden, wäre die junge Anführerin, die sich stets für jeden ihrer Untergebenen aufgeopfert hat, auch gewillt, diesen einzuschlagen. Doch das Schicksal schien ihr in dieser denkwürdigen Stunde nicht gewogen zu sein. „Wie könnt ihr es wagen!?“ Urplötzlich und völlig unerwartet mischte sich nun auch noch der Jüngste in die verbale Auseinandersetzung ein. „Ihr sprecht hier immer noch mit eurer Anführerin! Eva verdankt ihr es, überhaupt an diesen Ort gelangt zu sein! Wir alle haben bei unserem Seelenheil geschworen ihr zu folgen, wie einst ihrer Mutter, der ihr allesamt euer Leben zu verdanken habt!“ Tom, der Schweigsame. Tom, das Nesthäkchen. Nicht mehr viel erinnerte in diesem Augenblick des Zorns an den unscheinbaren Siebzehnjährigen, der sich gerade in Evas Gegenwart stets schüchtern und zurückhaltend zeigte. „Kommt wieder zu euch und macht endlich den Weg frei!“ Ihm den Mut abzusprechen und das ehrenvolle Vorhaben, für seine Führerin in die Bresche zu springen, damit zu schmälern, wäre eine an Verleumdung grenzende Ungerechtigkeit gewesen. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass jener Großmut der Funke war, der das Pulverfass letztlich entzünden sollte. Er spürte den überwältigenden Schmerz erst, als die kalte Klinge des Dolches, den Rios blitzschnell und quasi unbemerkt aus seinem Gürtel zog, sein Fleisch wieder verließ und ihn in die Arme der Frau sinken ließ, die er bis eben noch so tapfer verteidigt hatte. Sie war es auch, die den Schmerz des Jungen teilte, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene der Wahrnehmung. „Tom ...“ Womöglich wäre ein Schrei eine angemessenere Reaktion gewesen, doch mehr als ein heiseres Flüstern konnte Eva in ihrer Ohnmacht nicht über die Lippen bringen. Das Gewicht des Jungen, der jeglichen Halt verlor, drückte sie zu Boden, wo die Ritterin den Sturz ihres verletzten Kameraden schließlich zu bremsen imstande war. Den Kopf in Händen und Schoß der blonden Kriegerin gebettet, kämpfte der ihr stets treu ergebene Tom den Davidkampf gegen den Tod. „W-was g-geschieht hier b-bloß ...“ Eva konnte ihm in ihrer Verfassung nicht antworten. Sie weinte so bitterlich, wie es selbst Lester, der sie ihr ganzes Leben über begleitet und beschützt hatte, noch nie zuvor erlebt hatte. Es waren sowohl die unvermeidbaren Erinnerungen an all die gemeinsamen Momente, die hervorbrachen, vor allem aber die Tragik seines Todes, die Eva betrauerte. Von den eigenen Kameraden ermordet; so etwas hatte dieser großartige Junge, dessen tiefe Zuneigung zu Eva ihr all die Zeit über eben nicht entgangen war, einfach nicht verdient. Sie erinnerte sich, wie gern sie den aufrichtigen, gutherzigen Ritter um sich hatte und verachtete sich im selben Moment dafür, ihm nie die Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, die er verdient hatte. Das Tom, nachdem er die schmerzende Wunde längst nicht mehr spüren konnte und den Kampf gegen die Allmacht des Todes verlor, wirklich glücklich war, in den Armen der Frau zu sterben, die er liebte, würde Eva niemals erfahren. Lester nutzte die Unachtsamkeit Maios aus, der sich am Bildnis seines sterbenden Kameraden wie ein Wahnsinniger zu erfreuen schien, und entwaffnete den Ritter mit einem einzelnen, mächtigen Hieb. Der riesige Zweihänder trennte dem nichts Ahnenden glatt den halben Unterarm ab. Sein Schmerzensschrei war ohrenbetäubend. Als Maio zu Boden sackte und geschockt seine Wunde betrachtete, wäre es für Lester ein Leichtes gewesen, ihn zu enthaupten und dem Spuk ein Ende zu machen. Der Bruchteil einer Sekunde, den er daran dachte, hätte auch beinahe ausgereicht ein solches Blutbad anzurichten, doch entschied sich der Krieger letztlich für eine weitaus weniger barbarische Taktik: Er erschlug den Mann, mit dem er noch vor wenigen Tagen Seite an Seite gegen einen gemeinsamen Feind in die Schlacht gezogen war, mit dem massiven Stahl und wandte sich anschließend seinem nächsten Opfer zu. Erst einmal in Rage versetzt, war Lester ein wahrer Albtraum für seine Feinde, ganz gleich welcher Spezies diese angehörten. Zielstrebig näherte sich der Koloss dem kräftigen, im Vergleich jedoch recht kümmerlich wirkenden Rotschopf Rios. Die unbändige Wut, die ihn antrieb, stand dem fast sechzigjährigen Mann in das vernarbte Gesicht geschrieben. „Pass auf!“, ertönte es aus dem Hintergrund. Der Warnung ließ Viola einen Bolzen aus ihrer Armbrust folgen, die sie selbst aus der Hüfte heraus noch präzise wie ein Skalpell zu führen wusste. Das Geschoss durchdrang die Brust Cecils unweit der Kehlkopfes und blieb im Fleisch des Mannes stecken, der diese Verletzung nicht überstehen würde; dessen war sich auch Lester bewusst, der in seiner blinden Wut gar nicht bemerkt hatte, wie der Mönch sich ihm bedrohlich näherte. Der alte Mann verdankte Viola sein Leben. „Halt!“, wusste die schrille, noch immer weinerliche Stimme Evas das groteske Treiben für einen Moment völlig zum Erliegen zu bringen. „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“ „Eva!“ „Ruhe!“ Nie zuvor hatte sie ihre Vaterfigur so harsch angefahren. Lester war gewillt, ihrer Order nachzugehen, auch wenn er große Zweifel hegte, ob das junge Ding in dieser schweren Stunde noch Herrin ihrer Sinne war. „Legt endlich die Waffen nieder! Bitte ...“ Niemand kam ihrem Flehen nach. Viola hielt ihre Armbrust im Anschlag, die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Lester ließ seinen Zweihänder bedrohlich in der Luft kreisen und auch Aarve hatte sich mit einem Dolch bewaffnet, wenn er sich auch zurückhielt, wie all die anderen Kampf unerfahrenen Mitglieder der Karawane. „Wir sind doch Freunde!“ „Das sind nicht mehr die Menschen, die wir kannten, Eva. Lass es uns beenden, bevor noch mehr Schaden angerichtet wird!“, schmetterte Lester die Bedenken seiner Anführerin ab. „Nein!“ Wieder musste sie den Berserker zurückhalten. Auch um Rios wäre es wohl längst geschehen gewesen, hätte Eva nicht auf diese Weise gehandelt. „Ihr rührt ihn nicht an; er gehört mir!“ Wie angewurzelt blieb Lester an Ort und Stelle stehen. Er wusste nichts mit dem plötzlichen Sinneswandel des Mädchens anzufangen. Würde sie ihn töten, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, oder stattdessen lieber selbst in den Tod gehen? „Was macht sie?“, flüsterte Lily dem Jungen zu, hinter dessen Rücken sie die ganze Zeit über ängstlich Schutz suchte. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt nun allerdings dem Schicksal Evas. Einzig und allein Rios war von all den Vorgängen völlig unbeeindruckt. Der Tod seiner Männer interessierte ihn genau so wenig, wie die aussichtslose Situation, in der er sich nun befand. Der ganze Ort hätte lichterloh in Flammen stehen können, und dem Wesen, in das er verwandelt worden war, würde das verrückte Grinsen noch immer auf den Lippen liegen. Nein, dies war nicht mal mehr ein Schatten des Mannes, den er einst verkörpert hatte. Auch Eva trug der Schein längst nicht mehr. „Du erhebst also endlich dein Schwert gegen mich?“, spottete das Wesen, dessen Züge immer weniger menschlich wirkten, desto mehr man es in die Enge trieb. „Wie lange hast du darauf schon gewartet, na? Muss sich großartig anfühlen, den Störenfried endlich loswerden zu können!“ „Halt den Mund!“ Schweißperlen und einige der verbliebenen Tränen auf ihren Wangen perlten in einem Ruck von ihr ab, als sie die Gestalt zurechtwies. Auch offenbarte sich die Narbe unter ihrem linken Auge, deren Existenz der eitlen, jungen Frau jedoch in dieser Sekunde gar nicht bewusst oder gar wichtig war. „Du bist nicht das, was ich sehe. Du bist nur Magie! Ein Fluch bist du, nichts weiter! Das lebendige Überbleibsel eines Krieges, das nicht begreifen kann, dass die Waffen schon vor fünfunddreißig Jahren niedergelegt wurden.“ Mit jedem weiteren Wort verzerrte sich die Mimik des Mannes mehr und mehr zu einer makabren Fratze, die schon bald die gesamte Abartigkeit des Wirtes offenbaren sollte, der Rios Körper missbrauchte. „Rios ist tot. Schon seit der letzten Nacht, in der euer Sirenengesang ihn und die anderen in diese gottlose Stadt führte.“ Bald, so war Eva sich sicher, würde sie das Fass zum überlaufen gebracht haben und das Ding den alles entscheidenden Fehler begehen. „Du bist nichts! Ein herrenloser Zauberspruch, der bis in alle Ewigkeit dazu verdammt ist, in diesen Ruinen umher zu geistern. Worte ...“ Die Ritterin wurde zynisch. „Schall und Rauch, das bist du!“ „Du vaterlose Hure!“ In seiner zügellosen Rachsucht lief Rios buchstäblich in das offene Messer – in diesem Falle in das Kurzschwert Evas. „Ungh ...“ Während das Leben aus der fleischlichen Hülle entwich, zeigte die eigentliche Bedrohung ein letztes Mal ihr hässliches Gesicht. Die schwarze Magie ließ den Sterbenden ein selbstzufriedenes Lächeln aufsetzen, während hervortretende Krampfadern Kopf und Hals des Mannes zu einer abstrakten Kraterlandschaft verwandelten. Eva konnte nicht einschätzen, ob es nun der letzte Rest Menschlichkeit ihres ehemaligen Kameraden war, der so unbändig um das Überleben kämpfte, oder doch das Etwas, das ihn befallen hatte. Ein paar kurze Gedanken, die sie an diese Belanglosigkeit verschwendete, reichten schon aus, um den perfiden Plan ihres Feindes aufgehen zu lassen. Unbemerkt zog Rios ein Mitbringsel aus längst vergangenen Tagen aus seiner Gürteltaschen hervor. Es war eine Pistole: Sein bestes Stück. Schon auf der Erde trug der Waffennarr die Luger wie einen Ehering stets mit sich herum, da es, wie er immer behauptete, ein Unikat war. Eva hätte das wissen müssen, hätte ihn gänzlich kampfunfähig machen müssen, noch bevor es ihm möglich gewesen war, zwei Schüsse abzugeben. Die erste Kugel verfehlte ihren Körper knapp, streifte und beschädigte aber noch die Scheide ihres Schwertes und traf letztlich auf ... „Peter!“ Eva sackte zusammen mit dem Leichnam Rios' zu Boden. Die Aufmerksamkeit aller galt jedoch längst dem Jungen. Die ganze Zeit über beobachtete er nur und wurde nur durch einen unglücklichen Zufall doch noch zu dessen Hauptdarsteller. All das, als die Gefahr schon fast gebannt war. Fast war es ausgestanden gewesen. ___________________________________________________________ Die überschwängliche Freude, die Reyne empfand, als sie sich zaghaft zu ihrem Gefährten umdrehte, verflog nach dem ersten eindringlicheren Blick gleich wieder. Etwas stimmte nicht mit Elmo, so, wie etwas mit diesem Ort nicht stimmte. Die Elfe konnte das sehen und – was für sie viel wichtiger war – es auch spüren. Auch das gewohnt attraktive Antlitz des großen Ritters konnte die Veränderungen nicht verbergen. Seine Augen waren leer, hatten jedwede frühere Ausdrucksstärke verloren. Für Reyne war es, als würde sie durch diese Augen in die leere Hülle des Mannes blicken, der ihr so viel bedeutete wie nichts anderes auf dieser Welt. Seele und Geist waren verschwunden. Instinktiv wich die schwer bewaffnete Dunkelelfe einige Schritte zurück. Sie stolperte beinahe über den Leichnam Tatums, den sie ob der neuen sich eröffnenden Situation völlig vergessen hatte. Der Anblick des Toten ließ sie aus ihrer Verwirrtheit erwachen und die Initiative in diesem gespenstischen Schauspiel ergreifen. „Elmo!“, appellierte sie an die Gestalt vor sich „Kannst du mich hören?“ „Ja, ich höre dich.“ Immer noch klang seine Stimme so leblos wie zuvor. Auch auf die nun größere Distanz meinte Reyne die eisige Kälte seines Atems spüren zu können, die ihr vor kurzem das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen, als der Ritter wie aus dem Nichts erschienen war. „Was ist nur mit dir passiert?“ Reyne klang niedergeschlagen, als sie fragte, denn was es auch immer gewesen sein mochte: Sie wusste ganz genau, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen war. „Etwas wundervolles, Re'na [Reh-na]!“ Mit ihrem richtigen Namen hatte Elmo sie seit über drei Jahren nicht mehr angesprochen. Damals schwor sie dieser Bezeichnung ab, wie sie ihrer gesamten Vergangenheit abschwor. Es wirkte wie ein Warnsignal auf die Dunkelelfe, die nun nicht mehr nur witterte, dass Gefahr in der Luft lag. „Und ich will es mit dir teilen. Nur mit dir!“ Der Ritter schritt schleppend auf Reyne zu und entledigte sich dabei seines Brustharnisches. Die Bedeutung dieses Rituals erschloss sich der Dunkelelfe erst als sie sah, was unter der Rüstung Elmos verborgen war. Ein schwarzer Parasit breitete sich auf Bauch und Brust des Mannes aus, stetig pulsierend und weiter wachsend. Das hatte die Gestalt also mit teilen gemeint! Ein Angebot, auf das Reyne nun guten Gewissens verzichten konnte. In der Hoffnung, den Bann brechen zu können, dem ihr Freund unterlag, wich sie seinen Annäherungen aus, ohne sich seiner dabei gewaltsam vom Leibe zu halten. In die Enge getrieben wurde sie völlig überrascht, als Elmo urplötzlich über sie herfiel. Auf einmal war nichts mehr von der bedächtigen Vorgehensweise des Mannes übrig, dessen eigener Verstand längst nicht mehr die Kontrolle über seinen Körper hatte. Die Elfe sah wie die sichere Verliererin aus, wusste ihren Unterdrücker jedoch zu überraschen, als sie ihm mit dem Knie einen heftigen Stoß in den Unterleib verpasste. Das Blatt wendete sich sofort. Nun hockte Reyne über dem willenlosen Etwas, das noch so sehr an ihren Gefährten erinnerte; zu sehr. Sie konnte ihn zwar am Boden halten, nicht jedoch verhindern, dass er ihr mit der freien rechten Hand die Kehle zuschnürte. „Lass mich los du Miststück!“, fauchte der Amok laufende Ritter in dämonischem Tonfall. „Du bist die Nächste!“ Egal wie groß ihre Anstrengungen auch waren, wie sehr sich ihre spitzen Nägel auch in das Fleisch des Mannes bohrten, sie konnte seinen brutalen Griff nicht lösen. Der Druck wurde unerträglich. Reyne wusste, sie würde dieser Tortur nicht mehr lange standhalten können. Sie ergriff mit der Rechten einen der Dolche an ihrem Gürtel, gab damit jedoch auch den anderen Arm Elmos frei, der sich daraufhin ebenso blitzartig um den Hals der Frau schlang. Beinahe verlor sie die Besinnung und somit den Kampf ums Überleben. In ihrem Kopf wiederholte sich ständig nur ein Gedanke: Das eigene Leben retten, oder ihren Liebsten gewähren lassen? Schließlich presste sie den Dolch mit letzter Kraft in die Brust des Mannes, an der Stelle, wo sich der Fluch am deutlichsten ausgebreitet zu haben schien. In der Hoffnung es töten und Elmo auf diese Weise vielleicht noch retten zu können – so wie er einst sie hatte retten können-, durchstieß sie langsam die verfärbte Haut des Mannes, das Fleisch darunter, die Rippen und letztlich sein Herz. Die Augen hielt Reyne die ganze Zeit über geschlossen. Sie konnte unmöglich mit ansehen, wie sie den Mann, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte und den sie so abgöttisch liebte, ermordete. Das gewaltsame Eindringen des blanken Stahls ließ Elmo in einem letzten Aufbäumen schier unbändige Kräfte entwickeln, sodass er die Dunkelelfe von sich werfen konnte. Mehr war es nicht; nur das letzte Zucken, während alles verbliebene Leben aus seinem Körper entwich. Reyne bemerkte, wie der Parasit, der wie eine lebendige Tätowierung seinen Oberkörper überzog, langsam verschwand. Ob es starb, oder nur das Interesse an seinem dahin scheidenden Wirt verlor, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Sie fühlte sich jedenfalls nicht mehr bedroht von ihrem sterbenden Gefährten und wagte es, auf allen Vieren zu ihm zu robben. Er lag in seinen letzten Zügen, doch war Elmo zumindest wieder er selbst geworden. Als Reyne bemerkte, dass ihr Freund wieder bei Bewusstsein war, ergriff sie sofort seine Hand und beugte sich über ihn. Ein einziger Tropfen dunkelroten Blutes bahnte sich den Weg von seinem Mundwinkel aus über die bleiche Wange des Sterbenden. Ihm folgten die kristallklaren Tränen seiner Mörderin. „R... Reyne ...“ Suchend hob Elmo den Arm. Er nahm die Umgebung um ihn herum kaum noch war, seine Kameradin jedoch wusste, dass er ihre Nähe spüren wollte. Sie ergriff die zittrige Hand des Mannes und schenkte ihm so den Halt, den er benötigte. „... d-das ist n-nicht ... deine Schuld.“ Doch sie fühlte sich schuldig. Weil sie schlief, während er verführt wurde und nach Ballymena aufbrach; weil sie hier und jetzt davon überzeugt war, dass es auch einen anderen Weg gegeben haben musste. „Es tut mir so leid!“ Sie konnte ihm noch immer nicht in die Augen sehen. „Das muss es nicht. I-ich war schon verloren, als d-die Stadt mich r-rief.“ Immer wieder verschluckte sich Elmo an seinem eigenen Blut, doch er kämpfte gegen das nahende Ende an, so stark er nur konnte. „In meinem Gepäck ... ein ... Brief ...“ Reyne schaute sich suchend in der Umgebung um. Vom Pferd des Mannes war nirgendwo eine Spur, doch nicht weit von der Plattenrüstung, die sein alter Ego abgelegt hatte, machte sie das braune Leder aus, das er meinte. „Ich sehe ihn.“ „E-er ist f-für dich ... Reyne ...“ Seine Augen schlossen sich allmählich und sein Händedruck verlor auch die letzte noch vorhandene Kraft. „Nicht ... lesen ...“ Es waren die letzten Worte des Mannes, dem die Dunkelelfe alles zu verdanken hatte. Einige Sekunden brauchte die junge Dunkelelfe, um zu realisieren, wie schwer dieser Verlust tatsächlich für sie wog. Der Schmerz, der darauf folgte, war überwältigend. Selbst die tapfere Reyne, die sonst so eisern ihre Gefühle zu verbergen wusste, konnte und wollte sich nun nicht mehr zurückhalten. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und wandte sich voller Verzweiflung an den leblosen, blutbefleckten Körper des Mannes, den sie über alles geliebt, sich jedoch niemals vollends anvertraute hatte. Nun ward ihr jene Gelegenheit für immer genommen. „Geh nicht weg!“ Reyne rüttelte an den Schultern des Toten und vergrub ihr Tränen nasses Gesicht in seiner Brust. „Du darfst jetzt nicht gehen ... ich brauche dich!“ Sie lag einfach nur so da, an seinen Körper gepresst, so nahe, wie sie es viel zu selten gewesen war. Sie strich Elmo sanft über die Wangen, das Haar und die Brust und redete auf ihn ein, wohl wissend, dass sie keine Antwort erhalten würde. Doch es spielte keine Rolle, nicht in diesem Moment. „Du warst das einzig Gute in meinem Leben. Du hast mich zu etwas Besonderem gemacht, zu Jemandem ... Ich bin es nicht wert zu leben; ich sollte hier liegen! Nein, schon damals, hätte ich sterben sollen ... Wie es einem Schwächling wie mir gebührt, verschüttet im Niemandsland dieser Welt. Stattdessen schenkest du mir neues Leben. Eine zweite Geburt war es für mich.“ Wieder schwieg sie einen Moment, um sich dann nur noch mehr Vorwürfe zu machen. „Wieso?“ Reyne hämmerte verzweifelt auf die Brust des Mannes. „Wieso nur, musstest du mir begegnen? Ist das etwa der Preis für meine Vergangenheit?“ Sie richtete diese letzte verzweifelte Frage nicht mehr an den leblosen Körper des Mannes, sondern an den Himmel, die Sterne, die Ewigkeit – was immer es auch sein mochte, das die Macht besaß, ihr in dieser schwersten aller Stunden zu Antworten und sie nach so vielen Jahren von der unerträglichen Last der Unwissenheit zu befreien. ... ... ... ... ... ... Vyers. 17 Jahre früher (Minewood-zeit) Ein glorreicher Tag war angebrochen: Ein Tag auf den die Kinder im Waisenhaus am Rande der Stadt genauso erpicht gewartet hatten, wie die anderen Jünglinge, die das Privileg der Familie genießen durften. An diesem Tag waren sie alle gleich. Sie alle waren für die nächsten Stunden das Zentrum der Aufmerksamkeit, egal ob Mädchen oder Jungen; Söhne, Töchter oder Waisen. Sie alle wurden schon von Geburt an auf das nun unmittelbar bevorstehende vorbereitet und sahen diesem Ritual der Aufnahme voller Hoffnung und Vorfreude entgegen. So wurde es den Kindern beigebracht, so wurde ihnen der große Tag stets vorausgesagt. Den jungen Dunkelelfen, die das neunte Lebensjahr beschritten hatten, stand bereits jetzt die wohl wichtigste Entscheidung ihres gesamten Lebens bevor – nur lag diese nicht in ihren eigenen Händen. Schon bald würden sie Gewissheit darüber haben, in welcher Form sie ihrem Herren, und somit vor allem ihrer eigenen Art, in Zukunft dienen würden. Die zurückhaltende, schüchterne Re'na war eines der sieben Mädchen im Waisenhaus, die das schicksalhafte Alter erreicht hatten. Und auch wenn sie sich immerwährend in ängstliches Schweigen hüllte, so war auch sie am heutigen Tage mindestens genauso aufgeregt, wie die anderen. Ihre beste Freundin, die kleine Elfe Seija [Sey-dscha], konnte den ganzen Morgen ausschließlich von der Einberufung reden, auch wenn sie sich – wie die meisten – nicht wirklich vorstellen konnte, was dieser Wendepunkt in ihrem Leben nun tatsächlich bedeuten würde. Was sie und alle anderen wussten, war, dass es die größte Ehre war, für das Heer berufen zu werden, wohingegen die Einteilung zu den Jägern gerade unter den Waisen einen erschreckend geringen Stellenwert hatte. Grund dafür waren nicht zuletzt die Geschichten, die aus der Stadt, speziell von den Kindern aus Familien, immer wieder bis in das streng geführte Waisenhaus drangen. Draußen erzählte man sich, dass nur Waisen auf die Jagd geschickt würden, oder dass die Ausbildung zum Soldaten für die elternlosen Kinder viel zu schwierig wäre. Und wie es für Kinder eben so üblich war, steigerte sich mit jedem bösartigen Gerücht, das sich über die Jahre verselbstständigte, der unbedingte Wille all diesen Vorurteilen zu widersprechen. Soldaten, das wollten sie werden! Die Jungen, wie auch die Mädchen. Und alle Kinder versuchten so gut wie nur möglich die Zweifel, die sich tief im Innern ihrer noch reinen, unschuldigen Herzen ausbreiteten, zu verbergen. Vor allem am heutigen Tage. „Ich hab' gehört, die Jungen wurden schon ganz früh am Morgen abgeholt! Und wir haben es verschlafen ...“ Seija vertrieb sich und ihren gleichaltrigen Freundinnen die schier endlos scheinende Wartezeit mit den neuesten Gerüchten. „Niemals! Das hätten wir doch mitbekommen, aber ... auf jeden Fall sind sie jetzt nicht mehr da.“ Die Mädchen hatten einen Schlafsaal auf dem Dachboden ganz für sich. Ein einziges Dachfenster ließ einen Ausblick auf den Feldweg zu den Toren der Festung zu, die sich in jeder Minute hätten öffnen können. Re'na blickte verträumt auf die neblige Szenerie herab. Ihre Freundinnen hatten ein Kerzenlicht entzündet und die sieben Betten in dem engen Raum dicht aneinander geschoben. Die früh winterliche Kälte trieb die meisten der Mädchen unter ihre Decken. Nur Re'na verbrachte die ganze Zeit im Freien, nur mit einem Nachtgewand bekleidet. „Du wirst noch krank, wenn du dir nicht wenigstens was Warmes anziehst!“, ermahnte Seija ihre beste Freundin. „Dann sind wir bestimmt bald dran“, flüsterten die anderen Mädchen. Vorfreude und Neugier heizten die Luft auf. „Nicht mehr lange, und es wird soweit sein!“ „Tut sich schon was?“ Re'na schüttelte nur unberührt den Kopf und gab weiterhin keinen Laut von sich. Was Seija und die anderen letztlich fühlten, konnte sie nur vermuten. Sicher waren auch sie nervös und ganz bestimmt aufgeregt. Aber teilten sie auch ihre Furcht? Mit ihrer Angst vor dem Bevorstehenden fühlte sich das junge Ding an diesem frostigen Morgen völlig allein gelassen. Sie befürchtete, nicht gut genug zu sein. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Die verirrte Kugel traf den Jungen genau in die Brust. Fast schon zu präzise, zu verheerend, als dass es sich dabei wirklich um einen unglücklichen Zufall hätte handeln können. Peter selbst starrte lange Zeit ungläubig auf das schwarze Loch im Stoff seines Hemdes, vielmehr so, als würde er die Wunde eines anderen betrachten. Sein Sturz von dem perlweißen Ross riss seine Freunde aus ihrer Trance; ihn aus seinem Leben. Jin kniete neben dem leblosen Körper nieder und flehte bitterlich um Hilfe, ohne dabei aber einen Laut von sich geben zu können. Nötig war es ohnehin nicht, da sein Gesichtsausdruck Bände sprach. Der Schock hatte nicht nur ihn seiner Handlungsfähigkeit beraubt, auch seine gleichaltrige Artgenossin war wie versteinert. Noch immer saß Lily auf dem Rücken des Einhorns Momo, die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen. Übelkeit war es nicht, die sie zurückzuhalten versuchte. Die Waldelfe versperrte einem Schrei seinen Weg aus ihrer Kehle, einem Schrei, vor dem es ihr graute. Viola beobachtete einige Sekunden lang genauso schweigsam das Geschehen. Ihr Blick wanderte von den Elfen hin zum Blondschopf Aarve und verharrte schließlich einige Augenblicke auf Lester, der ebenfalls nicht in der Lage schien, etwas zu unternehmen. Kopfschüttelnd nahm die schwarze Frau also das Zepter in die Hand: Es war, als erhoben die anderen sie mit ihrer eigenen Untätigkeit in diesem Moment zu ihrer Anführerin. Der Weg zu Peters Körper, der nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem staubigen Pflasterstein lag, kam ihr wie ein Spießrutenlauf vor. Alle Augen waren auf die schlanke Frau mit dem immerwährend strengen Blick gerichtet, auch noch, als sie neben dem verletzten Franzosen niederkniete und seinen Puls fühlte. Die erschütternde Nachricht, die folgen sollte, verstärkte die Ohnmacht einiger ihrer Kameraden noch zusätzlich. „Kein Puls.“ Der Ungehaltenheit in ihrem Blick war deutlich zu entnehmen, dass Viola mit einer Reaktion gerechnet hatte. Zumindest einer dieser Taugenichtse würde doch wohl dazu in der Lage sein, sich einige Worte abringen zu können, dachte die Assassine. „Herrgott nochmal, unternehmt endlich etwas!“ „Was können wir noch tun?“, fragte Lester verunsichert. Am wenigsten von sich selbst hätte der erfahrene Krieger erwartet, in einer solchen Situation derartig festzufrieren. Peter war kein Ritter, keiner von ihnen. Er war ein einfacher Junge, der erst vor wenigen Tagen zu der Gruppe gestoßen war und diese Welt noch nicht verstand, sie noch nicht verstehen konnte. Ihn hätte es nie und nimmer treffen dürfen. Man hätte es verhindern müssen! „Was ... können wir jetzt noch für ihn tun?“ Viola wusste keine Antwort auf diese Frage und versuchte auch gar nicht, näher darauf einzugehen. Aarve? Er schien eher heilfroh darüber, dass der Querschläger ihn nicht erwischt hatte, was man dem jungen Mann aber kaum zum Vorwurf machen konnte. Auch nicht, dass er kein wundersamen versteckten Heilkräfte besaß, mit denen er diesen verfluchten Tag für alle hätte retten können, genauso wenig wie es die beiden Elfen taten, die noch immer mit ihrer Fassung rangen. Lily zog es instinktiv weg von alledem. Sie schwebte langsam außer Reichweite, bemerkte dabei gar nicht, dass sie den festen Boden unter ihren Füßen verließ. Es sollte das in diesem Augenblick unscheinbarste Wesen sein, dass den Bann des Verderbens zu brechen wusste. Fast wirkte es so, als wollte das Einhorn Momo die Magie seiner Aura wieder ins Bewusstsein der Trauernden rufen, die drauf und dran waren, die Anwesenheit dieses erhabenen Lebewesens völlig auszublenden. Mit einem Wiehern stemmte es sich für einen Augenblick auf die Hinterbeine, als würde es jeden Moment ausbrechen, verweilte dann aber wieder in aller Ruhe, als die aufgeschreckten Zweibeiner den nötigen Abstand eingenommen hatten. Was dann geschah, glich einem Wunder, einem wahrhaftigen Wunder. Momo beugte seinen Hals, bis die kühle spitze seiner weißen Schnauze den toten Junge berührte. Das unmittelbar folgende, leuchtend weiße Glühen seines Horns ließ keinen klaren Blick auf den eigentlichen Zauber zu, der nun zu wirken begann. Peter fühlte einen eiskalten Schauer, bevor er zitternd in die Höhe schnellte – Gänsehaut am gesamten Körper. Seine letzte fassbare Erinnerung war der Sturz; nur hat der Aufprall nie stattgefunden. Mit einem Mal saß er aufrecht auf der steinernen Straße, auf der seine Freunde vor wenigen Augenblicken noch Blut vergossen hatten. Zwischen dem Schock der Erkenntnis und seiner jetzigen Verfassung lagen Welten; Galaxien! Es war, als wäre er soeben neu geboren worden. „Ich glaub' das einfach nicht!“, entfuhr es Aarves Kehle, während die anderen weiter ungläubig schwiegen. „Ich glaub' es nicht ...“, wiederholte der blonde Hüne kopfschüttelnd. „Glaub' es ruhig! Das Einhorn hat ihn zurückgeholt.“ Lesters hilflose Starre war endlich gelöst. Väterlich half er dem Jungen auf die Beine, der noch immer nicht einzuordnen wusste, was eigentlich geschehen war. „Lester, wie ...“ „Frag lieber nicht, Junge.“ „Aber was soll das heißen: Es hat mich zurückgeholt?“ „Ich glaube, du warst ... tot, Peter.“ Nur der Elf brachte es fertig, es so genau auf den Punkt zu bringen, verarbeitete er die letzten Minuten noch am ehesten rational. „Und dein Freund hat seinem Herren das Leben geschenkt. Man hielt es stets für eine von vielen Legenden, doch scheinbar entspricht auch diese der Wahrheit!“ „Solltest ihm dankbar sein!“ Violas Rat nahm Peter sich zu Herzen, auch wenn er die Tatsachen, mit denen er konfrontiert wurde, wohl nie wirklich würde verarbeiten können. Er mochte aus dem Leben geschieden sein, doch konnte er natürlich keinerlei Erinnerungen an dieses Ereignis, und noch viel weniger mit dem Zustand als solchen verbinden. Für ihn fand alles nach seinem Sturz bis unmittelbar vor dem Aufprall ganz einfach nicht statt. Während sich der Franzose ehrfürchtig Momo zuwendete, stieß Lester auf den endgültigen Beweis für dessen magische Fähigkeiten. Nur eine Unze von ihm entfernt lag die blutgetränkte Kugel, die noch kurz zuvor tief in Peters Brust – in sein Herzen – eingedrungen war. Er warf sie dem Neunzehnjährigen zu, damit auch er begriff, was er dem Fabelwesen zu verdanken hatte. „Für dich – Heb es gut auf!“ „Momo“, flüsterte Peter dem Einhorn zu, als er ihm lächelnd über die Stirn strich. „Wir sollten diese Stadt endlich verlassen, Leute!“ Ein weiser Ratschlag des ehemaligen Gefangenen, der in all dem Trouble völlig unterzugehen drohte. „Was meint ihr?“ Nur sollte das Wunder des Lebens die Zeit der Agonie noch lange nicht beendet haben. Die Standhaftigkeit dieser tapferen Frauen und Männer sollte noch ein weiteres Mal auf eine wahre Zerreißprobe gestellt werden, und alle neu erlangte Hoffnung erneut lähmendem Entsetzen weichen. In seinen letzten Zügen hatte Rios – zweifelsohne besessen von niederen Mächten – zwei Schüsse abgefeuert; der eine traf das Herz des Jungen, der andere schien in den tiefen Ballymenas verschwunden zu sein, ohne Schaden angerichtet zu haben. Doch war es nicht letztlich dieser erste Schuss, der sein Ziel verfehlte? Galt all der Hass des finsteren Wesens nicht der Kriegerin, die ihn zur Strecke brachte? Aus nächster Nähe bohrte sich das Geschoss tief in die Eingeweide der jungen Frau und richtete dabei vernichtenden Schaden an. Das Blut des Toten mischte sich in Sekundenschnelle mit ihrem eigenen, das in dicken, dunkelroten Schwällen aus der Wunde hervor drang. Von dem Wunder hatte Eva nichts mitbekommen, als sie in die Knie ging und ungläubig in jener Position verweilte. Sie verspürte keinerlei Schmerzen und doch war sie gelähmt. In ihrem Kopf nahm sie nur noch ihren pulsierenden Herzschlag wahr, so ohrenbetäubend laut, wie niemals zuvor. Vielleicht bemerkte Eva, wie Lily um sie weinte, als diese wahrnahm, wie es um ihre Freundin stand; nur stellte sie unlängst ihre gesamte Wahrnehmung in Frage. Zu viel Blut, dachte sie, als sie noch einen klaren Gedanken zu fassen imstande war. Ohnmacht stahl ihr die Möglichkeit, noch länger bewusst gegen die grässliche Fratze des Todes ankämpfen zu können. Es war nun nicht mehr an ihr, etwas zu unternehmen. So gerne hätte sie ein letztes Mal mit Lily gesprochen; mit Lester, Reyne, Peter ... Sie alle bemühten sich um sie. Kreisten sie ein, versorgten sie. Die Schritte ihrer Freunde hallten noch einige Sekunden in ihrem Kopf nach, oder waren es Minuten? Stunden? „Wie konnte das nur passieren?“ Zielstrebig zog Lester die junge Frau einige Meter vom Leichnam ihres Attentäters hinweg, nur um sich gleich wieder in die kollektive Hilflosigkeit seiner Kameraden einzureihen. „Ich hätte das einfach wissen müssen!“ „Gib dir nicht die Schuld“, beschwichtige Viola den grauen Krieger, der zähnefletschend mit den Tränen rang. „Was ...“ Lilys Wimmern ging im Gemenge fast unter. Völlig apathisch kniete sie noch immer neben dem Toten. Längst hatte sie jedwede Kontrolle über ihren Körper verloren, die Gänsehaut, die sich über ihre Haut erstreckte, ließ erahnen wie sehr sie das Gesehene schockiert hatte. „Was machen wir jetzt?“ „Jin!“ Mit einer gehörigen Portion Unverständnis blickte Viola den jungen Waldelf tief in die Augen, der diese Zuwendung auf genau dieselbe Art und Weise erwiderte. „Kümmere dich um sie!“ Scheinbar verpflichtete seine Abstammung ihn zum Handeln. Zumindest schien das die Ansicht der strengen Frau zu sein, die mehr und mehr das Ruder in die Hand nahm. Wahrscheinlich lag es aber auch einfach daran, dass er das junge Ding noch am besten kannte und wenn es überhaupt noch jemandem gelingen konnte, ihr in dieser schweren Stunde beizustehen, dann ihm. Der Waldelf nahm sich der Aufgabe gewissenhaft an. Wenn er der Gruppe auf diese Art und Weise zumindest einen kleinen Dienst erweisen konnte, so sollte das seine Mission sein. „Sie atmet noch“, durchbrach Viola den stummen Schleier des Trübsal, der sich durch die Reihen der Ihren zog. „Was nützt es?“ Aarve empörte nicht nur den Koloss Lester mit dieser taktlosen Bemerkung, doch sprach er nicht etwa aus Desinteresse oder gar Böswilligkeit. „Weit und breit ist niemand, der in der Lage wäre, dem Mädchen zu helfen. Wie weit noch, bis nach Tapion, huh? Drei Tage? Vier?“ führte der blonde Mittzwanziger seinen Kameraden schonungslos die traurigen Tatsachen vor Augen. „Was sollen wir also deiner Meinung nach tun, du Held?“, spottete Viola. „Wir müssen uns verdammt noch mal etwas einfallen lassen, sonst stirbt auch sie!“ Lily, die zuvor noch völlig abwesend schien, konnte nach diesen Worten ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend und keuchend vergrub sie sich in Jins Armen, der ihr nicht besser zu helfen wusste, als mit seiner schieren Präsenz, es im Endeffekt aber auch nicht hätte besser machen können. Peter sah sich in jenem Moment einem ganz anderen Konflikt gegenüber. Unverständnis und Verzweiflung zeichneten sein Gesicht. Der Junge rang mit dem Einhorn, das ihm, seinem Herren, nur Minuten zuvor das Leben gerettet hatte, und begriff nicht, wie es der im Sterben liegenden Frau diesen Dienst nun verweigern konnte. Wie konnte er es wagen? „Momo! Komm zurück, Momo!“ Schrie der Franzose dem Hengst regelrecht ins Gewissen. Jeder in seiner Nähe vernahm die verzweifelten Befehle des Jungen; schnappten auch den Namen des Tieres auf, der den meisten von ihnen so vertraut war. Das märchenhafte Tier zog es im Trab immer weiter hinfort vom Schlachtfeld. Es wehrte sich nicht gegen die Bemühungen seines Herren, setzte weiterhin nur stur einen Huf vor den anderen, und ließ dem kräftigen Neunzehnjährigen nicht die geringste Chance, die Zügel an sich zu reißen. „Bleib stehen!“ „Er wird ihr nicht helfen, Peter. Er kann es gar nicht.“ „Wer ... wer spricht da?“ Für einen Moment glaubte Peter zu halluzinieren, als das Flüstern einer einfühlsam Frauenstimme ihn aus der Contenance riss. Die Worte durchdrangen sein ganzes Wesen; so liebevoll und zärtlich vorgetragen, wie er es nur von seiner Mutter gewohnt war. In den verblassenden Erinnerungen an sie, sprach sie stets in genau dieser Farbe. Nur war es kein Tagtraum, der ihm die Fassung nahm, wie die Reaktionen seiner Freunde ihm eindeutig klarmachten. Lester und Viola zückten ihre Schwerter als sich weitere Gestalten aus dem Dickicht hinaus ins Licht begaben: eine Schar vermummter Gestalten in allen Größen und Formen. Bullig und turmhoch wie untersetzt und rundlich. Dazwischen: die Stimme. Sie war genauso von Kopf bis Fuß in seidigen, grauen Stoff gehüllt, wie alle ihre Kumpanen, ihr Gesicht im tiefschwarzen Schatten einer weit geschnittenen Kapuze verhüllt. „Keinen Schritt weiter, oder ihr macht mit meinem Stahl Bekanntschaft!“, drohte Lester vor Wut schäumend. Einer der Fremden – jener der Sorte Furcht einflößend – machte im Gegenzug Anstalten eine Waffe zu zücken, wurde allerdings von der Frau im Zentrum zurechtgewiesen, von der nun nicht mehr nur Peter glaubte, sie sei die Anführerin dieses illusteren Haufens. Mit einer simplen Geste wusste sie ihre Mannen im Zaum zu halten und offenbarte dabei ihre feingliedrige, blass-blaue Hand. „Bitte, beruhigt euch“, sprach die Fremde. „Wir kommen, um zu helfen!“ Viola senkte daraufhin tatsächlich ihr Kurzschwert, nur zeigte sich Lester, der zweifelsohne die größere Bedrohung darstellte, von den Verkündungen der mysteriösen Dame wenig beeindruckt. „Für wie dumm haltet ihr uns?“ „Für euer Misstrauen gibt es keinerlei Anlass. Nicht mehr. Nicht uns gegenüber. Vertraue mir, Lester!“ „Woher kennst du ...“ „Wir kennen euch besser, als ihr euch vorstellen könnt“, beantwortete einer der ungeduldigeren Mannen diese berechtigte Frage, noch bevor es ihm gelang, sie vollends auszusprechen. „Dich ganz besonders, Peter!“, fügte ein anderer hinzu. Was anfänglich wie ein Überfall aus dem Hinterhalt gewirkt hatte, verlor mehr und mehr an Bedrohlichkeit. Jedes Wort der Fremden steigerte jedoch die Verwirrung der dezimierten Karawane. Auch die Angriffslust und Wut Lesters verflogen schneller, als seine wenigen verbliebenen Freunde es erwartet hatten. Wie sie alle, ergab auch er sich mit dem niederlegen seiner blutgetränkten Waffe endgültig seinem Schicksal. Einem Kampf würden Viola und er gegen die neuerlich aufgetauchte Übermacht niemals standhalten können. Wäre es tatsächlich ihre Absicht gewesen, hätten die Fremden mit dem jämmerlichen Rest der einstmals schlagkräftigen Truppe längst kurzen Prozess machen können. „Was wollt ihr?“, ergab sich der Nordmann seinem Schicksal. „Euch helfen“, antwortete die Rädelsführerin. „Wir bringen euch an einen Ort fern von der schwarzen Magie Ballymenas. Wir bringen euch in Sicherheit.“ „Wieso sollten wir euch vertrauen? Wer seid ihr?“, zweifelte der junge Dirand ein letztes Mal an den scheinbar edlen Motiven der Fremden. Eine abstrakte Figur schob sich an seinem Gefolge vorbei bis ganz in die Nähe des Franzosen. Ein Winzling, ein Zwerg, genauso verschleiert, wie all seine Kumpanen „Wir sind Freunde, Peter“, entgegnete der Halbwüchsige dem Jungen auf eine süffisante Art, die ihm zweifellos bekannt vorkam. Mit den anschließenden Worten lichtete Neil dann auch den Schleier, der seine Identität zuvor in Schatten gehüllt hatte. „Zeit ist ein Gut unschätzbaren Wertes, mein Junge. Das Leben deiner Freundin hängt am seidenen Faden. Jede Sekunde zählt!“ Und so wies der gebrechliche Zwerg Peter ein weiteres Mal den Weg ins Ungewisse. Von einem Augenblick auf den nächsten tauschten Wut und Verwirrung im Wesen des Jungen in einem unaufhörlichen Wechselbad der Gefühle ihre Plätze. Kein Wort drang mehr aus seiner staubtrockenen Kehle. ___________________________________________________________ Reyne hatte stundenlang auf die Karawane gewartet, doch niemand war erschienen. Verbittert sah sie sich nun mit der Situation konfrontiert, womöglich die letzte Überlebende zu sein. Ihren Geliebten und dessen Kameraden hatte sie mit eigener Kraft vor den Stadtmauern unter einer einzelnen, mächtigen Eiche begraben, die einige Meter vor dem dichten Wald wie das Familienoberhaupt dieser imposanten Pflanzen wachte und für Reyne das einzige Fleckchen Erde an diesem Ort darstellte, welches würdig schien, die Überreste ihrer Freunde aufzunehmen. Von der hochgelegenen Lichtung aus hatte sie freie Sicht auf die Stadttore, die zu ihrer endgültigen Entmutigung am späten Nachmittag von einem halben Dutzend Pferden durchquert wurden. Von Reitern war jedoch weit und breit keine Spur. Es schien, als hätte die verfluchte Stadt ihre Freunde verschlungen. Reyne konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet sie – die einzige Dunkelelfe – von der schwarzen Magie verschont worden war. Weit länger als nur einen flüchtigen Augenblick wünschte sie sich sogar, ihr Leben gegen das ihrer Freunde eintauschen zu können. Egal was auch geschehen war: Gerade jetzt wusste Reyne ganz genau, was es zu tun galt. Die Familien und Freunde dieser tapferen Menschen verdienten es, Gewissheit zu haben. So fixierte sich die Dunkelelfe wieder auf eine Aufgabe, nicht zuletzt, um die Trauer und den Schmerz ausblenden zu können. Sie würde allein nach Tapion ziehen, ganz egal wie sehr sie der Gedanke auch beunruhigte. Eva, Lester, Elmo ... ihnen allen war sie das schuldig. ... ... ... ... ... ... Vyers. 17 Jahre früher (Minewood-zeit) Welch Demütigung, welch unfassbare Enttäuschung, die die junge Re'na am eigenen Leibe erfahren musste. Es war so himmelschreiend ungerecht! Obschon sie lange vor der Musterung ein unangenehmes Bauchgefühl beschlichen hatte, tat sie es im entscheidenden Moment als simples Lampenfieber ab und hatte anschließend voll froher Erwartung die Sekunden gezählt, bis sie an der Reihe war. An der Reihe, den ersten gewaltigen Schritt auf dem ehrenhaften Weg der Kriegerin zu gehen. Überwältigt war sie geradezu von der imposanten Gestalt des Generals, der höchstpersönlich die Spreu vom Weizen trennte. Wortlos schritt er durch die Reihen der Waisen; tippte den blutjungen Auserwählten sanft auf die Schultern; nicht ein Wort verließ dabei seine Lippen. Als ihrer besten Freundin diese legendäre Geste zu teil wurde, hatte Re'na endgültig alle Zweifel abgelegt und fieberte ihrem großen Moment entgegen. Was letztlich geschehen sollte, machte auch jetzt keinerlei Sinn für die Dunkelelfe: Einen Moment lang zögerte General Ortoroz, wandte sich an seine Begleiterin, die zwischen Tür und Angel das ganze Ritual zu überwachen schien. Eine Erwachsene, wie sie Re'na noch nie zuvor gesehen hatte. Ihre Haut blasser, als die der meisten anderen; ihr Haar schneeweiß und strahlend hell, wie ihre Rüstung. Schon jetzt, nur wenige Stunden danach, fiel es dem Mädchen schwer, sich diesen Moment klar vor Augen zu führen. Die Erinnerungen verkamen zu surrealen Zerrbildern des wahrhaftigen Geschehens. Sie würde diese Bilder nie vergessen und wohl für immer auf diese abstrakte, ihr eigenes Leid noch steigernde Art und Weise in Erinnerung behalten. Wer war sie bloß, jene Frau, die ihr in ihrer Niederträchtigkeit die einmalige Chance entrissen hatte und ihre Träume auf solch hinterhältige Art und Weise zum platzen brachte? Wer nur ... „Sei nicht traurig, Reyne!“ Immer, wenn die beiden allein waren, nannte Seija ihre Freundin so. „Es wird schon alles gut werden, glaub mir!“ Sie hätte wissen müssen, dass Seija sie an diesem Ort finden würde. Schließlich war der Hügel an der nordöstlichen Stadtgrenze ihr beider Geheimversteck. Oft trafen sie sich an diesem Flecken um einige flüchtige Blicke auf das Interieur der Stadt zu erhaschen. Überwuchert von den Auswüchsen des angrenzenden Waldstückes war dieser Zugang zur Festung sowohl von innen wie von außen kaum mehr wahrzunehmen. Ganz zufällig stießen die beiden Waisen bei einer ihrer nächtlichen Erkundungstouren darauf. Das war schon Jahre her – alles hatte sich verändert. Seija und Reyne verbrachten ihre letzte Nacht zusammen; ihre Wege würden sich nun schon sehr bald trennen. Womöglich würde man sich in Vyers ab und an begegnen, doch wäre es nie mehr dasselbe. Die eine lebte ihren Traum, die andere weinte ihm hinterher. „Nichts wird gut!“, wimmerte Re'na, die völlig leeren Augen auf die Dächer der Stadt gerichtet, die sich noch bis weit gen nächtlichen Horizont erstreckte. „Sie hat es mir weggenommen; meinen Traum hat sie mir genommen! Warum?“ „Du meinst Lady Uriah?“ Der Name sagte Reyne nichts, doch sie war sich sicher, dass Seija auf der richtigen Fährte war. Lady Uriah – das passte einfach. Sie nickte ihrer Freundin zu. „Ich bin mir sicher, sie wird gute Gründe haben.“ „Und welche?“ Wütend war die Elfe zwar, doch hätte sie es nie gewagt, Seija anzuschreien. Stattdessen flüchtete sie sich ins Selbstmitleid. „Was sieht sie bloß in mir? Bin ich zu schwach, zu klein, zu dumm? Was fehlt mir, was all die anderen Mädchen haben? Wieso bin ich die ... einzige die ...“ Reyne brach in Tränen aus. Es war lange her, dass sich die junge Dunkelelfe ihren Gefühlen auf diese Art ergeben hatte – ganz ohne Gegenwehr. Wenn Seija auch keine Antwort auf ihre Fragen wusste, machte sie sich ohne zu zögern daran, ihre Freundin zu trösten. Die beiden Kinder verband mehr als nur eine enge Freundschaft. Im geteilten Leid hatten sie schon sehr viel früher zueinander gefunden. Jede für sich war ihrerseits dazu in der Lage, die Familie, die die andere nicht hatte, zu ersetzen. Sie waren Schwestern. Sie würden es immer bleiben. „Frag dich nie, was du nicht hast! Finde heraus, was es ist, was dich besonders macht, Reyne!“ ... ... ... ... ... ... Lang Lebe Der König ------------------- Kapitel 14 – Lang Lebe Der König Wie nie zuvor verriet der Magierin allein der bittere Geruch frischer Morgenluft, eingeatmet tief im Innern des kargen Steinkolosses, ihre eigene Transparenz. Es fühlte sich an, als wüsste jeder Hauch der kühlen Luft Bescheid, als würde jeder Windzug, wenn er pfeifend durch die kapellenartigen Gänge des höchsten Turmes wehte, Anklage gegen die wunderschöne Dunkelelfe erheben. Ein jeder Blick in die verwirrten, verängstigten, oder wütenden Augen eines ihrer Untertanen erschien ihr wie ein Dolchstoß bis tief ins Innerste. Dies alles gebar der Furcht Uriahs, der Furcht, durchschaut worden zu sein; der Furcht, ihren Platz verlieren zu können, ihre Stellung, ihre Zukunft. Im Moment der Bekanntgabe jener neuerlichen Zusammenkunft der Generäle begann die Vorstellungskraft der Hohepriesterin zum ersten Mal seit einer unendlich lang zurückliegend scheinenden Zeit, wieder kindliche Ausmaße anzunehmen. So durfte es nicht enden, das könnte sie ihr niemals antun! ... ... ... ... ... ... Ballymena, Rubina-Kathedrale. Fünfunddreißig Jahre früher (Minewood-Zeit) Das Mädchen war alt genug zu begreifen, was mit ihrer Mutter geschah; nicht jedoch alt genug, um zu verstehen, wieso sie sterben musste. Was in diesen schicksalhaften Momenten außerhalb der Tore der Kathedrale passierte, entzog sich dem Vorstellungsvermögen des zierlichen Wesens. Wahnsinn hatte die Stadt überfallen wie eine wilde Bestie und die Tollwut des Monsters breitete sich in Ballymena aus wie der schwarze Tod. „Versprich mir, mein Kind ...“, mit letzter Kraft wandte sich die Dunkelelfe, die in ein prächtiges Festkleid aus schneeweißem und weinrotem Samt gehüllt, und deren Körper über und über mit Schmuck behangen war, an ihre einzige Tochter, in deren Armen sie auf dem kalten Boden der Kirche Halt fand. „Beende, was wir angefangen haben! Prana ist unser Untergang. Lass niemals zu, dass dein Volk unterjocht wird, hörst du?“ „Mama ...“, schluchzte das bitterlich weinende Elfenmädchen. „Du musst es mir versprechen, Uriah!“, antwortete ihre Mutter fordernd. „Du wirst die Letzte sein, mein Kind. Die letzte mit der Gabe, die Welt zum Guten zu verändern. Einzig Prana ... du musst sie ... U-Uri...ah, d-du ...“ Ohne das Anliegen, das für die Frau in ihren letzten Zügen von größerer Bedeutung war, als alles andere, ihrer Tochter ein letztes Mal nahe bringen zu können, verließen sie ihre Kräfte und somit das letzte bisschen Leben in ihr, das bis zum tragischen Ende gegen das Unvermeidliche anzukämpfen versucht hatte. Königin Athlea starb in den armen ihrer Tochter, der Zukunft eines ganzen Volkes, das noch vor wenigen Stunden – Augenblicken, so schien es – auf dem Höhepunkt seines Schaffens gedieh. Innerhalb dieses Wimpernschlages jedoch schien sich alles Glück dieser Welt von jener stolzen und mächtigen Rasse abgewendet zu haben. Erst fielen sie vom Himmel, dann stürzten sie in den schier bodenlosen Abgrund des Wahnsinns. Vor den schweren Toren der Kathedrale fielen sie noch in diesen Minuten übereinander her. Freunde, Familien, Frauen, Kinder ... Wie und warum sie es auch immer angerichtet hatte – Uriah zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde an den Worten ihrer Mutter: Prana würde für diesen schrecklichen Gräuel bezahlen müssen! Eines Tages würde sie die Rache der Prinzessin treffen! ... ... ... ... ... ... Fünfunddreißig Jahre lang hatte sie gewartet und keine Angst vor weiteren fünfunddreißig. Uriah hatte sich stets geduldig gezeigt, vor allem, als das Heiland ihres geschundenen Volkes durch ihn herbeigeführt wurde. Der Gedanke an Blutrache schwand mit jedem Jahr, das Uriah an der Seite Gardifs verbrachte. Schon bald, so hatte sie sich von Jahr zu Jahr eingeredet, würde es die Hexe ganz von selbst dahinraffen; irgendwann würde sie nicht mehr mächtig genug sein, den Fluch, der auf ihr lag, den tiefsten Regionen ihrer Seele fernzuhalten und sich ihrem Schicksal beugen müssen, ohne, dass Uriah selbst jemals in den Verdacht geraten würde, mit dem Ende Pranas in irgendeiner Form zu tun zu haben. Nur lebte und atmete die schlafende Hexe noch immer. Womöglich hatte sie die Intentionen der prädestinierte Anführerin des Volkes der Dunkelelfen sogar durchschaut, was dem Ende aller Pläne Uriahs gleichkäme. Dieser Gedanke war es schließlich auch, der das Herz der Hohepriesterin unaufhörlich rasen ließ, als sie sich die letzten Stufen hinauf zu den Räumen des Lords begab. „Ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht.“ „Wie?“ Erschrocken neigte Uriah den Kopf in die Richtung des Mannes, der sich der gedankenverlorenen Magiern unbemerkt bis auf einige wenige Schritte genähert hatte. „Ortoroz!“ „Überrascht, mich zu sehen, Liebste?“, fragte der Krieger und fuhr einen zärtlichen Handkuss später fort. „Du wirkst nervös.“ „Bin ich nicht“, wiegelte die Dunkelelfe ab. „Wirklich nicht!“ „Ich wollte dich längst aufsuchen, nach dem Massaker in der Stadt, es tut mir ...“ „Schon in Ordnung. Ich habe keinen Kratzer abbekommen.“ Worauf die Prinzessin durchaus stolz war, „Das beruhigt mich.“ Fortan beschritt das Paar den Weg zum Thronsaal gemeinsam. „Man sagte mir, du hättest den Menschen letztendlich aufgehalten. War es so?“ „Ja. Es war notwendig.“ „Richtig! Und genau das ist auch das Problem!“, zeigte sich der Kommandant erzürnt. „Wovon sprichst du?“ „Es war ein Mann, Uriah, und meine Soldaten wurden nicht mit ihm fertig. Ein beängstigender Gedanke, nicht wahr?“, erklärte sich Ortoroz demütig. „Niemand war auf solch eine verzweifelte Tat vorbereitet.“ Uriah hätte ihrem Geliebten leicht erklären können, wieso es seine Männer nicht mit dem Fremden hatten aufnehmen können, doch war sie alles andere als erpicht darauf, jenes Geheimnis zu lüften. „Es konnte niemand damit rechnen.“ „Nimm sie nicht in Schutz, Uriah, das beleidigt mich!“ „Nur wenn du mir versprichst, deine Leute nach alledem nicht auch noch zu bestrafen.“ „Ich ...“ Ein inniger Blick in die zeitlosen Augen der Hohepriesterin genügte, um sich dem Verlangen der Schönheit bedenkenlos unterzuordnen. „Wir werden sehen“, hielt er sich eine Hintertür offen. Zusammen beschritten die beiden Generäle den verbliebenen Weg bis zu den Gemäuern ihres Herren, hoch oben an der Spitze des Turmes. Dort thronte der einzige Nicht-Elf über die Hundertschaften der Spezies, für deren Fortbestehen die aufopferungsvolle Hilfe des Minari einst von essentieller Bedeutung gewesen war. Seit jeher war Gardif eine Art ungekrönter König für die Dunkelelfen gewesen, die ihm bis zum heutigen Tage ohne Widerwillen folgten. Einzig Uriah beschlichen mehr und mehr Zweifel an der Aufrichtigkeit des alternden Retters. Seine Ambitionen – so behauptete er stets – galten allein dem Wiederaufbau der Zivilisation der Dunkelelfen und der damit verbundenen Rückerlangung ihrer Macht. Die Frage nach dem Warum hatten seine treu ergebenen Zöglinge, die in ihm eine lebende Legende sahen, niemals zu stellen gewagt. Vor den prunkvollen Toren angelangt, überkamen Uriah neuerliche Bedenken an der Integrität ihres Herren. Bedenken, die es abzustellen galt, wollte sie diesen Tag unbeschadet überstehen. Die bloße Anwesenheit Pranas wusste der weit jüngeren Hohepriesterin das Fürchten zu lehren. Nichts und Niemand auf der Welt vermochte Lady Uriah zu ängstigen, da einfach nichts existierte, das ihr ernsthaft gefährlich werden konnte. Nur die graue Hexe, die im Herzen Vyers – in Morpheus Armen – bis an ihr Ende zwischen Dies- und Jenseits wandelte, war eine Bedrohung für sie. „Es ist Zeit für gute Neuigkeiten“, witzelte Ortoroz mit grimmiger Miene, den Blick auf die imposante Freske an der Tür gerichtet. „Das wäre das erste Mal.“ ... ... ... ... ... ... Vyers. Sechsundzwanzig Jahre früher (Minewood-Zeit) Jeder Dunkelelf – ob Mann oder Frau – wusste, welch außergewöhnlicher Abstammung die beiden Mädchen waren. Im Angesicht der blutjungen Schönheiten spiegelten sich zugleich Hoffnung wie auch Verzweiflung wieder. Sie verkörperten die Zerbrechlichkeit einer gesamten Spezies und auch ihre gesamte Macht, ihr gesammeltes Potential. Uriah und Sindrel waren die letzten noch lebenden Hohepriesterinnen. Sprösslinge zweier legendärer Familien, die im großen Krieg Seite an Seite gegen den gemeinsamen Feind gekämpft hatten, der auch jetzt, fast zehn Jahre nachdem der letzte Tropfen Blut in Ballymena vergossen worden war, noch immer keine Identität hatte. Respektvoll war nicht der richtige Ausdruck, um zu beschreiben, wie die beiden jungen Damen in Reihen der Ihren behandelt wurden; vielmehr vergötterte sie das Fußvolk in Vyers, wann immer den weniger privilegierten Elfen die seltene Ehre zuteil wurde, einen Blick von den legendären jungen Frauen zu erhaschen. Besonders des gefallenen Königshaus' Nachkomme, Uriah, begegnete das Volk in diesen schweren Zeiten ganz wie in frühesten Kindertagen. Sie war noch immer ihre geliebte Prinzessin und würde es auch immer bleiben. Im Glanz ihrer Augen war die Erinnerung an Zeiten des Ruhmes und des Friedens auf ewig festgehalten. Am heutigen Abend, da man den achtzehnten Geburtstag der Magierin ausgiebig feierte, war die gesamte Stadt auf den Beinen und labte sich freudetrunken am Geschenk ihrer Anwesenheit. „Darf ich um Ruhe bitten!“ Die kräftige, rauhe Stimme ihres Anführers wusste die Dunkelelfen, die den Marktplatz von Vyers in ein Tollhaus verwandelt hatten, schlagartig zum Schweigen zu bringen. Auch die Anwesenheit Gardifs wurde mit Voranschreiten der Zeit ein immer selteneres Privileg. „Zu allererst gilt es, mich bei euch allen zu bedanken!“ Der Minari stand am Rande einer kreisrunden Holzplattform, die einen knappen Meter über den Boden ragte und eigens für die Feierlichkeiten das Zentrum des Marktes ausschmückte. Feinste Seide fiel von den baumhohen Pfeilern wie ein Zeltdach. Weinrote Banner wehten im seichten Winde der anbrechenden Nacht. Bahnen edelsten Teppichs – genauso dunkelrot –, rundeten das Gesamtbild ab. Eine improvisierte Bühne inmitten des Knotenpunktes der Stadt, die für das gemeine Volk zwar nicht zugänglich war, den Hochadel jenem allerdings näher brachte, als die meisten Elfen es sich je hätten erträumen lassen. „Euer so zahlreiches Erscheinen ehrt mich und natürlich auch eure wunderschöne junge Prinzessin, der es heute gebührend Ehre zu erweisen gilt!“ Es war nicht zu überhören, dass Gardif es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst ausgelassen an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Seine Rede wurde nach jedem beendeten Satz durch tosendem Applaus honoriert. „Nun, da Prinzessin Uriah ihr achtzehntes Lebensjahr beschreitet, rückt der Tag der Wiederkehr in greifbare Nähe.“ Ein unvergleichlicher Jubelsturm ließ den Boden unter den Füßen der Massen erzittern. „Mit dem Schicksal dieser beiden Frauen eng verbunden, ist das Schicksal eines jeden einzelnen von uns.“ Gardif präsentierte der Menge mit einer öffnenden Geste die Magierinnen, die sich in ihren Festkleidern an dem prächtig verzierten Eichenholztisch im Zentrum der Bühne gegenüber saßen. Ihnen war die hochtrabende Ansprache des Mannes nicht wirklich genehm. Keine der beiden genoss eine derartige Zurschaustellung ihrer Person, es waren eher die Männer um sie herum, die sich dem Rampenlicht nur zu gerne auszusetzen schienen. „Ich hoffe, dein Geschenk entschädigt mich für das hier“, flüsterte Uriah ihrer engsten Freundin zu, ohne dabei jedoch allzu ernst zu wirken. „Garantiert!“, antwortete Sindrel. Ihr Lächeln verriet die eigene Vorfreude. „Ist es denn wirklich so schlimm für dich?“ Uriahs Blick wanderte in einem Halbkreis durch die Reihen ihrer Artgenossen. Wo immer ihre Aufmerksamkeit auch erwidert wurde, schaute die junge Frau in trügerische Glückseligkeit, die ihr zu schön erschien, um wahr zu sein. In den Augen eines einzigen Soldaten konnte sie derlei Gefühle jedoch nicht ausmachen. Ortoroz wandte sich ihr nicht einmal zu. „Er sieht besorgt aus, findest du nicht?“ „Und das gefällt dir, nicht wahr?“, stichelte die vom Wein leicht betörte Magierin. „Unsinn!“ Uriah ließ für diese freche Bemerkung mit einem einfachen Fingerzeig einen der Träger des Festkleides ihrer Freundin sich lösen. Sindrel versuchte das peinliche Missgeschick eilig zu verbergen. „Leg dich nicht mit einer Prinzessin an – wir sind eitel!“ „Ich habe doch aber recht, oder?“, bohrte Sindrel in der Wunde. „Sicher ist er anders als die meisten anderen“, erklärte Uriah. „Und das gefällt mir, ja. Wieso auch nicht ...“ Ihre Aufmerksamkeit wandte sie mit diesen Worten erneut auf den Krieger, der im entlegensten Winkel der Plattform über sein Volk zu wachen schien. „Selbst heute wirkt er traurig.“ „Eher angespannt, wenn du mich fragst. Wahrscheinlich, weil er zu viel nachdenkt. Über die Vergangenheit, du verstehst?“ Auch Sindrel hatte Ortoroz unlängst ausmachen können. „Oder ...“ „Was?“ „Reiß mir dafür bitte nicht die Kleider vom Leibe, aber,“ Zufrieden grinsend beugte sich die Hohepriesterin zu ihrer Freundin und flüsterte ihr zu, „vielleicht ist er ja auch nur einsam.“ Uriah antwortete darauf nicht einmal. Durchschaut hatte ihre Freundin sie sowieso längst. Vielleicht sollte sie den nächsten Schritt wagen, schon um mit Sindrel gleichzuziehen, die ihr Glück in der Liebe unlängst gefunden hatte. Vielleicht wäre das eine gute Idee. Den nötigen Mut dazu, besaß sie. Gardif richtete das Wort unterdessen noch immer an das Volk, sein Volk. Dem Verlauf seiner Ansprache konnten das Geburtstagskind und ihre beste Freundin zwar nicht mehr folgen, doch – und dessen waren sie sich sicher – hatten sie wohl kaum weltbewegendes versäumt. Seine letzte Ankündigung jedoch, sollten sie beide noch aufschnappen. „So besonders dieser Tag ist, so schwer fällt es mir, noch länger den Mantel des Schweigens aufrecht zu erhalten, was die Zukunft unserer anderen hoch talentierten jungen Magierin betrifft.“ Gardif wechselte einen flüchtigen Blick mit Sindrel, die ihm gezwungener Maßen nickend Zugeständnisse machte, da es nun kaum noch einen Ausweg gab. „Voller Freude und erfüllt mit großem Stolz ist es mir nun erlaubt euch allen zu verkünden, dass Lady Sindrel und Sir Leban sich im kommenden Winter Familie nennen dürfen!“ Gardif erntete allerorts Beifall ob dieser wahrhaft großen Kunde. Die frohe Botschaft vermochte es schließlich Heerscharen von Dunkelelfen in freudige Ekstase zu versetzen. Sie alle wussten, wie wichtig die Fortführung der Blutlinie der Hohepriesterinnen war. „Sindrel, du bist schwanger?“, fragte Uriah erschrocken. Sie war völlig ahnungslos. „Ich wollte es dir nach der Feier mitteilen. Mein Geschenk ist nicht weniger als die Patenschaft für meine Tochter. Es sollte doch etwas ganz Besonderes sein, verstehst du?“ Gardif unterbrach das Gespräch der beiden Frauen. Er legte seine knochige Hand auf die Schulter Uriahs, die noch immer nicht glauben konnte, was sie soeben gehört hatte. Das Wort richtete er allerdings an die werdende Mutter. „Es tut mir wirklich leid, dass ich mit der Tür ins Haus gefallen bin und dir die Überraschung nahm. Ihr wisst ja, wie mich der ein oder andere Tropfen zu viel mitzureißen vermag.“ Breit grinsend spielte der Minari in großväterlicher Manier die jüngsten Ereignisse herunter. Zumindest Uriah, deren Herz vor Wut raste, musste es so vorkommen. „Wie es scheint, hat es der Prinzessin glatt die Sprache verschlagen!“ Die gesamte Stadt schien im Taumel der Freude zu versinken. Man tanzte, man trank, man speiste und spielte – überall um sie herum. Nur Uriah selbst war in diesen Augenblicken weit weg von alledem. Sie mochte der Grund für die Feierlichkeiten gewesen sein, doch war jedwede Freude in der Seele der jungen Hohepriesterin seit jener erschütternden Nachricht schlagartig abgestorben. Ihre einzige Konkurrentin, die vor allem deswegen eine so gute Freundin war, da sie es nicht wagte ihre Fähigkeiten mit denen Uriahs zu messen, brütete tatsächlich die nächste Generation ihrer verräterischen Blutlinie aus. Lady Uriah fühlte sich verraten. Heimtückisch und ohne Vorwarnung fiel ihr ihre beste Freundin und engste Vertraute in den Rücken. Was Sindrel selbst wohl niemals hätte erreichen können, sollte nun ihr Kind fortführen? War das ihr Plan? Uriah den Platz an der Seite Gardifs streitig zu machen, indem sie ihren Spross zu dem machte, was sie selbst nicht hatte sein können? Wie es die Magierin auch drehte und wendete, stets kam sie zu dem selben Ergebnis. Nie zuvor hatte sich Uriah so unsicher, so nackt, so verraten gefühlt, wie in jener Nacht ihres achtzehnten Geburtstags. Ein Teil ihrer Seele zerbrach an diesem Tag, während ein anderer sich anschickte, zum Zentrum ihres Seins aufzusteigen. Vertrauen wich Misstrauen; Gunst wich Missgunst. Alle Zuneigung zu ihrer geliebten Freundin schwand so rasch, dass die Prinzessin selbst sich vor dem eigenen Zorn zu fürchten begann. ... ... ... ... ... ... Die Tage des Unwohlseins waren längst zahllos geworden; die wenigsten waren der Dunkelelfe so gut in Erinnerung geblieben, wie etwa der Todestag ihrer über alles geliebten Mutter, oder ihr achtzehnter Geburtstag. Gleichsam waren es jene Ereignisse, die die bisher größten Veränderungen ihres Lebens nach sich ziehen sollten und Uriah war nicht müde geworden sich der Vorstellung zu bekräftigen, dass es sich zum Besseren hin entwickelt hatte. Alles deutete darauf hin, dass auch der heutige Tag unvergesslich werden würde. Beinahe sicher war, dass er Veränderung nach sich ziehen würde – gravierende Veränderungen. Einmal mehr fand sich Lady Uriah an der Seite Ortoroz und Vashs im Thronsaal wieder. Unbehagen löste allein der Gedanke daran aus, dieses Mal das Zentrum der Aufmerksamkeit sein zu können – das einzig bedeutsame Thema der illusteren Runde, deren Rädelsführer seit der Ankunft seiner Untertanen noch nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte, sich vom Ausblick aus dem Fenster der östlichen Wand zu lösen. „Mein Lord, weshalb die eilige Zusammenkunft?“ Uriah empfand des jungen Generals wenig schickliche Anfrage als reichlich naiv und wagemutig, andererseits hatte er ja nichts zu befürchten. „Etwas ist geschehen.“ Mit artfremder Melancholie in seiner Stimme erläuterte Gardif den Dunkelelfen seine Beweggründe. „Prana gelang es, die Erinnerungen des toten Ritters zu extrahieren. Es war ...“ Der Minari bemühte sich, seine Trauer nicht offenkundig preiszugeben. „Es war mein Wunsch. Und obwohl es unmöglich schien, gelang es Prana – sogar in ihrem schlechten Zustand-, die Geschichte dieses Mannes wie sein Tagebuch offen zu legen.“ Nichts konnte Uriah in diesem Moment noch erschüttern. Die Macht der Hexe hatte sie stets gefürchtet; ihr ausgeliefert zu sein, ängstigte sie mehr, als jedes noch so düstere Schicksal, das sie sich in ihrer Fantasie auszumalen vermochte, und gerade jetzt spielte jene irreale Welt im Geiste der Hohepriesterin regelrecht verrückt. „Was ist dann passiert?“, fragte Ortoroz. „Sie ...“ Endlich wandte sich Gardif ab vom Ausblick auf die Wolken, die der höchste Turm an manchen Tagen zu durchbrechen im Stande war. „Sie starb. Prana opferte auch den letzten Rest ihrer Kraft, die sie am Leben erhielt. Ich habe sie verloren, sie getötet!“, wimmerte er. Die Kundgabe des Ablebens Pranas wusste alle drei Offiziere gleichsam zu überraschen, jedoch konnte Uriah nur schwerlich glauben, was sie soeben mit angehört hatte. War es denn wirklich möglich, dass dieser unlängst verfluchte Tag eine solch dramatische Wendung zum Guten nehmen sollte, entgegen aller Vorzeichen? Uriah hielt sich bedeckt und ließ geschehen, was geschehen musste. „Was sollen wir jetzt machen?“, flehte General Vash seinen Führer geradezu um Antwort an. „Was hat das zu bedeuten, Lord Gardif?“ „Was das bedeutet?“ Noch immer schien der alte Mann abwesend, ja, fast schon apathisch. „Vielleicht ist die Zeit gekommen, abzudanken.“ „Unmöglich!“, entfuhr es Ortoroz lauthals. „Das können sie nicht ernst meinen!“ „Ohne die Macht einer Hohepriesterin ist die Wiederauferstehung dieses Volkes ein nicht zu meisterndes Unterfangen“, begann Gardif zu erläutern. „Die Rückkehr in die verfluchte Stadt, ohne die Macht inne zu haben, die Verwünschung ein für alle Mal aufzuheben, ohne den Schlüssel in unserem Besitz nach Panafiel aufbrechen!? Ein Leben in Adessa, das dem Großteil der Bevölkerung fremd ist und nur noch eine fernes Licht verblassender Erinnerungen im Geiste der anderen!? Was würde es noch nützen?“ „Ich glaube nicht, was ich da höre! Haben sie ihren Verstand verloren?“, rief Vash seinem Herren ins Gewissen. „Ruhe!“, zügelte sein Artgenosse das Temperament des jüngeren Kriegers. „Vergiss nicht, wen du vor dir hast!“ Eine Weile hielt Stille Einzug in die dunklen Gemäuer, deren karge Felswände das Licht duzender Kerzen in geisterhafte Schattenspiele tauchte. „Nein, vergessen habe ich das nicht, Kommandant“, flüsterte Vash. „Nur erkenne ich nicht die Person, die vor mir steht und die Zukunft meines Volkes mit Füßen tritt! Soll das etwa der Messias sein, dem ein jeder Mann, eine jede Frau und ein jedes Kind fünfunddreißig unendlich lange Jahre lang in Demut und Treue ergeben waren, nur um ...“ „Schweig endlich!“, fauchte Ortoroz. „Ich denke, es wäre besser, wenn du jetzt gehst, Vash.“ Der Heißsporn ließ sich kein zweites Mal bitten und machte auf der Stelle kehrt. Es war ihm zuwider auch nur eine einzige weitere Sekunde in der Nähe des schwächelnden Minaris zu verbringen. Das Vertrauen in die Kompetenz seines Herren war erloschen. Als der schwere Torbogen wieder in die Angel fiel, war es an der Zeit, die Dinge richtig zu stellen. „Sie müssen wieder zur Besinnung kommen, mein Lord! Das Volk vertraut ihnen. Mit solch unüberlegten Äußerungen könnten sie eine Katastrophe auslösen.“ „Die Katastrophe ist längst unvermeidbar, Ortoroz!“, schrie Gardif mit zittriger Stimme. „Du weißt ja nicht, was Prana mich hat sehen lassen!“ „Dann sagen sie es mir!“ „Ich will mit Uriah allein sprechen“, wiegelte der alte Mann urplötzlich ab. „Was ...“ Das Paar wechselte einige flüchtige Blicke – unsicher, was es zu tun galt. Die Gefühlswelt der Frau spielte in diesem Augenblick erneut verrückt. Wäre Prana noch am Leben, würde sie wahrscheinlich kurzen Prozess mit der verräterischen Magierin machen. „Gut. Wenn es das ist, was ihr wünscht“, zeigte sich Ortoroz noch immer unterwürfig, da er weiterhin an die Integrität seines Herren glauben wollte. Er verließ die Gemächer ohne einen weiteren Blick an Gardif zu verschwenden. So sehr er sich auch bemühte, dem Verhalten des Minari Verständnis entgegen zu bringen, so sehr verabscheute er dessen Schwäche, die er, in Selbstmitleid zerfließend, so offenkundig preisgab. Nun kam es also tatsächlich zu der Gegenüberstellung, die Lady Uriah von der ersten Minute an gefürchtet hatte, nur hatten sich die Vorzeichen mittlerweile verändert. Gardif ruhte nicht mehr im sicheren Schoß der grauen Hexe, ganz im Gegenteil, er war der jüngeren Hohepriesterin hilflos ausgeliefert, die er zuvor in keiner Weise zu erwähnen gedacht hatte, als er von der Zukunft der Dunkelelfen sinnierte. „Folge mir, Prinzessin, ich will das in ihrem Beisein besprechen.“ Prinzessin – so hatte er sie seit Jahren nicht mehr betitelt. Allein der Gedanke, sich in unmittelbarer Nähe Pranas zu befinden, ganz gleich ob tot oder lebendig, war eine schmerzende Brutalität für die Seele des Blaubluts. ___________________________________________________________ Mit jedem weiteren Schritt, den das Trio sich in das überwucherte Tal wagte, bereuten sie ihre Entscheidung, dem Verschwinden ihrer Artgenossen auf den Grund zu gehen, mehr und mehr. Etwas hier war faul, auch wenn die vorherrschende Stille es dem ersten Anschein nach nicht vermuten ließ. Ihr Instinkt ließ die Dunkelelfen den Weg achtsam beschreiten. Sie waren den Spuren ihrer Freunde bis weit gen Nordosten gefolgt, wo sie sich schließlich in einem dichten Waldstück verlor. Sang war die Mission, auf der er sich befand, schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. In seinem Falle mochte es die eigene Mutlosigkeit sein, die unaufhörlich tief in seinen Eingeweiden wühlte und ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Womöglich war es aber auch die Gewissheit, einen großen Fehler zu begehen, die im Bewusstsein des jungen Elfs Ranken schlug. „Wir sollten umkehren, Braja“, keuchte der Jäger. „Ruhe Sang! Wir sind hier absolut richtig.“ In dieser Angelegenheit zumindest gab es keine zwei Meinungen. Sie waren allesamt hervorragende Fährtenleser. Das wilde Getrampel der herrenlosen Guris zurück zu verfolgen, war keine wirkliche Herausforderung für sie gewesen; doch fühlte auch die Anführerin der Gruppe ein Unbehagen, das ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. „Du würdest auch nicht wollen, dass man dich hier zurücklässt, oder?“ „Nein, ernsthaft, ich will verdammt noch mal hier weg!“, jammerte Sang ein weiteres Mal. „Was in Pranas Namen ist los mit dir? Und du willst der Sohn Ortoroz' sein?“, wies Braja ihren Untergebenen in aller Deutlichkeit zurecht. „Vielleicht hat er Recht, Bra“, stimmte die junge Leiria mit ein. „Dieses Mal ...“ „Nicht auch noch du!“ „Merkst du das denn nicht?“ Erst jetzt fiel Braja auf, dass sich ihre Freundin – wie die kleine Schwester des Elfs – im Windschatten des hochaufgeschossenen Sangs zu verstecken versuchte. Nie zuvor hatte die Dunkelelfe ihre Partnerin so ängstlich erlebt, und das Schlimmste daran war, dass sie sich selbst kaum anders fühlte. „Irgendwas beobachtet uns! Ich glaube nicht, dass unsere Leute noch am Leben sind.“ Schockiert musterte die Anführerin des kleinen Jagd-Trupps ihre Kameradin, so als hätte sie just der Schlag getroffen, dann wisperte sie: „Was ist das?“ Nur einen stummen Fingerzeig konnte sich Braja abringen. Ihre Glieder waren zu starr vor Schreck, um eine sinnvolle Reaktion zeigen zu können. Sie deutete mit fahlem Blick auf die Schulter der Dunkelelfe. Blut. Es war Blut! Aufgeregt verwischte Leiria die tiefroten Tropfen auf ihrer Haut. Im ersten Augenblick dachte sie womöglich, sie selbst hatte sich verletzt. Die Wahrheit jedoch war weitaus tragischer. „Ich glaub' das einfach nicht!“, stieß Sang mit heiserer Stimme aus, als er den leblosen, verstümmelten Körper im Geäst der massiven Pflanze ausgemacht hatte. Es waren die geschundenen Überreste eines Kameraden. Ob Mann oder Frau vermochte keiner der drei noch bestimmen zu können. Es spielte auch keine Rolle mehr – für sie oder ihn kam längst jede Hilfe zu spät. „Waren das die Menschen?“ Noch nie hatte Sang einen ähnlichen Anblick ertragen müssen. Er prügelte und triezte die Menschen in Caims nur zu gerne – behandelte sie wie Vieh-, nie jedoch war er so weit gegangen, einen Pinkie zu töten. Sang mochte sich eingebildet haben, eine derartige Tat mit Leichtigkeit vollbringen zu können, wenn er es nur wollte, musste sich beim Anblick seines gemeuchelten Artgenossen jedoch eingestehen, das Gesicht des Todes mehr als alles andere zu fürchten und gar zu verabscheuen. Waren die Menschen wirklich dazu fähig, ein derartiges Massaker anzurichten? War ihr Hass auf die Dunkelelfen wirklich so grenzenlos? Es passte in das Bild, das man seinem Volk von jener Spezies vermittelt hatte, und doch keimten Zweifel in dem Jungen auf, da er in Vyers viele Menschen kennengelernt hatte, die ihn fürchteten. „Niemals! Das ist nicht das Werk der Menschen“, zweifelte auch Braja am Schicksal ihrer Freunde, das zwar nahe lag, der Wahrheit letztlich aber fern war. „Wer war es dann? Wer hat sie umgebracht?“ Ratlos versuchte sich Braja einen Überblick über ihren Standort zu verschaffen. Schnell wurde der Jägerin klar, dass sie, ganz wie ihre Freunde zuvor, in eine Falle getappt waren, ausgelegt, um lästige Anhängsel wie ein Schwadron spionierender Dunkelelfen abzuschütteln. „Sie wussten, dass sie verfolgt werden“, flüsterte Braja gerade laut genug, ihre Kameraden zu alarmieren. „Aber woher nur?“, fragte Leiria entsetzt. „Sie haben nur getan, als würden sie nichts ahnen und konnten uns so an jeden Ort führen, der ihnen vorschwebte.“ Braja ging nicht weiter auf die Frage der blutjungen Elfe ein. Beinahe fasziniert erklärte sie, wie es der Beute wohl gelungen war, mit den Jägern die Rollen zu tauschen. „Selbst mussten sie das Tal dabei gar nicht durchqueren, ich meine, schaut euch doch nur mal um: Es ist der ideale Ort, um unbemerkt Verfolgung aufzunehmen. Sie wussten ganz genau, dass unsere Leute diesen Weg einschlagen würden. Allerdings ...“ „Was?“ „Ich kann mir noch immer nicht erklären, was ihnen zugestoßen ist. Welches Wesen, welches Tier in Adessa vermag es, so etwas zu tun?“ Das Wesen, dessen gnadenlose Brutalität die Elfen in blankes Entsetzen versetzte, fiel Braja mit einem unmenschlichen Aufschrei ins Wort, der ihr nur zu gut bekannt war. Aus der Ferne drangen Laute an die Gruppe heran, die sie an diesem Ort – auf dem ganzen Kontinent – nie und nimmer erwartet hätten. „Gamms!?“ Ein nervöses Zucken durchfuhr das Mienenspiel Leirias, die genauso ungläubig ihre Kumpanin anstarrte, wie diese das Dickicht, aus dem sich in nicht allzu großer Distanz das turmhohe Monster ins spärlich durch die Wipfel dringende Sonnenlicht drückte. Es entwurzelte dabei mit Leichtigkeit einige der uralten Pflanzen, die dem beleibten Allesfresser den Weg zu seinem Festmahl versperrten. „Unmöglich!“, zischte Sang. „Die dürfte es hier doch gar nicht geben!?“ In der Tat waren diese abstrakten Ausgeburten der Natur lediglich in Caims und Umgebung heimisch, der Inseln, derer sich die Dunkelelfen vor Dekaden bemächtigt hatten. Dort war es ihnen sogar gelungen, die gefährlichen Tiere zu domestizieren und sich Untertan zu machen. In freier Wildbahn jedoch, waren Dunkelelfen einer solchen Urgewalt hoffnungslos unterlegen, was das tragische Schicksal des zweiten Jagd-Schwadrons nur unterstrich. „Lauft!“, rief die Anführerin der kleinen Gruppe. „Bra!“, hallte es umgehend aus der Kehle der Jüngsten zurück. „Nun macht schon!“, befahl die Jägerin ihren Kameraden und machte dabei selbst keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten. „Es wird nicht allein unterwegs sein. Noch haben wir eine Chance, wenn ich es ablenken kann.“ „Ablenken?“ Leiria wurde hysterisch. „Bist du wahnsinnig! Das überlebst du nicht!“ Fordernd umklammerte sie die Schulter ihrer besten Freundin, keinesfalls wollte sie ohne sie fliehen. „Wir verschwinden hier alle zusammen, kapiert?“ „Die Befehle hier gebe ich!“, wies Braja die Forderung entschieden zurück. „Ich schaff' das schon“, säuselte sie noch. Doch wem wollte sie etwas vormachen? Es war ein Himmelfahrtskommando. Sie wusste das genauso gut, wie ihre beste Freundin. Womöglich waren es die Schuldgefühle, die sie zu jenem Wagemut trieben. Das Gefühl als Anführerin versagt und ihre Leute in den Tod geschickt zu haben. Womöglich war es auch einfach Heldenmut, sich für das geringere Übel zu entscheiden und zwei Leben für ein einzelnes einzutauschen. Als der graue, schuppige Fleischkoloss die Witterung aufgenommen hatte und daraufhin einen weiteren siegessicheren Kampfesschrei herausposaunte, gab es schlussendlich kein Zurück mehr für Braja. „Sang ...“ Ihr Blick war so eindringlich, dass der Dunkelelf glatt erstarrte. „Schaff sie hier weg!“ Braja wusste, dass sich das Großmaul kein zweites Mal bitten lassen würde. Vielleicht scherte er sich ja wirklich nicht um das Schicksal seiner Kameradinnen!? Ein trauriger Gedanke. Nun, da all ihre großen Pläne in Trümmern lagen, bedauerte sie es sogar ein wenig, sich nie um das Vertrauen des Jungen bemüht zu haben. „Komm schon, wir verschwinden!“ Sogar Leiria – den Tränen nahe – konnte den Forderungen Sangs nicht länger absprechen, da die Furcht vor dem Bevorstehenden sie übermannt hatte und allem Edelmut überwog. Die beiden jungen Dunkelelfen rannten um ihr Leben, rannten, ohne einen Blick zurück zu wagen. Erst als Leiria, die mit dem Tempo Sangs kaum Schritt halten konnte, zu der steilen Felswand gelangte, die zur Straße und somit zur ersehnten Sicherheit führte, wagte sie es, sich ihrer geliebten Kameradin zuzuwenden. Ein letztes Mal. Als sich das Tier unaufhaltsam näherte, verließ Braja jeder letzte Funke Mut. Es war gewaltig – selbst für ein Gamm. Diesen ungleichen Kampf konnte sie niemals gewinnen und so entschied die Dunkelelfe, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Sie schloss ihre Augen, denn alles was jetzt noch wichtig, noch von Bedeutung war, lag jenseits des Augenscheins. „Bra!“, drang es aus Leirias staubtrockener Kehle, als sie aus der Ferne mit ansehen musste, wie das gewaltige Wesen, vor dem sie Reißaus genommen hatte, sich unaufhaltsam auf ihre geliebte Freundin stürzte. Im letzten Moment meinte Leiria noch erkennen zu können, wie ihre Anführerin ihren Bogen senkte. Sie wusste, dass es keinen Unterschied mehr gemacht hätte, und dass ihre Waffe gegen das dickhäutige Untier rein gar nichts hätte ausrichten können. Leiria schloss die Augen, als das Gamm mit seinem gewaltigen Arm ausholte, um das Leben seines neuesten Opfers auszulöschen. Als sie den Mut fand, sie wieder zu öffnen, war von Braja weit und breit keine Spur mehr. Allein der Blut getränkte Unterarm des Monsters ließ das Schicksal der Elfe erahnen. Es hatte sie im Bruchteil einer Sekunde kaltblütig ermordet. Mit einem einzigen Hieb von barbarischer Kraft buchstäblich von der Erde getilgt. „Was tust du?“ Schreiend versuchte Sang das Mädchen der Apathie zu entreißen. „Es wird auch dich töten, verdammt nochmal!“ Er hatte recht. Das Wesen kannte keine Gnade und hatte, nachdem es in seiner Rage kurzen Prozess mit einer der Elfen gemacht hatte, längst sein nächstes Opfer ausfindig gemacht. Das ohrenbetäubende Brüllen des Gamdschas alarmierte schließlich auch Leiria, die in der Ohnmacht der Trauer jeden Halt zu verlieren drohte. Wieder flüchtete die Jägerin in Todesangst. Sie erreichte schnell den Abhang, der das einzige Hindernis zwischen ihr und der Sicherheit der Hochstraße darstellte. Dem schwergewichtigen Vieh würde es niemals gelingen, den Steilhang zu erklimmen, nur stand ebenso in den Sternen, ob Leiria es ihrerseits schnell genug gelingen konnte. Zentimeter für Zentimeter kämpfte sich das Mädchen die Felswand empor. So geschickt sie auch immer war, so konnte sie ihre überlegenden Fähigkeiten mit der Angst im Nacken doch nicht annähernd abrufen. Ihre Konzentration schwand, je näher sie ihrem Kameraden kam, der auf einer schmalen Plattform unweit des Gipfels halt gemacht hatte und hilflos mit ansehen musste, wie auch seine zweite Artgenossin den Kampf gegen das Untier, das sich ihr bedrohlich näherte, zu verlieren drohte. Nur wenige Meter trennten sie noch vom sicheren Hafen, doch spürte sie ihren Verfolger nun auch mit jeder Faser ihres Körpers. Der beißende Geruch des Monsters, vermischt mit der metallischen Note frischen Blutes, trieb Panik in die Glieder des Mädchens. „So ... nahe ...“ Gerade, als sie ihren Aufstieg aufgeben wollte, schnellte ihr eine dürre Hand entgegen. Schlanke Finger, mit Ringen verziert, sorgfältig geschliffene, lange Fingernägel. Sie wusste ganz genau, wessen Hand es war, konnte im ersten Moment jedoch nicht glauben, dass sie ihr tatsächlich Hilfe anbot. Nur ihr Instinkt veranlasste Leiria, diesen letzten Strohhalm der Hoffnung zu ergreifen, noch bevor das Ding sie erreichen konnte. Lauthals schrie das Gamm auf, als es den zarten Körper der Dunkelelfe nur um Haaresbreite verfehlte und sich dem Duo mickriger, blauer Zweibeiner letzten Endes doch noch geschlagen geben musste. Einige Sekunden noch, vielleicht sogar Minuten, schlug das Biest schnaubend vor Wut auf das Geröll ein, das ihm den Weg versperrte, bevor es sich wieder anderen Aspekten seines banalen Daseins widmete und schwerfällig den Rückzug antrat. „Komm!“ Sang hatte nicht vor, noch weiter seine Zeit nahe dieses Höllenschlundes zu verbringen, der sich hinter dem idyllischen Gewand blühender Natur versteckt hielt. Alles endete hier. „Wir können nicht gehen!“ Das war nicht die Jägerin, die aus Leiria sprach, so kindlich, wie ihre Worte klangen, so naiv in ihrer Hoffnung „Wir müssen Bra holen!“ „Mach dich nicht lächerlich“ Etwas seltsames geschah in jenem Augenblick mit Sang. Als er an sich hinunter schaute und das Mädchen in seinen Armen liegen sah, tat sie ihm leid. Sie tat ihm aufrichtig leid und mehr noch, fühlte er sich schuldig, ganz so, als wäre er verantwortlich für sie. „Wir sollten jetzt einfach gehen, hörst du?“ „Nein!“ Sie konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. „Nein, Nein, Nein!“ Die Elfe schabte wild mit den Beinen, versuchte sich aus der Umarmung zu befreien, konnte dabei aber keinerlei Kraft aufbringen. So sehr sie sich auch sträubte, die Hilfe ihres Kameraden verwehrte sie nicht mehr, als der ihr Order gab, sich an ihm festzuhalten, um auch die letzten Meter bis zur Straße zu erklimmen. Für Sang allein wäre der Aufstieg keine große Anstrengung gewesen, mit der Elfe als Gepäck auf dem Rücken war es hingegen beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Was die beiden Dunkelelfen dort erwartete, wusste Sang einzig mit dem Gelächter eines Verzweifelten zu kommentieren, als er sich erschöpft fallen ließ und sich seinem Schicksal ergab. Leiria nahm kaum wahr, dass sie – just aus den Fängen eines Monsters entkommen – nun einer ganzen Horde bewaffneter Menschen in die Arme gelaufen war. „Gott im Himmel!“, meldete sich einer der Reiter zu Wort. „Scheint so, als wäre das heute unser Glückstag.“ „Die Kinder werden sich freuen, wenn sie endlich mal ein paar Blaue zu Gesicht bekommen!“ meinte ein anderer triumphierend. „Wozu gefangen nehmen? Ich sage: Wir machen hier und jetzt kurzen Prozess mit ihnen!“ „Ruhe!“ Erneut sprach der Mann, der als erster das Wort ergriffen hatte. „Stellt eure Rachegelüste zurück!“ Sein Befehl war unmissverständlich. Der Ritter stieg von seinem Ross hinab, kniete sich neben den spitzohrigen Mann und packte ihn am Kragen. „Wir töten schließlich keine Unbewaffneten.“ Sang konnte sich noch immer keine angemessene Reaktion abringen, die es wohl ohnehin nicht gab. Zu sehr frustrierte den jungen Elf das unsagbare Pech, das ihm immer mehr wie sein ganz persönliches Steckenpferd erschien, da es ihm überall hin treu zu folgen schien. „Du findest das witzig, ja? Ich kann auch witzig sein!“ Ob es dieses Mal aber vielleicht doch Glück war, nicht die Klinge sondern nur den Griff des Schwertes zu spüren zu bekommen? Sang würde in seinen Träumen darüber philosophieren können. ___________________________________________________________ Der Rosengarten erblühte unter dem majestätischen Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht. Das Gewächshaus war einst allein für jene Pflanzen geschaffen worden. Bezeichnend, dass selbst dieser Anblick der Magierin keinerlei Reaktion abgewinnen konnte; dabei wurde das Schimmern, das die Schneerosen, die vom Licht der Sterne erhellt wurden, immerwährend ausstrahlten, durch die gläserne Fassade noch um ein Vielfaches verstärkt. Fast wirkte das Biotop wie von einem gleißenden Nebelschleier verhangen. Auch Gardif scherte sich nur wenig um dieses wohl größte seiner noch vorhandenen Vergnügen, als er die Dunkelelfe eilig zur Ruhestätte Pranas führte. Er wies ihr den Weg, wohl wissend, dass es Uriah nie zuvor gestattet gewesen war, das Gemach der mächtigen Hexe zu betreten – nicht, dass sie es jemals in Erwägung gezogen hätte. Sogar in dem Wissen, sich ihrer größten Furcht endgültig entledigt zu haben, beängstigte sie der Gedanke, der grauen Hexe gegenüberzustehen. Nach so vielen Jahren. Sie wirkte kaum verändert, als ihr Herr und Meister die leblosen, sterblichen Überreste der Hohepriesterin offenbarte. Kaum anders als die Frau, die Uriah als Kind kennengelernt hatte, die Frau, die mitschuldig am Untergang Ballymenas war, auch wenn Lug und Trug es ihr ermöglicht hatten, zur Erlöserin aufzusteigen. Während sie eingekerkert dicht unter dem Himmelsdach in ewigem Schlaf dahin vegetierte, um ihr verfluchtes Leben zu verlängern, und das unvermeidliche Ende hinauszuzögern, ruhte alle Hoffnung der heimatlosen Dunkelelfen auf ihr. Wie dumm sie alle waren! Hätten sie nur gewusst, welch Warnung ihre geliebte Königin ausgesprochen hatte, als sie in den Armen der eigenen Tochter das Leben verließ. Alles wäre anders gekommen! Uriah wahrte stets die Geduld. Einzig mit ihren Gefühlen hatte die Hohepriesterin in diesem lang herbeigesehnten Moment zu kämpfen, so skeptisch und kühl nahm sie die Nachricht auf. Nie hätte sie gedacht, dass es sich so anfühlen würde. Es dauerte, bis die Prinzessin die Herkunft ihrer Zweifel ausmachen konnte. Es geschah, als sie voller Abscheu das Antlitz Pranas analysierte. Wenn es die magische Anziehungskraft der grauen Hexe war, die Uriah so in ihren Bann zu ziehen vermochte, hätte sich die stolze Dunkelelfe dies niemals eingestanden. Dennoch war selbst dem leblosen Leib der groß gewachsenen, gertenschlanken Magierin ihre fesselnde Aura nicht abzusprechen. Wie sie dort lag, gebettet in prächtigem Samt, das weise, blasse Gesicht in eine bedeutungsschwangere Zufriedenheit gelegt. Auch ihre Schönheit würde sehr bald vergehen, sie verlassen, wie das erbärmliche Leben, das sie gewählt hatte, um sich dem Richterspruch der Frau zu entziehen, die sie einst meuchelte. „Mutter ...“ Dann endlich, dämmerte Uriah was vor sich ging. Es traf sie wie der Schlag. Der Rosengarten! Er war eine Illusion, ein romantischer Zauber, so überflüssig, so banal, dass es Prana möglich war, diesen sogar in ihrer ewigen Trance aufrecht zu erhalten. Der Sternenhimmel, der am helllichten Tage das Gewächshaus in finstere Nacht tauchte, war der brachliegende Beweis für die Hinterlist des Burgherren und die Unachtsamkeit Uriahs. Von einem Moment auf den anderen tauschten Prana und sie die Rollen im vermeintlich letzten Akt eines Dramas, dessen tragische Hauptfigur viel zu spät Erkenntnis erlangte. Die Magie der Hexe lähmte zunächst Uriahs Glieder. Wie versteinert – ohne die geringste Chance sich der Kraft Pranas zu entziehen – stand sie am Bett der heuchlerischen Verräterin. Gefangen in einem nun nutzlosen und schwachen Körper, versuchte die stolze Dunkelelfe zumindest ihre Gedanken und ihre Seele den Fängen der schwarzen Magie zu entziehen. Sie hoffte auf ein Wunder, das ihr jedoch verwehrt bleiben sollte. „Wenn du nichts zu verbergen hast, brauchst du das nun Folgende auch nicht zu fürchten, Uriah.“ Gardif bemerkte selbst aus einiger Ferne welch panische Angst das Gesicht der Elfe zeichnete. Es war das letzte Gefühl, das sie auszudrücken imstande war, bis sie die Kontrolle über ihr eigenes Fleisch verlor. „Glaube mir, es fällt mir schwer dir das anzutun, aber nur so ist es mir möglich, alle Zweifel aus der Welt zu schaffen. Sollte ich mein Misstrauen allerdings bestätigt sehen,“ Es schmerzte den Lord diesen Satz zu beenden, „dann war das hier unser letztes Gespräch, Prinzessin! Ich werde euch beide nun allein lassen.“ Nur deswegen zögerte die graue Hexe, sich durch die Vergangenheit ihres hoffnungslos unterlegenen Opfers zu wühlen – des Anstandes wegen. Sie wollte das erniedrigende Ritual nicht im Beisein eines Dritten vollziehen. Als würde sie etwas wie Anstand besitzen ... Ein durchweg abstrakter Gedanke für Uriah. Als Gardif die Gemächer seines Schutzengels hinter sich gelassen hatte, begann die eigentliche Prozedur, die Uriah über alle Maßen fürchtete. Sehr schnell wurde die mächtigere Magierin in der Vergangenheit der Prinzessin fündig. Es schien beinahe so, als wusste sie schon vorher ganz genau, wonach es Ausschau zu halten galt. Die Erinnerung, die sich ihr wie ein Bilderbuch zu präsentieren bevorstand, war das hellste Licht in den dunkelsten Abgründen der Seele Uriahs. ... ... ... ... ... ... Vyers. Fünfundzwanzig Jahre früher (Minewood-Zeit) Eingehüllt in eine schwarze Robe streifte der Teufel durch die Nacht. Die Stadt schlief. Kaum ein Licht erhellte in jener Stunde noch den Asphalt. Wie ausgestorben war die Festung. Wachen wurden innerhalb der gigantischen Mauern nur am Turm und dem Arsenal aufgestellt. Die sporadische Sicherung der Stadt begründete sich in der Gewissheit, dass ihre Tore undurchdringlich waren. Niemand würde es je wagen, die Dunkelelfen hier anzugreifen. Auch gab es auf der Insel keine Feinde, vor denen es sich zu fürchten galt. So war es ein Leichtes für die mysteriöse Gestalt, sich unbemerkt im Schatten der Häuser zu bewegen und sich ihrem Ziel zu nähern. „Ich sehe es! Es ist fast da!“ Die alte Frau versuchte krampfhaft ihre Stimme im Zaum zu halten. Schweißperlen hüllten das in Falten gelegene Gesicht in den Glanz der Anstrengung. Nur einige Kerzen erhellten die Scheune, in der sich das Wunder der Geburt entfaltete. „Gleich ist es überstanden, Lady Sindrel.“ „Das ist es noch lange nicht“, keuchte die werdende Mutter, als sie die Schemen der vermummten Gestalt erkannte, die sich in all dem Aufruhr unbemerkt in die Scheune geschlichen hatte. „Oh nein ...“ Auch der Hebamme verschlug es die Sprache, als sie sich zur Tür umdrehte. Das neugeborene Kind in den zitternden Händen. Scheinbar hatten die beiden Frauen dem Erscheinen jener Person gerechnet. „Du kommst spät, Uriah.“ Sindrel unterdrückte die schmerzenden Nachwehen der Geburt. Zwar war sie längst in Decken gehüllt, dennoch demütigte sie die Situation. Handlungsunfähig, im Käfig ihres eigenen, geschundenen Körpers gefangen, war sie der Prinzessin ausgeliefert. „Es war nicht leicht, dich zu finden.“ „Was? Hast du gedacht, du könntest deine Gefühle vor mir verbergen?“ In Sindrel loderte ein Feuer. Sie sehnte sich nach der Nähe ihrer Tochter, hatte jedoch keinerlei Macht mehr über die Situation. „Du konntest dich nie mit mir messen, Uriah, und das weißt du! Deswegen bist du schließlich hier ...“ „Wovon sprichst du?“, fragte die Magierin irritiert und lüftete dabei das Geheimnis ihrer Identität, das längst keines mehr war. „Wieso hast du mich nicht verraten, wenn du Bescheid wusstest?“ „Weil ich es nicht wahrhaben wollte, und weil niemand mir geglaubt hätte.“ Nun erfüllten Tränen die Augen der jungen Mutter. „Wieso fürchtest du uns?“ Uriah beantwortete die Frage nicht. „Gib ihr das Baby!“, wies sie die alte Frau an, die ihr gänzlich unbekannt war. Ihre Gedanken lagen einer Hohepriesterin wie Uriah brach, doch fand sie keinerlei Sinn darin. Einzig Angst und Verwirrung rumorten in ihrem Geist. Als sie die zierliche Gestalt ihrer Mutter in die schwachen Arme lag, verließ sie von einem Moment auf den anderen jegliches Leben. Sie fiel buchstäblich tot um, ohne überhaupt zu wissen, wie ihr geschah. „Du bist wahnsinnig!“, prangerte Sindrel sie an. „Ich konnte sie wohl kaum am Leben lassen“, rechtfertigte Uriah ihre Tat ohne Reue. „Warum nicht ihre Erinnerung auslöschen? Macht es dir solchen Spaß, über Leichen zu gehen?“ „Nein, Sindrel, versuche nicht, mir die Folgen deines Verrats aufzubürden!“ „Verrat?“ Verzweifelt umklammerte die Magierin ihre Tochter, die keinen Laut von sich gab, nur lächelte und sich in den Armen ihrer Mutter vergrub. „Wann habe ich dich verraten? Sag es mir!“ „In dem Augenblick, in dem du dich entschieden hast, eine Familie zu gründen, um mich zu hintergehen!“ „Das also ist es, was du glaubst?“ Sindrel konnte kaum fassen, wie engstirnig die Prinzessin dachte; dass die Paranoia jener Frau das Ende ihrer unschuldigen Tochter bedeuten sollte, ließ sie für die letzten Momente ihres Lebens bittere Tränen vergießen. „Wie? Sag mir: wie wirst du damit leben können, Uriah?“ „Du kennst den Brauch! Scheidet die Mutter bei der Geburt, so ist der Dämon im trügerischen Gewand des Kindes zu richten wie ...“ „Ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten!“ „Aus guten Zeiten, erstrebenswerten Zeiten“, wies Uriah ihre Artgenossin zurecht. „Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass jenem Brauch hier und heute Genüge getan wird.“ „Ich bitte dich ... als Freundin: Tu ihr nichts!“ Auch wenn Sindrel wusste, dass ihr Flehen kein Gehör finden würde, so fühlte sie sich doch in der Verantwortung ihres Kindes gegenüber, auch jenen letzten Strohhalm zu ergreifen, auch wenn es sie schmerzte, die Hexe derart zu adressieren. „Rührend.“ Uriah entriss Sindrel ihrer Tochter. Die simple Telekinese, die sie dabei anwandte, wäre für eine andere Magierin leicht zu unterdrücken gewesen, doch war die erschöpfte Dunkelelfe in ihrem Zustand nicht dazu in der Lage, dem Paroli zu bieten. Eingewickelt in ein samtenes Tuch, bettete das Baby nun in den Armen der hasserfüllten Fremden, die schon bald über das weitere Schicksal des Mädchens entscheiden würde. „Du wirst nichts spüren, Sindrel.“ „Ich weiß über die Todesflüche so gut Bescheid, wie du.“ „Mmh ...besser womöglich“ Uriah bemerkte, dass Sindrel es aufgegeben hatte, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen, und obschon es vielleicht die weiseste Entscheidung war, so war es doch keineswegs das, was die Prinzessin von ihr erwartet hatte. „Es ist ein Jammer, dass es so enden muss.“ Wie eine Waffe richtete Uriah die rechte Hand auf die junge Mutter, die ihr Glück als solche nie genießen durfte. „Mögen die Geister der Nachwelt sich deiner Seele gnädig erweisen.“ „Ich werde dort auf dich warten, Hexe!“ ... ... ... ... ... ... Die Bilder verfälschten sich vor dem inneren Auge Uriahs. Die Vergangenheit wich der Gegenwart, welche sich in den abstraktesten Formen materialisierte, bis sie gänzlich die Oberhand gewann. Völlig entkräftet rang Uriah um Halt. Ihr Verstand schien sie im Stich zu lassen. Ganz so, wie ihre Magie es zuvor getan hatte. Wie ein offenes Buch hatte sich der schlafenden Hexe Prana ihr Leben eröffnet. Nach all der Furcht und all den Gedanken an jenes Szenario, musste sich die gereifte Prinzessin nun eingestehen, dass Prana tatsächlich so mächtig war, wie sie es vermutet hatte. Doch war der erste Gedanke der Dunkelelfe ein ganz anderer: Warum errettete sie Prana aus ihrem Martyrium? Warum ausgerechnet in jenem Moment, da sie fündig geworden war? Die Antwort auf diese Frage war gar schrecklicher, als die Qual zuvor. Prana erwachte aus ihrem Schlaf! Aufrecht saß sie in der glänzend weißen Seide ihres Bettes, ihres Sarges. Entsetzen stand ihr in das schmale Gesicht geschrieben, Schrecken erfüllte ihre Augen; die Augen, die nun nicht mehr nur träumten, sondern die fassbare Realität erblickten. Es war kein Zufall, dass die Verbindung zwischen den Frauen abgebrochen war; die Absicht der nun erwachten Hohepriesterin war es jedoch genauso wenig gewesen. Alsbald sie aus ihrer Starre erwacht und wieder Herrin ihrer Sinne war, flüchtete sich die jüngere Dunkelelfe in den finstersten Verschlag der Gemäuer, weit weg von der Hexe. Zu ihrem Erstaunen schenkte Prana ihr dabei nicht die geringste Beachtung. Wie ein Geist mutete sie an, als sie versuchte, ihren schwachen Körper aufzurichten; kaum tragen, konnten sie die gebrechlichen, schlanken Beine, und wäre es nicht um ihre Magie bestellt gewesen, hätten sie das wohl auch nicht. So schlich sie zitternd zu dem in Schatten gehüllten Torbogen, bis sie nur noch ein weinrotes Banner vom Thronsaal ihres Gönners trennte. Was auch immer es war, das die graue Hexe aus ihrem ewigen Schlaf gerissen hatte, es lag jenseits ihrer Gemächer und jenseits der Verräterin, die just in diesem Moment Schutz darin suchte. Einige Augenblicke lang – vielleicht eine Minute – verließ kein Atemhauch die Kehle Uriahs, so sehr war sie darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. So sehr fürchtete sie sich. Dann zogen die bohrende Neugier und Ungewissheit sie aus ihrem Versteck hervor und ließen sie die Spuren ihrer Feindin verfolgen. Schritt für Schritt, bis einzig die noch unruhig wehende Wand aus Stoff sie von der Antwort trennte. Prana kniete auf dem kalten Boden im Zentrum des Saals, ihr wallendes, glattes Haar verbarg den größten Teil ihres Körpers. Als Uriahs Blick ihren Rücken entlang empor stieg, bemerkte sie, dass noch jemand anwesend war, ein Gast, mit dem sie in jenem Augenblick niemals gerechnet hätte. Es war Vash! Uriah erkannte sich in der Fassungslosigkeit, die der junge General ausstrahlte, wieder. Auch ihn schienen die mysteriösen Vorgänge zu schockieren, zumindest glaubte die Prinzessin das für einen Moment. Es dauerte nicht lange bis sich ihr die Situation erschloss, als sie den Blick auf die blutverschmierten Hände des Soldaten fallen ließ. Das Mordinstrument hielt er fest umklammert. Den Dolch, den ihm sein Herr einst selbst als Teil der edlen Offiziersausrüstung überreicht hatte. Vash hatte Gardif ermordet! „Lady Uriah!? Was geht hier vor?“, stammelte er um Erklärung bittend. „Schweig!“, zischte die Prinzessin noch immer panisch. Sie fürchtete sich davor, die Aufmerksamkeit Pranas zu erregen. Er leistete der Order zunächst folge, auch wagte er nicht, sich nur einen Schritt zu bewegen. Uriah rechnete fest damit, dass Prana den jungen Heißsporn für seine Tat richten würde, doch nichts dergleichen geschah. Schließlich wagte sie sich zu ihrer Artgenossin. Der Leichnam ihres Herren war im Schoß Pranas gebettet, den Kopf des alten Mannes umsorgte sie liebevoll mit ihren dürren Händen. „Was ist mit ihr?“, hauchte Vash, der mindestens so blass erschien, wie die Hexe. Als Uriah den schier aberwitzigen Mut aufbrachte, die beinahe wieder erstarrt scheinende Prana leicht zu berühren, zerfiel die einst so mächtige Magierin vor ihren und den Augen des Mörders zu Staub. Mit ihr verschwand auch die leblose Hülle Gardifs. Ein Schauspiel von unsagbarer, surrealer Schönheit. Ein Anblick, der Uriah nur deshalb nicht den Verstand raubte, da ihr jene Magie durchaus ein Begriff war. „Das kann nicht sein! Nein!“ Vash verlor die Fassung. „Ich dachte, sie wäre ... Was habe ich getan?“ „Das Richtige“, antwortete Uriah kaltblütig, noch bevor die Frage des Generals zur Gänze gestellt war und ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „I-ich musste Gardif töten! Er hat unser Volk verraten, hat Schwäche gezeigt! Es war doch ...“ „Ruhig Blut Vash.“ Uriah näherte sich dem völlig verlorenem Krieger bis auf wenige Zentimeter. Es war nicht mehr viel übrig von dem stolzen General, der das Banner seiner Rasse stets mit Ehrfurcht vor sich her getragen hatte. Konfrontiert mit dem, was er angerichtet hatte, wirkte er fast wie ein Kind – hilflos. „Verzage nicht, mein Freund, dies ist ein glorreicher Tag für unser Volk.“ Sie schmiegte den Kopf des Elfs an ihre Brust, umarmte ihn mütterlich. „Du hast ja keine Vorstellung, wie viel ich dir zu verdanken habe“, flüsterte die Hohepriesterin. Er nahm es nicht wahr. „Ich dachte, sie würde auf ewig schlafen“, wimmerte Vash. „Er hat uns belogen! Aber warum nur?“ „Es spielt keine Rolle mehr. Du musst jetzt tapfer sein.“ Die Aura der Magierin begann sich zu materialisieren. Uriah schimmerte in einem seidigen Weiß und so tat es alsbald auch der Soldat in ihren Armen. Vash bemerkte gar nicht, wie das Leben aus seinem Körper wich. „Ich bin müde ... so müde“ „Dann schließ die Augen, mein Kind.“ Zu glauben, die Tränen in den Augen der Prinzessin begründeten sich in der Trauer um den Mann, den sie meuchelte, wäre naiv gewesen. Ihr Lächeln verriet das Glück, das Uriah Seele in jenem finalen Akt des Dramas, das sie selbst kaum besser hätte inszenieren können, in Wahrheit erfüllte. Die Wächter I ------------- Kapitel 15 – Die Wächter I Stunden nach den kämpferischen Auseinandersetzungen in der Stadt der Dunkelelfen hatten sich die Gemüter der Beteiligten zwar beruhigt, doch waren ihre Sorgen deswegen längst nicht erloschen. Sie alle bangten um das Leben ihrer Anführerin und Freundin, Eva. Die Gewalttaten ihrer eigenen Leute brachten die junge Frau erst in ihre prekäre Situation. Eine Tatsache, die ihr zu allem Überfluss auch noch den Geist vergiftete. Wann immer die Schwäche sie nicht übermannte, dachte Eva über ihr Versagen nach; sie dachte an ihre Unaufmerksamkeit in der Nacht vor dem Unglück, an Rios, wie er sich in der Vergangenheit von ihr abgekapselt und es geschafft hatte, mehr und mehr Gleichgesinnte für sich zu gewinnen. Was es auch immer war: Am Ende sah sie die Schuld stets bei sich selbst. Peter hatte die zierliche Gestalt unbeirrt durch die langen Korridore der Gewölbe getragen, nachdem der Hüne Lester den eigenen Verletzungen Tribut zollen musste, und sie schließlich auf eine Tischplatte aus Granit in ein Provisorium aus weichen Decken und Kissen gebettet, das die Fremden für die verwundete Frau in Eile aufgebaut hatten. Eva fühlte sich in der Nähe des alten Lesters stets geborgen, so auch in jenen Augenblicken. Sie glaubte fest daran, dass ihr nichts geschehen würde, solange er bei ihr war. Sie selbst wusste besser als jeder andere, dass sie den grauen Krieger wie einen Vater verehrte, ihn liebte. Sie beschlich der Gedanke, ihm das noch nie mitgeteilt zu haben, obschon sie sehr gut einzuschätzen wusste, wie viel es ihm bedeutet hätte. Eva hoffte inständig, ihre letzte Gelegenheit darauf nicht verspielt zu haben. Peter verließ zu keiner Zeit die Krypta. Er war Eva ebenso nahe wie auch ihr Beschützer, Lester, dessen Macht- und Hilflosigkeit jener sich selbst als einziger zum Vorwurf machte. Weit mehr als das Verlangen nach Antworten trieb Peter der sehnliche Wunsch an, Eva, wo er nur konnte, zu helfen. Lily hingegen war noch immer vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Elfe hatte weit mehr an den Grausamkeiten, die sie hatte mit ansehen müssen, zu nagen als alle anderen. Ihre gesamte Weltanschauung wurde von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt, als die Menschen vor kaum einer Stunde in ihrem Wahnsinn übereinander herfielen. Nun kauerte sie, fernab des Troubles, im Schatten einer Nische im Gestein, die aufgeschürften Knie bis zum Kinn angezogen, die leeren Augen längst bar jeder Träne. Jin zweifelte, ob sie ihn überhaupt wahrnahm, doch wich er zu keiner Zeit von ihrer Seite. Niemand sprach ein Wort. Die helle Aufregung der ersten Minuten war lange verflogen, was zum größten Teil an der faszinierenden Gestalt lag, die sich von Beginn an aufopferungsvoll um Eva kümmerte und es auch jetzt, da die blonde Kriegerin das Bewusstsein verloren hatte, noch immer tat. Die Frau in dem schlichten, grauen Gewand war weit mehr als nur eine gewöhnliche Dunkelelfe. Sie war die Anführerin der Ausgestoßenen, die sich im Untergrund Ballymenas ihre Heimat aufgebaut hatten. Sie war eine Mutter für die Jünglinge und die Schwester der Älteren; sie war ein Mysterium – selbst für die eigenen Leute; sie war eine lebende Legende, ein Mythos. Miraaj war eine Dunkelelf'sche Magierin, von denen es hieß, sie wären in Minewood ausgestorben. In den Katakomben der verbotenen Stadt bot sie den Ihren Schutz vor den Gefahren der Außenwelt. Die Elfen, Halbelfen und Menschen, die diesen Ort bewohnten, nannten sich selbst Wächter. Sie waren Irrlichter im Dunkel der verlorenen Stadt. „Sie braucht vor allem Ruhe“, drang es samten aus der Kehle der Magierin. „Und ein Wunder!“ tönte Viola aus dem Hintergrund. „Das wäre dann zumindest der richtige Ort dafür, nicht wahr?“ Aarves zynische Rhetorik brachte ihm allerorts wütende Blicke ein. „Es muss doch etwas geben, das wir tun können!“ Auch Peter hielt die leidige Warterei nun nicht mehr aus. „Die Blutung muss gestoppt werden! Richtig, meine ich ... Sie wird verbluten, wenn wir nichts unternehmen.“ Lester trafen die Sorgen Peters sichtbar schwer. Sein Gesicht lag in Falten. Das väterliche Antlitz war in ein Trauerspiel verwandelt. Er wirkte völlig hilflos. Es war das erste Mal, dass Peter ihn derartig niedergeschlagen erlebte, und er bereute sein Mitschuld daran zutiefst. „Sie wird es schaffen, Peter! Da bin ich mir sicher“, versuchte Neil den Jungen aufzumuntern. „Du wirst mir hoffentlich nachsehen, dass ich auf deine Meinung nichts gebe, kleiner Mann!“ wies der Franzose die wohlgemeinten Worte zurück. „Ich vergaß, wie nachtragend ihr Menschen doch seid“, murmelte Neil gerade noch hörbar in seinen Bart. Diese spitzfindige Bemerkung des Kobolds brachte das Fass jzum Überlaufen. Peter schnellte aus der Hocke nach oben und wandte sich zum ersten Mal in jener Nacht von Eva ab. Der Franzose fixierte Neil mit hasserfülltem Blick und marschierte mit großen Schritten auf ihn zu. Bevor der untersetzte alte Mann bemerkte, wie ihm geschah, stemmte Peter ihn auch schon in die Höhe. Es schien ihn kaum Kraft zu kosten, Neil am Kragen auf Augenhöhe zu hieven und an der Wand festzunageln. „Du hast ja nicht die leiseste Ahnung, was in mir vorgeht, du kleiner Heuchler!“ versprühte Peter sein Gift. „Glaub ja nicht, ich hätte irgendwas von dem vergessen, was an jenem Abend geschehen ist! Du schuldest mir Antworten! Du schuldest mir mein Leben!“ Im Rücken Peters näherte sich einer der Wächter. Es war ein Dunkelelf, kräftig und hochaufgeschossen. „Es ist schon gut, Prior“, wies Neil dessen Hilfe zurück. „Er wird sich schon noch besinnen.“ Das tat der Junge gar schneller, als Neil gedacht hatte. Nicht etwa aus Angst vor den Fäusten des ihm zweifellos überlegenen Dunkelelfs, oder gar aus Vergebung – einzig die Vernunft ließ den Neunzehnjährigen inne halten. Wieder auf Grund und Boden geerdet, begann Neil seine Kutte herzurichten. „Du hast recht. Es gibt einiges zu bereden.“ Neil wendete sich völlig unbeeindruckt von Peter ab und begann sich aus der Krypta zu entfernen. „Doch ist das weder der Ort noch die Zeit dafür“, lies die listige Gestalt noch verlauten, bevor er im Schlagschatten eines Tunnels verschwand. „Wo zum Teufel gehst du hin?“ rief Peter erzürnt. „Dorthin, wo du mich finden kannst, wenn du soweit bist“, hallte es aus dem Korridor. „Eure Hingabe sollte im Moment einzig eurer Freundin gelten. Ganz besonders deine, Peter.“ Er wusste nicht recht, welche Hintergedanken Neil diesmal verfolgte, oder warum er diesen letzten Satz gesagt hatte. Vertrauen, konnte und wollte Peter ihm jedenfalls nicht. Im Augenblick war der verräterische alte Mann auch für ihn nur Beiwerk zur ohnehin bedrückenden Situation. Eva brauchte jede Hilfe, die sie bekommen konnte – so schwer verletzt, dass niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob sie je wieder aus ihrer Ohnmacht erwachen würde. Geradezu wie ein Tumult durchbrachen die aufgeregten Schritte eines jungen Mädchens und ihres noch jüngeren Begleiters die bedrückende Stille in der Krypta. Eilig bahnten sie sich ihren Weg durch den selben Tunnel, den zuvor Neil in entgegengesetzte Richtung betrat. Ihre Atemlosigkeit verriet die Dringlichkeit des Erscheinens. Als das Duo von der Vielfalt der Fremden überrascht wurde, wandte sich der zottelige Junge mit den spitzen Ohren verschüchtert an seine ältere, jedoch kaum größere Freundin. „Was ist los?“ fragte der Hüne Prior das ganz in schwarz gehüllte, blasse Mädchen, deren Schopf unter einem Barett versteckt war. „Komm schon“, ermutigte die junge Dame ihren verschüchterten Zögling. „Erzähl ihnen, was du gesehen hast!“ Ängstlich wagte das Kind einen Schritt nach vorn. Seine Beschützerin legte derweil ihre zierlichen Hände auf dessen Schultern, um ihm Halt zu geben. Dann sprach er. „Ich war draußen ... a-an der Oberfläche u-und ...“ Er atmete tief ein. „Bei den Eichen – nahe dem großen Wall – habe ich zwei Gräber entdeckt“, erklärte der Junge stolz. „Ganz frisch!“ fügte er noch hinzu, ehe das Mädchen das Wort ergriff. „Und er hat das hier gefunden.“ Sie lächelte dem Jungen zu, um seinen Mut zu würdigen, bevor sie einen schlichten, silbernen Ring aus ihrer Tasche zog und Miraaj überreichte. Jin betrachtete die Geschehnisse mit Argusaugen. Auch wenn es unter dem pechschwarzen Gewand und dem Barett nur schwer zu erkennen war, meinte der junge Elfe eine Artgenossin ausgemacht zu haben. Mehr verwunderte ihn nur noch der kleine Junge, den sie im Arm hielt. Seine Haut war rosig, wie die der Menschen, doch seine Ohren spitz und markant lang, wie die der Dunkelelfen. So etwas hatte er noch nie gesehen. „Erkennt jemand von euch den Ring?“ fragte Miraaj in die Runde. „Ich glaube, Elmo trägt so einen“, antwortete Lester mit heiserer Stimme. „Reyne auch, wenn ich mich nicht irre.“ „Und ihr habt nur einen dieser Ringe gefunden?“ Miraaj blickte mit ernster Miene in die Augen des Jungen, der errötete. „Er hat wirklich nur den einen“, versicherte die Elfe ihrer Anführerin stellvertretend. Peter zog es zum ein weiteres Mal aus der unmittelbaren Nähe Evas, hin zu der kleinen Gruppe, die sich vor dem westlichen Eingang der Krypta versammelt hatte. „Das heißt, dass einer von beiden noch lebt“, folgerte der Junge optimistisch. Miraaj versank einen Augenblick lang in Gedanken. Sie war völlig losgelöst vom hier und jetzt und wirkte wie in Trance versetzt. Dann – nur Sekunden später – war alles wieder wie vorher. „Um wen es sich auch immer handelt, er – oder sie – befindet sich nicht mehr in unmittelbarer Nähe“, versicherte sie Peter. Niemand sonst schien sich in diesem Moment groß um das Schicksal der beiden Kameraden zu kümmern; keiner schien dazu in der Lage. „Ich danke dir, Tay. Du hast uns sehr geholfen.“ Miraaj strich dem Jungen über die Wangen, bei dem die Zärtlichkeiten der majestätischen Gestalt Gänsehaut hervorriefen. „Es ist wohl das Beste, wenn du unseren Abenteurer jetzt ins Bett bringst“, wies sie die Waldelfe an. „Auch du solltest dich ausruhen. Du hast heute schon so viel für uns getan.“ „Nichts im Vergleich zu dem, was mir jetzt noch bevorsteht“, scherzte das Mädchen. Sie wies dem jungen Tay den Weg aus der Krypta, der sich kaum vom Anblick der Magierin lösen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde erhaschte sie auch einen Blick auf ihre Artgenossen im Schatten eines steinernen Pfeilers in der südwestlichen Ecke des Raumes. Sichtlich erfreut, lächelte die hübsche Elfe dem Jungen zu, der sie so eindringlich musterte. Er war zu überrascht, um ihre liebevolle Geste zu erwidern. Viola beobachtete das seltsame Schauspiel sehr genau, da sich ihre Aufmerksamkeit auf alles andere als die verwundete Eva konzentrierte. Sie war längst nicht mehr Teil dieser Gruppe, wenngleich sie sich auch in der Vergangenheit jener niemals wirklich zugehörig fühlte. Nur wenige Stunden war es her, als auch ihre letzte Verbindung zu den Menschen in Minewood ein jähes Ende gefunden hatte, und noch immer konnte sie sich den Ablauf jener Vorgänge nicht erklären. Es war der Kriegerin ein Rätsel, warum nicht auch sie auf Seiten ihrer verhexten Freunde stand, als sich die Klingen kreuzten. Was war es, das sie von ihnen unterschied? Wieso blieb sie von der Magie Ballymenas verschont? ... ... ... ... ... ... San Francisco. Vier Jahre früher (Erd-Zeit) Der prägnante Rhythmus motivierender Instrumentalmusik versetzte die zahlreichen Körper im Dojo fast wie von Geisterhand in Bewegung. Den meisten gelang es dabei, durch gutes Taktgefühl und Sportlichkeit, die Synchronizität mit der gertenschlanken Frau auf dem Podest vor ihnen zu halten. Hinter der schwarzen Schönheit, der die Ertüchtigungen langsam aber sicher erste Schweißperlen auf die Stirn trieben, erstreckte sich die imposante Altstadt San Franciscos aus luftiger Höhe. Spiegel gab es im Dojo nicht, schließlich war dies kein Aerobic-Kurs, auf den diese etwas andere Aufwärmphase für fortgeschrittene Freizeit-Kampfsportler vielleicht vermuten ließ. Längst nicht alle der beanspruchten Körper sahen in hautenger Sportbekleidung so ansehnlich aus, wie jener der Trainerin, die ihren Schülern für diese Übung helfend die Front entgegnete, und doch war auf den ersten Blick festzustellen, dass diese bunte Ansammlung von Menschen zweifellos von der überdurchschnittlich fitten Sorte war. Zeitgleich mit der Musik ebbten auch die Anstrengungen der Sportler ab. Wie ihre Trainerin es ihnen vormachte, begannen auch ihre lernbegierigen Schüler, sich noch verbliebene Verspannungen aus den Gliedern zu schütteln. In diesem speziellen Kurs lag der Altersdurchschnitt der Teilnehmer nicht weit über der Zwanzigermarke, was auch die schöne Antreiberin Debrah Lillard genau in das Gesamtbild passen ließ. „Das lief doch besser, als erwartet“, zog Debrah ein erstes Fazit. „Vielleicht machen wir das fürs Aufwärmen in Zukunft öfter.“ Aus der Menge drangen keinerlei Widerworte an Debbies Ohr. Die blutjunge schwarze Frau war von Gottes Gnaden zweifelsohne mit einer unverschämt großen Portion Schönheit ausgestattet worden, hatte sich ihren gestählten Körper jedoch ganz allein selbst zu verdanken. Es war seit jüngster Kindheit ihr Traum gewesen, Schauspielerin zu werden. Je älter sie wurde, desto konkretere Formen nahm jene Wunschvorstellung an. Bald schon verliebte sie sich regelrecht in den Gedanken, einmal in einem echten Musical von Weltformat spielen zu dürfen. Als Debrah sich mit vierzehn Jahren das erste Mal ernsthaft damit zu beschäftigen begann, diesen Weg fortan wirklich zu verfolgen, musste sie schnell lernen, dass hinter all der Magie, welche die Künstler, die sie so sehr bewunderte, auf der Bühne versprühten, in erster Linie knochenharte Schinderei stand. Darüber hinaus war die Selektion, die Debbie in dieser Form nie zuvor kennengelernt hatte, absolut gnadenlos. Ging es darum, sich in die A-Liste der Darsteller zu arbeiten, war alles Talent kaum noch von Bedeutung. Es zählte nur noch das Können, die Ausdauer und nicht zuletzt das Aussehen; und Debbie biss sich durch ... Als sie in den Theatern der Großstadt San Francisco und der Bayarea schon fast zum Inventar gehörte und sich mit ihren zwanzig Jahren berechtigte Hoffnungen auf den Durchbruch machte, wurde sie von ihrem damaligen Freund geschwängert. Natürlich machte sich der Mistkerl aus dem Staub, und natürlich kam für die konservative Katholikin Debrah eine Abtreibung niemals in Frage; doch verfluchte sie die Situation zu keiner Zeit, da sie sich der Unterstützung ihrer Familie sicher und – gerade während dieser Zeit – vollends überzeugt von ihrer eigenen psychischen und psychologischen Standhaftigkeit war. Als die Schwangerschaft sie Monate lang von der Bühne fernhielt, beschloss Debbie, erneut auf die Zähne zu beißen und weiterhin erhobenen Hauptes die bevorzugt steile Straße des Lebens zu beschreiten. Nach nun mehr vier vergangenen Jahren war sie längst nicht mehr so häufig auf den Bühnen der Bayarea anzutreffen, wie im kleinen Jiu-Jitsu Dojo in der Fifth Street. Ihre Rollen waren auch längst nicht mehr vom selben Kaliber. „Wir wiederholen zunächst die Übungen der letzten Woche“, verkündete Debrah ihren Schülern. „Vorher aber möchte ich euer Gedächtnis auf Lückenlosigkeit prüfen, also ...“ Gerade, als Debbie ihren Schülern auf den Zahn fühlen wollte, wurde sie vom Geräusch der schweren Hallentür unterbrochen, die ins Schloss fiel. Eine etwas untersetzt wirkende, ebenfalls sportlich gekleidete, weiße Frau kam eilig auf sie zugelaufen. „Miss Lillard“, grüßte die ältere Frau formlos. „Anruf für sie.“ „Kann das nicht warten?“ fragte Debrah flüsternd nach. „Carla meinte, es sei dringend.“ „In Ordnung ...“ Debbie blickte sich mit wehmütigem Blick in der Runde um. „Übernehmen sie für den Moment?“ „Ja“, versicherte Debrahs Kollegin. „Mein Kurs beginnt in ein paar Minuten!“ „Ich werde mich beeilen.“ Im Eingangsbereich der Etage wartete die junge Dame am Empfang bereits auf die Ankunft der Trainerin. Sie wies mit dem rechten Zeigefinger zur Tür hinter dem Tresen. „Ich hab sie ins Büro durchgestellt.“ „Danke“, hauchte Debrah im Vorbeigehen. Sie hielt es nicht für nötig sich zu setzen, sah nur auf das blinkende Licht an der Feststation und dachte nach. Anschließend ergriff sie den Hörer und zögerte ein weiteres Mal, bevor sie den Knopf betätigte. Dann begann sie zu sprechen und nahm das Thema glatt vorweg. „Wie geht's den beiden?“ „Hallo, Debbie. Tut mir wirklich leid, das alles, aber Michael hatte wieder einen schweren Anfall, ich musste ihn ins Krankenhaus bringen“, drang es aus dem Hörer. „Der Arzt sagt aber, er wird schnell wieder auf die Beine kommen“, fügte Debrahs Mutter nervös hinzu. „Bist du gerade im Krankenhaus?“ „Ja, natürlich. Marie habe ich auch mitgenommen. „Und das Problem ist?“ fragte Debrah kühl. Ihre Mutter hielt einige Sekunden lang inne. „Du weißt doch, dass ich heute abend wieder nach Forks fahren muss ...“ In der Tat hätte Debrah das wissen müssen, doch hatte sie diesen Gedanken in den letzten Wochen erfolgreich verdrängt. Die Vorstellung, nach gut einem Jahr bald wieder völlig auf sich allein angewiesen zu sein, war in ihrer Situation geradezu biblisch. „Ja ... ja richtig“, stammelte sie. „Ich kann vielleicht früher los, wenn ich zumindest meinen Kurs fertig bekomme.“ „Ich kann vielleicht noch eineinhalb Stunden bleiben, alles andere würde sehr knapp.“ „Das sollte reichen“, versicherte Debbie ihrer Mutter. „Danke ...“ „Tut mir leid, dass unser letzter Tag so ablaufen muss.“ „Schon okay, du kannst ja nichts dafür.“ Niemand konnte das, weder ihre Mutter, noch Debrah selbst, und schon gar nicht die Kinder, die es von allen Beteiligten am härtesten traf; und doch wuchsen in der Seele der jungen Frau mit jedem verstreichenden Tag Zweifel und Zorn. „Wir sehen uns dann da. Bye Ma“ „Bye mein Schatz. Ich liebe d...“ Sie würgte ihre Mutter nicht absichtlich ab – sie rechnete ganz einfach nicht mehr mit etwas Schönem, wie einem Ich-Liebe-Dich. „Geht es den Kindern nicht gut, Debbie?“ fragte Carla, als sich ihre Kollegin wieder auf den Weg in die Sporthalle machte. „Es geht ihnen nie gut“, erwiderte sie, ohne sich dabei umzuschauen. „Heute eben noch schlechter.“ Als sie die Doppeltür zur Halle aufstemmte, setzte sie das netteste Lächeln auf, zu dem sie sich in diesem Moment noch abringen konnte. Für die nächste Stunde würde sie vor allem damit zu kämpfen haben, den Gedanken an ihren kranken Sohn zu verdrängen. In den letzten vier Jahren hatte es selten Tage gegeben, an denen es anders war, und obwohl Debbie wusste, dass es unangebracht, dass es falsch war, hasste sie es mehr und mehr – ihr neues Leben. ... ... ... ... ... ... Viola hatte sich leisen Schrittes von der Gruppe entfernt. Sie wusste, dass sich ihre Leute nicht sonderlich an ihrer Abwesenheit stören, einige diese sogar begrüßen würden. Es zog sie in die Nähe der Quartiere der Wächter, deren Beweggründe ihr noch immer Rätsel aufgaben. Vor allem aber verwunderte sie die Zusammensetzung jener seltsamen Gemeinschaft. Da waren zum Einen die Dunkelelfen, wie Miraaj oder der ganz besonders freundliche Prior, mit dem selbst Viola nur ungern hätte aneinandergeraten wollen, zum anderen gab es unter ihnen aber auch Kinder, die keineswegs in die feindliche Umgebung dieser Stadt und ihrer Gewölbe passten. Viola mochte nicht recht daran glauben, dass die Anführer der Wächter sie den Gefahren an der Oberfläche Ballymenas aussetzen würden, und doch war ihr Misstrauen groß genug, sie genau für jene Verantwortungslosigkeit zu verabscheuen. Plötzlich öffnete die Elfe von vorher eine hölzerne Tür nur einige Meter von Viola entfernt. Sie konnte nicht sehen, was im Inneren des Raumes vor sich ging, meinte sich jedoch erinnern zu können, dass das Mädchen damit beauftragt war, ihren jungen Begleiter für die Nacht vorzubereiten. Wieder verzog die Kriegerin zornig das Gesicht, da die Räumlichkeiten hier unten mehr wie Verschläge im Fels anmuteten, die sich nahtlos in die schwarzblauen Gesteinswände einzufügen schienen, denn wie Refugien für die Jüngsten. Auch schimmerte das klamme Lichtlein einer einzigen Fackel viel zu schwach für ihren Geschmack. Eine kinderfeindlichere Umgebung, konnte es kaum geben. Viola bemerkte erst spät, dass die Elfe längst auf sie aufmerksam geworden war. „Kann ich dir helfen?“ Dir ... Sicherlich hat sich das Antlitz der schwarzen Menschenfrau über die Jahre prächtig gehalten, sie in eine Altersspanne zu schätzen, die einen solchen Ton rechtfertigte, war wiederum des Guten zu viel. „Ich weiß nicht, Kleines“, antwortete Viola in herablassendem Tonfall. „Kannst du dir denn überhaupt selbst helfen?“ Ihre Andeutung war unmissverständlich, wenn auch nicht wirklich ernst gemeint. „Sagen wir so: Ich bin guter Dinge“, konterte die Elfe, ohne dabei ihr Lächeln zu verlieren. „Außerdem bin ich im Notfall immer einen Tick schneller unterwegs, als die meisten anderen“, ging sie ohne Zweifel auf ihre Abstammung und die damit einhergehenden körperlichen Vorteile ein. Viola stellte ihr heißblütiges Gemüt für den Moment zurück, nicht zuletzt, weil ihr das mutige Auftreten der kleinen Gestalt zu imponieren begann. „Wie ist dein Name, Mädchen?“ „Wie lautet denn deiner?“ entgegnete die Elfe keck. „Mmh ...“ Viola konnte ein Grinsen kaum zurückhalten. „Du bist ja ganz schön vorlaut, Kindchen. Mein Name ist Viola.“ „Schön dich kennen zu lernen, Viola. Ich bin Herz.“ „Herz?“ fragte die bedeutend ältere Frau ob des unüblichen Namens nach. „Wie passend.“ „Vielen Dank! Das sagen alle“, versicherte Herz ihrer neuen Bekanntschaft, die ihre Augenbrauen ungläubig verzog. „Was führt dich also hier her? So weit weg von deinen Freunden?“ Während sie sich an der kargen Umgebung des engen Korridors satt sah, ging Viola einige Schritte auf die Elfe zu – neugierig, mehr über diesen Ort zu erfahren. „Sie sind nicht meine Freunde“, entfuhr es ihr, als ob es die normalste Aussage der Welt wäre. „Es sind nur die Art Zweibeiner, die dich als Menschen hier in Minewood nicht sofort einsperren und foltern.“ „Oha ... Klingt, als könntest du sie nicht sonderlich leiden.“ „Ich hasse Eva“, versicherte Viola Herz mit Nachdruck. „Die anderen sind mir egal. Nur sind ihre Freunde bestimmt nicht meine.“ „Aha!“ jauchzte Herz. „Was ist?“ „Du sagtest, dass sie dir egal wären“, rezitierte das junge Mädchen völlig richtig. „Und?“ „Du sagtest nicht, sie wären deine Feinde.“ Auch das stimmte. „Ich denke, tief im Innern kannst du sie also doch leiden.“ Tatsächlich sorgte sich Herz, wie gefühllos die dunkelhäutige Frau mit ihren Gefährten ins Gericht ging. „Das ist ...“ Viola knirschte mit den Zähnen und malte mit dem Zeigefinger Spiralen auf ihre Stirn, um ihre strapazierten Nerven zu beruhigen. „Du bist ein ziemlich merkwürdiges Exemplar!“ Herz blickte verzückt drein. „Also das höre ich zum ersten Mal!“ ___________________________________________________________ Den jungen Franzosen in seinem Zustand dazu zu bringen, sich von seiner verletzten Kameradin loszueisen und sie vorerst ihrem Schicksal zu überlassen, war Neil nicht leicht gefallen, doch letzten Endes suchte er das Gespräch mit Peter sogar dringender, als der Junge selbst. Mit dem Versprechen ihm ehrliche Antwort auf all seine Fragen zu gewähren, hatte ihn der alte Mann nicht überzeugen können; Miraaj' großzügiges, wie überraschendes Angebot die beiden zu begleiten, wollte Peter dann aber nicht ausschlagen. Ob er überhaupt in der Lage dazu gewesen wäre, blieb somit offen. „Du kümmerst dich aufopferungsvoll um deine Freundin“, bemerkte Miraaj, während die drei sich ihren Weg durch die dunklen Korridore bahnten, die stets nur durch genau die Wandfackeln erleuchtet wurden, die das Trio passierte. „Sie kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.“ „Sie ist nicht meine Freundin“, wiegelte Peter verlegen ab. „Nicht so, wie sie denken.“ „Was denke ich denn?“ entgegnete Miraaj. Das Lächeln auf ihren Lippen nahm der Junge dabei nicht wahr, da er es nicht recht zustande brachte, der Frau in die Augen zu schauen. Neils plötzliche Hochstimmung hingegen bemerkte er. „Vergesst es einfach“, murmelte Peter. „Ich kann mir jedenfalls nichts Freudiges abringen, während sie im Sterben liegt! So gut kenne ich sie.“ „Sei dir sicher, mein Junge“, begann Neil sich behutsam auf ihn einzulassen, wohl wissend, dass der Zorn, den Peter ihm gegenüber empfand, mehr als gerechtfertigt war, „niemand nimmt ihren Zustand auf die leichte Schulter. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Eva zu helfen. Im Moment jedoch ist sie in den Händen Priors am besten aufgehoben, glaube mir.“ Auf dem Fuße zu wenden, kam für Peter sowieso nicht Frage, da er sich über seine eigene Hilflosigkeit sehr wohl im Klaren war. An ihrer Seite zu bangen, war vielleicht edelmütiger, als seinen eigenen Belangen nachzugehen, doch keineswegs nützlicher, dachte er. Doch was gab Eva schon um seine Nähe? Sie kannte ihn doch kaum ... „Ist dieser Kleiderschrank etwa Arzt?“ „Heiler, ja“, erklärte Miraaj, ohne den Jungen wegen seiner Wortwahl zurechtzuweisen. „Doch hat er den Quacksalbern deiner Welt einiges voraus!“ munterte Neil den Jungen zusätzlich auf. Prior kann auf die Heilkräfte magischer Pflanzen zurückgreifen – Überbleibsel der Überschwemmung der Stadt.“ „Überschwemmung?“ „Eine Flut, bestehend aus den mächtigsten Verwünschungen und Flüchen, die am Tage des Untergangs Ballymenas die Stadt geradezu verschlang. Eine lange, traurige Geschichte“, seufzte der kleine Mann. Peter bemerkte, dass nicht weit von ihm das Licht einer Öllampe den Gang erhellte. Er erkannte die Schemen eines Mannes – die eines Dunkelelfs, wie er nur wenige Sekunden später realisierte. Er hielt einen Speer in der linken Hand, den er auf dem Steinboden ruhen ließ. Miraaj erhöhte kurz ihr Schrittempo und begrüßte ihren Artgenossen mit einem angedeuteten Knicks, den dieser mit einer tieferen Verbeugung erwiderte. „Ich danke dir, Nuga. Für heute warst du lange genug auf den Beinen“, sprach die Magierin lächelnd. „Solltest du doch noch Hilfe benötigen, zögere nicht, mich zu rufen“, bot ihr der, in braunes und schwarzes Leder gehüllte Mann, dessen langes, schwarzes Haar sein Gesicht rahmte, an. „Du stehst ganz oben auf meiner Liste“, versicherte Miraaj ihrem Beschützer, bevor jener zügig von dannen schritt. Dann neigte die Dunkelelfe, die Peter noch um eine Fingerspitze überragte, ihren Kopf in dessen Richtung und flüsterte ihm ins Ohr. „Er ist auch der einzige, dem ich das zumuten würde.“ Peter war noch immer viel zu beeindruckt von der mystischen Gestalt zu seiner Rechten, als dass er sich über ihre Späße hätte amüsieren können. Auch verwunderte ihn, dass der Elf sie zuvor geduzt hatte. Scheinbar gab es hier unten keinerlei Ränge oder Stände, nach denen eine Etikette verfasst worden war. Miraaj explizit als Anführerin zu markieren, war bei ihrer faszinierenden Erscheinung allerdings auch nicht wirklich nötig. „Da wären wir“, bemerkte Miraaj und öffnete die Tür mit einem kupfernen Schlüssel. „Warum braucht ihr hier unten eigentlich Wachen?“ „Huh?“ Miraaj hatte die Tür schon einen Spalt weit geöffnet, als sich mit der Scharfsinnigkeit des Neuankömmlings konfrontiert sah. „Manchmal tollen die Kinder hier in der Nähe herum. Schleichen sich des Nachts aus ihren Zimmern – du verstehst!?“ „Ja, schon“, versicherte Peter. „Aber wieso ist das ein Problem? Könntest du die Tür nicht mit ... einem Zauber verschließen?“ Neil umfasste den Unterarm des Jungen, der ihm sofort seine Aufmerksamkeit schenkte. Müßig schüttelte der Zwerg den Kopf. „Diesen Raum nicht“, erklärte Miraaj dem unwissenden Jungen. Ihr Blick schien sich im Nichts zu verlieren. „Diesen nicht ...“ ___________________________________________________________ Die kleine Elfe, die Viola mit ihrer frechen Art so zu imponieren wusste, hatte sich von ihrer neuen Bekanntschaft nicht loseisen können. Sie war mindestens ebenso neugierig, wie redselig, was ganz und gar nicht der Natur ihrer Begleiterin entsprach. Viola wurde den Eindruck nicht los, für Herz ein lebendiges Kompendium an Wissen zu verkörpern, das sich der Waldelfe entzog, die scheinbar den Großteil ihres Lebens von der Außenwelt abgeschnitten verbracht hatte. Ihr eigenes Interesse galt im Augenblick vor allem der märchenhaften Szenerie, die sich ihr just vor wenigen Minuten offenbart hatte. Aus den verwinkelten, kalten Gewölben waren Herz und Viola, die die Überraschung völlig unvorbereitet traf, in eine grüne Oase geschritten, die sich in alle Himmelsrichtungen noch weit bis ins Innere der Erde erstreckte. Es war eine gigantische Grotte, deren Großteil von kristallklarem Wasser angefüllt war, von dem sich zahlreiche Pflanzenarten nährten und das Kleinod der Natur in sattgrüne Farben hüllten. Der Sternenhimmel, der durch zahlreiche Klüfte im Innern der Höhle zu erkennen war, spiegelte sich im Grundwasser, das seinen Ursprung in einem Flussarm an der Oberfläche nahm und sich, in Form eines Wasserfalls, über viele Gumpen im Gestein gleitend, seinen Weg ins Innere der Grotte bahnte. Das lautstarke Tosen rührte jedoch von einem weitaus imposanteren Gefälle her, das für Viola zwar nicht sichtbar war, sie sich jedoch bildhaft hatte vorstellen können. Es war ihr schwer gefallen, ob jener absoluten Schönheit die Fassung zu bewahren. Dass Viola etwas so Vollkommenes zu Gesicht bekommen hatte, war lange her. Ihr Verstand skandierte jedoch berechtigte Zweifel, ob jene Art von Perfektion allein der Natur entsprungen sein konnte. Auf gewisse Weise, so kam ihr in den Sinn, mangelte es diesem Ort an Mahnungen des Realismus. Phantasmen wie diese konnten doch nur dem Geiste eines Wesens entstammen, das sich in ähnlichem Maße an ihnen labte, wie Viola es tat. „Warum hast du mich an diesen Ort gebracht?“ fragte sie die Elfe, die in ihrem schwarzen, luftigen Gewand artfremd an jenem Ort wirkte. „Ich weiß nicht ...“ Herz überlegte angestrengt. „Hier gefällt es mir einfach!“ „Hat seinen Charme, muss ich gestehen.“ Viola tat es der Elfe gleich, die auf einer steinernen Sitzbank Platz nahm, die bei genauerer Betrachtung nur ein sehr schlichtes Provisorium einer solchen war. „Ich habe in der Kapelle antike Möbel gesehen, und Stoffe, für die man mancher Orts ein Vermögen verlangen könnte – es wäre doch wohl nicht zuviel verlangt, einiges davon hier her ...“ „Das würde aber das Gesamtbild ruinieren, findest du nicht?“ unterbrach Herz Viola, die sich erneut auf die Zunge beißen musste, um das junge Ding nicht in die Schranken zu weisen. „Wie wahr“, flüsterte sie. „Und was ist das nun für ein Ort? Eure spirituelle Inspiration?“ Herz kicherte und antwortete: „So habe ich es noch nie betrachtet!“ Sie nahm ihr Barett vom Kopf und enthüllte ihren wilden, pinken Schopf. „Es ist ein Refugium für all jene, die sich verloren fühlen“, erklärte sie. „Davon gibt es hier unten eine ganze Menge.“ „Verstehe.“ Viola musterte die Waldelfe jetzt ganz genau. Ihr typisch elf'sches Gesicht, mitsamt der großen, funkelnden Augen und der blassen Haut; ihr extravagantes Haar, dessen merkwürdigstes Attribut – die auffällige Farbe – ohne Zweifel natürlich war, und auch ihre schwach schimmernden Flügel, die unter dem samtenen, durchsichtigen Stoff ihrer Bluse, die sie über der pechschwarzen Brassière trug, hindurch schimmerten. „Bist du denn oft hier?“ Es dauerte, bis Viola ihre Antwort erhielt. „Ab und zu. Sagen wir: öfter, als die meisten. Aber aus anderen Gründen“, floh sich Herz in Allgemeinplätze. „Die da wären?“ In diesem Moment sah Viola den kleinen Engel auf ihrer Schulter voller Unverständnis die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, bevor er lichterloh in Flammen aufging. „Ich ...“ Herz zögerte. Zum ersten Mal an diesem Abend schien sie verunsichert. „Weißt du, ich wünsche mir Dinge, die so klein, so unbedeutend sind – verglichen mit den Hoffnungen und Träumen der anderen.“ „Meinst du das ernst?“ fragte Viola unverblümt, dabei Gefahr laufend, die kleine Elfe wirklich zu verletzen. „Es ist nun mal einfach die Wahrheit!“ schnaubte diese, das Gesicht vom ersten Anflug von Zorn verzerrt. „Sie tragen ihr Leid und ihren Kummer hier her – echtes Leid und echten Kummer. Ich hingegen weiß nichts über den Großteil meines Lebens. Miraaj und die anderen haben mich vor Jahren hier aufgelesen – schwer verletzt. Ich kann mich an nichts erinnern, was vor diesem Tag war.“ „Das ist ...“ Viola stoppte mitten im Satz und formte ihn um. Ihre Worte sollten diesmal mehr ihren wirklichen Gedanken entsprechen. „Wenn du mich fragst, ist das keineswegs ein leichtes Schicksal – nicht im Geringsten. Du musst du dich für deine Sorgen nicht entschuldigen und schon gar nicht schämen.“ Herz begann wieder zu lächeln. Ihre Verlegenheit war nicht zu übersehen. „Ich danke dir ...“ Das Gespräch der beiden wurde vom Widerhall leiser Schritte unterbrochen, die von Mal zu Mal deutlicher wurden. Sie kamen aus dem Korridor zur Rechten der beiden, den zuvor auch sie durchquert hatten. Aus dem Schatten des Tunnels schritt ein junges, brünettes Mädchen in einem simplen Abendkleid, dessen tiefschwarze Färbung Rückschlüsse auf die tatsächliche Eigentümerin zuließ. Ihr langes Haar fiel bis weit unter ihre Schultern und verdeckte den Großteil ihres Gesichts, trotzdem war sich Viola sicher, dass sie ein Mensch war. Das Mädchen bemerkte die beiden Frauen nicht, die nur wenige Meter abseits von ihr saßen, während sie zielstrebig zur sprudelnden Quelle schritt und schließlich im seichten Wasser niederkniete. „Wer ist ...“ „Shh!“ fiel Herz der älteren Frau erneut ins Wort, diesmal jedoch mit einem Hintergedanken. Flüsternd fuhr sie fort: „Wir sollten jetzt besser gehen.“ „Warum?“ wollte Viola wissen. Sie passte sich der Lautstärke der Elfe an. „Sie kommt jede Nacht hier her“, erklärte Herz. „Seit sie vor einigen Tagen hier angekommen ist, hat sie so gut wie nie geschlafen. Am ersten Tag bin ich ihr bis an diesen Ort gefolgt. Wer weiß, wo sie gelandet wäre, wenn sie nicht hier hergefunden hätte ...“ „Wer ist sie?“ „Das weiß keiner“, flüsterte die Waldelfe. Ihre eigene Neugier schwang dabei unüberhörbar in der gedämpften Stimme mit. „Sie redet mit niemandem, nicht mal mit Miraaj! Den Tag verbringt sie stets allein in ihrem Zimmer. Wir respektieren ihren Wunsch, allein zu sein, auch wenn wir schon zu ihr könnten. Es gibt hier unten nämlich keine Schlösser an den Türen – als Zeichen des Vertrauens. Niemand soll vor den anderen Geheimnisse haben ... doch natürlich gibt es die trotz allem. Die beiden beobachteten das junge Mädchen. Sie begann sich mit dem Quellwasser das Gesicht zu waschen. Ihre Hände zitterten dabei so sehr, dass Viola und Herz ihre Zweifel hatten, ob ihre Reaktion einzig und allein von dem kühlen Nass her rührte. Herz beschlich großes Unbehagen. „Das hier geht uns rein gar nichts an, wir sollten besser gehen!“ „Wartet!“ Zu ihrer Überraschung mischte sich ein weiterer unerwarteter Besucher in das Gespräch ein. Es war Aarve, der sich auf leisen Sohlen unbemerkt ins Innere der Grotte geschlichen hatte. „Was machst du denn hier?“ fragte Viola. „Ich bin ihr gefolgt“, antwortete der Blondschopf. „Ich kenne sie. Sie kam mit unserem Helden nach Vyers.“ Verwundert wendeten sich Viola und Herz wieder dem Mädchen zu. Der Menschenfrau fiel es schwer zu glauben, dass eine so zierliche und zerbrechlich wirkende Gestalt es in der Festung auch nur einen Tag hätte aushalten können. Alles Mitgefühl, das sie ihr gegenüber verspürte, verwandelte sich auf einen Schlag in tiefes Mitleid. ___________________________________________________________ Im Zimmer der Dunkelelfe Miraaj herrschte eine ganz besondere Atmosphäre. Zu jener späten Stunde erleuchteten den kleinen Raum nur wenige Kerzen, die auf einem mehrstufigen Regal an der Nordwand des Zimmers standen. Natürlich machte es hier unter der Erde keinerlei Unterschied, ob an der Oberfläche die Sonne schien, oder nicht, und doch fragte sich Peter, ob seine Gastgeberin die Dunkelheit nicht vielleicht sogar bevorzugte. Ihr Raum wirkte ganz wie ein Rückzugsort auf den Jungen – so spärlich und gemütlich eingerichtet war er. Erwartet, hatte Peter eine Art Büro, eine Schaltzentrale, von der aus sie die Geschicke ihrer Mannen leiten konnte. Ferner der Realität hätten seine Vermutungen letztlich nicht sein können. Neil bat ihm den Platz auf dem Bett an, den der junge Franzose von sich aus nie im Leben in Anspruch genommen hätte. Miraaj lächelte ihm jedoch ermutigend zu, als sie seinen verunsicherten Blick wahrnahm. Ihm genügte das schlussendlich als Bestätigung. Der Geruch des heißen Wachses mischte sich mit den stärkeren Aromen der frischen Wäsche und des vielen Holzes. Peter fühlte sich, ob jener ihm wohl bekannten Düfte, beinahe heimisch. Es war ein Hauch des ihm völlig unbekannten Odors der hochaufgeschossenen Frau, das ihn faszinierte und mit jedem Atemzug wieder vor Augen führte, wo er sich tatsächlich befand. Während seiner kurzen Zeit in Minewood hatte Peter schon mit einigen grundverschiedenen Exemplaren der Dunkelelfen zu tun gehabt, sodass es ihn selbst am meisten wunderte, wie sehr er von der Aura Miraaj' in ihren Bann gezogen wurde. Die Eindrücke, die er in ihrem privaten Zimmer sammelte, verstärkten dieses Gefühl nur noch. Es gab hier nichts außergewöhnliches zu bestaunen: keine Waffen, keine Skulpturen oder Anzeichen merkwürdiger Botanik – einzig eine Kletterpflanze rankte sich gegenüber Peter am tiefblauen Fels entlang und verlor sich hinter einem prall gefüllten Bücherregal. Zudem konnte Peter keine Tränke oder sonstige typische Anzeichen praktizierter Magie ausmachen, wenn er sich auch ehrlicherweise eingestehen musste, von diesem Thema nicht die leiseste Ahnung zu haben. In der Tat wirkte die eigenwillige Ordnung in dem Zimmer eher kindlich, als erwachsen, fast schon nostalgisch in seiner Gänze. Peter gefiel das – sehr sogar. „Ich habe diesen Raum vor vielen Jahren verwünscht“, begann Miraaj zu erzählen. Sie stand mit dem Rücken zu ihren Gästen, die linke Hand auf einem massiven Schreibtisch aus dunklem Eichenholz abgestützt,. „Mein Ziel war es, einen Ort zu schaffen, an dem meine Fähigkeiten keinerlei Bedeutung hatten; an dem ich nicht anders war, als die anderen, und sie mir somit ebenbürtig.“ Peter war überrascht, das zu hören. Zumal diese Äußerung den Anschein erweckte, sie würde sich anderen überlegen fühlen. Er war gespannt, die Geschichte zu Ende zu hören. „Damals war das Misstrauen zwischen mir und meinen Freunden noch sehr groß, und das nicht mal zu unrecht.“ Ihr Blick war noch immer auf den Tisch gerichtet. Was genau sich die Dunkelelfe ansah, konnte Peter nicht erkennen. „Ich kannte ihre Sorgen und Ängste, da ich selbst so verängstigt war, mich ihrer Gedanken zu bedienen“, erzählte sie. „Auch wenn das nie ausgesprochen wurde, so war es doch ein offenes Geheimnis. Also verhexte ich dieses Zimmer mit einem unwiderruflichen Zauber – einem Fluch, genauer gesagt –, der es mir für die Ewigkeit unmöglich machen sollte, im Innern dieser vier Wände Magie zu beschwören, ganz egal, wie trivial.“ Dadurch erklärte sich Peter auch die Geschichte mit dem Türschloss. Obwohl er nicht danach gefragt hatte, war er dankbar für diesen Exkurs in die Vergangenheit der geheimnisvollen Frau. Es half ihm, sich ihr etwas näher zu fühlen und ihm die Angst vor der eigenen Ehrlichkeit zu nehmen. „Und ausgerechnet diesen Ort habt ihr für euch ausgewählt!?“ folgerte der Junge ungläubig. „Ich habe dich heute schon mehrmals per Du adressiert, Peter. Wenn du mich noch länger siezt, muss ich wohl meine Umgangsformen überdenken“, führte Miraaj beiläufig an. Am Ende strahlte den Jungen ein weiteres Mal das traurig-schöne Lächeln der blassen Schönheit an. „Mich soll der Blitz treffen, wenn mir das nochmal passiert!“ witzelte der Franzose. Miraaj nickte zufrieden. „Was deine Frage angeht: Ja, habe ich! In diesen vier Wänden habe ich nach und nach das Vertrauen der Frauen und Männer gewonnen, die ich heute stolz meine Freunde nennen darf. Hier begannen sie, mir gegenüber offen zu sein, da sie keine Angst mehr vor dem hatten, was mir selbst sogar noch mehr Angst machte ...“ Erneut senkte die Dunkelelfe den Blick. „Mittlerweile bin ich wirklich gern hier, wenn auch zumeist allein.“ „Ich will nicht unhöflich sein, aber wir sollten uns dem eigentlichen Thema widmen“, unterbrach der dritte im Bunde das Gespräch jäh. Miraaj nickte nur verlegen. Es war Peter, der sich in seinem Dialog mit der Dunkelelfe gestört sah. „Und welches Thema schwebt dir vor?“ konterte der Junge zornig. „Warum du mich entführt hast? Warum du mich, und die unzähligen anderen, die du auf die Insel gebracht hast, beii diesen Menschenhassern unserem Schicksal überlassen hasst? Oder wie du dich aus dem Staub gemacht hast und urplötzlich aus dem Nichts wieder aufgetaucht bist?“ Peters Wut verselbstständigte sich mit jedem Wort. „Wie du es fertiggebracht hast, gerade spät genug auf der Bildfläche zu erscheinen, Eva und den anderen nicht mehr helfen zu können?“ Neil schwieg. Wie hätte er auch reagieren sollen? „Dem Mädchen wird geholfen, und das weißt du auch“, wehrte Miraaj den letzten seiner Vorwürfe ab, ohne dabei jedoch in Selbstherrlichkeit zu verfallen. „Die Leute, die ihr das angetan haben, waren längst verloren, als die Stadt sie rief, so leid es mir auch tut, das zu sagen.“ Aus ihrem Munde klangen diese Worte glaubhaft und ehrlich gemeint. In der Stimme der Magierin vermutete der Franzose nicht Lug und Betrug, was, so wurde ihm schnell klar, wohl der Hauptgrund für ihre Anwesenheit war – das und die Angst des Zwerges, von dem temperamentvollen Jungen aufgefressen zu werden. „Schon gut“, besänftigte Peter vor allem das eigene Gemüt. „Ist ja schließlich Vergangenheit, nicht wahr?“ Er erwartete keine Antwort auf seine kleine Rhetorik. „Trotzdem will ich wissen, wieso ich hier bin – wieso irgendein Mensch hier ist, denn Minewood scheint nicht wirklich ein erstrebenswerter Rückzugsort für meine Spezies zu sein.“ „Und du hast ein Recht darauf, es zu erfahren“, gluckste Neil, dem die Neugier Peters merklich gefiel. Er hatte es noch nicht aufgegeben, sich mit ihm wieder auf einen grünen Zweig zu begeben. „Minewood ist eine Welt fern der Sphären deiner Erde, Peter. Wie auch dein Planet hat sich dieser über Äonen hinweg zu dem entwickelt, was du heute siehst. Die Menschen nehmen in jener langen Geschichte einen geradezu lächerlich winzigen Abschnitt ein – umso größer jedoch sind die Folgen eures Erscheinens. Und glaube mir, ich bin dafür keineswegs verantwortlich.“ Peter wurde hellhörig. Er wollte mehr erfahren. „Es war ein Portal – eine Maschine, die dich und all die anderen hier hergebracht hat. Und diese magische Maschine ist letzten Endes auch der Schlüssel zum größeren Ganzen. „Vor über hundert Jahren wurde sie auf dem nördlichen Kontinent von der dort herrschenden Spezies – den Minari – entdeckt und lange Zeit erfolglos erforscht. Auch wenn sie die Technologie hinter dem mysteriösen Gerät zu verstehen imstande waren, entzog sich ihnen doch ihr wahres Wesen. Schließlich wandte sich das Königshaus höchstpersönlich an die Dunkelelfen in Adessa – eine kleine Sensation, bedachte man die Historie der beiden Völker.“ Neil bemerkte, wie er in die Politik abzuschweifen begann. „Schlussendlich sandte Ballymena einige der begabtesten Hohepriesterinnen aus, den Minari in Panafiel bei ihrem Problem unter die Arme zu greifen. Das Resultat war eine Katastrophe.“ „Was ist denn passiert?“ drängte Peter auf rasche Antwort. „Die Minari hatten die Antwort in der Magie der Dunkelelfen vermutet, weil sie mit ihrem eigenen Latein längst am Ende gewesen waren, und das Portal allein physikalisch scheinbar nicht zu ergründen war. „Tatsache ist, dass weder die eine, noch die andere Spezies zu jenem Zeitpunkt wusste, womit sie es überhaupt zu tun hatte“, erzählte Neil mit großer Begeisterung. „Ja: Den Hohepriesterinnen gelang es dann tatsächlich, das Portal zu öffnen, doch vermochten sie nicht, es jemals wieder zu schließen, geschweige denn es gezielt zu bedienen. Als es seine eigene Magie entfaltete, wussten sie nicht einmal etwas damit anzufangen, da es scheinbar keinerlei sichtbare Folgen nach sich zog. Erst lange nachdem die Dunkelelfen Panafiel wieder verlassen hatten, bemerkten die Minari, was sie angerichtet hatten. „Eines Tages machten Kundschafter unweit der Grenzen ihres Königreichs eine Karawane von Pilgern aus: Es waren Menschen, die ihrerseits genau so überrascht und verwirrt waren, wie die Minari selbst. Sie wurden wie Könige in Empfang genommen und teilten ihre faszinierenden Geschichten mit ihren neuen Gönnern. Das die geheimnisvolle Maschine mit ihrer Ankunft zu tun hatte, konnte und wollte bald niemand mehr ausschließen. „Die Menschen machten sich ihrerseits große Hoffnungen, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, während die Minari zunächst auch alles versuchten, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen – doch vergebens. Sie waren der Situation genauso machtlos erlegen, wie zuvor dem Geheimnis des Portals ...“ Peter versuchte, sich in Gedanken den ihm unbekannten Kontinent im Norden vorzustellen. Wie die Fremden an Stränden, in Dschungeln und gar in Eiswüsten erwachten, wie er selbst es einst im Wald auf der Insel Caims tat, überwältigt von den faszinierenden Eindrücken jener neuen Welt. Auch wenn die Reise ins Unbekannte für ihn selbst alles andere als gut verlaufen war, so war er zumindest froh, schnell Verbündete und sogar Freunde gefunden zu haben. Über Wochen, Monate oder gar Jahre in dieser fremden Welt auf sich allein gestellt zu sein, war eine beunruhigende Vorstellung. „Und sie beließen es einfach dabei?“ „Oh nein, keineswegs!“ wiegelte Neil ab. „Auch wenn beide Parteien einsehen mussten, dass das Schicksal der schon gestrandeten Menschen wohl besiegelt war, hofften die Minari, zumindest einen Weg finden zu können, das Portal wieder zu verschließen.“ „Warum haben sie es denn nicht einfach zerstört?“ fragte Peter „Was würde es nützen, Pandoras Büchse zu zerstören, wenn man sie erst geöffnet hat?“ versuchte der Zwerg dem Jungen das Dilemma metaphorisch näher zu bringen. „Niemand mochte es riskieren, verstehst du?“ „Schätze schon. Nur erklärt das noch lange nicht, wieso die Dunkelelfen auf Caims die Menschen versklaven.“ „So bitter das auch klingen mag, Peter, so ist auch dieses Mysterium doch schnell ergründet. Nachdem die Minari ihre Bemühungen ein für alle Mal einstellten, wurde den Menschen in Panafiel von Gesandten des Königreichs versichert, man wäre dem Problem Herr geworden und hätte das Portal für alle Zeit verschlossen. In Wahrheit aber schickte man eine Schar Siedler fern in den Süden – nach Caims. Dort erbauten die Minari eine Festung, in deren tiefsten Gewölben sie das Portal verstecken wollte – und dessen Kinder, die es in Zukunft nach Minewood ziehen würde, ebenso!“ Peter dachte über die Worte des listigen Mannes nach. Immer auf der Suche nach einem Widerspruch. Bis jetzt machte die Geschichte Neils zwar Sinn, wirklich glauben, mochte er ihm deshalb aber noch lange nicht. Einmal mehr erkannte Peter den wahren Grund für die Anwesenheit der Dunkelelfe. In Miraaj' lautloser Zustimmung sollte auch er Vertrauen finden. „Man erweiterte die Siedlung über die Jahre hinweg mit dem noblen Ziel, den verirrten Menschen einen Auffangpunkt zu bieten – das heißt: Denjenigen, die die Strapazen auf der Insel tatsächlich überstanden. Letztlich verließen die Minari Siedler Caims jedoch, noch bevor sie den ersten Kontakt mit den Neuankömmlingen hergestellt hatten.“ „Man hat sie also einfach sich selbst überlassen?“ hakte Peter empört nach. „Zunächst ja“, bestätigte Neil. „Man ging davon aus, dass es von der Insel kein Entkommen gab. Die rauhe Elfenbeinsee trennte sie von Adessa, und schier endlose Ozeane von Panafiel oder den weiter östlich gelegenen Regionen. Caims war jedoch groß und reich genug an Natur, dass die Menschen auf sich allein gestellt hätten überleben können. Niemand wollte ihnen Leid zufügen ... damals“ „Und so haben sich die Minari einfach aus der Affäre gezogen ...“ „Ja. In der Tat.“ Neils Worte entrangen dem Mann keinerlei Gefühle, während er sprach. Es war nicht seine Untat, und er betrachtete sich auch nicht als Mitschuldigen. „Das war vor ungefähr neunzig Jahren, wenn ich mich recht entsinne.“ Neunzig Jahre ... Peter erschlug der Gedanke beinahe, dass schon seit so langer Zeit Menschen in Minewood lebten. „Wäre es nur dabei geblieben“, seufzte der alte Mann. „Wie meinst du das?“ „Haben deine Freunde dir Geschichten über den Krieg erzählt, der vor fünfunddreißig Jahren in dieser Stadt wütete?“ wollte Neil wissen. „Lester redete darüber, ja. Er war völlig außer sich, fast so, als spräche er von einer Legende, einem Mythos.“ „Mit jedem Tag der verstreicht, wird der große Krieg das auch mehr und mehr“ erklärte Neil. „Nachdem die wenigen überlebenden Dunkelelfen sich aus der verfluchten Stadt gerettet hatten und in Regionen im sicheren Norden Adessas geflüchtet waren, standen sie vor dem Nichts. Der Großteil ihrer Art war ausgelöscht, ihr König war tot und die Zukunft ungewiss. Sie alle litten unter den Auswirkungen der Flüche, die die Hohepriesterinnen in ihrem Wahn über ihr eigenes Volk ausgesprochen hatten“, rezitierte der alte Mann weiter. „Die Pilgerschaft, die sich aus den Fängen des todgeweihten Landes hatte befreien können, wusste nichts über die Hintergründe der Katastrophe. Niemand konnte oder wollte diese hinterfragen, zu jener Zeit.“ „Und?“ Peter wurde ungeduldig, da er sich mehr und mehr an der Art Neils zu stören begann. Es schien, als wollte er die Dunkelelfen und die Minari, die ohne Zweifel verantwortlich für alles Leid der Menschen in Minewood waren, in Schutz nehmen. „Es sprach sich herum, dass die Hohepriesterinnen, die sich scheinbar gegen die Ihren verschworen hatten, einer alten Prophezeiung gefolgt waren, die sie letzten Endes gar zu ihren grausamen Taten motiviert haben soll.“ „Eine Prophezeiung?“ Ein bitteres Lächeln verriet Peters Ungläubigkeit. „Dafür all das?“ „Man mag es kaum glauben“, stimmte auch Neil mit ein. „Sie wurde von einigen der Frauen überliefert, die einst bis tief in den Norden Panafiels gereist waren und dort das Schicksal von euch Menschen so dramatisch beeinflussen sollten. In vielerlei Hinsicht war der Wahnsinn, den sie mit zurück nach Adessa brachten, das Erbe ihres Hochmutes.“ „Was besagte diese Prophezeiung denn?“ Den Franzosen drängte die Neugier. „Niemand weiß das genau. Sie ging mitsamt ihrer Urheber, die stets darauf bedacht waren, ihre Motive vor Außenstehenden zu verschleiern, im großen Krieg unter.“ Enttäuscht fiel Peter weiter in das weiche Bett seiner Gastgeberin zurück. „Die Hohepriesterinnen hatten schon Jahre vor der Katastrophe ihre Vorbereitungen getroffen, ohne dass jemals jemand davon erfuhr. Dunkle Rituale wurden durchgeführt, Beschwörungen praktiziert ... Tag für Tag, über einen so langen Zeitraum! Und niemand bemerkte es!“ Neil steigerte sich immer mehr in seine Erzählungen. Er hatte sich mittlerweile von Peter und Miraaj abgewendet und blickte missmutig in einen kahlen Winkel des Zimmers, der vom spärlichen Licht der Kerzen nicht erfasst wurde und in völliger Dunkelheit lag. „Eine ganze Spezies fiel dem Wahn ihrer eigenen Königin zum Opfer, wenngleich Athleas Volk nur ein scheinbar notwendiges Opfer auf dem Weg zur Erfüllung ihres eigentlichen Plans war. Ein Opfer, das sie ohne zu zögern bereit war, zu erbringen.“ „Aber die Menschen hatten offensichtlich damit zu tun, oder?“ „Offensichtlich“, bestätigte Neil. „Allerdings gehören diese Überzeugung so wie all jene, die sie mit ihren grauenhaften Methoden in die Tat umzusetzen versuchten, der Vergangenheit an. Mittlerweile geht es den Dunkelelfen darum, einen ganz besonderen Menschen zu finden und ihn zur Strecke zu bringen.“ Noch bevor Peter zur nächsten sich aufdrängenden Frage ausholen konnte, begann Neil ihm im Detail zu erklären, was es mit dem sogenannten Messias auf sich hatte. „Die Minari ergriffen die Gunst der Stunde und nahmen sich der verbliebenen Dunkelelfen an, als sie ihnen die Bedrohung offenbarten, die über Minewood schwebte. Sie gaben die Ankunft der Menschen als dunkles Omen für das Unheil aus, das über diese einst friedfertige Welt hereingebrochen war. Gardif schürte das Feuer indem er ein klares Feindbild suggerierte: Den Menschen ...“ „War das etwa alles allein seine Idee?“ „Womöglich gab er den Impuls, ja. So oder so – es spielt letzten Endes keine Rolle. Es war jedenfalls eine intelligente Entscheidung, die Menschen in Caims nicht einfach sich selbst zu überlassen. Früher oder später hätten sie womöglich ihren Weg von der Insel gefunden, und so entschieden sich die Minari schließlich doch dafür, kein unnötiges Risiko einzugehen. Gardif war derjenige, der sich allen voran freiwillig in die wüsten Landen der Insel zurückzuziehen gedachte, um dort als Anführer der Dunkelelfen eine neue Existenz zu errichten.“ „Die Minari verloren auf diese Art und Weise keinerlei weitere Ressourcen. Man behalf sich der Kraft einer Heerschar von hasserfüllten Elfen, denen die Unterjochung der Menschen auf Caims von großem Nutzen und zugleich eine persönliche Genugtuung war“, beendete Miraaj die Ausführungen Neils mit den ersten Worten, die sie seit längerer Zeit sprach. „Und an der Seite Gardifs, an der Spitze dieser neugeborenen, nach Blut dürstenden Rasse, thront seither die einzig verbliebene Hohepriesterin, die vom eigenen Volke wegen ihrer Abstammung wie eine Göttin verehrt wird.“ „Die Frau in dem Turm“, erinnerte sich Peter im Flüsterton. „Prana! Die Hexe, die schließlich Athlea niederstreckte und somit ihr Volk vor dem Untergang bewahrte ... Du hast sie getroffen, nicht wahr?“ wollte die Magierin nun in Erfahrung bringen, was sie ohnehin schon vermutete. „Ja“, antwortete der Junge ehrlich. „Und wenn ich das alles richtig verstanden habe, ist sie es doch, die euren Messias ausfindig machen soll!?“ „Und?“ Die Ausführungen Peters zwangen Neil ein schelmisches Grinsen auf die spröden Lippen. „Was soll ich groß sagen?“ reagierte Peter trotzig. „Ich landete in einer Zelle! Wie alle anderen auch.“ „Nun“, Miraaj wechselte einen flüchtigen Blick mit ihrem kleingewachsenen Gefolgsmann, bevor sie sich ganz Peter zuwandte. Innig blickte sie dem irritierten jungen Mann in die Augen, „wenn die Dunkelelfen in Caims diesen besonderen Menschen erst einmal gefunden haben, hält sie nichts mehr auf der Insel. In den fünfunddreißig Jahren der Suche wuchs Gardifs treu ergebenes Volk zu einer ernstzunehmenden Macht heran. Er hat eine schlagkräftige Armee um sich gescharrt – vielleicht stark genug, den Kampf gegen das Königshaus in Panafiel aufzunehmen und es zu stürzen. Mit dem Menschen, der das Schicksal Minewoods in seinen Händen hält, als Druckmittel wären seine Streitmächte ja womöglich sogar unaufhaltsam ...“ „Ich verstehe es immer noch nicht.“ Perplex starrte Peter der wundersamen Gestalt im grauen Gewand in die Augen. „Gardif verfolgt seine eigenen Pläne. Das tat er schon immer“, fügte Miraaj an. „Und niemand von uns würde ihm den einen, den auserwählten Menschen auf dem Silbertablett präsentieren, um ihm den Weg zur Alleinherrschaft zu ebnen.“ „Von euch? Wen meint ihr?“ Peter erwartete nicht weniger als einen Paukenschlag von Überraschung. Worauf zielte die mysteriöse Elfenfrau ab? Bevor Miraaj dem Jungen ihren größten Trumpf jedoch offenbarte, sah sie sich zum ersten Mal in dieser Nacht zu einem Lächeln bewegt. „Die Frau, auf der alle Hoffnungen Gardifs ruhen, ist unsere mächtigste Verbündete!“ So bewahrheitete sich dann schließlich auch, was Peter mit jedem weiteren Wort, das er vernahm, mehr zu dünken begann. Miraaj und Neil und weiß Gott wer noch hielten ihn – den jungen Jedermann aus Frankreich – für ihren Heilsbringer. Sie sahen tatsächlich ihn in der Rolle des Menschen, dessen Schicksal unmittelbar mit dem dieser ganzen merkwürdigen Welt verbunden war. Ausgerechnet ihn. Von allen Menschen ... Die Wächter II -------------- Kapitel 16 – Die Wächter II Eines hatten die drei Gestalten, die in den frühen Morgenstunden des klammheimlich angebrochenen, neuen Tages durch die Gewölbe des Untergrundes wanderten, gemeinsam: Sie alle zerbrachen sich den Kopf über Alicia – das Mädchen, das in aller Einsamkeit wahrscheinlich noch immer ihr trauriges Ritual in der Grotte abhielt. Herz hatte es für die beste Idee gehalten, sie dabei nicht zu stören und vollste Zustimmung erfahren. Weder der Kämpferin Viola noch dem Leid erprobten Aarve stand der Sinn danach, das junge Mädchen in ihrer Ruhe zu stören. Die Fantasie der beiden spielte hingegen regelrecht verrückt, und es geisterten ausschließlich Albtraum-Szenarien in ihren Köpfen umher. Die Elfe Herz, deren kindlich naive Vorstellungskraft nicht in jene Sphären zu reichen vermochte, in denen die Fremden sich in ihrer Gedankenverlorenheit befanden, war seit geraumer Zeit willens, dem Trauerspiel ein Ende zu bereiten, wagte jedoch nicht recht, dem Schweigen ein Ende zu setzen. Diese Bürde sollte ihr schließlich von Viola abgenommen werden. „Der Junge, dem du in der Krypta schöne Augen gemacht hast, ist übrigens auch ein Waldelf“, begann die schwarze Schönheit wie aus heiterem Himmel zu erzählen. „I-ich ...“ Herz blickte peinlich berührt gen Boden. „Ich hab ihm doch keine schönen Augen gemacht“, stritt sie errötet ab. „Wie du meinst.“ Es freute die gerissene Frau, dass es zur Abwechslung ihr gelungen war, die vorlaute Elfe auf dem falschen Fuß zu erwischen. „Ich dachte nur, ich sag es dir. Falls du das nicht ohnehin schon bemerkt hast.“ „Danke vielmals, aber das habe ich sehr wohl“, giftete Herz. „Ach ja?“ Auch Aarve mischte sich nun in das Gespräch ein. „Muss dann ja wohl doch ein eindringlicher flüchtiger Blick gewesen sein.“ „Wie?“ Wütend rümpfte die zierliche Waldelfe die Nase und verdeckte ihr pinkes Haupthaar anschließend plakativ wieder mit ihrem pechschwarzem Barett. „Verschwört euch nur gegen mich! Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.“ Als hätte sie die beiden Menschen auf eine verlockende Idee gebracht, machten sie auf der Stelle Halt und wandten sich sichtbar amüsiert ihrer Fremdenführerin zu. „Es tut mir furchtbar leid, sollten wir deine Gefühle verletzt haben“, versicherte Aarve der Elfe mit geradezu schmerzhaftem Sarkasmus in seinen Worten. „Allerdings!“, fügte Viola hinzu. „Wir wussten ja nicht, dass du so für den kleinen Jin schwärmst. Das muss dir wirklich nicht peinlich sein!“ „Ich ...“ „Ganz genau! Verleugne niemals die Liebe, junge Dame!“, gab der blasse Mittzwanziger der Elfe großspurig mit auf den Weg. „Wirklich ... ganz toll ...“ Herz wandte sich von dem Duo ab und machte an Ort und Stelle kehrt. „Warte doch!“, rief Arve ihr noch hinterher. „Weißt du, dass der Junge den weiten Weg aus Ballybofey nur auf sich genommen hat, um nach seiner verschollenen Freundin Ausschau zu halten?“, entfuhr es Viola, woraufhin Herz wie angegossen stehen blieb. „Ist das nicht romantisch?“ Das war es in der Tat, und auch wenn Herz es sich vor den beiden niemals eingestanden hätte, war ihre Neugier längst geweckt. „Ist das wirklich wahr?“, fragte sie flüsternd. „Oh ja“, versicherte ihr Viola nachdrücklich. „Ich habe ihn mehr als einmal von ihr schwärmen gehört. Sie muss wirklich ein Prachtexemplar von einem Spitzohr gewesen sein. Wunderschön, zuckersüß und schlau obendrein. Schade nur, dass seine Suche so ein Desaster war ...“ „Du ...“ Herz wusste die Nadelstiche in ihre Richtung nur allzu gut zu deuten. Sie wusste, dass sie den beiden Menschen keine ernstgemeinten Informationen mehr entlocken konnte. Aus ihrer pechschwarzen Seidenbluse drangen alsbald ihre eleganten, hauchzarten Elfenflügel hervor. Mit dem Abschiedsgeschenk eines fantastischen Lichtspiels ließ das gekränkte Mädchen ihre neuen Bekanntschaften in imposanter Geschwindigkeit hinter sich. „Das war ... nett“, zog Aarve Bilanz, der sich über die Violas spitze Zunge köstlich amüsierte. „Ach ja?“ Von einer Sekunde auf die andere schien die Hochstimmung der schwarzen Frau wie weggewischt. „Ich für meinen Teil habe der frechen Göre gerade den Gefallen ihres Lebens getan!“ Verblüfft starrte Aarve Viola einige Sekunden hinterher, als diese sich aufmachte, noch unerforschte Teile der Korridore zu beschreiten. ... ... ... ... ... ... San Francisco. Vier Jahre früher (Erd-Zeit) Das Licht im Krankenzimmer erhellte den großen Raum nur noch schwach. Debrahs Sohn lag mittlerweile schlafend in dem Bett, in dem er mehr Nächte seines Lebens verbracht hatte, als zu Hause – zumindest kam es seiner Mutter so vor, die auf einem Stuhl neben ihm saß und grübelnd den Kopf in die Schultern gelegt hatte. Michael selbst mochte sich darüber wohl noch gar keine Gedanken gemacht haben. Er war ganz einfach froh gewesen, als seine Mutter vor einigen Stunden wie versprochen durch die Türe geschritten kam – wie immer, wenn es ihm oder seiner Zwillingsschwester schlecht ging. Wann immer es sich einrichten ließ, wachte Debrah selbst über ihre leidenden Zöglinge. Jedes Mal stellte sie sich dabei dieselbe Frage: Wieso es ausgerechnet sie traf. Anfangs war es einzig dieses Rätsel, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Mittlerweile stellte sie auch ihr eigenes Schicksal in Frage. Schließlich schien noch bis kurz nach ihrer Schwangerschaft alles geradezu perfekt zu funktionieren, bis sich ihr Prachtexemplar von einem Mann – nach einem Anfall von feige vorgeschobener Selbstreflexion – als vaterschaftsuntauglich eingestuft hatte. Ein Schlag ins Gesicht für die blutjunge, werdende Mutter. Das Schlimmste daran aber war, dass er in all den Jahren nicht einmal die Courage gefunden hatte, sich seinen Kindern vorzustellen, obwohl Debbie nach der Trennung niemals Begehrlichkeiten bekundet hatte. Einzig ihren durchaus existenten, quicklebendigen Vater kennenlernen, das sollten die zwei. Auch dazu fehlte ihm der Mut, und so würde die alleinerziehende Mutter ihre Sprösslinge eben noch einige Jahre anlügen müssen, bis diese reif genug waren, ihnen die Wahrheit anvertrauen zu können. An diesem Abend war das jedoch Debbies geringste Sorge. Auch Geld spielte nicht wirklich eine Rolle, da sich Papi aus der Erfüllung anderer spezieller Pflichten nicht so leicht hatte herauswinden können. Michael war zudem fast schon Stammgast im Krankenhaus, sodass, ob der schieren Gewohnheit, die großen Sorgen mehr und mehr ausblieben. Mittlerweile waren diese Art Familientreffen im Hospital zur Routine geworden. Gewöhnen konnte sich Debrah trotzdem nicht daran. Ihre Tochter lief im geräumigen Krankenzimmer, dessen Betten bis auf das von Michael verwaist waren, lächelnd auf und ab. In ihren kleinen Händen hielt sie einen himmelblauen Stoff-Elefanten. Eine Aufmerksamkeit, für die ihre Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus gerade noch Zeit gefunden hatte. „Mama, schläfst du heute hier?“, fragte das kleine Mädchen neugierig. Es war offensichtlich, dass sie mitbekommen hatte, wie die Krankenschwester vor einiger Zeit ein Garnitur neuer Bettwäsche in das Zimmer gebracht hatte, wenngleich diese nicht für Debrah vorgesehen war. Die Unbekümmertheit ihrer Tochter beunruhigte Debbie. Normalerweise hegten Kinder – insbesondere in diesem Alter – Abneigungen gegen Krankenhäuser. Scheinbar aber hatte die Macht der Gewohnheit auch auf ihre Kleinen längst Einfluss genommen. „Würde dir das denn etwas ausmachen, Marie?“ „Mikey würde sich bestimmt darüber freuen“, erklärte sie selbstlos. „Ja, das würde er.“ Debrah war stolz auf ihr Mädchen. Sie kümmerte sich aufopferungsvoll um ihren Bruder, der weit öfter unter den Folgen der Krankheit zu leiden hatte, als sie selbst. Wenn die Last für sie deswegen nicht weniger schwer wog, half sie ihrer Mutter schon durch ihre Tapferkeit sehr weiter. „Ich werde mal mit der Schwester sprechen, ob das geht, okay?“ „Okay“, stimmte Marie kopfnickend mit ein. „Pass auf, dass du Michael nicht aufweckst“, mahnte Debrah ihre Tochter liebevoll, bevor sie das Krankenzimmer zum ersten Mal seit ihrer Ankunft verließ. Die blasse, rothaarige Krankenschwester hinter dem Tresen war zu Debbies Überraschung ganz allein und schenkte ihre Aufmerksamkeit dem kaum zu entziffernden Kauderwelsch einer Krankenakte. „Wie viel Zeit es wohl sparen würde, wenn Ärzte sich um Schönschrift bemühen würden?“, witzelte die junge Mutter um auf sich aufmerksam zu machen. „Oh! Ich hab sie gar nicht bemerkt. Verzeihung.“ „Nicht der Rede wert.“ Debrah musterte das fremde Gesicht der Frau, die sie ungefähr in ihre Altersklasse schätzte, auch wenn sie, abgesehen von diesem Umstand, eher das krasse Gegenteil von ihr war. Sie vereinte all die typischen Merkmale eines Rotschopfs, inklusive Sommersprossen. „Wäre es möglich, dass ich heute bei meinem Sohn übernachte?“ „Entschuldigen sie, sie waren!?“ „Debrah Lillard, mein Sohn Michael liegt in Zimmer 815.“ „Ah, genau“, täuschte die Schwester nachträgliche Erleuchtung vor. „Ja, das sollte sich einrichten lassen. Übernachtung sind auf dieser Station nur in Ausnahmefällen nicht möglich.“ Ohne Frage wusste Debrah darüber längst bestens Bescheid, dennoch bedankte sie sich in aller Freundlichkeit, wie sie es jedes Mal tat. „Ich werde gleich ein Gästebett organisieren, haben sie ansonsten alles notwendige bei sich?“ „Nein, aber das ist kein Problem“, erklärte Debbie. „Ich muss vorher noch meine Tochter nach Hause bringen.“ „Gut, dann entschuldigen sie mich für ein paar Minuten. Wir bereiten alles vor.“ Was Debrah wieder einmal mehr Kopfzerbrechen bereitete als die Sorge um ihre Kinder, waren diese verteufelten Gedanken an ihr eigenes Befinden. Es ging ihr doch gut – nicht sie musste schließlich Woche für Woche in dem zerbrechlichen Körper eines ihrer beiden Lieblinge stecken. Doch sie litt an ihrer eigenen Krankheit, ihrem Ego, das sie nie hatte ausblenden können. Was war das denn noch für ein Leben für sie? Vom frühen Morgen und den mütterlichen Pflichten über einen Job, den sie hasste, ging es am Abend entweder nach Hause – was den Idealfall darstellte – oder direkt ins Krankenhaus. Zeit für die Verwirklichung ihrer Träume, denen sie in der Vergangenheit schon so nahe gewesen war, gab es dabei nicht. Doch wie um alles in der Welt konnte das für sie noch von Relevanz sein? Vor allem jetzt, in dieser Situation, sollte sie zuallererst Mutter sein, so glaubte sie die Doktrin der Elternschaft verinnerlicht zu haben. Wie sich jene Gedanken – ja sogar Wut – in ihrem Kopf ranken konnten, war Debrah schleierhaft. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie ihr eigenes Wohlergehen in den Vordergrund stellte. Zumindest bildete sie sich einmal mehr ein, dies zu tun. Es war ebensowenig das erste Mal, dass sich Debbie dafür hasste, vielleicht aber das erste Mal, dass sie es auf eine solch tiefschürfende Art und Weise tat. Sie war mittlerweile ganz allein auf dem breiten Korridor der Station. Allein mit sich, allein mit ihren Gedanken, die ihre übelsten Auswüchse stets in der Einsamkeit nahmen. Dazu war der Geist der Menschen zweifellos am vortrefflichsten in der Lage – sich selbst zu zerstören. ... ... ... ... ... ... Peter musste sich redlich bemühen, eben Erfahrenes irgendwie verdauen zu können. Er begriff noch immer nicht, inwiefern er Teil dieser merkwürdigen Geschichte sein sollte. Momentan konnte er das wohl auch noch nicht. Ihm war nicht weniger als die Hauptrolle in der fantastischen Geschichte anvertraut worden, in der er vom ersten Tag an nur hilfloser Zuschauer hatte sein können. Vom ersten Augenblick an war ihm diese hasserfüllte, feindselige Welt über den Kopf gewachsen. Nur durch reines Glück konnte er bis hierhin überleben, und dabei waren es stets andere gewesen, die seinen Kopf aus der Schlinge zogen und auf dem beschwerlichen Weg sogar ihr Leben lassen mussten. Freilich hätten Krieger wie Elmo oder gar der aufmüpfige Rios es weit mehr verdient, an seiner Stelle zu stehen und mit den abstrusen Geschichten dieser Leute konfrontiert zu werden. Sicher würden sie oder Eva nun wissen, was es zu tun galt. Eva ... Der Gedanke an sie war ein zweischneidiges Schwert. Zum einen half er Peter, sich abzulenken, zum anderen grub sich das Bild der sterbenden jungen Frau wie ein Dolch immer tiefer in seine Brust. Peter aber entschied sich dennoch, fortan seine Aufmerksamkeit dem verletzten Mädchen schenken zu wollen. Bei denen konnte er ja doch nichts mehr gewinnen. Miraaj und Neil ... Was fiel ihnen eigentlich ein? Müsste es die zwei nicht am meisten erschüttern, ihren Heilsbringer in Peter zu sehen? Stattdessen schmückten sie sich noch immer in ihrem selbstzufriedenem Mienenspiel. „Was macht euch eigentlich so froh?“ In der Stimme des Jungen lag nun keinerlei Bewunderung oder Ehrfurcht. Mit ihrer bloßen Anwesenheit konnte Miraaj ihn längst nicht mehr entzücken. „So wie ich das sehe, steht euer großer Plan – wie immer der auch aussehen mag – vor dem Abgrund.“ „Und das siehst wirklich nur du so, Peter“, versicherte ihm Neil. Sein Blick verengte sich, als wollte er dem Jungen eine Warnung mit auf den Weg geben. „Ach ja?“ Peter schenkte den Andeutungen des Zwergs keine Aufmerksamkeit. „Ihr setzt auf das falsche Pferd, wenn ihr tatsächlich glaubt, ich wäre die Lösung für die Probleme dieser verdrehten Welt. Glaub' mir, Neil, dein Instinkt hat dich diesmal an der Nase herumgeführt.“ „Instinkt hat damit nicht das Geringste zu tun, du ...“ „Du hast keine besonders hohe Meinung von dir selbst, oder Peter?“ Miraaj unterbrach den weitaus älteren Mann, der ihr kaum bis zur Hüfte reichte, unverblümt. „Zumindest lese ich das aus deinen Worten.“ „Und wenn schon!“, warf der Junge trotzig in dem Raum. Es fiel ihm schwer die Fassung zu bewahren, da ihn seine eigenen abschätzigen Bemerkungen über sich selbst viel härter trafen, als er es je für möglich gehalten hatte. Er hatte nie so offen und kritisch über seine eigene Person geredet oder überhaupt nachgedacht. „Vielleicht hilft es dann, wenn ich dir sage, dass ich voller Zuversicht in die Zukunft blicke. jetzt wo ich dich kennengelernt habe.“ Peter fiel dazu nichts ein. Soweit, dass er Miraaj kleine Lügen dieser Art zutrauen würde, war er noch lange nicht. Trotzdem fiel es ihm sichtlich schwer, ihren Worten Glauben zu schenken. Mehr als je zuvor drängte sich die Frage auf, was es denn letztendlich war, das die wundersame Gestalt in ihm sah. Dann, Sekunden später, konnte er die brennenden Zweifel in seiner Brust nicht mehr länger ertragen. „Warum?“ Er verachtete sich für jede ungewollte Träne, die sich heimtückisch aus seinen Augenwinkeln schlich und versuchte, ihn um die Fassung zu bringen. Der zornige Geist hasste in jenem Augenblick das schwächliche Fleisch. Die ohnehin wenig gehaltvolle Fassade des starken Mannes bröckelte „Was zum Teufel seht ihr nur in mir?“, presste er zähnefletschend heraus. Sein eigens auferlegtes Martyrium nahm jedoch ein abruptes Ende, als Miraaj sich wie entfesselt auf ihn zu bewegte und den perplexen Jungen ihre linke Hand, die in einen schwarzen Handschuh gebettet war, auf die Schulter legte. So impulsiv hatte er sie bisher nicht erlebt. Ihren funkelnden, hellblauen Augen konnte er sich schließlich nicht entziehen, selbst wenn er es gewollt hätte. „Ich sah einen jungen, starken Mann in diese Gewölbe eintreten, der auf Caims die Hölle gesehen und das Fegefeuer überlebt hat. Auf seinen Armen trug er eine verwundete Kameradin, deren Schicksal ihm wichtiger war, als das eigene. Dicht bei ihm trabte das erhabenste Geschöpf, das diesseits und jenseits Minewoods je existiert hat – gezähmt von eben jenem Manne, ergeben einzig der seinen Hand!“ „Zufälle ...“ Peter rang noch immer mit sich. So gut und ehrlich die Worte der Dunkelelfe auch gemeint waren, so wenig veränderten sie am bemitleidenswerten Zustand des Franzosen. „Gab das Einhorn nicht die eigene Unsterblichkeit für dein Leben auf? War es nicht dazu bereit? Hat es das nicht getan, Peter?“, fragte Miraaj mit Nachdruck. „Weißt du denn nicht, was das bedeutet?“ „Ich weiß es“, gab er zu. „Lily hat mir davon erzählt, und ich kann noch immer kaum glauben, was da passiert ist ...“ Und darum ging es schlussendlich auch. All diese Dinge waren in der Tat geschehen. All diese Dinge hat er tatsächlich vollbracht. Wunder, die ausreichen sollten, ihm Selbstvertrauen zu verleihen, doch war all das längst nicht genug, ihn den tieferen Sinn verstehen zu lassen. Miraaj war für kurze Zeit regelrecht sprachlos. Doch schaute sie nicht enttäuscht, nur über die Maßen verwundert in die glühenden Augen des Jungen. Es dauerte keine zehn Sekunden, die Peter jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen, bis die Magierin wieder zu ihm sprach. Sie senkte ihren Blick ganz leicht und lächelte. Fast wirkte sie verlegen. „Ich verstehe dich besser, als du denkst.“ Keine Widerworte „Du solltest zu ihr gehen. Bei ihr sein. Sie braucht dich.“ Es schien beinahe, als ließe sie von dem Jungen ab, der in diesem Moment kaum wusste, wo ihm der Kopf stand. „Versprich mir nur, dass du weiter suchst, ja? Gib niemals die Suche auf, denn allein die Hoffnung kann sehr wohl dein Pfad durchs Leben sein.“ Peter verstand, was Miraaj von ihm verlangte, wenn er auch Zweifel hegte, dass sie sich ihrerseits darüber im Klaren war, wie vielsagend ihre Worte waren. „Hoffnung reicht mir aber nicht“, flüsterte er noch, längst ohne jeden Anflug von Trotz oder gar Wut in der Stimme, die noch bis vor kurzem sein Gemüt beherrscht hatten. Miraaj ließ Peter los und holte eine Halskette hervor, die zum größten Teil unter dem Gewand der Elfe versteckt lag. Geschickt öffnete sie die Halterung und überreichte das Pendant in Form eines vierblättrigen Kleeblattes kurz darauf dem Jungen. „Ich habe diese Kette einst von einem Mann geschenkt bekommen, den ich wohl nie wieder sehen werde. Ich dachte, mich damit abgefunden zu haben, doch du, Peter, hast mir die Augen geöffnet – mir gezeigt, wie naiv ich war. Zu glauben, ich hätte die Hoffnung schon aufgegeben ... So etwas verliert man nicht, verstehst du?“ Das tat er. „Hoffnung ...“ Peter nahm die Hand der Dunkelelfe, mit der sie ihm den Anhänger überreichte. Es war die rechte, nackte Hand. Berührungsängste kannte sie nicht. „Damit du dieses Gespräch niemals vergisst!“ „Das kann ich nicht ...“ „... annehmen?“ Miraaj wollte keinerlei Ausflüchte mehr hören. „Versprichst du mir nun, niemals die Suche aufzugeben?“ Einen Moment lang betrachtete Peter das funkelnde Geschenk in seiner Hand. Er musste an seine Erlebnisse in Minewood denken. Vor allem an jene, an die Miraaj ihn so stolz erinnert hatte. Die letzten Minuten waren ein solches Ereignis. Irgendwann würde er voller stolz von eben jenem erzählen. Seiner Großmutter, Momo, Eva ... Julie ... „Ich verspreche es.“ ___________________________________________________________ Obwohl es schmerzte, zog es Viola immer wieder in die Nähe der Waisen, die in den unwirklichen Gewölben unter der verfluchten Stadt ihre neue Heimat gefunden hatten. Was es war, dass sie zu jenem selbstverletzenden Verhalten zwang, wusste sie nicht genau zu beurteilen. Vermutlich ja das schlechte Gewissen, das selbst nach sechzehn Jahren noch immer an ihr zu nagen vermochte. Vielleicht war es gar die Sehnsucht nach der Heimat, auch wenn die Erinnerungen an ihr früheres Leben mit jedem verstreichenden Jahr immer mehr verblichen. Eine Tatsache, die Viola schwer zu schaffen machte. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass es soweit kommen könnte – sie war schließlich kein Kind mehr, als sie nach Minewood übertrat. Ganz im Gegenteil: Sie war schon damals eine erwachsene Frau und Mutter von zwei Kindern, die von ihrem Vater im Stich gelassen worden waren. Könnte sie etwas so bedeutendes wirklich je vergessen? Es waren andere Dinge, die ihren Erinnerungen entronnen waren – bedeutsame Kleinigkeiten. Details, die ihr einfach nicht mehr einfallen wollten. Zuviel war ihr seit ihrer Ankunft in Caims widerfahren. Damals musste viel Zeit vergehen, bis sie überhaupt wieder einen klaren Gedanken an ihr altes Leben fassen konnte. Die Dunkelelfen auf der Insel kannten keine Gnade im Umgang mit den Menschen, egal wie klug, schön oder stark sie waren. Wie sehr sie Eva auch verachtete, ihrem Feldzug wären sie und die anderen aufmüpfigen Ritter auch gefolgt, wenn sie zuvor ihr Todesurteil mit dem eigenen Blute hätten unterzeichnen müssen. Mittlerweile hegte Viola jedoch ernsthafte Zweifel an den eigenen Motiven. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ließ sie längst verschollen geglaubten Gedanken wieder Zugang zu ihrem Herzen. „Was machen wir hier eigentlich?“ Aarve hatte ein besonderes Talent dafür, entspannende Ruhe für betretenes Schweigen zu nehmen. „Ich will die Blagen nicht aufwecken. Kann wirklich nicht mit Kindern, wenn du verstehst.“ „Hmpf ...“ Der Blondschopf konnte nicht wissen, in welches Fettnäpfchen er soeben getreten war. „Bist nicht der Erste, von dem ich das höre.“ „Komm schon“, versuchte der Finne sich anzubandeln. „Die bringen doch nur Ärger mit sich! Stress ohne Ende. Und was bekommt man dann dafür?“ „Liebe“, flüsterte Viola kaum wahrnehmbar. „Huh?“ „Was weißt du schon von Erziehung, Kleiner? Du bist doch selbst noch ein Kind.“ Zweifellos schoss sie mit dieser Äußerung um einiges am Ziel vorbei, dennoch machte sie ihren Standpunkt klar. „Mach mal halblang; ich bin vierundzwanzig Jahre alt!“, setzte sich der Finne zur Wehr. „Die letzten vier durfte ich übrigens für diese gottlosen Spitzohren die Drecksarbeit erledigen. Glaub mir: erwachsener wird man nicht. Und was ist mit dir, he? Sechsundzwanzig? Achtundzwanzig?“ Viola ging zunächst nicht auf die Frage ihres Begleiters ein. „Was glaubst du wohl, wo ich gelandet bin, als ich in Minewood ankam?“ Aarve gab keinen Laut von sich. Natürlich konnte er sich seinen Teil dazu denken. „Vier Jahre warst du also in Vyers eingesperrt? Hättest du es auch sechs ausgehalten?“ Es spielte keine Rolle, ob er es geschafft hätte, oder nicht, wenngleich Aarve gezwungenermaßen an seine Deportation nach Berra denken musste. Viola hatte alle Trümpfe in ihrer Hand. „Aber junge Frauen haben es in Gefangenschaft bei den Dunkelelfen natürlich leichter, nicht wahr? Das heißt, wenn sie nicht als zu schwach eingestuft und sofort den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden.“ „Das hab ich nicht gewusst“, versuchte der erstmals wirklich verschüchtert wirkende junge Mann, sich zu entschuldigen. „Natürlich nicht“, tönte Viola zynisch. „Woher denn auch? Ich war übrigens fast so alt wie du, als das alles begann. Zweiundzwanzig, um genau zu sein. Sechzehn Jahre ist das jetzt her. Eine lange Zeit ...“ Aarve schwieg. Kein Wort der Rechtfertigung, noch der Entschuldigung drang mehr aus seiner Kehle. Es verblüffte ihn, wie völlig falsch er die schöne Kriegerin eingeschätzt hatte. Ihr Alter sah man ihr genauso wenig an, wie das Martyrium, dem sie in Vyers so viele Jahre zweifellos ausgesetzt gewesen war. Auch in ihrem Verhalten hätte man nicht lesen können, wie es wirklich um sie bestellt war. So wandte Viola sich im Augenblick des tatsächlichen betretenen Schweigens wieder dem Schlafraum der Kinder zu, durch dessen Spalt weit geöffnete Türe hindurch sie einen Blick auf zwei der noch immer schlummernden, lieblichen Wesen erhaschen konnte. So fremd die beiden ihr auch waren, so vertraut schien just diese Szene. Sie genoss es, den friedlichen Schlaf des Jungen und des Mädchen zu beobachten. In Gedanken veränderten sich die schwach vom Feuer des Korridors erhellten Züge der zwei, und aus den unbekannten Gesichtern wurden nach und nach die Ebenbilder von Michael und Marie. Anschließend konnte sie nicht dagegen ankämpfen, bemerkte vielleicht auch gar nicht, wie die ersten Tränen, die sie seit Vyers vergoss, sich ihren Weg über ihr makelloses Gesicht bahnten. Alles war noch immer genauso klar wie vor sechzehn Jahren. Die Erinnerung an ihre beiden größten Schätze war noch immer so lebendig, wie in jener letzten, schicksalhaften Nacht. ... ... ... ... ... ... San Francisco. Vier Jahre früher (Erd-Zeit) Sie konnte die Augen nicht von ihm lassen. Nicht aus Sorge, wenn diese auch vorhanden war, diesmal lastete noch etwas anderes auf ihrem Herzen; eine dunkle Vorahnung, die sie selbst als solche zwar erkennen, jedoch nicht ernst nehmen konnte. Was sollte das schon bedeuten? Michael schlief tief und fest und friedlich. Ein Anblick, der wohltuender nicht hätte sein können, wäre es nicht um das Ambiente bestellt gewesen. So sehr wünschte sie sich in ihrem heimischen Apartment; dort hätte sie die beiden um diese Stunde in aller Liebe zu Bett gebracht und ihre Vollkommenheit noch einige Sekunden aus der Tür heraus betrachtet, die sie stets einen Spalt weit offen stehen ließ. Auch Marie drängte es nach Hause, obwohl ihr eine einsame Nacht bevorstand. „Wird Mikey morgen auch noch hier schlafen?“, fragte das Mädchen ihre Mutter, die das Flüstern in ihrem nachdenklichen Zustand jedoch überhörte. „Mom?“ „Huh?“ Endlich bemerkte Debrah, dass die Welt um sie herum durchaus noch immer in Bewegung war. „J-ja, Schatz?“ „Wenn Michael morgen auch noch hier schlafen muss, bleib ich lieber hier“, erklärte Marie. Sie wusste längst über das gängige Prozedere im Krankenhaus Bescheid, dass Geschwister und entferntere Verwandte nur auf Anmeldung hin die Nacht bei den Angehörigen verbringen durften, auch wenn es in der Leidensgeschichte der Lillards durchaus schon Ausnahmen gegeben hat. „Ich mein', wenn das geht ...“ „Bestimmt!“, ermutigte Debbie ihre Tochter und freute sich zugleich über deren selbstlose Entscheidung. Sie schenkte ihr gar ein stolzes Lächeln, und doch war Debrah noch immer nicht frei von dem Gefühl der Leere, dass sie schon den ganzen Abend über plagte. Vermutlich waren es ja bloß Gewissensbisse. Außerordentlich schwere ... Ihr Sohn war wohlauf, ihre kleine Tochter ein schillerndes Beispiel an Selbstständigkeit. Warum nur konnte sie keine Freude mehr empfinden? War es wirklich schon so weit mir ihr gekommen? „Fahren wir jetzt los, Mom?“ „Gleich, mein Schatz.“ Debbie war weder gewillt, noch dazu in der Lage ihre merkwürdigen Gedanken herunterzuschlucken und zu warten, bis sie eines Tages in noch größerem Ausmaß wieder zum Vorschein kämen. „Kannst du hier noch ein Minütchen warten? Ich muss nur mal schnell ins Bad, okay?“ „Klar!“ Marie machte es nichts aus. Marie machte sich auch keine Sorgen, denn dafür war sie viel zu stark. Marie, Michael – ihre Kinder; sie waren ihre größten Schätze, ihre Heiligtümer, und doch schien ihr Verstand sie plötzlich völlig ausblenden zu wollen. Das Badezimmer war am anderen Ende des Korridors. Debrah beeilte sich, rannte fast. Etwas geschah mit ihr, und sie konnte nicht begreifen, was es war. Nur ein einziger Gedanke schwirrte noch in ihrem Kopf herum, eine alles verzehrende Sehnsucht nach dem Alleinsein. Allein, wie damals, als sie ihre großen Pläne zu schmieden begann und all ihre Aufmerksamkeit der Verwirklichung jener widmete. Als die weiße Tür hinter ihrer Mutter ins Schloss fiel, ahnte Marie nicht, dass aus einer Minute eine Ewigkeit werden sollte. ... ... ... ... ... ... Ganz wie Miraaj es ihm aufgetragen hatte, und er selbst es wollte, verbrachte Peter die Nacht wachend an der Seite Evas. Nicht selten rang er mit den verführerischen Fängen des Schlafes, der sich zu so später Stunde, nach all den zurückliegenden Strapazen, mit aller List an ihn heranzuschleichen begann. Er hätte die Ruhepause gebrauchen können. Auch hätte sein Einnicken an der Situation rein gar nichts verändert. Er wollte ganz einfach dieses Geplänkel mit der eigenen Schwäche auf keinen Fall verloren geben, wo das Mädchen an seiner Seite doch mit so viel stärkeren Dämonen zu kämpfen hatte. Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Nicht selten verlor sich sein Blick für ganze Minuten im kraftlosen, noch immer lieblichen Gesicht Evas. Er bestaunte in Sorge, wie sich ihre Augen hinter geschlossenen Lidern bewegten. Der Schweiß, den die Anstrengungen auf ihre Stirn getrieben hatten, glitzerte im Licht einer einzig noch verbliebenen, fast erloschenen Kerze. Ohne ihre Rüstung wirkte sie beinahe wie ein Kind – hilflos und zerbrechlich; von den meisten Spuren der Schlacht befreit, wie die schlafende Schönheit aus den vielen klassischen Märchen, von denen sie womöglich kein einziges kannte. Peters Schuldgefühle waren auch nach der Unterredung mit Miraaj und Neil nicht abgeebbt. Er war – dank der Gabe Momos – dem sicheren Tod entkommen; hatte somit zugleich aber auch die Freikarte für die Rettung der tapferen Frau verbraucht, die, obwohl sie jünger war, schon längst zehnmal so viel erlebt hatte, wie er. Peter bewunderte ihren Großmut, ihre Tapferkeit und ihre Stärke und schwor sich, in Zukunft von ihr und ihren Freunden zu lernen. Tatsächlich war er gar dazu bereit, alles zu tun, wonach ihm je der Sinn stand, wenn sie die Nacht nur überstehen würde. Der bullige Lester war nicht minder besorgt um die junge Frau, die er stets wie seine eigene Tochter behütet hatte. Er konnte sich dem Schlaf jedoch nicht so lange entziehen, wie Peter. Der Franzose schrieb es dem Alter und den Blessuren des stolzen Kriegers zu. Vorwürfe machte er ihm aber keine. In gewisser Weise zog er es sogar vor, als einziger Wache zu halten. „Oh ...“ Herz hatte nicht damit gerechnet, noch jemanden wach in der Krypta vorzufinden. Sie bemühte sich, die Ruhe nicht zu stören. „Ich dachte, ihr schlaft mittlerweile alle“, flüsterte sie, während sie sich leichtfüßig bis auf wenige Zentimeter dem Jungen annäherte. „Ich bin nicht müde“, log der Franzose. Peter störte sich nicht an der Präsenz der Elfe, die wieder zum größten Teil in pechschwarze Seide gehüllte war, und ihren auffälligen Schopf unter ihrem Barett verborgen hatte. „Und warum bist du so spät noch unterwegs?“ „Tja“ Herz rang nach einer passenden Antwort. „Schätze, ich schlafe generell nicht viel.“ Die Waldelfe ließ ihren Blick durch die Halle wandern. Das spärliche Licht erhellte nur noch den kleinen Teil rund um den Altar. „Ist das so?“, fragte Peter ungläubig. „Um ehrlich zu sein, hab ich ein bisschen Angst vor Albträumen.“ Unaufgefordert und doch wie auf Wunsch tauschte Herz die versterbende, weiße Kerze auf dem Gestein nahe Evas Bett aus und entzündete noch eine weitere, die sie zunächst in der Hand behielt, um sich einen Überblick über die Neuankömmlinge zu verschaffen, die in der Krypta schlummerten. Das mehr als nur Neugier sie dabei antrieb, ahnte ihre neue Bekanntschaft noch nicht. „Es ist hier unten immer besser, ein paar dabei zu haben“, flüsterte sie. „Glaub ich dir aufs Wort.“ „Die Gewölbe sind wirklich gigantisch“, erklärte Herz noch immer leise flüsternd. „Wir leben hier nur in einem sehr kleinen Teil davon. Dem Teil, der außerhalb der nordöstlichen Stadtgrenzen liegt. Dabei haben die Erwachsenen wie Nuga, Prior oder auch Miraaj ihre Unterkünfte nahe des Walls, um uns zu beschützen, falls doch mal irgendwas passieren sollte.“ „Ist also noch nicht vorgekommen?“ „Nein. Miraaj hat den unterirdischen Zugang zur Stadt einreißen lassen und ihn obendrein noch verzaubert. Ihre Zauber scheinen stärker zu sein, als die der Hohepriesterinnen, die damals in Ballymena gelebt haben. Merkwürdig, oder?“ Herz verwunderte dieser Umstand weit mehr, als Peter, der sich unter Magie nach wie vor kaum etwas Fassbares vorstellen konnte. „Keine Ahnung, ist es das?“ „Sind das da die beiden Elfen, die mit euch hergekommen sind?“ Herz wechselte rasch das Thema, als sie entdeckte, wonach sie gesucht hatte. „Lily und Jin, ja“, bestätigte Peter. „Wieso?“ Herz ging nicht auf die Frage des Menschen ein. „Ein süßes Pärchen“, gluckste Herz entzückt. Dieser makabre Scherz vermochte sogar, Peter einen Augenblick lang von Eva loszueisen, um sich ein Bild zu machen, wovon Herz da eigentlich sprach. Dann erkannte er, wie die Elfe zu jenem gewaltigen Trugschluss hatte kommen können, wenn er den eigenen Augen zunächst auch nicht trauen wollte. Noch immer in der hintersten Ecke der Krypta, lag Lily zusammengekauert in den Armen Jins, ihren Kopf an dessen schmale Brust gelehnt. Sie wirkten in jener Pose auf den ersten Blick wirklich wie ein Liebespaar – auf jeden Fall aber unzertrennlich. Dieser wundersame Anblick brachte Peter zum Lachen, wenn auch in gediegenem Tonfall, als er aber darüber nachzudenken begann, wieso die beiden Elfen in jener untypischen Lage vorzufinden waren, verging es ihm gleich wieder. „Sie sind mehr wie Bruder und Schwester“, erklärte er Herz. „Ja?“ Die Elfe wurde hellhörig. „Und auch nicht gerade die Sorte, die in Harmonie alles zu teilen bereit wären, wenn du verstehst“ Eine Erklärung – so dachte Peter jedenfalls – war er ihr auch noch schuldig. „Sie waren dabei, als in der Stadt die Hölle losbrach; standen in vorderster Front ...“ „Verstehe ...“ Tief berührt wandte sich Herz wieder von dem Duo ab. Ihr Blick fiel auf Eva. „Und sie? Ist sie deine Freundin, oder mehr wie eine Schwester für dich?“ Peter stockte der Atem. So direkt damit konfrontiert, wusste er keine Antwort auf diese Frage, wenngleich es ganz sicher nur eine einzige vernünftige gab: Eva war eine Freundin. Doch als Peter diesen Satz in Gedanken zu formen begann, überfiel ihn plötzlich ein durchaus romantisches Gefühl. Allein sie als Freundin bezeichnen zu können, nach so kurzer Zeit, kam einem regelrechten Freudenfest für sein geschundenes Gemüt gleich. „Eva ist ...“ Er zögerte. „Weißt du, ich kenne sie noch nicht sehr lange. Vielleicht eine Woche.“ „Und doch hältst du hier Wache an ihrer Seite? Dann muss sie einen guten Eindruck bei dir hinterlassen haben.“ Herz' offene Art, sich von der Seele zu sprechen, was immer jener auferlegt war, konnte zugleich so unangenehm wie erfrischend sein. Für Peter war es dieses Mal jedoch ausschließlich ersteres. „Was?“ Der Frosch in Peters Hals war ein ausgewachsenen Monstrum. „Ich ...“ Die Elfe nahm dem perplexen Menschen die Mühen ab, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Ich verstehe schon. Mach dir mal keine Sorgen, sie wird schon wieder auf die Beine, mit all der Unterstützung von ihren Freunden.“ Mit jenen Worten verabschiedete sich Herz grinsend und verschwand vorsichtig in dieselbe Richtung, aus der sie zuvor gekommen war. Zeit sich zu rechtfertigen, fand Peter nicht. So peinlich die Situation auch gewesen sein mochte, so nachdenklich stimmten ihn die Worte der Besucherin. Wenn Liebe fassbar wäre und die Macht hätte, Evas Wunden zu heilen, wäre ihm wirklich nicht Bange um ihr Schicksal. Liebe hatte er reichlich zu geben. ___________________________________________________________ Das ungleiche Duo befand sich noch immer auf Wanderschaft durch die verwinkelten Gewölbe des Untergrunds. Das Erreichen einer Sackgasse bewegte Viola dazu, eine Pause einzulegen. Sie ging in die Knie und lehnte sich entspannt gegen das kühle Gestein. Etwas mysteriöses umgab diese Frau. Aarve konnte nur nicht recht ausmachen, was es war. Schön war sie zweifellos. Älter als gedacht? Definitiv. Doch sprach das nur mehr für sie. Wie erhaben sie sich verhielt – einfach faszinierend. Ihre Bewegungen von ungekannter Grazie, ganz gleich ob im Alltag oder auf dem Schlachtfeld. Wen würde Viola wohl nicht beeindrucken? Von sich selbst hielt Aarve hingegen weit weniger. Er nahm sich für einen sehr einfach gestrickten Menschen. Seine Begeisterung für die schwarze Kämpferin sah er deshalb – ganz nüchtern – in ihrem Äußeren begründet. Es hatte ihn eben erwischt, wie früher schon. Kaum lief dem hochaufgeschossenen Blondschopf ein hübsches Gesicht über den Weg, war er auch schon auf der Pirsch. Nur hatte er sich selten, nein, niemals zuvor selbst dafür verachtet. „Ist das eigentlich dein richtiger Name?“ Viola wusste die verzwickten Gedanken ihres Begleiters gekonnt gegen die Wand zu fahren. „Aarve?“ „Ja“, antwortete er. „Aarve Lori – das ist finnisch.“ Falls dich das interessiert, vergaß er hinzuzufügen. „Finnisch? Das erklärt einiges“, scherzte Viola. „Ach, tut es das?“ Aarve fühlte sich ganz offensichtlich unsanft vor den Kopf gestoßen. „Komm wieder runter!“, versuchte die schwarze Frau ihren Begleiter zu beruhigen. Sag bloß, du hältst mich nicht für eine Mittelafrikanerin, ha ha.“ „Tja, dem Mundwerk nach zu urteilen, kannst du eigentlich nur Ami sein“, sprach er und traf den Nagel damit auf den Kopf. „Na wenn das mal nicht filmreif war?!“ „Hab ich's doch gewusst!“, sonnte sich Aarve im strahlenden Glanz des Sieges. „Trotzdem witzig, wie sehr die fehlende Sprachbarriere alle Grenzen zu verwässern scheint“, philosophierte er noch ein wenig. Egal, wie sehr er auch bei der Frau aneckte, oder sie bei ihm – er genoss das Gespräch und die Zweisamkeit zur Abwechslung. Für ihn war Viola die letzte verbliebene Artgenossin, die noch bei Verstand war. Bis auf Peter, vielleicht – nur konnte er den Franzosen ungefähr so gut riechen, wie dessen Möchtegern-Ritter-Freunde. „Und wie sieht's mit dir aus? Ist Viola dein richtiger Name?“ Berechtigte Zweifel klangen in Aarves Worten mit. „Es ist der Name der Frau, die du vor dir siehst“, kam die Antwort prompt. „Okay“ Es war nicht die, mit der Aarve gerechnet hatte. „Versteh' schon.“ „Als sie mich aus Vyers befreit haben und mich zum ersten Mal nach Tapion brachten, traf ich viele Menschen, die schon sehr lange in Minewood lebten. Von den hier geborenen mal abgesehen, hatten viele von ihnen ihr Leben auf der Erde hinter sich gelassen und irgendwann einen endgültigen Schlussstrich darunter gezogen. Die meisten legten mit diesem Schritt auch ihre alte Identität ab und gaben sich symbolisch einen neuen Namen. Eine Art kleines Ritual, das symbolisch für einen Neuanfang steht“, erklärte Viola. „Ich war eine von diesen Spinnern ...“ „Klingt doch nur vernünftig!“ „Ach, tut es das?“ „Klar!“, begeisterte sich der Finne für die Geschichten Violas. „Mal ehrlich: Die Erde kann mich mal! In vielerlei Hinsicht bin ich auf der falschen Seite des Mondes geboren. Mich zieht jedenfalls nichts zurück in mein altes Leben. Selbst die Zeit in der Festung hat mehr Sinn gemacht, als das kümmerliche Leben dort drüben. Wahre Freiheit ist zu Hause doch nur eine Farce!“ Viola war überrascht, das zu hören. Bis vor kurzem hätte sie womöglich noch genauso dahergeredet, doch keimten mittlerweile immer größere Zweifel in ihr auf, ob sie sich nicht selbst belog. Sich in dem Glauben zu lassen, einem Herzenswunsch gefolgt zu sein, machte es ihr stets einfacher, mit der Situation umzugehen. Das war es immerhin, was ihr die Stimmen geraten hatten. ... ... ... ... ... ... San Francisco. Vier Jahre früher (Erd-Zeit) Debrah drehte das kalte Wasser auf und wusch zunächst ihre Hände, in der Hoffnung, die Eiseskälte würde ausreichen, ihr die schlimmen Gedanken auszutreiben. Sie tat es nicht. Als nächstes fing sie, so gut es ging, das kühle Nass mit den Handflächen auf und rieb sich über Stirn, Wangen und Hals, doch alles wurde nur noch schlimmer. Als sich Debbie im Spiegel langsam in ihrem eigenen Blick verlor, begann die Realität um sie herum sich langsam aufzulösen. Nach und nach fielen in dem gekachelten langen Korridor die Lichter aus, bis nur noch eine einzige funktionierende Lampe, direkt über ihrem Kopf, den Platz um sie herum erhellte. Debbie konnte kaum glauben, was sie sah. Das merkwürdige Schauspiel hatte etwas Beängstigendes an sich. Viel mehr jedoch, als die Geschehnisse um sie herum, fürchtete die junge Frau, ihren Verstand zu verlieren. Als sie ihre Hände wieder senkte, nahm die Illusion weiter ihren Lauf. Sie blickte nun nicht mehr in das Gesicht der Frau, die vor wenigen Augenblicken das Bad betreten hatte, nein, vor ihr Stand in ganzer Pracht die Debrah Lillard, die gerade das College geschmissen hatte, um ihrem Traum nachzugehen. Voller Selbstbewusstsein in den funkelnden Augen. Makellos in jeder Hinsicht: jünger, besser und weniger ... Mutter. Wie viel Zeit in diesem Zustand des bloßen Starrens verging, vermochte Debbie nicht zu sagen, als ihr Alter Ego schließlich zu sprechen begann. „Wo schaust du hin?“ Kein Wort drang aus der Kehle der älteren Debbie. „Warum so verwundert? Du siehst nichts, was du nicht schon einmal gesehen hättest! Du blickst in deine eigenen Augen Debbie, auf den eigenen Körper, das eigene Gesicht!“ „Was?“, hauchte die ungläubige Frau. „Oder schaust vielleicht gar nicht du in den Spiegel, sondern ich?“ Die falsche Debbie spielte unaufhaltsam weiter ihr Spiel. „Ein Mensch, der sich danach sehnte zu wissen, was die Zukunft für ihn bereit hielt. Nun sehe ich es. Klar und deutlich. Und ich schäme mich dafür ...“ „W-warum tust du das?“, Debrahs Stimme klang heiser. „Du hattest ein Ziel, Debbie! Eine klare Vorstellung davon, wie dein Leben verlaufen sollte, doch du hast auf ganzer Linie versagt! Ich werde versagen ...“ „Du konntest nichts dafür!“, rechtfertigte Debbie die Handlungen einer Frau, die diese noch gar nicht getätigt hatte. „Du bist an den falschen Mann geraten. Er hat dich sitzen gelassen! Er hat deinen Traum zerstört!“ „Ist das so?“ „Ja!“ Die echte Debrah weinte bitterlich. Nicht um ihren Ex, den sie tatsächlich verachtete. Sie weinte, weil sie in Gedanken schon längst realisiert hatte, was sie als nächstes sagen würde. „Er und die Kinder haben dein Leben ruiniert. Sie haben dir alles genommen! Deine Kraft und deine Träume.“ „Wie schrecklich Debbie.“ Die heuchlerische Frau im Spiegel war dem Sieg nahe. „Sag: Kannst du mir helfen, meine Zukunft – deine Gegenwart – zu verändern?“ Debrah konnte sich vor Schmerz kaum mehr auf den Beinen halten. Sie wollte nicht glauben, was sie dem Mädchen im Spiegel gerade anvertraut hatte, und doch fühlte sie, tief in ihrem Innersten, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Dann fragte sie: „Wie?“ „Siehst du die Türe zu deiner Linken?“ Natürlich tat sie das. „Ja ...“ „Die Tür zurück in deine Gegenwart, der einfache Weg, den du schon viel zu oft beschritten hast.“ Die falsche Debbie zeigte daraufhin mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung. „Siehst du auch die Tür dort drüben?“ Eines der zuvor erloschenen Lichter ganz am Ende des Bades sprang wieder an. Eine Tür war jedoch nicht zu erkennen, nur ein pechschwarzes Nichts inmitten perlweißer Fliesen. „Dieser Weg führt dich in ein neues Leben, frei von den Fesseln der Verantwortung!“ Debrah war längst zu sehr damit beschäftigt, sich für ihre furchtbaren Worte zu hassen, als dass sie noch die Kraft hätte aufbringen können, dem Mädchen im Spiegel zu widersprechen. Schritt für Schritt wagte sie sich in Richtung des Portals vor. „Es tut mir so leid ...“ „Sei nicht traurig, mein Kind. Du beschreitest ein ganz neues Leben. Niemand in dieser Welt wird nach dir suchen, dich vermissen oder dir eine Träne nachweinen. So wirst du endlich wieder frei sein.“ Mit dem Wunsch irgendwann einmal aufrichtig an jene Worte glauben zu können, trat Debrah Lillard schließlich in das pechschwarze Portal ein. Ein letztes Mal noch wandte sie sich an ihr altes Leben, ohne zu erahnen, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. „Auf Wiedersehen Marie. Michael ...“ ... ... ... ... ... ... Viola hatte den Worten ihres trügerischen Abbildes, die sie in jener Nacht zu dem folgenschweren Schritt durch das Portal bewegten, fortan nie mehr große Bedeutung geschenkt. Nur in den ersten Nächten in der Festung sehnte sie sich nach der Heimat. Doch war es auch während der Gefangenschaft, dass sie sich eingestehen musste, tatsächlich einem Wunsch gefolgt zu sein. Dem Wunsch, ihr altes Leben hinter sich lassen zu können. Einem Leben, dem sie nie wirklich gewachsen war. Es waren die Gesichter ihrer Kinder, die sie noch lange verfolgen sollten. Ewig, wie ihr nun mehr und mehr dünkte. Am Ende standen ihre unsäglichen Äußerungen, die sie ihr Leben lang nicht würde vergessen können. Nicht als Debrah Lillard und auch nicht als Viola. Neu war lediglich die Erkenntnis, betrogen worden zu sein. Was auch immer sie gefühlt oder gedacht hatte, so hatten die Dunkelelfen doch nicht das Recht, mit ihrer hinterhältigen Magie Ereignisse in Gang zu setzen, die die Waage ihrer Gefühle in eine bestimmte Richtung ausschlagen ließen. Es war damals nicht mehr allein ihre Entscheidung gewesen und somit auch keine wirklich ehrliche. Ihrem Hass gegen die Dunkelelfen hatte sie in den sechzehn Jahren in Minewood bei jeder sich bietenden Gelegenheit Ausdruck verliehen. Wann immer Rettungsaktionen geplant worden waren, war sie die erste Volontärin – wie immer die Chancen auch standen. Nur alle anderen Gefühle wusste sie die meiste Zeit über zu verdrängen. Von Debrah Lillard hatte sie sich schon vor vielen Jahren ein für alle Mal verabschiedet. Die Erkenntnis, dass dies doch nur eine Trennung auf Zeit gewesen war, nahm Viola allen Mut. „Weißt du eigentlich, was es mit dem Portal auf sich hat, Aarve?“, begann sie nachdenklich zu erzählen. „Was genau meinst du?“, fragte der Finne. „Ich meine, was tatsächlich dahinter steckt. Davon hat dir in Vyers bestimmt noch niemand erzählt, oder?“ „Die haben mir gar nichts erzählt.“ „Hätte mich auch gewundert.“ Viola sah ihrem Begleiter nicht ein einziges Mal in die Augen, während sie mit ihm sprach. Sie hatte stets ein wachsames Auge auf die Umgebung und dabei keinen Blick übrig für Aarve. „Die Geschichten der Menschen ähneln sich sehr. Die, die auf die andere Seite übergetreten sind, ereilte ihr Schicksal stets in Momenten der Verzweiflung. Viele haben sich so stark nach Veränderung gesehnt, dass das unwirkliche Portal ihnen wie das Erhören ihrer Gebete erschienen sein muss. Einige wünschten sich sogar den Tod herbei und meinten, in der unendlich scheinenden Leere dieses Etwas die Nachwelt gefunden zu haben, auf eine romantischere Art und Weise, als den Freitod; du verstehst?“ „Schon, nur worauf willst du hinaus?“ Aarve wirkte nach Violas Ausführungen merklich angespannt. Die Erzählungen der meisten ähnelten zweifellos seiner eigenen Vergangenheit. „Willst du meine Geschichte hören? Läuft es darauf hinaus?“ „Keine Sorge, ich will dir nichts entlocken“, beruhigte ihn die in braunes Leder gehüllte Assassine. „Für die meisten ist es also ganz so, wie du gesagt hast: Minewood ist immer noch besser als die Erde.“ Einen Moment lang schwieg Viola. Dann fügte sie hinzu: „Doch wie schwer wiegt unsere eigene Schuld wirklich? Wie sehr wog unser eigener Einfluss der Entscheidung wohl bei – wie sehr der fremde?“ „Dazu fällt mir auch nichts ein“, wich Aarve den höchst philosophischen Fragen seiner Begleiterin aus. „Ich stehe jedenfalls zu dem, was ich gesagt habe.“ Viola musste lachen. Vielleicht wollte Aarve sie nicht verstehen, vielleicht war er aber auch einfach noch nicht lange genug in jener Welt gefangen, sodass er immer noch glauben konnte, er wäre freiwillig hier. Sie entschloss sich letztlich, es darauf beruhen zu lassen. Für jetzt. „Danke“, sagte sie, noch immer mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. „Du bedankst dich? Wofür?“ „Einfach dafür, dass du mir zugehört hast“, erklärte Viola dem verblüfften jungen Mann. „Das habe ich ... vermisst.“ Das sonst so blasse Gesicht des Finnen bekam plötzlich sichtbar Farbe, wofür sich Aarve in seiner Überraschung nicht mal schämte. Die netten Worte Violas trafen ihn so unvorbereitet, dass er zunächst keinen klaren Gedanken fassen konnte – so lange schon war es her, dass ihm Ähnliches widerfahren war. Vier Jahre in Minewood ... mehr noch auf der Erde. ___________________________________________________________ Sie alle schliefen mittlerweile. Dafür hatte Miraaj gesorgt. Auch Peter, den es tatsächlich wach gehalten hatte, schenkte sie schließlich den wohlverdienten Schlummer. Es war bewundernswert, wie sehr er sich für diese Menschen aufopferte, wo er sie doch kaum kannte. Die Augen der Dunkelelfe waren auf Eva gerichtet. Miraaj wusste nicht viel über sie, obschon sie in wenigen Sekunden alles hätte in Erfahrung bringen können, was ihr beliebte. Die Verlockung war durchaus existent, doch entschied sich die Magierin zunächst gegen jenes Prozedere. In dem Zustand, in dem sich das Mädchen befand, wäre es sogar noch falscher gewesen, als ohnehin. Was Miraaj schon bekannt war, sollte zudem ausreichen, eine Entscheidung treffen zu können. Eva war sein Grund, weiter zu machen. Peter begriff das selbst vielleicht noch gar nicht, doch seit seiner ersten Begegnung mit ihr, zog ihn die Faszination hin zu dem Mädchen. Ob es vielleicht Liebe war, oder nicht, spielte dabei gar keine Rolle. Sie war der rote Faden, dem er durch die Wirren jener fremden Welt willig gefolgt war, die Antwort auf seine Fragen, in gewisser Weise. Mehr sogar, als Miraaj selbst es hätte sein können. Und so hatte sie es längst beschlossen, ganz für sich allein. Miraaj war hier, um dem Schicksal vorzugreifen, und sie war sich durchaus darüber im Klaren, welche Konsequenzen dies nach sich ziehen würde. Welches Risiko es aber auch immer mit sich brachte, sie war nur allzu bereit, es einzugehen. Mutter ------ ] Kapitel 17 – Mutter Das Duell schien längst verloren, alle Hoffnung begraben. Die Müdigkeit obsiegte nach einer unerbittlichen Schlacht über den Kampfeswillen. Wie lange hielt sie nun schon aus? Einen Tag? Eine Woche? Ein Leben lang? Womöglich kam der Feind ihr deswegen so bekannt vor. In der Dunkelheit dieser unwirklichen Welt war es schwer, einen vielsagenden Blick auf den Kontrahenten zu erhaschen, und doch meinte das Mädchen, einen alten Bekannten wiedererkannt zu haben. Ein mächtiger Ritter in Schwarz; das Gesicht unter seinem Angst einflößenden Helm versteckt. Eva konnte ihre Abwehr nicht länger aufrechterhalten. Jeder Hieb, der auf ihr Schild prallte, schwächte sie mehr und mehr. Bald schon konnte sie kaum noch die Kraft aufbringen, ihre eigene Waffe zu erheben. Wurde sie jünger, jünger mit jedem Schlag? Was war es nur, was ihr Feind zu erreichen gedachte? Längst schon hätte er sie niederstrecken können; und just in dem Moment, in dem Eva über ihr scheinbar besiegeltes Schicksal nachzudenken begann, näherte sich der Ritter mit erhobener Klinge. Erst jetzt erkannte Eva die Kriegsrüstung ihrer Mutter, die ihr seit früher Kindheit Furcht einflößte. Doch schien niemand sie zu tragen. Da war nur die Rüstung, nur der dunkle Stahl. ... ... ... ... ... ... Ballybofey, Waldrand. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Weder hätte sich Eva auf das einstellen können, was ihr bevorstand, noch in irgendeiner Form damit rechnen. Nachrichten wie diese konnte man letzten Endes nicht nach einem bestimmten Muster verarbeiten. Jeder Mensch – zu jeder Zeit – würde auf seine ganz eigene Weise damit umgehen müssen. Ein ungutes Gefühl hatte sie schon beschlichen, als Lester ganz allein das kleine Dorf am Rande des Elfenwaldes betrat. Eva konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals vor ihrer Mutter zurückkehren gesehen zu haben. Zwar hätte es viele Gründe dafür geben können, doch war es nicht Evas Art, sich Hoffnungen zu machen. So hatte sie schlussendlich alles geschehen, alles auf sich zu kommen lassen. Als der Riese Lester sich mit seelenlosem Blick genähert hatte und ungewohnt großen Abstand zu ihr hielt, konnte sie schon so gut wie sicher erahnen, was geschehen war. Daran glauben, wollte sie jedoch zumindest so lange nicht, bis Lester es ausgesprochen hatte. Das war schließlich seine Pflicht, und er sollte sie auch erfüllen. Er sah mitgenommen aus, traurig. Verletzt, war er nicht. „Eva ... deine Mutter ...“ Die Worte quälten sich aus der trockenen Kehle des Ritters. „Sag es schon, Onkel Lester!“ forderte das Mädchen zornig. Schockiert sah der alte Mann zu seinem geliebten Patenkind herab. Ahnte sie denn wirklich, was geschehen war? Er stützte sich auf seinem linken Knie ab, um der Kleinen in die Augen zu sehen, doch sie wich seinen Blicken aus. „Wir haben viele Stunden länger gewartet, als verabredet war, doch sie kamen beide nicht zurück.“ Evas Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Trauer konnte Lester zunächst nicht erkennen. Das Mädchen war eben viel zu gerissen, nicht sofort das Schlimmste vermutet zu haben, als er sich schleppend von der Küste zum Dorf bewegte; das musste nun auch der Hüne erkennen. „Also seid ihr einfach aufgebrochen?“, fragte Eva vorwurfsvoll. „Nein!“ Lester versuchte gestenreich zu erklären, was wirklich vorgefallen war. „Wir schickten Loren zur Aufklärung in die Festung. Als er zurückkam, konnte er uns leider nur versichern, was wir alle befürchteten: Daimia und deine Mutter ... sie beide haben es nicht geschafft ...“ „Verstehe ...“ Noch immer verschwendete Eva keinen Blick an Lester. Schwer atmend, voller Wut im Bauch – Wut auch auf ihren Gönner Lester – starrte sie Löcher in den Erdboden. „Es tut mir so leid, Eva. Das hätte niemals passieren dürfen. Wir hätten sie niemals ...“ „Es ist aber trotzdem geschehen“ fiel das junge Mädchen ihrem Gegenüber emotionslos ins Wort. „Wo sind die anderen?“ „Wen ... wen meinst du?“ „Die anderen vier. Leben sie noch?“ Ob es wirkliches Interesse am Schicksal der Kameraden war, oder nur ein Versuch, sich in jener schweren Stunde irgendwie von dem eigentlichen Desaster abzulenken, konnte Lester nur erahnen. Er antwortete ehrlich: „Loren wurde entdeckt, er schaffte es nur schwer verletzt zurück zum Schiff. Er starb in meinen Armen ...“ „Hmpf ...“ Eva wendete sich der kleinen Hütte zu, die sie und ihre Mutter bewohnten, wann immer sie in Ballybofey waren. „Ihr hättet sofort umkehren sollen!“ warf sie dem trauernden Krieger vor. Es waren die letzten Worte, die sie an jenem frühen Morgen an ihn richten sollte. Sie machte kehrt; wollte allein sein. Lester folgte ihr nicht ins Haus, auch wenn er das Verlangen danach hatte. ... ... ... ... ... ... Evas Sicht war verzerrt und verblichen. Ihre Augen reagierten hochempfindlich auf das Kerzenlicht, doch ebbte die unangenehme Wahrnehmungsstörung mit jedem Blinzeln ein bisschen ab. Sie gewöhnte sich schnell an die Eindrücke um sie herum, konnte die merkwürdige Umgebung aber zunächst nicht einordnen. Alles kam ihr fremd vor. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Als sie sich aufrichten wollte und dabei mit der linken Hand einer ihr wiederum durchaus bekannten Person unabsichtlich einen Schlag verpasste, schwenkte ihr Blick auf das trotz allem tief und fest schlafende Opfer ihrer Attacke. Ganz in ihrer Nähe entdeckte sie Peter. Im ersten Moment rührte sie der Anblick des Jungen, den Kopf in den verschränkten Armen vergraben. Sekunden später ertappte sie sich dabei, ihm liebevoll über die Wange streichen zu wollen, gerade noch rechtzeitig, um jene unangebrachte Zärtlichkeit zu verhindern. Sie kannte ihn doch kaum ... Es verging aber kaum Zeit, bis sie über die eigenen, übertriebenen Bedenken schmunzeln konnte. Ob sie ihn mit einer sanften Berührung wohl aufgeweckt hätte? Ein plumper Schlag hatte jedenfalls nicht ausgereicht. Nun ließ Eva ihren Blick in der Krypta kreisen. Sie beobachtete ihre schlafenden Kameraden und schielte neugierig in jede noch so versteckt gelegene Ecke. Es tat gut zu sehen, dass ihre Freunde wohlauf waren: Lester, der ab und an ein basslastiges Schnarchen von sich gab; Lily und Jin, die dicht beieinander ganz ihren Träumen ergeben waren; Viola, die Eva im Schatten eines Torbogens ausmachte; Aarve, der ihr gegenüber einen Platz zum Ruhen gefunden hatte; und natürlich Peter, dem das Privileg zuteil wurde, als allererstes von Eva in Augenschein genommen worden zu sein, wenngleich die Führerin der kleinen Gruppe jenen Zufall als ein solches niemals angesehen hätte. „Also habt ihr die bösen Träume doch noch besiegt.“ Überrascht neigte Eva den Kopf in Richtung des Korridors, aus dem die mysteriöse Stimme an ihr Ohr gedrungen war. Bald schon schritt ein großer, schlanker Dunkelelf in schwarzer Robe aus dem Dunkel. Hatte er bloß gut geraten, oder wusste er wirklich über ihre Träume Bescheid? „Wer seid ihr?“ „Mein Name ist Prior“, antwortete der Elf, ohne dabei eine Miene zu verziehen. „Ich war in den vergangenen Stunden damit beauftragt, ihre Wunden zu behandeln.“ „Dann gilt ihnen mein Dank, Prior.“ Sie log nicht, was das anging, hatte jedoch Schwierigkeiten, dem ihr völlig fremden Dunkelelf zu vertrauen. „Sie schmeicheln mir vielleicht zu unrecht“, erzählte er und schwieg dann einen Augenblick, so als würde er Eva zum Nachdenken anregen wollen. „Meine Fertigkeiten als Heiler und alle Mittel, die mir zur Verfügung stehen, reichen natürlich nur in fassbare Weiten.“ „Das heißt?“ Prior lächelte und sagte: „Um eine so schwere Schlacht zu überstehen, bedarf es eines unbändigen Willens. Der wahre Dank gilt ihrer Seele und natürlich ihren Kameraden, die ihnen die ganze Zeit über auf dem Schlachtfeld Beistand geleistet haben. Sie wollten zu keiner Zeit von ihrer Seite weichen.“ Priors Worte rührten Eva zutiefst. Es war schön, all das zu hören. Wunderschön. „Ich würde sie lieber schlafen lassen“, erklärte Eva flüsternd. „Sie haben sich die Ruhe mehr als verdient.“ „Oh, sie werden noch eine Weile schlafen, keine Sorge“, versicherte ihr der Heiler, ohne dabei in irgendeiner Form auf seine Lautstärke zu achten. Er wusste sehr gut, dass diese Ruhe in vielerlei Hinsicht verordnet war. „Wo sind wir hier eigentlich?“ fragte Eva unsicher, aber schon lächelnd. „Ich bin mir sicher, dass ihnen sehr viele Fragen auf dem Herzen liegen. Ich denke, es ist nun an der Zeit, dass sie unsere Anführerin kennenlernen. Miraaj wird ihnen all ihre Fragen weit besser beantworten können, als ich.“ „Miraaj?“ hauchte Eva ungläubig. „Ja. Fühlen sie sich dazu in der Lage, sie in meiner Begleitung aufzusuchen?“ fragte Prior zuvorkommend. „Es ist schon ein kleiner Weg, bis zu ihren Gemächern.“ Zum ersten Mal, seitdem sie aufgewacht war, tastete Eva ihren Körper nach Wunden ab, von denen sie sicher war, sie im Kampf erlitten gehabt zu haben. Sie fühlte nichts. Da war kein Schmerz mehr; auch Narben konnte sie keine ausmachen, zumindest nicht auf den ersten, flüchtigen Blick im Kerzenschein. Ungläubig wandte sie sich dem Dunkelelf zu. Sie war gewillt, ihrem Retter zu vertrauen und antwortete schließlich: „J-ja, das schaffe ich.“ ___________________________________________________________ „Ich kann nicht glauben, dass ihr das getan habt!“ Neil spuckte Feuer in Richtung der erschöpften Dunkelelfe, die alle Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. „Welchen Zweck habt ihr dabei verfolgt?“ „Ich ...“ Ein schwerer Hustenanfall unterbrach das heisere Stimmchen. Miraaj klammerte sich am Rande eines ihrer Bücherregale fest, um nicht zusammenzubrechen. Sie zitterte wie Espenlaub. „Mir ist gerade wirklich nicht nach streiten, alter Freund ...“ In ihrem stark geschwächten Zustand war die sonst so faszinierend anmutende Magierin nur ein Schatten ihrer selbst. Neil sorgte sich um sie – das tat er wirklich-, nur überwog sein Unverständnis über ihre Taten, die sie letzten Endes erst in diese prekäre Situation brachten. Miraaj war selbst Schuld an ihrem Leiden. Sie hatte dieses Opfer willentlich gebracht. Gedankenlos, wie Neil meinte. „Damit könnte alles aus den Fugen geraten“, schob Neil einmal mehr die große Sache vor, wenngleich ihm trivialere Dinge zurzeit mehr Kopfzerbrechen bereiteten. Miraaj, die mittlerweile auf ihrem Bett Platz genommen hatte und sich in einige weiche Kissen lehnte, neigte ihren Kopf lächelnd in Richtung des kleinen Mannes. Seine Besorgnis war ihr nicht entgangen. „Noch lebe ich, Neil.“ „Ja, ja ... noch“, murmelte er in seinen feuerroten Bart. „Denkst du wirklich, ich würde euch hier alleine zurücklassen.“ Ab und an konnte sie ein Husten nicht unterdrücken, doch besserte sich ihr Zustand von Minute zu Minute. „Ich treffe meine Entscheidungen niemals leichtfertig.“ „Das dachte ich auch immer“, entgegnete Neil seiner Anführerin zynisch. „Wenn es der Junge gewesen wäre – nun gut-, aber das Überleben dieses Mädchens bringt uns nicht weiter voran. Ihr habt so viel Kraft aufgebracht, um sie zu retten. Wieso das alles?“ „Oh Neil ...“ Die mächtige Dunkelelfe richtete ihren Blick gen Decke. Es schien, als könne sie in der Ferne Dinge sehen, die sich ihrem alten Freund verschlossen. „Du musst noch an deiner Menschlichkeit arbeiten!“ „Hmpf ...“ Neil rümpfte die Nase. „Ich dachte immer, die Angewohnheit der Menschen Entscheidungen von ihren Emotionen abhängig zu machen, wäre ihre größte Schwäche!?“ „Und doch tun sie genau das mit Vorliebe.“ „Ihr seid aber kein Mensch!“ schnaubte Neil nach diesen Sentimentalitäten der Frau, der er nach wie vor Naivität vorwarf. „Peter ist einer“, antwortete Miraaj knapp. „Durch und durch.“ Gerissen, wie er war, verstand Neil schnell, worauf sie damit hinaus wollte. Wer weiß, ob es reine Spekulationen waren, der sich die Dunkelelfe dabei hingab. Es machte so oder so wenig Sinn, weiter mit ihr zu diskutieren. Ihre Entscheidung hatte sie längst getroffen gehabt und schließlich auch Taten folgen lassen. Wenn sie nun meinte, es für den Jungen getan zu haben, schön und gut. „Sie wird wohl schon auf dem Weg hier her sein, oder?“ vermutete Neil völlig richtig. „Wahrscheinlich.“ „Und was von alledem gedenkt ihr, dem Mädchen anzuvertrauen?“ „So viel wie nötig, Neil, so viel wie nötig ...“ ___________________________________________________________ Mühselig begannen die Lider der jungen Elfe sich nach langer und erholsamer Ruhepause zu öffnen. Geräusche, die sich in ihrem Unterbewusstsein schon Minuten lang mit den Traumwelten des Halbschlafs vermischt hatten, drangen nun immer differenzierter zu ihr hindurch. Das rege Treiben in der Krypta verriet die fortgeschrittene Tageszeit. Als ihr Blick klarer wurde, sah Lily eine ganze Schar eifriger Zweibeiner – bekannte und unbekannte – Arbeiten verrichten. Lester hatte seine Plattenrüstung abgelegt und war damit beschäftigt, schweres Gepäck in den Raum zu tragen. Auch Viola und Aarve widmeten sich mehr oder minder schweißtreibenden Beschäftigungen, warum auch immer. „Schaut mal, wer wieder unter den Lebenden weill!“, bemerkte der über das ganze Gesicht strahlende Lester als erster das Erwachen der Waldelfe. „Ausgeschlafen?“, konnte sich Viola im Vorbeigehen eine Spitze nicht verkneifen. Die Laune Lilys drohte, einen neuerlichen Tiefpunkt zu erreichen, da es scheinbar niemand für nötig gehalten hatte, sie aufzuwecken. Wenngleich sie wohl die Jüngste in der Gruppe war, hasste sie es, sich ständig wie ein Kind bevormundet zu fühlen. Sogar Jin war schon wieder auf den Beinen, seit geraumer Zeit, wie es schien. Den vorwurfsvollen Blick seiner Artgenossin konterte er zu deren Verwunderung mit Schamesröte. Nach diesem merkwürdigen Zusammenstoß fiel Lilys Aufmerksamkeit eher zufällig auf den steinernen, rundlichen Altar, der mittlerweile völlig verwaist war. In all dem Trouble um sie herum, hatte sie Eva zunächst völlig ausgeblendet. Auch die anderen schienen sich keinerlei Gedanken mehr um ihre Anführerin zu machen. Obwohl abwegig, vermutete Lily umgehend das Schlimmste. „Onkel Lester, wo ist ...“, wandte sie sich fragend an ihren Bekannten. „Eva geht es gut, Kleines. Brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen“, beruhigte der Riese die Waldelfe. „Das haben wir unserem Wunderheiler zu verdanken“, fügte er hinzu und neigte dabei den Kopf in Priors Richtung. Der Dunkelelf wies die Lobpreisungen von sich: „Wunder liegen weit außerhalb meiner Fähigkeiten. Ist der Lebenswille stark, vermag er Berge zu versetzen.“ Ja: Stark war Eva; stärker sogar, als Lily es je gedacht hätte. Doch würde die Elfe einiges darum geben, dies nie aus nächster Nähe erfahren haben zu müssen. Hätte sie die Entscheidungen treffen können, die Eva in der Stadt hatte treffen müssen? Sie war schon so viel reifer, so viel erfahrener als Lily. „U-und Peter?“, fragte sie verunsichert. Er war nirgends zu sehen. Gedanken an den Schock, den sie erlitten hatte, als Peter ihr – zum Glück als erste – den Namen des Einhorns anvertraute, kamen auf. Sie fragte sich, was noch alles geschehen war, seit sie das Bewusstsein verlor; der Laune ihrer Gefährten nach zu urteilen, wohl nichts Schlimmeres. „Der lenkt sich draußen ab“, tönte Aarve gewohnt unfreundlich, aber doch hilfreicher, als Lily es von dem jungen Mann erwartet hätte. „Wo?“, wandte sie sich heiser an einen weiteren Dunkelelf, der sich ganz in ihrer Nähe aufhielt, in der Hoffnung, er könne ihr den Weg weisen. „Er ist zu den Ställen gegangen. Wollte nach dem Einhorn sehen“, erklärte der Fremde mit tiefer Stimme. „Du folgst dem Tunnel an die Oberfläche, kann man nicht verfehlen.“ „Pass aber auf!“, mahnte ausgerechnet Viola die Waldelfe. „Ballymena liegt unweit von hier ...“ „Als ob ich jemals wieder dorthin zurückkehren würde!“, fauchte Lily, bevor sie sich mit raschem Flügelschlag auf den Weg machte. „Ich spüre diese seltsamen Schwingungen zwischen euch beiden“, witzelte Aarve, der sich seine Schlagfertigkeit in Violas Beisein nicht mehr verkniff. Die Kriegerin, die ihren Lederanzug ob des feuchtwarmen Klimas in der Krypta abgelegt und nun mehr oder minder in Unterwäsche ihre Ausrüstung pflegte, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Kennst du dich mit Messern aus?“, fragte sie den Blondschopf. „Nun ja“, zögerte er. „Sie sind scharf und spitz und ...“ „Traust du dir zu, diesen Dolch hier zu reinigen und zu schleifen?“, wurden seine neunmalklugen Bemerkungen unterbrochen. Viola kniete über ihrer Rüstung und zog eine der tödlichen Waffen aus ihrem Gürtel. Der Dolch war fast vollständig von geronnenem Blut überzogen. Unbeeindruckt davon, begann die Assassine einige Brocken abzuschaben, mit mäßigem Erfolg. „Ist ganz schön hartnäckig.“ „Das ist ganz schön eklig!“ „Macht dir das etwa was aus?“, fragte Viola ungläubig. In ihrer Stimme wog eine gewisse Nuance von Enttäuschung mit. „Das ist mein Favorit, weißt du?“ „Wäre ich nie drauf gekommen“, gab sich Aarve zynisch. „Und was ist für mich drin, wenn ich diese Sauerei beseitige?“ Viola überreichte dem Finnen die Waffe mitsamt einiger anderer Utensilien, ein weiteres Mal lächelte sie, wissend, wie es auf den schroffen Blondschopf wirkte. „Du kannst dich aus deiner Häftlings-Kutte schälen,“ Aarves Augen drohten einen Moment lang aus den Höhlen zu fallen, „und die hier anziehen.“ Als Viola ihm die frische Kleidung zuwarf, musst er sich auf die Lippen beißen, um sich nicht selbst lauthals auszulachen. „Was? Was hast du?“ „Nichts! Ist schon gut“, versicherte der Finne. „Keine Sorge, das sind nicht meine. Die gehörten einem von Evas Burschen ... werden schon irgendwie passen.“ „Tja, dann ... danke.“ „Nicht vergessen: Die bekomme ich zurück, wenn du den Dolch nicht blitzsauber kriegst! Und beschädige den Griff nicht!“ „Ist angekommen.“ ___________________________________________________________ Die Katakomben waren kaum ausgeleuchtet, zumindest galt das für den Bereich, den Lily zu jener mittäglichen Stunde beschritt. In den engen Korridoren, die, laut Angaben des ein wenig langsam wirkenden Dunkelelfs von vorher, an die Oberfläche führen sollten, war der kessen Waldelfe schon sehr früh die Lust am Fliegen vergangen. Ein brummender Schädel erinnerte sie fortwährend an ihre unsanfte Begegnung mit der steinernen Decke. Ihre Laune hatte dieses Erlebnis natürlich nicht gebessert; und doch gab es Grund für sie, zumindest wieder etwas zufriedener dreinzuschauen, hatte sie doch vor kurzem in nicht allzu großer Entfernung eindringendes Tageslicht ausgemacht. Sicher würde es in Peters Nähe für sie angenehmer sein, als bei den anderen. Gewissermaßen, wusste sie seine ruhige, eher schüchterne Art doch zu schätzen. Er war eben genau der richtige Partner, wenn man zwar allein sein wollte, sich jedoch vor der Einsamkeit fürchtete. Sie war schlussendlich nur auf der Suche nach Ablenkung. Als Lily nur noch wenige Schritte von der Oberfläche entfernt war, vernahm sie höchst suspekte Laute. Zwei flüsternde Stimmen – eine männlich, die andere weiblich-, die sie niemandem mit Sicherheit zuordnen konnte; wenn sie auch sofort vermutete, dass der männliche Part dieses Streitgesprächs Peter inne war. Doch mit wem diskutierte er dort oben? Lily entschloss sich, ihrer Neugier Dienerin zu sein und bewegte sich auf leisen Sohlen, stets in Schatten gehüllt, bis zum Treppenabsatz, der an die Oberfläche führte. Vorsichtig lugte sie über die letzten Stufen hinaus, um einen Blick auf die Geschehnisse zu erhaschen. Sehr schnell fixierten ihre Augen Peter, der nur wenige Meter von seinem Lebensretter Momo entfernt stand. Das Antlitz des Einhorns, das von seiner Magie augenscheinlich rein gar nichts eingebüßt zu haben schien, wusste Lily ein weiteres Mal zu verzaubern, so sehr, dass sie beinahe vergaß, weswegen sie überhaupt hier war. Ein Geistesblitz ließ die Elfe jedoch wieder zu Sinnen kommen. Dann, als sie erneut das Wort ergriff, verriet auch das fremde Mädchen ihren Standort. „Ich hab schon mal eines gesehen, weißt du?“ Sie streichelte Momo über Wange und Hals, stand jedoch hinter dem Hengst, sodass Lily kaum mehr als die Hand der mysteriösen Fremden erkennen konnte. Erstaunt war sie von Peters Reaktion. Er wirkte verschüchtert „Wirklich? Und wo?“ „Er hatte eines“, erzählte das Mädchen, während sie sich auf Peter zu bewegte. Jetzt konnte endlich auch Lily der Stimme ein Bild zuordnen. Sie sah Alicia allerdings zum ersten Mal. „Wo hast du es her?“ Die Trostlosigkeit in der hellen Stimme des brünetten Mädchens hatte etwas Künstliches; als würde sie selbst von oben auf sich herab sehen und ihrem alter Ego dabei jedwede Emotion verbieten. „Ich ... Wir haben ihn vor ein paar Tagen eingefangen.“ „Tatsächlich? Dann bist du jetzt wohl auch ein Held.“ „Ich ...“ Peter hatte ganz offensichtlich schwer mit sich zu kämpfen, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. Auch brachte er es nicht fertig, Alicia in die Augen zu sehen. „Ich hab nicht wirklich viel dazu beigetragen.“ „Hast andere die Arbeit machen lassen, huh?“ „W-was willst du damit sagen?“ „Nichts!“ Lily spürte, wie Alicia immer zorniger wurde. „Das liegt wohl einfach in deiner Natur, große Töne zu spucken, um dich dann heimlich aus der Affäre zu ziehen“, sagte sie wieder völlig emotionslos. „Alicia ...“ „Das hast du nicht vergessen, oder? Was du mir versprochen hast?“ „Es tut mir leid, aber ...“ „Aber?“, entfuhr es dem jungen Mädchen schrill. Ihre Fassade begann zu bröckeln, wenn auch zunächst nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ich konnte doch gar nichts tun! Ich wurde am nächsten Morgen von einem Steinschlag geweckt. In der Festung herrschte auf einmal reines Chaos! Krieg! Und du warst nirgends zu finden. Ich dachte du wärst bei dem Angriff ums Leben gekommen“, erklärte Peter offen und ehrlich. „Na dann musst du dich ja richtig freuen, mich hier zu sehen. So lebendig.“ „Ja, das tue ich. Das tue ich wirklich.“ Eine Weile lang sagten beide gar nichts mehr; gaben keinen Laut von sich. Lilys Herz raste. Sie hatte Angst, entdeckt zu werden und tobte innerlich vor Wut, die sich gegen die arrogante, unfreundliche Göre richtete, von der sie rein gar nichts wusste. „Was hast du in jener Nacht geträumt, Peter?“ „Wie bitte?“, fragte der Franzose verwirrt. „Bist du auf einmal taub? Was du geträumt hast, will ich wissen! Oder erinnerst du dich nicht mehr?“ Peter versuchte sich zu erinnern – krampfhaft sogar-, doch ohne Erfolg. Er wusste nicht, was das zur Sache tun sollte. „Kann mich nicht mehr erinnern“, gab er schließlich demütig zu. „Wie schade. Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut, wovon ich geträumt habe“, sagte Alicia und begann zu erzählen: „Bevor ich in dieser Nacht mit dir gesprochen hatte, bekam ich kein Auge zu, so viel Angst hatte ich. Als du mir dann aber all diese netten Märchen erzählt und mir all diese Versprechungen gemacht hast, da ging es plötzlich. Ja, ich hab dir das tatsächlich alles abgekauft.“ „Aber nichts davon war gelogen!“, setzte sich Peter ein erstes Mal wirklich zur Wehr. „Stimmt ja: Du konntest nichts tun“, rezitierte Alicia Peters Argumente. „Es gibt keinen Unterschied zwischen leeren Versprechungen und Lügen! Wir stehen das zusammen durch!?“, erinnerte sich Alicia hysterisch lachend an die vergangenen Bemerkungen des Jungen, nur um sich kurz darauf wieder in ihr monotones, kaltes Abbild zu verwandeln. „Kennst du das Gefühl, wenn dir ein Traum realer scheint, als die echte Welt?“ Vielleicht ja, vielleicht nein. Peter hielt es für unangebracht und zwecklos, zu antworten. „Du träumst von der Heimat und wachst dann in einer kalten Zelle auf; und das erste, was du siehst, ist ein verdammter Elf!“ Langsam dämmerte Peter, warum Alicia den Einschlag der Geschosse wirklich überlebt hatte: Sie war gar nicht mehr im Turm eingekerkert, als in Vyers der Kampf losbrach. Sie hatte ihre eigene Hölle anderorts durchleben müssen; ganz allein. „Deswegen wollte ich wissen, wovon du in jener Nacht geträumt hast. Es muss ein wirklich schöner Traum gewesen sein, so fest, wie du geschlafen hast. Ja, ich hab dich gesehen. Er meinte, mir das zeigen zu müssen, bevor er mich ...“ Peter war völlig sprachlos. Er war schließlich nicht dumm und konnte sich zusammenreimen. Selbstverständlich ahnte er längst, worauf die Geschichte Alicias hinauslaufen würde. Wahrhaben, wollte er es jedoch nicht. In dem Jungen wuchs erneut der Zorn auf die Dunkelelfen in Vyers, auf Gardif, Uriah und wie sie sich auch immer schimpfen mochten. Wie konnten sie nur derartig mit einem hilflosen Mädchen umspringen? Kannten sie denn gar keine Skrupel? Wie muss sie sich gefühlt haben? Nein, das wollte er nicht wissen, auch wenn er meinte, jedes weitere schmerzliche Detail verdient zu haben. „E-es tut mir leid, Ally.“ Es gab einfach keine besseren, passenderen Worte für das, was Peter empfand. „Natürlich tut es das! Allen tut es leid!“, fauchte Alicia. Sie schien kurz davor, überzuschnappen. Auch wenn Lily alles mit angehört hatte, war sie noch immer bereit, für Peter in die Bresche zu springen, sollte das temperamentvolle Mädchen die Kontrolle verlieren. „Was nützt mir euer widerliches Mitleid? Du hast überhaupt nichts zu fühlen!“ Schritt für Schritt näherte sich das tobende Mädchen dem Menschen, dem in diesem Augenblick all ihre Verachtung galt. „Ally, bitte vergib mir“, flehte Peter noch heiser, doch prallten seine Worte regelrecht von ihr ab. „Dir vergeben? Womit hast du meine Vergebung verdient?“, schrie Alicia hysterisch. „Du bist nicht für jemand anderen hier!“ Sie hämmerte mit ihrer rechten Faust gegen die Brust des Jungen, der erschrocken einen Schritt zurückwich. „Dich haben sie nicht in der Nacht geholt!“ Erneut traf ihn ein Schlag auf die Brust, wenn auch schwächer. „Sie haben dich nicht in einen stinkenden Schuppen gesperrt!“ Nun griff Alicia Peter mit ausgestreckten Armen am Kragen und blickte ihm tief in die Augen. „Du wurdest nicht von ihnen misshandelt wie ich. Dich haben sie nicht berührt wie mich ... dich nicht ...“ Peter hatte mit ansehen müssen, wie ein gebrechlicher, alter Mann vor seinen Augen hingerichtet wurde. Er hatte in Vyers einen barbarischen Kampf kriegerischen Ausmaßes aus nächster Nähe miterlebt und gesehen, wie Freunde sich im Blutrausch gegenseitig meuchelten. Doch nichts von alledem war so schrecklich und markerschütternd, wie der Ausdruck im Gesicht dieses vierzehnjährigen Mädchens, als sie ihm ihr Schicksal offenbarte – nichts davon. Wer weiß, wie dieser Zusammenstoß der beiden ehemaligen Leidensgenossen aus der Festung geendet wäre, hätte Lily sich nicht dummerweise noch dazu entschlossen, einzugreifen. Obwohl sie Alicias letzte Worte sehr wohl vernommen hatte, beschloss sie, Peter zur Seite zu stehen. Sie stieß das Mädchen, dem sie zur Abwechslung körperlich gewachsen war, weg von dem Jungen. Die Attacke traf Alicia völlig unvorbereitet. Sie ging unsanft zu Boden, fasste die Angreiferin jedoch nur für einen kurzen Moment in die Augen. Dann versagte ihr Zorn, und so unterwarf sich auch diese letzte Bastion ihrer mit Mühe aufrecht erhaltenen Fassade vollends dem Schmerz, den Ally so sehr fürchtete. Wie ein Häufchen elend lag sie auf dem Acker, unfähig sich zu bewegen oder noch ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. „Lily!“, fuhr Peter die Elfe wutentbrannt an. „Was soll das?“ Verunsichert suchte sie nach einer passenden Antwort. Ihr Blick schwenkte dabei von einem Menschen zum anderen. Sie bereute längst, das brünette Mädchen so angegangen, sie zusätzlich gedemütigt zu haben, aber dass sie für Peter Partei ergriffen hatte, keineswegs. „So darf sie nicht mit dir reden“, erklärte Lily. „Du hast nichts getan!“ „Lily ...“ Unter normalen Umständen hätte sich Peter ob jener Worte wohl gerührt gezeigt; jedoch sah er sich tatsächlich mitverantwortlich für Alicias Schicksal. „Das ist ja das Problem. Nichts habe ich getan, gar nichts!“ „Das konntest du auch nicht! Du warst genauso Gefangener der Dunkelelfen; wären die Dinge anders gelaufen, wärst du vielleicht gar nicht mehr am Leben“, versuchte Lily, Peter weiter gut zuzusprechen „Sie konnte schließlich auch fliehen. Wenigstens lebt sie noch!“ „Wenigstens das, ja?“, flüsterte Alicia weinerlich, die jedes Wort der Elfe in sich aufgesogen hatte. „Was für ein Glück!“ „Ally, dir wird nie wieder etwas geschehen“, sprach Peter mit neuem Mut in der Stimme. „Das verspreche ...“ „Wage es ja nicht!“ Mit diesen Worten richtete sich die junge Amerikanerin langsam wieder auf. „Wage es nicht, mir noch einmal Versprechungen zu machen!“ Langsam schritt Alicia an den beiden vorbei. Ihr Gesicht lag zum größten Teil unter ihren Haaren verborgen. Peter konnte nicht recht erkennen, ob sie ihn ansah und brachte selbst nur deswegen überhaupt den Mut auf, es zu tun. „Ich wünschte, eure Leute hätten die Stadt in der Nacht angegriffen, während ich schlief. Ich wünschte, ich wäre nie aus meinem Traum erwacht.“ „Alicia ...“ „Sei still!“, fuhr sie dem Franzosen erneut in die Parade, der ein letztes Mal versuchte, zu ihr durchzudringen. „Und bleibt mir vom Leib! Alle beide!“ Die Silhouette des Mädchens verschwand langsam im Schatten des Tunnels, der in die tiefen unterirdischen Gewölbe des Stadtrands führte. Weder Lily noch Peter brachten den Mut auf, ihr zu folgen, und so erfüllten sie Alicia letzten Endes ihren Wunsch. „Sie wird das durchstehen, Peter“, versuchte Lily ihren Freund aufzumuntern, auch wenn sie selbst Schwierigkeiten hatte, daran zu glauben. „Sie ist vierzehn Jahre alt, Lily. Vierzehn! Wie könnte sie das durchstehen?“ „Ich weiß es nicht“, gab die Waldelfe zu. „Aber sie ist ja nicht allein. Die Leute hier unten werden ihr doch beistehen, oder etwa nicht?“ Sie würden es versuchen, so viel war sicher. Miraaj schätzte Peter zudem als genau die richtige Person ein, zu Alicia durchzudringen. Aber was, wenn es ihr nicht gelingen würde? Was, wenn sie sich etwas antun würde? Das würde er sich niemals verzeihen. Peter ging in die Hocke, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick gen Boden gerichtet. „Ich kann das nicht“, offenbarte Peter. „Wovon sprichst du? Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen“, wollte Lily ihn ein Mal mehr ermutigen. „Ich fühl mich aber trotzdem verantwortlich.“ „Weil du naiv bist!“ So etwas ausgerechnet aus ihrem Munde zu hören. „Du verschließt die Augen vor dem Schlechten um dich herum, einzig das Schlechte in dir, willst du sehen. Du hast nichts mit den Greueltaten zu tun, die an diesem Mädchen begangen worden sind.“ Wie weise Lily sein konnte, wenn sie nur wollte. „Sie beschuldigt dich nur, weil du für sie eine schmerzliche Erinnerung an diesen Alptraum bist.“ „Selbst wenn! Es reicht ja schon aus. Ich kann an nichts anderes mehr denken, keinen klaren Gedanken fassen“, erklärte Peter. „Und wer kann schon voraussehen, was uns noch bevorsteht?“ „Wann bist du so ein Feigling geworden?“, zeigte sich Lily enttäuscht von Peters Selbstzweifeln. „Nenn es ruhig Feigheit, wenn du willst, aber stell dir selbst mal die Frage: Würdest du ein zweites Ballymena durchstehen können?“ Als er die Leere in den Augen der kleinen Elfe erkannte, verachtete sich Peter dafür, sie an das Massaker erinnert zu haben. Dabei wusste er gar nicht einzuschätzen, wie sehr Lily mit sich zu kämpfen hatte, um die Bilder jenes Blutbades zu verdrängen. Viele ihrer wohltuenden Worte waren einzig diesem Unterfangen zu verdanken gewesen. „Ich ...“ Lily atmete schwer. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eines durchstehen kann“, gab sie offen zu. „Wenn meine Freunde mir helfen, vielleicht“, fügte sie leise flüsternd hinzu. Peter verstand ihr Anliegen. Vielleicht war er selbst noch nicht dazu in der Lage, just erlebtes zu verarbeiten, aber zumindest war er nicht allein. Lily würde ihm mit Sicherheit beistehen – das wusste er jetzt. Von Eva hoffte er es. Jin, Lester – sie schienen ebenso hilfsbereit wie aufrichtig. Es war das erste Mal, das Peter so tiefgründig über seine neuen Gefährten nachdachte. Auch wenn er noch nicht lange bei ihnen war, kam es ihm vor, als kenne er sie schon seit einer halben Ewigkeit, mochten die Gründe für diese intensive Wahrnehmung auch noch so tragisch sein. Lily eilte plötzlich zum Gepäck der Gruppe, das aufeinander gestapelt im Schatten eines massiven Baumes lag. Sie wühlte sich einige Sekunden durch das Wirrwarr und öffnete schließlich unverblümt die abgenutzten Lederbeutel, die Eva gehörten. „Wonach suchst du?“ Das suspekte Verhalten der zierlichen Elfe wusste Peter abzulenken. „Wieso hast du das Einhorn eigentlich Momo genannt?“, lenkte Lily vom Thema ab, während sie zielstrebig Evas Hab und Gut durchsuchte. „Wieso?“ Peter musste nicht lange überlegen, um diese Frage zu beantworten. Warum seine Gefährtin allerdings ausgerechnet jetzt auf dieses Thema zu sprechen kam, gab ihm Rätsel auf. „Wieso nicht? Ist der Name eines Freundes. Meines besten Freundes, kann man sagen.“ „Ah ha.“ Noch immer wühlte die Elfe unverblümt in fremden Gepäckstücken. „Und ist Momo ein weit verbreiteter Name, dort wo du herkommst?“ Peter stand endlich wieder auf und näherte sich achtsam dem mystischen Reittier, seinen neuen besten Freund. Der Gedanke an Maurice brachte ihn zum Schmunzeln. Ähnlich waren sich die beiden Momos nicht wirklich. „Das ist nur ein Spitzname, weißt du; eigentlich heißt sein Namensgeber Maurice. Gibt schon einige, die so heißen.“ Die Ausführungen des Jungen brachten Lily nicht aus der Fassung. Für sie war das alles neu, wenngleich sie zweifelsohne einer pikanten Vermutung nachging. „Wieso interessiert dich das eigentlich?“ Als er diese Frage stellte, wandte sich Lily ihm zu. In ihren Händen hielt sie ein Stück Papier, das sich bei näherer Betrachtung, zu Peters großer Überraschung, als ein Foto herausstellen sollte; eines, wie er es nur von der Erde her kannte. Und mehr noch ... „Vor einigen Jahren kam Lara, Evas Mutter, auf einem Einhorn nach Ballybofey geritten. Wir konnten es kaum fassen, so faszinierend war dieses Erlebnis.“ Lily schwelgte in Erinnerungen längst vergangener Zeiten. „Als Eva nach seinem Namen fragte, sagte ihre Mutter, der lautete Momo ...“ Peter verstand gar nichts mehr. Er wollte jetzt mehr als alles andere sehen, was auf dem Foto abgebildet war, das Lily in den Händen hielt. Noch zögerte die Elfe, es zu offenbaren. „Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum ich es lieber gehabt habe, vor allem Eva in dem Glauben zu lassen, das wäre alles meine Idee gewesen“, erzählte sie. „Sie weiß auch nicht, dass ich diese Bilder kenne. Ich bin nicht stolz darauf, nur froh darüber, sie dir an ihrer Stelle zeigen zu können, bevor ...“ „Bevor was?“, hauchte Peter mehr, als dass er sprach. „Sieh selbst“, sprach Lily und überreichte dem Jungen schlussendlich das Bild. Was Peter darauf sah, konnte und wollte er nicht glauben. Es war so viel mehr als nur irgendein Foto. Es war eine Erinnerung an seine Jugend, an eine unbeschwerte Zeit, in der er wirklich glücklich gewesen war. Eine Zeit, in der das goldene Trio noch komplett war. Julie, Maurice und er. Auf dem Bild selbst sah er eine dreizehnjährige Julie Lauret, die vom schon damals hochaufgeschossenen Maurice umarmt wurde. Sich selbst konnte er auch gut erkennen, wenn auch nur in Gedanken, da er damals hinter der Polaroidkamera stand, die Julies Vater gehört hatte, und die drei an jenem Tag heimlich mit zum Hafen genommen hatten. Das konnte doch unmöglich wahr sein ... „Wen?“, stammelte der Franzose. „Wen siehst du, Lily?“ Die Elfe verstand zunächst nicht, was er meinte. „Wenn du dir das Mädchen auf diesem Bild ansiehst, wen siehst du darauf?“, fragte er ein weiteres Mal, diesmal genauer, ohne dabei die Augen von der Fotografie nehmen zu können. „Nun ...“ Lily hatte Angst, es auszusprechen, konnte in Peters Augen jedoch ein Flehen erkennen, das es ihr unmöglich machte, sich jetzt noch irgendwie aus der Affäre rauszuwinden. „Sie ist darauf noch sehr, sehr jung, aber das ist Evas Mutter. Lara“ ___________________________________________________________ Als die Tür sich öffnete, machte Nuga zwei Schritte zur Seite, um seiner Herrin und ihrem Gast den Weg hinaus nicht zu blockieren. Das Gespräch der beiden hatte circa eine Stunde gedauert. Zuletzt hatte reges Treiben in diesen Teil der Gewölbe geherrscht, wo es sonst doch gerade hier zumeist ruhiger war, als irgendwo anders. Ob Miraaj auf den Schutz des großen Dunkelelfs wirklich angewiesen war, bezweifelte nicht zuletzt Nuga selbst, doch war er gerne in ihrer Nähe und sehr stolz darauf, dass die Magierin ihm so großes Vertrauen schenkte. Von den Fremden ging keine Gefahr aus, wenn Nuga, der mit angesehen hatte, welch brutales Ende ein Konflikt inmitten ihrer Kreise nahm, sie auch mit Misstrauen beäugte. Ob nun Peter, den es zuerst in die Gemächer Miraaj' gezogen hatte, oder Eva, die diese in jenem Augenblick wieder verließ. Vielleicht sah die Menschenfrau die Skepsis in den Augen des Elfs. Mehr als einen flüchtigen Blick, riskierte sie allerdings nicht. „Ein weiteres Mal: danke, Nuga“ würdigte Miraaj das Pflichtbewusstsein ihres Artgenossen höflich. „Hast du in der letzten Nacht überhaupt Schlaf gefunden?“ fragte sie und legte besorgt ihre Hand auf seinen Arm. „Viel Schlaf brauche ich nicht“, antwortete der Elf verlegen. „Ob du das auch sagen würdest, wenn du auf der anderen Seite Wache stehen würdest?“ spielte die Hohepriesterin auf die vielen Kinder im Untergrund an. „Die Kleinen könnten das ein oder andere von mir lernen, glaube ich.“ Miraaj lächelte und stimmte zu: „Zweifellos! Und deswegen bist du ja auch hier bei mir.“ Nuga rümpfte die Nase. Er war die Spitzen seiner Angebeteten gewohnt und ihr keineswegs böse deswegen. Es war diese eine, kleine Sache, die ihn auf eine persönlichere Art und Weise mit Miraaj verband. Er würde sie nicht missen wollen. „Demnach bin ich vom Dienst befreit?“ „Vorerst“, sagte Miraaj nickend. Sie beobachtete Nuga, bis er aus Hörweite verschwunden war. Dann wandte sie sich wieder an ihren Gast. „Und was gedenkst du nun zu tun, Eva?“ „Ist das eine Fangfrage?“ gab sich die junge Kriegerin verblüfft. „Keineswegs.“ „Tja ... es gibt keinen Grund für mich, dir nicht zu vertrauen, warum also nicht dem Pfad folgen, den du für uns alle ausgelegt zu haben scheinst.“ „Das klingt, als hegtest du Zweifel“, bemerkte die Dunkelelfe. „Natürlich tue ich das.“ Eva gab sich selbstbewusst. „Das ist mehr – weit mehr – als ich mir je erträumt hätte. Eine echte Aufgabe ...“ „Der vor allem du gewachsen bist“, eröffnete Miraaj ihrem Gast ohne Umschweife ihr großes Vertrauen. „Das hoffe ich.“ Einen Moment lang zweifelte Eva an der Ehrlichkeit ihrer Worte. „Ich ...“ Überraschenderweise unterbrach das Gespräch der beiden Frauen ausgerechnet der kleine Jin, der zügig durch die Korridore schwirrte, scheinbar auf der Suche nach etwas Bestimmten. Beinahe kollidierte er mit Eva, konnte ein derartiges Missgeschick aber gerade noch rechtzeitig abwenden indem er abrupt seinen Flug stoppte. Es war ihm unangenehm, die beiden zu stören. Er hatte gehofft, Miraaj allein zu erwischen. Evas Anwesenheit machte alles nur komplizierter. „Kann ich dir helfen?“ Miraaj hoffte darauf, von dem Jungen dessen Namen zu erfahren, doch der brachte kein Wort über die Lippen. „Jin“, half Eva ihr aus. „Jin!“ gab sich Miraaj entzückt, mit ihm Bekanntschaft zu machen. Natürlich spürte sie das Unbehagen, das er ausstrahlte; dazu bedurfte es auch keiner Magie. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“ Die freundliche und zuvorkommende Art der Hohepriesterin wusste zumindest den Elf erste Scheu überwinden zu lassen. Interessanter war für ihn in eben jenen Moment jedoch, wie quicklebendig Eva sich präsentierte. „G-geht es dir gut?“ fragte er verwundert. „Huh?“ Eva begriff nicht, wie merkwürdig sie in ihrem munteren Zustand auf den Elfenjungen wirken musste. „Sehe ich etwa so mitgenommen aus?“ vermutete sie völlig falsch. „N-nein, nein!“ entschuldigte sich Jin. „Ganz im Gegenteil, du siehst hervorragend aus! Wie ... neu ...“ „Du hast mir nicht erzählt, dass du einen Verehrer hast“ witzelte Miraaj. „Und dazu noch so einen attraktiven!“ Jin war die ganze Situation reichlich peinlich; dennoch erleichterte ihn die gewonnene Gewissheit, dass es Eva gut ging. Es freute ihn nicht zuletzt für Lily. Die Kindereien, die ausgerechnet von der souveränen Magierin ausgingen, waren schnell vergessen. „Suchst du jemanden, Jin?“ fragte Eva. „Eigentlich ...“ Jin zögerte. Er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn niemand von seinen Freunden erfahren würde, was sein Anliegen war. Miraaj spürte die innere Zerrissenheit des Waldelfs und kam ihm zuvor. „Tja, wer könnte dir wohl besser helfen, dich hier unten zurecht zu finden, als ich, huh?“ „Haben sie denn ein paar Minuten für mich Zeit?“ fragte Jin höflich und mit Ehrfurcht in der mutlos wirkenden Stimme. „Ich denke, ich kann dich jetzt aus meinen Fängen entlassen, Eva. Es wäre wohl das beste, deinen Leuten letzte Sorgen zu nehmen, und dich ihnen im neuen Glanz zu präsentieren. Was meinst du?“ „Wenn ihr es sagt“, gab sich die Kriegerin, der die ein oder andere Frage durchaus noch auf der Zunge brannte, einsichtig. Sie schritt zügig von dannen. Ihren Freunden zu begegnen, ihnen für ihre Treue zu danken und ihre Ängste zu nehmen, hatte jetzt Vorrang. Miraaj hatte ihr einen großen Gefallen getan; was die Dunkelelfe ihr anvertraut hatte, sollte nicht mehr lange ein Geheimnis zwischen den beiden Frauen bleiben; es galt nun, den Gefährten die Bedeutung einer Reise zu erklären, von der Lester, Peter und die anderen, noch gar nicht wussten, dass sie ihnen bevorstand. ___________________________________________________________ Nach Lilys Attentat auf Alicia ließen sie und Peter einige Zeit verstreichen, bis sie denselben Weg hinab in die Gewölbe beschritten; ihr wieder über den Weg zu laufen, wollten beide nicht riskieren. Es war an der Zeit, in die Krypta zurückzukehren – vermutlich warteten ihre Freunde bereits auf sie. Von just Erlebten ablenken, konnte der Gedanke an Eva sie jedoch nicht, auch wenn sowohl der Franzose als auch die Waldelfe an seiner Seite gespannt waren, sie wieder auf den Beinen zu sehen. „Sie ist tot, nicht wahr?“, fragte der Franzose entgeistert, den Blick starr gen Boden gerichtet. „Ja.“ antwortete Lily offenkundig. „Sie starb bei dem Versuch, Menschen aus der Festung auf Caims zu retten, obwohl ...“ „Obwohl was?“ „Nun ja ...“ Zögerlich begann die Elfe, sich die Geschichte von damals zusammenzureimen. Ob es das Richtige war, ihm das alles anzuvertrauen, vermochte sie nicht zu beurteilen. „Lara und einige andere hatten sich vor allem deshalb in Ballybofey eingerichtet, da der Wald nahe der Elfenbeinsee lag. Trotz der Gefahren, die die Reisen nach Caims bargen, zog es sie oft auf die Insel. Sie überfielen dort Karawanen der Dunkelelfen und befreiten auf diese Weise viele versklavte Menschen“, erzählte sie. „Klingt das nach deiner Freundin?“ Es klang viel erwachsener, als alles, was Peter bisher in seinem Leben getan hatte. Mutiger, selbstloser und nicht zuletzt gefährlicher, aber waren das wirklich die Taten seiner Julie? „Ich weiß es nicht“, gab er schließlich zu. „Es klingt, als wäre sie in dieser Welt eine echte Heldin gewesen.“ Lily vermied nun ihrerseits Augenkontakt mit ihrem Gefährten. Peters Worte riefen unangenehme Erinnerungen hervor. „Das war sie“, versicherte sie. „Doch hatte sie noch ein anderes Anliegen.“ „Huh?“ „Ich glaube ...“ Die Elfe zögerte; sie war sich sicher, dass Peter ohne die folgenden Details besser dran gewesen wäre, und doch gelang es ihr einfach nicht, sie für sich zu behalten. „Ich glaube, sie wollte Gardif töten ...“ Peter war schockiert über diese Nachricht. Was hätte einen von Grund auf gutherzigen Menschen wie Julie je dazu treiben können, jemandem ernsthaft Schaden zufügen zu wollen? Sogar er selbst, der er die Greueltaten der Dunkelelfen aus nächster Nähe miterlebt hatte, zweifelte, ob er überhaupt den Mut dazu aufbringen könnte, eine Waffe auf einen Feind zu richten. Bevor er nachfragen konnte, unterbrach Lily seine verrückt spielenden Gedanken hastig. „Du wirst ihr doch nichts erzählen, oder?“, fragte sie. Peter wusste sofort, was sie meinte und zögerte nicht mit einer Antwort. „Was würde das denn nützen? Ich meine: Was würde es bringen? Für sie würde es keinen wirklichen Unterschied machen, oder? Nur, dass sie mir wahrscheinlich nicht mehr in die Augen sehen könnte.“ Peter schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles total verrückt!“ „Tut mir leid! Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen“, gab sich Lily dem Anschein nach schuldbewusst. „Nein, nein, ist doch Unsinn!“, verwarf der Junge ihre späten Bedenken. „Du hast das Richtige getan. Früher oder später wäre das Thema aufgekommen. Und dann? Ich bin heilfroh, dass du dem vorgegriffen hast. Ich danke dir! Das tue ich wirklich.“ Seine Worte schmeichelten der Elfe und beruhigten sie zugleich ungemein. Ihre Taten hatte sie beileibe nicht minutiös im Voraus geplant, doch war Lily von dem Moment an, in dem die Erkenntnis über Peters Verbindung mit Lara in ihr gereift war, fest entschlossen, ihm jenes Geheimnis anzuvertrauen. Ein wenig wunderte sie sich über sich selbst. Ihre Freundschaft mit Eva hatte schließlich schon weitaus bessere Zeiten erlebt; und doch sah sie sich fast schon selbstverständlich dazu verpflichtet, eine für die ohnehin fragile Psyche ihrer Schwester so gefährliche Kunde von ihr fern zu halten. Doch tat sie Eva damit wirklich einen Gefallen? Das Risiko, so rückte Lily ihre Entscheidung ins rechte Licht, war es einfach nicht wert, eingegangen zu werden. „Das wird wirklich das Beste sein. Eva ist über den Verlust nicht richtig hinweg, musst du ...“ Lily stockte, während sie Peter musterte, der dicht neben ihr die feuchtwarmen Hallen beschritt. Was war mit ihm? Zweifellos hatte er noch immer mit der Fassung zu kämpfen. „Verzeih ... Ich wusste ja nicht, wie gut ihr euch kanntet.“ „Schon in Ordnung“, versuchte Peter von sich abzulenken. „Aber wie ist das alles überhaupt möglich? Julie war erst vierzehn, als sie verschwand, und das ist jetzt gerade mal fünf Jahre her.“ „Da fragst du die Falsche“, musste Lily ihren Freund enttäuschen. „Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, aber ich habe gehört, dass die Zeit hier schneller vergeht, zumindest im Verhältnis zu deiner Heimat. Allerdings habe ich noch nie von einem Menschen gehört, der dies auch so wahrnimmt. Wer weiß, worin sich eure und die unsere Welt noch unterscheiden? Wo sie sich auf der anderen Seite doch so ähnlich scheinen“, philosophierte die Waldelfe. Peter erinnerte sich, Andeutungen dieser Art von seinen Gefährten vernommen zu haben. Er wusste, dass Eva achtzehn Jahre alt war, konnte aber überhaupt nicht einschätzen, wie alt Julie wohl gewesen war, als sie schwanger wurde; oder von wem[/]. Julie eine Mutter? Jeder Gedanke, den er aufbrachte, jenes Mysterium zu ergründen, quälte ihn. Neil hatte ihn wohl doch nicht angelogen, nur die Wahrheit verschleiert. „Wir sind fast da“, bemerkte Lily und stoppte auf dem Fuße. Sie ergriff die Hand des Franzosen um sich seiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher zu sein. „Vielleicht wird die Zeit kommen, an der du Eva mitteilen musst, was du heute erfahren hast, aber versprich mir, dass du damit warten wirst, ja?“ „Ich dachte, das hätte ich schon längst.“ „Ernsthaft!“, rügte die Waldelfe ihren Gegenüber. „Du vermagst nicht einzuschätzen, wie sehr Eva ihre Mutter geliebt hat“ Mehr noch, als er selbst? „Noch mehr Fragen und noch mehr Erinnerungen werden ihr nicht weiterhelfen, Peter!“ „Lily!“, adressierte Peter die Elfe entschlossen und packte sie sanft bei den Schultern. „Ich verspreche dir, darüber kein Wort zu verlieren. Okay?“ „O-okay“, sprach sie ihm nach. Leicht verschüchtert errötete Lily. An Peters Worten, zweifelte sie nicht mehr. Er würde kein Wort über Lara verlieren, so viel war sicher. Im schwachen Schein des Feuers der spärlich gesäten Fackeln hier unten, schimmerte so deutlich wie selten der dunkelviolette Farbton in der zerzausten Haarpracht der Waldelfe durch. Peter bemerkte jene exotisches Merkmal an seiner zierlichen Gefährtin zum ersten Mal. Da waren sie wieder, die verschwommenen Erinnerungen an seine erste Begegnung mit dem kessen Mädchen. Jetzt, da er Lilys wahres Ich kennengelernt hatte, bewunderte er in erster Linie ihr schauspielerisches Talent, doch der aufmerksamen jungen Dame entgingen die Blicke des Menschen nicht. „Was gefunden, was dir gefällt?“, säuselte sie amüsiert. „Ich dachte , du hättest pechschwarzes Haar“, antwortete Peter plump und setzte sich wieder in Bewegung. Lily begriff schnell, dass er sich ganz absichtlich abweisend und uninteressiert gab. Sie störte sich nicht daran, schließlich wollte sie ja nur auf seine Kosten ihren Spaß haben; das ihr kleines Vorhaben nicht auf Anhieb gelang, motivierte die kleine Elfe nur noch mehr. „Tja, das kann ich dir nicht übel nehmen, immerhin gibt es so viele andere faszinierende Details, die den Leuten ins Auge fallen, wenn ihre Blicke an mir hängen bleiben“, behauptete sie, während sie sich reichlich aufdringlich von ihrer Sahneseite präsentierte. „Aber sicher, Lily, ganz bestimmt“, gab sich der Franzose sarkastisch. „Belüg' dich nur selbst, mein Freund, irgendwann wirst du dem Verlangen nachgeben müssen und mir deine Liebe gestehen!“ Es klang, als las sie aus einem kitschigen Märchen vor. „Doch dann wird es zu spät sein, und du wirst deine böse Zunge verfluchen ... ja, ja.“ „Mein Gott, du hast doch nicht etwa getrunken!?“ Die Waldelfe konnten ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Sie gluckste vergnügt, wie Peter es von ihr gar nicht kannte, so sehr erleichterte die Elfe das zweifelsohne kindische Geplänkel mit ihm. Den Jungen freute es, sie und letztlich auch sich selbst auf diese Art und Weise von ernsteren, traurigeren Themen ablenken zu können. Lily hatte in jüngster Vergangenheit genug Grauen gesehen – Stoff für viele Alpträume. Lachend, gefiel sie ihm besser. „Du hast wirklich ein Talent dafür, mir den Tag zu versüßen“, schmeichelte sie ihm ein weiteres Mal. ___________________________________________________________ Eva stachen die beiden Rückkehrer als erste ins Auge. Sie saß an dem selben Ort, an dem ihre Kameraden vor kurzer Zeit noch um ihr Wohlergehen, ihr Überleben gebangt hatten. Sie saß dort aufrecht in ganzer Pracht und bester Verfassung, während Lester und die anderen ihren Erzählungen lauschten. Zu Peters Überraschung auch Viola, Aarve und die Elfe Herz, die ihm in der vergangenen Nacht begegnet war. Sie hatte Recht behalten: Eva war wieder auf den Beinen. Der Blick der jungen Frau heftete regelrecht an dem Duo. Sie war überrascht, Lily so fröhlich zu sehen. Ihr fiel es schwer, sich an Zeiten zu erinnern, in denen sie ihre Freundin so sorglos erlebt hatte; das war in der Tat lange her. „Na endlich!“ brummte Lester von seinem angestammten Platz aus. „Ihr habt ganz schön auf euch warten lassen.“ Der gutmütige Riese störte sich nicht wirklich an der Verspätung der beiden. Dazu überwog seine Freude, Eva wieder bei sich zu haben, viel zu sehr. „Setzt euch! Es gibt noch einiges zu besprechen, bevor wir weiter ziehen!“ Lily konnte und wollte sich nicht mehr zurückhalten. Sie wuselte an ihren Gefährten vorbei direkt auf Eva zu und schloss das blonde Mädchen fest in ihre Arme. Es tat unsagbar gut, ihr nach so unendlich langer Zeit wieder in reiner Freundschaft zu begegnen. „Um Gottes Willen ...“, entfuhr es Aarve sofort, wofür er postwendend mit einem nicht zu verachtenden Schlag in die Magengegend belohnt wurde. Nein, ihr Taktgefühl hatte Viola über die Jahre nicht verloren. „Lily“, hauchte Eva perplex. „Es tut mir so leid, was passiert ist“, erklärte die junge Elfe. „Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht. Ich werd' mich nie wieder so kindisch benehmen, versprochen!“ Eva konnte sich zu keiner Reaktion zwingen. Sie war völlig sprachlos ob der offenherzigen Aussprache ihrer Schwester. Wie sehr sie sich verändert hatte; wie erwachsen sie geworden war. Dabei war sie es gar nicht gewesen, die einst einen Keil zwischen ihre Freundschaft trieb. Ich müsste dich um Vergebung bitten, dachte Eva, doch sagte sie keinen Ton. Das musste sie auch gar nicht, denn das Mädchen in ihren Armen war längst mit sich und ihr im Reinen, und sie hatte es ganz allein so weit geschafft. Eine beneidenswerte Entwicklung, deren Resultat es war, dass Eva eine schwere Last von den Schultern genommen wurde; ausgerechnet von ihrer sturen Freundin Lily, von der sie geglaubt hatte, dass sie ihr jene Worte von vor vier Jahren auf Ewig nachtragen würde. ... ... ... ... ... ... Ballybofey, Waldrand. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Eva durchwühlte aufgebracht eine der vielen Truhen in ihrem Haus. Hinter ihrem Rücken erstreckte sich das reinste Chaos. Überbleibsel ihres wütenden Streifzuges durch ihr Eigentum und – allen voran – dem ihrer Mutter. Sie war nicht auf der Suche nach etwas Bestimmten, nur nach Erinnerungsstücken, nach allem, dass sie ihrer Mutter näher bringen konnte. Doch hob sie nichts dergleichen auf, steckte keinen einzigen Gegenstand ein. Ganz im Gegenteil – das vierzehnjährige Mädchen warf achtlos jedes Andenken auf den Boden, weit von sich weg. Sie zerriss Bilder, die sie selbst gemalt hatte, zerschmetterte Geschenke, die sie zuvor wie Schätze behütet hatte. Das alles hatte scheinbar keinerlei Bedeutung mehr für sie. Sie wollte alle Erinnerungen an ihre Mutter auslöschen. Erinnerungen an die Frau, die immer wieder aufs Neue ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um völlig fremden Menschen zu helfen, während die eigene Tochter zu Hause um sie bangte. Als hätte sie nur darauf gewartet, eines Tages im Kampf den Tod zu finden. In der letzten Truhe, die Eva auf ihrem erbarmungslosen Streifzug gegen jedwede Reminiszenz an ihre einstmals geliebte Mutter, durchsuchte, fand sie ihr noch unbekannte Besitztümer. Es waren einige Bücher, die ganz anders aussahen, als die, die Eva kannte. Sie waren merkwürdig gebunden, ihre Umschläge in kräftigen, grellen Farben gehalten. Unter den Büchern fand das Mädchen auch einige merkwürdige Bilder, zu real, um gezeichnet zu sein. Fotografien, fiel es ihr wieder ein – einige wenige dieser Art hatte sie in Tapion gesehen. Ihre Neugier war geweckt, doch überwog noch immer die Wut jedwede Sentimentalitäten. Nur flüchtig musterte sie die Bilder und ließ sie anschließend wieder fallen. Sie blätterte ein paar Mal wild durch die kleinen Bücher. Lesen konnte sie nur bruchstückweise, was darin geschrieben stand. Ihre Mutter hatte sie niemals in der Sprache ihrer Heimat unterrichtet. Überhaupt verlor sie so gut wie nie ein Wort über ihre tatsächliche Herkunft. Stattdessen wurde ihr schon von Klein auf das geschriebene Wort der Waldelfen beigebracht, so, wie den meisten Menschen in Minewood. Wann immer sie die Unkenntnis in jener Sprache daran hinderten, Sinn aus den Schriften zu ziehen, schürte das das Feuer der Wut in ihrer Brust nur noch mehr. Schließlich gab sie ihre Bemühungen entmutigt auf und warf auch die Bücher zu all dem anderen Gerümpel, von dem sich das junge Mädchen einredete, dass es ihr nichts mehr bedeutete. Nun lagen direkt vor ihrer Nase nur noch die Fotografien, auf denen sie ihre Mutter wiedererkannt hatte. Sie musste zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen ungefähr so alt gewesen sein, wie Eva es heute war. Sie wirkte glücklich auf diesen Bildern, inmitten von ihren Freunden und Familienmitgliedern, die Eva völlig fremd waren. Ob der Mann mit dem schütten Haar vielleicht ihr Großvater war? Der groß gewachsene Junge ein Cousin? Waren sie doch nur Freunde? Als jemand die Tür zur Hütte öffnete, sammelte Eva hastig alle Fotos zusammen, die sie auf die Schnelle zu fassen bekommen konnte und ließ sie in ihren Taschen verschwinden. Als sie sich zu dem Eindringling umdrehte, erkannte sie zu ihrem Erstaunen ihre Freundin Lily. Ihr Gesicht war ein einziges Trauerspiel und symbolisierte in jener Stunde das krasse Gegenteil von Evas Gefühlswelt – zumindest deren Oberfläche. „Was willst du?“ fragte das blonde Mädchen ungehalten. „I-ich ...“ Lily konnte kaum einen vernünftigen Satz bilden, so sehr schmerzte ihr Herz. „Eva ...“ „WAS?“ hallte es der kleinen Waldelfe entgegen. „W-was ist mit dir? Hast du es denn noch nicht gehört?“ schluchzte Lily aufgelöst. „Natürlich ... Doch warum bist du hergekommen? Etwa, um dich bei mir auszuweinen? Oder einfach nur, um mir zu zeigen, wie schwach du bist?“ Die Hasstiraden des zornigen Mädchens trieben nur noch mehr Tränen in das glühend rote Gesicht der Elfe. Lily konnte überhaupt nicht fassen, wie Eva auf ihre Trauer reagierte, und dass sie selbst nicht zu trauern schien. Sie konnte ja nicht ahnen, was in ihrer besten Freundin vor sich ging. In Evas Situation schürte die Schwäche Lilys das Feuer nur noch mehr. Gedanken an die große Sippschaft der Elfe, machten sie geradezu rasend. Sie hatte schließlich noch Familie. „Warum gehst du dich nicht zu deinen Geschwistern, oder zu deinem Vater?“ „Du ...“ Evas selbstzerstörerischer Zorn drohte nun auch auf Lily überzuschwappen. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“ „Nein! Wie kannst du es wagen, hier aufzukreuzen und mir deine Tränen aufzubürden?“ wurde Eva immer persönlicher. „Nicht du bist allein, ich bin es!“ Lange zögerte Lily, ihrer Freundin zu antworten, so schockiert war sie von deren Äußerungen. Vielleicht gab es auch gar keine passende Antwort darauf, vielleicht aber auch keine passendere. „Wie konnte ich nur so dumm sein?“ hauchte sie. „Als erstes ausgerechnet an dich zu denken ...“ Eva schwieg. „Es war deine dumme Mutter, die meine zu diesem Unsinn angestiftet hat! Es war immer Lara, von der alles ausging! Die anderen haben immer nur geholfen, weil sie von ihr geblendet wurden. Nur sie hat den Tod verdient!“ „Raus ...“ schaffte Eva es gerade so über die Lippen zu pressen. „Mit dieser Schuld musst du jetzt leben!“ „VERSCHWINDE!“ Als Lily die Tür hinter sich mit ganzer Kraft zuwarf, brach schließlich auch Eva unter der Last ihrer Gefühle zusammen und begann, wie die Elfe zuvor, bitterlich zu weinen. Natürlich trauerte sie; schon von der ersten Sekunde an, tat sie das; nur gelang es ihr bis jetzt, jenen unumstößlichen Fakt zu verstecken. Bis jetzt ... Ihre Mutter würde nie wieder nach Hause kommen; sie nie wieder in den Arm nehmen, nie wieder küssen, nie wieder unterrichten, nie wieder wütend auf sie sein, ihr nie wieder vergeben und nie wieder mit ihr lachen. Fortan würde sie ohne den Menschen durchs Leben gehen müssen, den sie am meisten geliebt hatte. Ob sie aber wirklich allein den vor ihr liegenden Weg beschreiten müsste, lag in ihrer eigenen Hand. Und eines war Eva nun, da sie ihre beste Freundin so schrecklich verletzt hatte, klar geworden: Ganz auf sich gestellt, würde sie es niemals schaffen. ... ... ... ... ... ... Abschied -------- Kapitel 17 – Abschied ... ... ... ... ... ... Aubagne, Frankreich. Sechs Jahre früher (Erdzeit) Die Sommerferien waren traditionell der Höhepunkt im alltäglichen Leben junger Schüler. Frei von bedrückenden schulischen Verpflichtungen, die einem die Nachmittage verdarben, lebte es sich ganz einfach leichter. Es war nicht das erste Mal, dass das Trio einen Ausflug in Julies Geburtsort Aubagne unternahm. Ihre Mutter wohnte noch immer in der circa fünfzehn Kilometer östlich vom Marseille gelegenen Ortschaft. Ihre Eltern lebten dadurch zwar getrennt, überbrückten die kurze Distanz aber in aller Regelmäßigkeit, um sich zu sehen. Ihren Vater hatte es vor einigen Jahren aus beruflichen Gründen nach Marseille gezogen – ein Glücksfall für Maurice und Peter. Die Großstadt wollten weder er noch Julie der kränkelnden Frau antun, wenngleich es ihrer geliebten Tochter schwer fiel, ihre Mutter im Alltag nicht mehr um sich zu haben. Doch hatte sie in Marseille sehr schnell Freunde gefunden, die ihr dabei halfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, die – obwohl nur einen Katzensprung von der alten entfernt – so anders war als Aubagne. Julies Eltern waren beide gleichermaßen erfreut darüber: Freunde hatte sie in der Kleinstadt nicht viele gehabt. Es bewies, dass sie alles andere als unnahbar war. Schon allein deswegen war Herr Lauret den beiden Jungen gegenüber seit jeher positiv eingestellt. Mit der Zeit gesellte sich auch Vertrauen zu jenem Empfinden. Die drei Kinder waren allein unterwegs auf einer Straße aus Pflasterstein, welche in den dichten Waldes führte, der sich am Fuße des Garlaban Massivs erstreckte. Die Stadt war von Gebirgen eingerahmt, geschützt vom starken Fels; zumindest wirkte es so. Das Trio war unterwegs zu einer alten Holzfällerhütte, die die Laurets schon vor Julies Geburt erstanden und zu einem Ferienhaus renoviert hatten. Heute würden die drei Freunde ganz allein eben jenen Zufluchtsort abseits der Gemeinde beziehen dürfen. Herr Laurets verspätetes Geburtstagsgeschenk für Peter, der vor einer Woche dreizehn Jahre alt geworden war; auf jeden Fall aber Vertrauen, das sich alle drei redlich verdient hatten. „Ich hoffe, dein Vater hat mittlerweile das Wespennest unter dem Dach ausgeräuchert“, begann Maurice die Konversation. „Spinnst du?“ Julie gab dem langen Schlaks einen Stoß mit dem Ellenbogen auf den Weg. „Die tun dir doch nichts. Das heißt, wenn du sie nicht provozierst!“ „Wer's glaubt!“, meldete sich auch Peter zu Wort, der ein paar Schritte vor den beiden stiefelte. „Ich glaube, die Viecher sind ziemliche Rassisten. Greifen sofort an, wenn sie mich nur sehen“, witzelte Maurice. „Wirst es schon überleben, Momo.“ „Ich setz jedenfalls kein Fuß vor die Tür, während die Biester da herumschwirren.“ „Tja dann,“ Julie wuselte eilig zu Peter und hakte sich bei ihm ein. Schelmisch grinsend warf sie einen Blick zurück auf Maurice, „müssen wir halt ohne dich auskommen.“ Wenn er auch er wusste, dass Julies Annäherungen spontan und bestimmt nicht so vielsagend waren, wie er sich das vielleicht gewünscht hätte, war Peter doch jedes mal erfreut darüber. Bei ihr zu sein, hieß für ihn, glücklich zu sein; sie so nahe bei sich zu haben, nur noch mehr. Er wusste nicht mehr genau, wann genau es gewesen war, dass er einer simplen Berührung von seiner besten Freundin so viel Bedeutung zu schenken begann – es war jedenfalls derselbe Tag, an dem er anfing, mehr und mehr auf Abstand zu gehen. Eine merkwürdige Reaktion, wie Peter es selbst einzuschätzen wusste, nur konnte er ganz einfach nicht anders. Zumindest nutzte er die Gelegenheit noch, Julie eine Frage zu stellen. „Wie geht es deiner Mutter jetzt eigentlich?“ „Ach ...“ Das Mädchen seufzte. „Wie immer, glaube ich.“ „Verstehe.“ Peter traute sich nicht, näher darauf einzugehen. „Aber Papa sagt, das liegt vor allem daran, dass sie jetzt weniger Medikamente nehmen muss“, zeigte sich Julie dann doch noch optimistisch. „Das klingt doch gut.“ Maurice hatte mittlerweile aufgeschlossen. „Klar ist das gut“ munterte auch Peter seine Freundin auf, die es ihm mit einem rührenden Lächeln dankte. „Vielleicht kann sie ja bald doch nach Marseille ziehen.“ „Ich weiß nicht“, gab sich Julie skeptisch. „Es gefällt ihr hier in Aubagne.“ „Aber nur, weil sie die Vorzüge der Großstadt noch nicht kennt“, sinnierte der Dreizehnjährige über die unweit entfernt liegende Heimat. „Und das Essen von meiner Großmutter hat sie ja auch noch nicht probiert!“ „Wieso von deiner Großmutter?“ Maurice schien empört. „Mein Vater ist immerhin Koch!“, argumentierte er energisch. „Kann ja sein – aber hast du jemals in dem Restaurant deines Vaters gegessen?“ Julie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Oh je, mein Freund, das wirst du noch bereuen!“, entgegnete ihm Maurice ernst. „Du wirst Nachts nicht ruhig schlafen können, glaub mir. Meine Rache wird furchtbar sein!“ Das Miteinander der drei stimmte einfach. Das tat es schon immer. War Julie traurig, wussten die beiden Jungen sie stets aufzumuntern – genauso funktionierte es andersherum. Das goldene Trio genoss jede gemeinsame Minute und nutzte sie so gut es möglich war. In ihrem Alter wussten sie noch gar nicht einzuschätzen, dass jene Momente auf ewig in ihren Erinnerungen verankert bleiben würden, sie als Sinnbild unbeschwerterer Zeiten alle Täler, die es in ihren späteren Lebensjahren zu durchschreiten galt, überdauern würden. Hier und Jetzt lachten sie, lebten sie, liebten sie. Das schöne Mädchen im sommerlichen Gewand; der hochaufgeschossene Fußballer, der nachdenkliche Waise. Grundverschieden und doch eins im Geiste; verbunden auf einer Ebene, die vielen Menschen mit Voranschreiten der Zeit unerreichbar wird, einige gar ein Leben lang nicht beschreiten würden. ... ... ... ... ... ... Er konnte die Gedanken an sie nicht unterdrücken. Die Bilder drangen sich einfach auf, und Peter war ohnmächtig sie abzuwehren. Nach allem, was Lily ihm anvertraut hatte, wunderte er sich allerdings nicht wirklich darüber. Peter sah Eva fortan mit anderen Augen. Er suchte, ohne es wirklich zu wollen, nach Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter. Doch das Mädchen, das er einst gekannt hatte, war noch so jung, als sie verschwand, sodass es ihm merklich schwer fiel. Er gab das bedrückende Vorhaben auf, noch bevor die wieder genesene junge Frau seine eindringlichen Blicke bemerken konnte. „Es wird Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, findet ihr nicht auch?“, sprach ausgerechnet Viola aus, was alle Anwesenden dachten. Ihr Sinneswandel – in welchen infantilen Stadien er sich auch noch immer befinden mochte – erschloss sich der ihr gegenüber skeptisch eingestellten Gemeinschaft natürlich nicht. Der harsch erscheinende Versuch das Gespräch ins Rollen zu bringen, sorgte deshalb allerorts nur für Argwohn. „Kannst du Eva nicht mal das bisschen Ruhe gönnen, nach allem, was sie durchgemacht hat?“, fuhr Lily der weitaus älteren und auch erfahrenen Frau in die Parade, vollends gewillt, ihrer neuen, alten, besten Freundin beizustehen, wo immer es möglich war. „Ich hatte nicht vor ...“ „Nein“, kam Eva jeder Rechtfertigung der schwarzen Kriegerin zuvor. „Viola hat völlig recht! Miraaj hat mir bedeutende Informationen anvertraut und ganz in meine eigene Verantwortung gelegt, was davon ich wem anvertrauen kann“, erklärte sie in aller Ehrlichkeit. Eva trug noch immer das blutbefleckte, zerrissene Hemd, ohne jedoch an die unangenehme Strahlkraft dieses Erinnerungsstückes einer der schwärzesten Stunden der Karawane auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Ganz andere Dinge bestimmten zu dieser Zeit ihr Handeln. „Und was wirst du uns anvertrauen?“, wollte Lester wissen. „Nun ...“ Eva holte tief Luft. „Wenn ich in die Runde schaue, sehe ich meinen treuesten Freund“ Ihr Blick verweilte einige Zeit auf dem grauen Hünen und zog dann weiter. „Meine beste Freundin ... meine Schwester ...“ Nun war es Lily, die im Fokus der blonden Ritterin stand. Sie erwiderte den liebevollen Blick mit offenkundiger Freude und funkelnden Augen. „Eine Gefährtin, von der ich viel gelernt habe, und die stets die erste war, wenn es darum ging, für unsere Sache zu kämpfen.“ Natürlich wusste Eva, dass Viola immer ihre ganz eigenen Gründe mit auf das Schlachtfeld genommen hatte. Zu ihrer freudigen Überraschung jedoch, erwiderte auch sie ihren Blick mit zustimmendem Gesichtsausdruck. „Ich sehe einen gutherzigen jungen Elf, dessen Wille und Leidenschaft ihn – entgegen all meiner Zweifel – zu einer Bereicherung unserer Gruppe gemacht haben.“ Jin wirkte fast schon peinlich berührt. „Und zwei Leidensgenossen, die kaum eine andere Wahl gehabt haben, als sich uns anzuschließen; wofür ich, nach allem, was wir Seite an Seite haben erleben müssen, mittlerweile mehr als dankbar bin.“ Es waren starke Worte, die sogar Aarve nicht kalt ließen, wenngleich er es für übertrieben hielt, von dem Mädchen derart adressiert zu werden, das – wie er es einst formuliert hatte – so großen Gefallen daran gefunden zu haben schien, Ritter zu spielen. Er gehörte nicht zu ihrer Gemeinschaft und würde es wohl auch nie tun. Allerdings war ihm die Gesellschaft der Personen um ihn herum allemal lieber, als die der Dunkelelfen. Mit der Zeit, die verstrichen war und dem Erlebten jener letzten paar Tage sogar noch mehr. „Und das bedeutet?“, fragte der Finne, nicht zuletzt, um die ausgeweitete Einleitung Evas damit abzukürzen. „Ich will euch alles anvertrauen, das ich weiß!“, gab sie schließlich bekannt. „Sicher, dass du das willst?“ Wieder war es Aarve, der Zweifel hegte. Es lag gar nicht daran, dass er selbst ein Problem mit Eva oder ihren Freunden hatte; vielmehr versuchte er, sich in die Lage der jungen Anführerin der Gruppe hineinzuversetzen, um verstehen zu können, warum sie ihm das gleiche Vertrauen zu schenken bereit war, wie den anderen. Hatte er sich das etwa verdient? „Du musst mir nichts erzählen, was ich nicht hören soll. Warum auch ...“ „Glaub mir, Aarve, das wird dich interessieren“, versicherte Eva dem innerlich aufgewühlten Blondschopf. „Zudem haben vor allem du und Peter ein Recht darauf zu erfahren, was ich weiß.“ „Gibt es ein intensiveres Erlebnis, als Seite an Seite in den Kampf zu ziehen?“ Lester stellte diese rhetorische Frage in den Raum. Das kurzweilige Gemetzel an der Oberfläche als Kampf zu bezeichnen, ging vielleicht zu weit, intensiv war es aber mit Sicherheit gewesen. „Das schweißt zusammen! Ganz besonders, wenn man gezwungen ist, die Klinge auf die eigenen Leute zu richten.“ Noch so ein aufmunternder Spruch – ein weiser Satz obendrein. Warum nur waren diese Leute so versessen darauf, sich mit ihm anzufreunden? Aarve beließ es schließlich dabei. Eva schlug der Gruppe schließlich vor, alle ihre Fragen hinten anzustellen. „Lasst uns erst reden und dann Entscheidungen treffen!“ „Guter Vorschlag“, stimmte Viola zu. „Zu allererst sollte euch allen klar sein, das wir nicht zufällig bei unseren Gönnern hier im Untergrund gelandet sind.“ Die Blicke der Kameraden verschärften sich gleichermaßen. „Was soll das denn heißen?“, fragte Lester aufgebracht. „Versteht das nicht falsch“, versuchte Eva sogleich die aufkommenden Wogen zu glätten. „Sie haben unsere Reise überwacht und dabei bemerkt, dass wir Dunkelelfen auf den Fersen hatten. Die Wächter sahen keinen anderen Weg, als sich bedeckt zu halten und dieses Problem für uns zu lösen. Ich denke ihr wisst, wovon ich spreche.“ Wiederum keine schöne Erinnerungen. Das Massaker im Tal an der Weggabelung lag der Gruppe noch ähnlich schwer im Magen, wie das Gefecht in Ballymena. „Also haben die Wächter die Gamms auf die Dunkelelfen losgelassen?“, fragte Peter. „So ist es.“ Mochten ihre Intentionen auch gutherzig gewesen sein, so konnte der Franzose dem eiskalten Kalkül der Wächter, dass sich ihm soeben offenbart hatte, nichts Positives abgewinnen. Es hätte einen anderen Weg geben müssen! „Und was hätten sie getan, wenn wir dennoch nicht den Weg durch die Stadt genommen hätten?“, stellte Lester diese berechtigte Frage „Miraaj versicherte mir, dass sie sich uns spätestens vor Tapion offenbart hätten. So lautete der Plan. Sie wollten nicht, das wir den Umweg durch Ballymena nehmen, doch blieb ihnen letztlich keine andere Wahl. Ich ...“ „Was?“ Lily bemerkte die Verunsicherung ihrer Freundin. „Ich vertraue Miraaj. Sie hat ein gutes Herz und eine große Bürde zu tragen.“ So ähnlich sah es auch Peter. An den Motiven der magisch hochbegabten Elfe zweifelte er zu keiner Zeit, auch jetzt nicht. Ihre Methoden waren jedoch ein ganz anderes Thema. „Von welcher Bürde sprichst du?“, fragte Viola skeptisch. Erneut musste die junge Frau tief durchatmen. „Es geht dabei um die Ereignisse von vor fünfunddreißig Jahren, vor allem jene, die sich ganz hier in der Nähe in Ballymena abgespielt haben. Die Dunkelelfen, die den Krieg letzten Endes auslösten, taten es, um den Hohepriesterinnen zuvorzukommen. Miraaj erklärte mir, dass die Hexen stets unbeobachtet agieren konnten, da sie von Volk und Adel gleichermaßen verehrt wurden. Ihre langwierigen Planungen wären wohl bis zum bitteren Ende geheim geblieben, wäre es nicht um Königin Athlea bestellt gewesen.“ „Wer war sie?“, fragte Peter neugierig. So viele Details hatte er noch nicht in Erfahrung bringen können und war nun dankbar für jede weitere Information, die Licht ins Dunkel dieser Geschichte bringen konnte. „Sie war ursprünglich eine Hohepriesterin.“ Lester wusste ohne Zweifel mehr als jeder andere der Anwesenden über die Dunkelelfen zu erzählen. So übernahm er Evas Part für den Moment. „Wirklich nahe am Volke zu leben begann sie erst, als König Samur sie ehelichte. Ein Novum in der Geschichte! Allerdings wurde es größtenteils positiv aufgenommen, da die sonst so abgeschieden lebenden Hohepriesterinnen plötzlich für jede Elfe und jeden Elf fassbar waren, viel mehr als je zuvor.“ „Richtig.“ Eva dankte ihren Gefährten seine Erläuterung mit einem Nicken und fuhr schließlich fort. „Sie war zudem eine der Auserwählten magisch Begabten, die seinerzeit nach Panafiel reisten, um dort für die Minari das Portal zu aktivieren – wenn auch weder sie, noch ihre Gastgeber damals wussten, womit sie es wirklich zu tun hatten.“ Das waren durchaus bedeutsame Neuigkeiten für Aarve, Viola und auch Lester. Sie alle zeigten ganz eigene Reaktion darauf. Der graue Riese kannte die Erde selbst nur aus den bildhaften Erzählungen vieler Freunde und vor allem denen seiner Eltern; seine Heimat war Minewood, schon immer. Der junge Finne Aarve nahm es ähnlich gelassen, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Trotz der langen Jahre in Vyers vermisste er die Heimat nicht: Alles war besser als sein altes Leben ... „Also war das Ganze nur ein Missgeschick?“, fragte Viola. Sie konnte nicht glauben, dass das Schicksal all der Menschen in Minewood aus solch banalen Gründen so dramatisch beeinflusst worden war. „Und das machen sie daraus ...“ flüsterte sie noch. „Schwer zu glauben, ich weiß. Doch hatten die Dunkelelfen ursprünglich wirklich keine niederen Beweggründe“, erklärte Eva. „Erst als ihre Welt in Scherben lag, und man ein Feindbild brauchte, wurde von einigen der Hass auf die Menschen geschürt.“ „Von Gardif und seinen Leuten“, stellte Lily fest. „Die Geschichte ist uns wohl allen bekannt.“ Die schwarze Assassine wurde ungeduldig. Die bösen Blicke der beiden Elfen nahm sie dabei gar nicht wahr. „Worauf willst du hinaus?“ „Das Portal war nur die Spitze des Eisbergs“, begann Eva die Quintessenz dessen zu offenbaren, was ihr in der letzten Nacht anvertraut worden war. „Als man die Brücke ins Reich der alten Feinde geschlagen hatte, sahen sich beiden Völker einer Revolution in den diplomatischen Beziehungen zueinander gegenüber. Alle Vorurteile und eingestaubten Legenden, die schon über drei Jahrtausende lang jeden Kontakt untereinander verboten hatten, schienen ad acta gelegt.“ „Dabei wusste die Dunkelelfen der Gegenwart genauso wenig über den alten Krieg, wie die Minari.“ fügte erneut Lester hinzu. „Wie meinst du das?“, fragte Jin stellvertretend für die ganze Gruppe. „Wie ihr vielleicht wisst, hatte ich in Zeiten des Friedens viel mit den Spitzohren zu tun.“ Der erfahrene Mann achtete jetzt, da kein Dunkel- oder Halbelf anwesend war, nicht mehr darauf, seine Antipathie zu verbergen. „Über all die Jahre erhielt sich nur ein einziges Dogma, und zwar, dass vor langer Zeit ein schrecklicher Krieg zwischen den Vorfahren beider Völker geherrscht haben musste, und Panafiel fortan verbotenes Territorium war.“ „Und du weißt mehr darüber?“ Berechtigte Zweifel keimten in Viola auf. „Ich?“, gab sich der Ritter verblüfft. „Nein. Wie auch? Nur konnte ich nie verstehen, woher diese unsagbare Angst vor dem Ungewissen eigentlich herrührte. Teufel: Die meisten Dunkelelfen konnten es ebensowenig verstehen. Nur akzeptierte man die Situation eben, wie sie war.“ Eva nahm das sprichwörtliche Zepter wieder in die Hand. „Selbst den Wächtern fiel es schwer, die Vergangenheit wieder ins rechte Licht zu rücken. Miraaj' Studien konnten ihr längst nicht alle Details dieser alten Epoche näherbringen, doch ist allein dieser Umstand wohl vielsagender, als jedes verstaubte Buch aus jener Zeit.“ „Jetzt wird sie wieder so kryptisch“, murmelte Aarve, der Schwierigkeiten hatte zu folgen. Er war aber nicht der einzige. „In ganz Minewood war die Legende über den alten Krieg von vor über dreitausend Jahren bekannt. Doch was damals genau geschehen war, wusste niemand, nicht einmal die Hohepriesterinnen.“ Eva bemühte sich, Licht ins Dunkel zu bringen. „Was also war das Ergebnis jener Auseinandersetzung?“ Keine rhetorische Frage. „Zwei Hochkulturen kreuzten über viele Jahre die Klingen, und so gut wie keine Informationen wurden bis heute überliefert? Kaum eine Aufzeichnung, kaum ein Artefakt konnte erhalten, kaum eine noch so kleine Notiz gefunden werden ...“ „Die Frage ist und bleibt: Warum?“, stellte Peter fest. „Ich sehe es ganz genauso, wie Miraaj“, eröffnete die blonde Kriegerin ihnen allen ihre Gedanken. „Am Ende dieses Krieges stand das Nichts. Beide Völker waren sich ebenbürtig bis zum letzten Gefecht. Als auch die letzten Tropfen Blut vergossen waren, standen sowohl Minari als auch Dunkelelfen am Abgrund – dezimiert auf Hundertschaften, verzaubert, verflucht ...“ „Womöglich“, brummte Lester in seinen Bart. „Doch was hat das alles mit uns zu tun?“ Der Finne Aarve wirkte immerwährend ungehalten, hatte aber ebenso stets berechtigte Bedenken. „Siehst du das denn nicht?“, stichelte Viola in seine Richtung. „Es geschieht alles von Neuem!“ Die Gruppe schreckte auf, wenngleich die meisten längst ähnliche Vermutungen angestellt hatten. „So ist es“, bestätigte Eva es schließlich. „Miraaj hat mich in die Pläne Gardifs eingeweiht. Er will seine Armee nach Panafiel führen, um dort zu herrschen. Mit Prana und Uriah an seiner Seite, wird er wohl nicht aufzuhalten sein. Er wird ganz Minewood erneut ins Chaos stürzen, davon sind unsere Gönner überzeugt.“ „Wie denn?“ Peter zeigte sich merklich verwirrt. „Was sollen die Minari gegen die Magie der Dunkelelfen denn ausrichten?“ „Es existieren noch immer Überbleibsel der Technologien, derer sich die Vorfahren der heutigen Bewohner Panafiels vor langer Zeit bemächtigt haben. Eines dieser Werkzeuge haben die Minari schon vor rund einhundert Jahren wiederentdeckt und letztlich auch aktivieren können.“ „Das Portal“, dämmerte es dem Franzosen. „Ja. Es wäre naiv zu glauben, die Minari hätten die Nachforschungen just nach ihrem größten Fund wieder aufgegeben, oder?“ „Und wahrscheinlich wissen sie nicht mal, dass es sich dabei um das Handwerk ihrer eigenen Vorfahren handelt.“ „Davon ist sogar auszugehen“, bekräftigte Eva die Bedenken ihres alten Freundes. „Die Minari werden diese Relikte längst vergessener Tage erneut gegen die Dunkelelfen einsetzen, ohne das eigene Dilemma überhaupt zu erkennen. Und niemand von uns vermag auch nur zu vermuten, von welcher Art Waffen wir hier reden.“ „Aber Prana ...“ Peter wusste nicht, ob es angebracht war, der Gruppe zu offenbaren, was Miraaj ihm in der vergangenen Nacht anvertraut hatte; er hoffte, dass Eva darüber längst Bescheid wusste. „Ja, Peter“, kam sie ihm zuvor. „Sie ist noch immer der wohl bedeutendste Grund dafür, dass Gardif den entscheidenden Schritt noch nicht getan hat. Immerhin ist es ihr zu verdanken, dass er über dich nicht Bescheid weiß, und ohne den einen Menschen, den er so verzweifelt sucht, wird er den Angriff nicht wagen.“ „Moment mal!“ Sogar dem Ältesten wuchs die Geschichte langsam über den Kopf. „Wovon sprecht ihr hier eigentlich? Die Hexe soll auf unserer Seite sein!? Der Junge ein ... eine Waffe!?“ Alle noch übrig gebliebenen Gefährten reagierten auf ihre eigene Weise auf die bedeutsamen Neuigkeiten, mit denen sie sich in jenen Sekunden konfrontiert sahen. Lester konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben: Er lief in der Krypta auf und ab. Viola wirkte nachdenklich, wie die gesamte Zeit über. Sie war der Anker, an dem Aarve sich in jener Sekunde festhielt. Er fixierte die schöne Frau und verlor sich in ihrem Mienenspiel. Zweifellos hätte er zynischer reagiert, wäre es nicht um sie und seine vorherigen, auf wenig Begeisterung gestoßenen Ausbrüche bestellt gewesen. Jin gab sich überrascht, aber weiterhin schweigsam. Seine Artgenossin Lily zog es unterstützend zu ihrer besten Freundin. „Was ist los mit euch?“, appellierte sie an die Geduld der kleinen Gruppe. „Ich für meinen Teil will jedenfalls wissen, wie es weitergeht!“ „Danke, Lily“, wusste Eva den Einsatz der Elfe angemessen zu würdigen. „Natürlich will ich das auch!“, entfuhr es Lester in tiefem und lautem Tonfall. „Nur ahne ich, worauf das alles abzuzielen droht.“ „Dann erleuchte uns geistig weniger Gesegneten das doch bitte.“ Fast erkannte Aarve seinen eigenen Zynismus in der Stimme Violas wieder. Lester überließ Eva diese wichtige Aufgabe. „Was die Wächter wissen, ist, dass die Minari das Portal vor dreitausend Jahren dazu nutzten, sich eine größere Armee zusammenzustellen. Sie lockten die Menschen damals in größeren Zahlen nach Minewood und ließen sie für sich kämpfen. Ein Mensch war es jedoch auch, der die Quelle der Magie – oder wie auch immer man es nun nennen will – zum Versiegen brachte und dem Krieg somit die entscheidende Wendung gab.“ „Und nun glaubst du ...“ „Miraaj und ihre Leute glauben es“, unterbrach die Anführerin die Zweifel des Blondschopfs, der sich selbst wohl kaum als ihr Untergebener betrachtete. „Okay, wie auch immer. Dann glauben sie eben, dass Peter derjenige welche ist, der in die Fußstapfen dieses tollen Hechtes treten soll?“ Aarve lachte verbittert. „Das kann ja heiter werden.“ „Ach, halt doch den Mund!“, entfuhr es Lily merklich angesäuert. Der Querulant nahm sie gar nicht wahr und widmete sich banalerer Dinge. Er nahm einige grobe Kieselsteine in die Hand und schnippte sie gekonnte in die Luft. Die Aufmerksamkeit des Finnen schien Eva wohl zu verlieren. Es störte sie nicht; sie konnte es gar verstehen. Für jemanden, der vor kurzer Zeit noch als Sklave für die Dunkelelfen hatte schuften müssen, waren wohl weitaus weniger tiefschürfende Dinge von größerer Bedeutung. Umso mehr gewann sie zur gleichen Zeit an Achtung vor Peter. Er war ebenso aus seinem Leben gerissen worden – erst vor wenigen Tagen-, bewies jedoch Mut und ein reifes Bewusstsein für die Dinge, die hier in der Fremde um ihn herum geschahen. Sie konnte nur erahnen, wie er sich in diesem Moment fühlen musste. „Versteht das nicht falsch: Auch die Wächter können nicht mit Sicherheit sagen, was damals vorgefallen ist“, versuchte Eva ihre Kameraden zu beruhigen. „Lediglich eines ist sicher: Es war ein Mensch, der damals das Ende des Krieges einleitete.“ „Doch wie?“ Peter wollte dieses bedeutende Puzzlestück unbedingt in das größere Ganze einfügen. „Was nützt es uns zu glauben, ich – oder irgendwer – sei der Auserwählte, wenn wir nicht mal wissen, was wir als nächstes tun sollen.“ „Er hat recht! Was wissen wir denn über diese eingestaubte Epoche?“ Immer wieder tat auch Lester seine Zweifel kund. „Was hat die Dunkelelfe denn vorgeschlagen, was wir ihrer Meinung nach tun sollten?“ „Sie ...“ Eva zögerte zunächst. Sie suchte den Mut zu überwinden und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Streng genommen gibt es nur eine wirkliche Option: Wir müssen nach Panafiel reisen, zum Ursprung, und dem Ganzen ein für alle Mal Einhalt gebieten.“ „Hey!“, drängte sich Aarve erneut auf. „Das soll unsere einzige Option sein? Wie kommst du denn bitte darauf?“ „Denk doch mal nach, Mann.“ Eine Zurechtweisung von Viola, hatte der vorlaute Kerl wirklich nicht erwartet. „Gardif und seine blauen Handlanger wissen über all das Bescheid. Vermutlich besser, als wir es tun. Wenn Pranas Fassade erst einbricht, was wird er dann wohl tun?“ Endlich klang auch bei dem stolzen Finnen die Bedrohlichkeit der Situation an. „Dann wird er sich erst Peter zurückholen und schließlich in seiner alten Heimat einmarschieren. Mit nobler Absicht, versteht sich ...“ Die Gefährten sahen sich nun allesamt der bedrückenden Realität gegenüber. Alles was hinter ihnen lag, war nur ein Vorgeschmack auf die Prüfungen auf dem langen, steinigen Weg gewesen, der sich noch vor ihnen erstreckte. Alle Zweifel an den Interpretationen jener alten Mythen konnten das ungute Gefühl tief im Innern der so unterschiedlichen Figuren nicht tilgen. Ein Krieg stand bevor, und wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit hinter der Geschichte der Wächter steckte, würde sich kein Elf, kein Minari und kein Mensch den Konsequenzen jener Auseinandersetzung entziehen können. ___________________________________________________________ „Ich konnte sie nicht finden in der letzten Nacht. Da war ... gar nichts“ Miraaj wanderte langsam auf und ab am Rande des Bassins, in das sich der kleine Wasserfall ergoss. Das beruhigende Plätschern konnte die Angespanntheit der Dunkelelfe nicht überspielen. Ihr Gefährte zeigte sich besorgt ob ihrer Missstimmung. „Wovon sprichst du da?“ „Sie hat mir nicht geantwortet. In meinen Träumen, meine ich.“ „Redest du von der Hexe?“, folgerte Neil schließlich „Nenn sie nicht so!“ Von allen Leuten hätte gerade er ihr mehr Respekt zollen müssen, schließlich war Prana letzten Endes seine Lebensversicherung in den vielen Jahren bei den Dunkelelfen gewesen. Hatte sie seine List und seine Fertigkeiten auch benötigt, um das Portal zu bedienen, war er mindestens ebenso abhängig von der ihren Magie gewesen, um es zu nutzen. „Bitte ...“ „Verzeih – aber ich liege doch richtig, oder?“ „Ja“, gestand Miraaj ein. „Ich mache mir große Sorgen. Sie wollte mich kontaktieren, tat es aber nicht. Dabei spielt uns das Schicksal zur Zeit mehr in die Karten, als wir es uns je erträumt hätten.“ „Was kann dahinter stecken?“, fragte ihr alter Freund wissbegierig. Auch er sorgte sich, wenn er Prana auch stets skeptisch gegenüberstand. Für seinen Geschmack umwoben noch viel zu viele Mysterien die schlafende Hexe, um ihr wirklich vertrauen zu können. „Ich weiß es nicht. Prana war selbst nach ihrer Verfluchung noch mächtig genug, zumindest durch Träume mit mir zu kommunizieren; hat aus der Not eine Tugend gemacht. Es kostete sie auch kaum Kraft ...“ „Was denkt ihr also?“ Die Ernsthaftigkeit dieser Angelegenheit zwang Neil geradezu, förmlich zu werden. „Vielleicht ist es aus mit ihr ...“ Bedrückt senkte die Dunkelelfe ihren Kopf. Sie verharrte auf der Stelle und beobachtete ihre verschwommene Reflexion auf der Oberfläche des kristallklaren Wassers. Man konnte leicht bis auf den Grund des seichten Gewässers schauen, und doch schien es Miraaj unmöglich, das eigene Abbild zu überwinden. Für sie selbst war es, als blicke sie in die Augen einer schwachen, gebrechlichen Frau – In diesem Moment mehr als jemals zuvor. „Sie ist ... tot?“ Der kleine Mann fiel aus allen Wolken. „Seid ihr euch da sicher?“ „Nein“, kam umgehend die Antwort. „Ich bin nicht mächtig genug, selbst mit ihr in Kontakt zu treten, oder das bisschen Lebensenergie aufzuspüren, das sie ausstrahlt“, erklärte sie und verurteilte ihre Schwäche im selben Moment innerlich. „Aber wie kann das möglich sein? Wurde sie ermordet?“, vermutete Neil alsbald ein Komplott. „Ermordet?“ Miraaj war sichtlich überrasch. „Wer würde sie ermorden wollen? Wer würde es fertigbringen?“ „Oh, meine Liebe“, holte der weise Kobold zu einem Rundumschlag aus, „ihr wisst ja nicht, wie es um Gardif und seine Untertanen bestellt ist. Die Prinzessin fürchtet Prana schon seit Jahren. Das habe selbst ich gespürt, ganz ohne Hokuspokus. Ihr würde ich eine solche Tat ohne weiteres zutrauen.“ „Doch wäre sie dazu gar nicht in der Lage“, wurde Neil in die Schranken gewiesen. „Prana mochte schwach gewesen sein, doch konzentrierte sie alle Macht, die sie noch besaß, stets auf ihr Überleben. Sie nahm alles wahr, was um sie herum geschah, das hatte sie mir einst anvertraut. Sie hatte keine Angst vor Uriah.“ So wie Miraaj von ihr sprach, war sie wohl doch davon überzeugt, dass Prana nicht mehr unter den Lebenden weilte. Was wusste sie noch? „Dann erklärt es mir!“ Und das tat sie schließlich. „Sie litt stets unter dem Fluch der Königin, und das nicht nur, weil ein längeres Erwachen aus ihrem Schlaf ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Sie war in ihren eigenen Alpträumen gefangen, fünfunddreißig Jahre lang.“ Neil kannte die Details jener Geschichte noch nicht. Es erstaunte ihn, all das zu hören. „Wie mächtig sie gewesen sein musste, sich in jener Dunkelheit zu orientieren und mich zu finden ...“ Miraaj wandte sich endlich ab von ihrem Spiegelbild. „Vor nicht allzu langer Zeit eröffnete Prana mir, das sie sich nach dem Ende sehnte.“ „Sie meinte doch bestimmt das Ende ihrer Mission, oder?“ „Das dachte ich zunächst auch; allerdings sagte sie, dass ihre Hand nicht mehr benötigt werden würde, würde der Auserwählte es erst bis hierher geschafft haben. Fortan läge es nicht mehr in ihrer Macht, den Ausgang des Geschehens zu beeinflussen, meinte sie.“ „Also brachte sie sich um?“ Es bedurfte keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu bemerken, dass Neil nicht daran glaubte. „Schätzt du sie tatsächlich so ein?“ „Fakt ist, dass sie aus ihren Alpträumen erwachen wollte. Nach so langer Zeit gab es nichts, das sie sich sehnlicher wünschte. Zwar wusste sie, dass es ihre letzte Kraft kosten würde, doch von Selbstmord kann dabei keine Rede sein. Es war vielmehr eine Erlösung.“ „Also seid ihr doch überzeugt davon?“, fragte Neil ein letztes Mal, das „Sie“ wieder nutzend, als wolle er seiner Frage dadurch Nachdruck verleihen. „Glaube mir, alter Freund, ich wünschte, ich wäre es nicht.“ Das war Antwort genug für den besorgten Mann. Zunächst konnte er die egoistische Tat der Hexe in Vyers nicht nachvollziehen, doch meinte Miraaj ja zuvor, dass sie ihren Gefolgsleuten in Adessa sowieso nicht mehr hätte helfen können. Überhaupt war die junge Magierin die einzige, die durch ihre speziellen Fähigkeiten Kontakt mit Prana aufnehmen konnte; so war der eine, wirkliche Unterschied der, dass Miraaj nun ganz allein an der Spitze ihrer Gemeinschaft stand. Sie war zweifellos mächtig und wissend genug, die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken, doch war sie auch reif genug dafür? „Was erwartet uns nun?“, fragte sie ihren Gefährten, der sich mit den Dunkelelfen in Caims weit besser auskannte, als sie. „Wenn Uriah Pranas Platz als Beraterin Gardifs einnimmt, könnten sie uns schon bald auf den Fersen sein. Das heißt, wenn die Prinzessin über Peter Bescheid weiß.“ „Und was glaubst du?“, wollte Miraaj eine persönliche Meinung ihres treuen Freundes einholen. „Tja ...“ Neil zupfte grübelnd seinen Kinnbart. „Uriah hatte eine Ahnung, was den Jungen betraf. Wenn sie Gardif von ihrer Meinung überzeugen kann, stecken wir in Schwierigkeiten.“ „Wie würden sie im schlimmsten Falle reagieren?“ „Im schlimmsten Falle?“ Die Blicke der beiden Wächter trafen sich. Der Ausdruck in Neils Augen verhieß nichts Gutes. „Vielleicht würden sie Truppen aussenden, um nach ihm zu suchen.“ Es war eine Hiobsbotschaft für die Dunkelelfe. Sie fürchtete vor allem, dass die Zeit gegen sie arbeiten würde. Was, wenn sie den Jungen und seine Freunde geradewegs in einen Krieg mit ihren Artgenossen schicken würde? Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Peter jenen Konflikt unbeschadet überstehen, wie hoch die, dass er dabei nicht Gardif in die Hände fallen würde? „Egal was auch geschieht, Neil, du darfst darüber kein Wort verlieren!“, wies sie ihren Freund an. „Sie dürfen davon unter keinen Umständen erfahren.“ „Selbst wenn die Entscheidung schon gefällt wäre: Die Dunkelelfen brauchten mindestens eine Woche, um uns zu erreichen. Und selbst wenn sie Tapion direkt über das Meer ansteuern würden, wären Peters Leute immer noch schneller am Ziel.“ „Doch was, wenn sie erfahren, dass der Feind vielleicht ihre Heimat anzugreifen plant? Würden sie ihre Leute im Stich lassen, Neil?“ Natürlich würden sie das nicht tun. Eher würden sie an deren Seite gegen eine Übermacht ankämpfen und dabei umkommen; sogar Peter traute er dergleichen mittlerweile zu. Genau das war ja das große Dilemma bei der ganzen Geschichte: die Unvernunft der menschlichen Rasse. Sie pflegten ihre Prinzipien, insbesondere dann, wenn Emotionen ihnen die ohnehin nicht sehr weit reichende Sicht vernebelten. „Verstehe schon ...“ Dem Zwerg imponierte die Durchtriebenheit der Dunkelelfe. Sie traf eben stets die Entscheidungen, die der Sache am dienlichsten waren, egal wie unpopulär diese auch sein mochten. „Demnach nehme ich auch nicht an, dass die junge Anführerin der Gruppe in Erfahrung gebracht hat, weswegen sie und ihre Leute letztlich bei uns gelandet sind?“ „Sie weiß so gut wie alles darüber“, antwortete Miraaj. Sie konnte Neil dabei aber nicht in die Augen sehen. „Und das ist wohl auch genug!“ „Ja“, gab sich die Magierin bedeckt. „Nun gut.“ Der Zwerg war gewillt, es dabei zu belassen. „Wir sollten uns aber im Klaren darüber sein, das unsere neuen Freunde uns das wohl nicht so leicht verzeihen werden, meine Liebe“, untertrieb Neil sogar noch. „Ich hoffe nicht, dass sie es je erfahren werden“, gab die Magierin zu. „Im Idealfalle siegt in Gardif ja vielleicht sogar die Vernunft.“ „Gibt es etwa Grund zu dieser Annahme?“ „Prana hatte ihn aufrichtig geliebt, schon Jahre vor dem Krieg“, erzählte Miraaj. „Wer weiß, wie viel Einfluss sie wirklich auf ihn hatte. Vielleicht ja genug, um Adessa einen neuerlichen Konflikt zu ersparen ... vielleicht ...“ „Es wäre so oder so nur ein Vorspiel für den eigentlichen Kampf ... Peter darf Gardif nicht in die Hände fallen“, sprach Neil. „Nein, unter keinen Umständen!“ ___________________________________________________________ ... ... ... ... ... ... Aubagne, Frankreich. Sechs Jahre früher (Erdzeit) Obwohl die Temperaturen genauso sommerlich waren, wie die Jahreszeit es nun mal mit sich brachte, fror Peter zu so früher Morgenstunde. Er war in der letzten Nacht in voller Montur ins Land der Träume übergetreten, nachdem er Maurice' Geschichten am Lagerfeuer eine schier endlos lange Zeit standgehalten hatte. Passenderweise war er es auch, der ihn mit seinem penetranten Gelärme aufweckte. Der Schlafraum befand sich auf dem Dachboden des kleinen Hauses, Momo schien ganz offensichtlich in der Küche zugange zu sein. Peter mühte sich redlich, einen Überblick zu ergattern. Trotz verschwommener Wahrnehmung erkannte er, dass Julies Bett verwaist war. Ihr war es überhaupt zu verdanken, dass sich Peter das Doppelbett mit seinem Freund teilen durfte. Gegen eine weniger traditionelle Verteilung, hätte er beileibe nichts einzuwenden gehabt. Als das Getue und Gepfeife aus dem Erdgeschoss immer penetranter wurde, gab es der Junge schließlich auf, wieder abzudriften. Hölzern rollte er sich zu Bettkante, griff nach seiner Waschtasche und zwang sich gähnend in eine aufrechte Position. Anschließend polterte er die kleine, dafür aber umso steilere Holztreppe hinab. „Hättest doch nicht aufstehen müssen“ gab sich sein Rührei zubereitender Busenfreund unschuldig. „Ich lach später ...“ Peter war noch nicht ausreichend auf der Höhe, um tiefgreifenden Gesprächen beizuwohnen, geschweige denn, sie anzufangen. Im engen Badezimmer kam ihn zum ersten Mal in den Sinn, das er Julie im Haus nirgends gesehen hatte. Zu seiner Verwunderung entdeckte er sie alsbald darauf bei einem Blick durch das Badezimmerfenster gleich neben dem Spiegel. Sie saß auf der Holzplatte, die vor Urzeiten sozusagen den ersten Spatenstich bei der Realisierung eines etwas zu ambitionierten Baumhausprojektes darstellte. In einigen Metern Höhe – zwischen den Ästen der beeindruckenden Pflanze – blickte das Mädchen träumend in die Ferne. Im Eiltempo machte sich Peter zurecht; begab sich dann schnurstracks wieder in den Wohnraum. „Was ist mit Julie los?“, fragte er Maurice. „Kein Ahnung. Sie war schon vor mir wach“, erklärte er. „Hab nicht gerade Lust, nachzufragen, wenn sie so drauf ist.“ „Wie ist sie denn drauf?“, gab sich Peter leicht angefressen. „Weißt schon ... so eben“ Maurice zeigte mit einer Gabel auf das angewinkelte Fenster vor ihm in Richtung Julie. „Ich schau mal nach ihr“, entgegnete sein Freund ihm unbeeindruckt. „Wenn du meinst ...“ Momo schien alles andere als begeistert. Unrecht hatte er auch nicht: Julie war manches Mal wie verloren in ihrer eigenen Welt. An solchen Tagen stand ihr der Sinn nicht nach Abenteuern oder kindischem Gerede. Man musste sie dann einfach machen lassen, und das taten die beiden auch immer – schon ganz instinktiv. Heute jedoch war Peter einfach nicht nach Trübsal oder dem Ignorieren seiner besten Freundin. So erklomm der Dreizehnjährige mehr schlecht als recht den Baum, der nur einen Katzensprung von der Hütte entfernt stand. Von hier oben eröffnete sich eine bildschöne Aussicht auf einen idyllisch gelegenen kleinen See, der sich im Tal der Garlabannen befand. Julie schien ihren Freund erst gar nicht zu bemerken, doch musste Peter sich sehr bald ertappt fühlen. „Nett, das du mich besuchen kommst.“ „Äh ... ja“, stotterte er unbeholfen. „Ist immer schöner, Gesellschaft zu haben“, sprach Julie mit Melancholie in der sanften Stimme. „Mein Reden!“, freute sich ihr Besucher über ihre positive Einstellung. „Hatte schon Angst, du würdest lieber für dich sein wollen.“ „Weißt du, ich glaube, das wäre auch so, wenn du es nicht wärst, Peter“, erklärte Julie offen und ehrlich. „Mit dir zu reden, fiel mir immer leicht, egal worüber.“ Wie geschmeichelt sich der Junge tatsächlich fühlte, behielt er für sich. Es fiel ihm ohnehin schwer auf solch bemerkenswerte, wundervolle Worte eine passende Reaktion zu finden. „Geht mir genauso“, brachte er noch über die Lippen und fügte ein: „Wirklich!“ hinzu. „Das freut mich.“ Ihr Lächeln zog Peter magisch in ihren Bann. Behutsam begab er sich direkt neben sie und setzte sich schließlich. „Früher war ich regelmäßig hier“, erzählte Julie. „Als wir noch alle zusammen in Aubagne gewohnt haben.“ „Ja? Wie oft denn?“ „Genau weiß ich es nicht – aber ziemlich oft, das kannst du mir glauben ...“ „Und warum zog es dich so oft hierher, wenn ich fragen darf?“ Natürlich durfte er. „Schwer zu sagen.“ Der Blick Julies wich nie von dem märchenhaften Ambiente, dass sich in der Ferne erstreckte; so wie Peters Blick nie von ihr wich. „Dieser Ort ist wie eine andere Welt, obwohl er gar nicht weit weg von zu Hause ist. Wenn es daheim Probleme gab, bin ich ganz allein hierher gekommen und habe ... habe nachgedacht.“ „Worüber?“ „Über Mama ... Papa ... alles Mögliche.“ „Verstehe.“ Maurice und er, sie beide wussten, wie es um Frau Lauret bestellt war. Lange Jahre schon zehrte der Krebs an ihr. Getroffen, hatten die beiden Jungen sie nur ein einziges mal; das war vor ziemlich genau einem halben Jahr, als man ebenso einen Ausflug nach Aubagne unternahm. Sie war eine sehr schöne Frau – zweifellos Julies Mutter-, wirkte aber auch schwach und zerbrechlich. Mit heiserer Stimme hatte sie die beiden empfangen, als Julie ihr ihre neuen Freunde vorstellen wollte. Immer lächelnd, mit ehrlicher Freude in ihren Augen. Es war ein Trauerspiel, dachte man daran, welch schwere Krankheit diesem gütigen Menschen zu schaffen machte. „Sie wird sterben.“ Peter traf der Schlag. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Ihr Mienenspiel verriet keine Gefühlsregung. Die Melancholie überwog noch immer alles andere. „Julie ...“ „Ich meine, ich weiß das schon seit einiger Zeit, und doch konnte ich es mir nie so recht eingestehen. Wollte nie daran glauben.“ „Das ist doch auch ganz normal“, versuchte Peter seine Freundin zu unterstützen, wo er nur konnte. „Ich musste erst wieder an diesen Ort kommen ... weglaufen, um alledem ins Auge sehen zu können. Und ich weiß nicht mal, wo das hinführen wird.“ Peter verstand nicht, was Julie damit meinte und versuchte instinktiv, ihr weiterhin Mut zuzusprechen. „Vielleicht wird ja noch alles gut!? Immerhin sagtest du doch, sie würde jetzt viel weniger Medikamente nehmen müssen, und das ist doch ein gutes Zeichen, nicht?“ „Das war allein ihre Entscheidung ...“ „Wie meinst du das?“, wunderte sich Peter über die Enttäuschung, die Julie ausstrahlte. „Die Ärzte raten ihr natürlich immer noch dazu, die Pillen einzunehmen, aber Mama sprach eines Tages mit Vater darüber, dass sie keine Kraft mehr hätte, ihr Leiden noch zu verlängern; und zu nichts anderem sind die Medikamente noch gut.“ „D-das ... das tut mir so leid Julie, das wusste ich nicht.“ „Mach dir keine Gedanken, Peter, du kannst ja nichts dafür.“ Ein schwacher Trost für ihn, so wie seine Worte wohl nur ein schwacher Trost für das Mädchen waren, die um das Leben ihrer Mutter bangte. Zumindest ehrlich und gut gemeint waren sie. „Eigentlich bist du der Letzte, dem ich das hätte erzählen sollen. Du weißt schon, weil deine Eltern doch ...“ „Unsinn!“, wehrte Peter Julies Bedenken umgehend ab. „Ich bin froh, dass du mir das alles anvertraust. Wir sind doch Freunde. Ich will alles wissen, was dich bedrückt, und versuchen dir zu helfen, wenn ich es kann.“ „Das tust du.“ Zum ersten Mal wandte Julie ihm ihr hübsches Gesicht zu. Sie weinte nicht, wirkte aber dennoch tieftraurig. „Als ich damals gehört habe, was deinen Eltern zugestoßen ist, als du noch jünger warst, war ich von dir völlig fasziniert“, erklärte sie. „Das bin ich noch immer. Du hast dich zu so einem tollen Menschen entwickelt, obwohl dir das Schicksal so übel mitgespielt hat.“ „Oh ...“ Peter konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie er vom Tod seiner Eltern erfahren und wie er sich mit gerade einmal sieben Jahren damals gefühlt hatte, doch war das schon einige Jahre her; eine lange Zeit für einen so jungen Menschen. Nach und nach hatte er lernen können, damit umzugehen und fühlte sich mittlerweile – nicht zuletzt durch seine Begegnung mit Julie – längst nicht mehr so traurig und niedergeschlagen. Nur noch sehr selten überkamen ihn die Gedanken an jenen schrecklichen Tag. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, hauchte er mehr, als dass er es sprach. „Du brauchst nichts zu sagen“, nahm Julie ihm die Bürde ab. „Ich weiß, dass meine Mutter sterben wird – bald schon. Genausogut weiß ich, dass ich traurig sein werde – trauriger als jemals zuvor. Aber wann immer es auch sein wird, ich werde zu allererst an dich denken, Peter, und was für ein wundervoller Mensch du bist. Ich werde jedes Mal daran denken, wenn ich traurig bin, und jedes Mal schwören, so stark zu sein, wie du es bist. Das verspreche ich dir!“ Worte waren fortan nicht mehr nötig, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, weder von Peters, noch von Julies Seite. Das Mädchen schmiegte sich an ihren Freund, den sie so aufrichtig bewunderte. Peter war noch immer erstaunt – wie erschlagen – von den Komplimenten, die Julie ihm just gemacht hatte. Nie zuvor hatte jemand so offenherzig derart einfühlsame Worte an ihn gerichtet. Niemals. Sie bewunderte ihn also. Es ehrte den Jungen, machte ihn stolz und auch ein wenig verlegen. Er scheute sich anschließend nicht, den Arm um Julie zu legen; es geschah fast schon spontan. Im Morgengrauen, an jenem besonderen Ort, jener außergewöhnlichen Situation schien es ganz einfach das einzig Richtige zu sein. ... ... ... ... ... ... Am Abend versammelte sich die Gruppe – in Begleitung einiger Wächter – bei den improvisierten Stallungen in der Nähe des Eingangs zu den Katakomben. Nuga, Prior und auch Neil waren dort und bereiteten den Abschied von ihren neu gewonnenen Freunden vor. Sie teilten nun eine gemeinsame Sache. Zumindest hoffte Neil, das dem so war. Der untersetzte, alte Mann zeigte sich guter Dinge, dass Miraaj und auch das Mädchen Peter und die anderen hatten überzeugen können. Die größte Bürde lastete nun wohl zweifellos auf den erst neunzehnjährigen Franzosen, dem sich die wirkliche Tragweite von allem, was er im Untergrund in Erfahrung bringen konnte, noch gar nicht erschloss. Neil beobachtete ihn aufmerksam, als er sich im Anblick des Einhorns zu verlieren schien. Vielleicht waren es aber auch seine Gedanken, die ihn seine Umgebung für einen kurzen Augenblick ausblenden ließen. „Wird sie nicht kommen?“, fragte er etwas heiser klingend nach der Dunkelelfe Miraaj. „Oh doch, das wird sie!“, versicherte ihm Neil. „Ich soll es dir eigentlich nicht verraten – aber lass mich dir soviel sagen: Du wirst nicht mit leeren Händen nach Tapion aufbrechen, he he.“ „Ach was?“ Die Geheimniskrämerei des Alten ließ Peter kalt. Miraaj war von den meisten unbemerkt aus dem Dunkel der unterirdischen Gewölbe an die Gruppe heran geschritten. Erst als sie die Hand auf die Schulter des Jungen legte, ward er sich ihrer Anwesenheit voll und ganz bewusst. „Peter?“ Es war nur eine kleine Berührung, doch blieb ein jeder Kontakt mit der faszinierenden Magierin ein unvergessliches Erlebnis. Obwohl so umgänglich und gar menschlich, erhielt sich Miraaj durch ihre gesamte Erscheinung doch stets die Aura des Unerreichbaren. „J-ja?“ „Bevor du aufbrichst, möchte ich dir noch ein Geschenk machen.“ „Oh, tatsächlich? Und ich dachte schon, Neil will mich auf den Arm nehmen.“ Für die verdorbene Überraschung erntete der kleine Mann von seiner Anführerin einen bedrohlich wirkenden Blick aus den Augenwinkeln und ein zufriedenes Grinsen von dem Jungen, dem er vor nicht allzu langer Zeit so viel Kummer bereitet hatte. „Wie dem auch sei“, sprach die Elfe und zog im selben Moment ein matt-goldenes Kurzschwert unter ihrem Umhang hervor. Unbehagen schreckte nicht nur den Jungen auf. Die Augenpaare aller Anwesenden waren auf die beiden gerichtet. „Das hier ist ein ganz besonderes Relikt vergangener Tage.“ Wenn dem denn auch so war, beruhigte die Nähe der Klinge zum Hals ihres Gegenübers die umstehenden Zuschauer nicht im Geringsten. Miraaj hatte zunächst nur Augen für die Waffe. Erst als sie entwaffnend lächelnd das Schwert vorsichtig in beide Hände nahm und Peter mit einer öffnenden Geste präsentierte, ebbte die Anspannung ab. „Und das soll für mich sein?“ Weder wusste Peter mit der eleganten, wenn auch sichtbar alten Waffe umzugehen noch warum er ein Geschenk wie dieses verdient haben sollte. „Ich fürchte, ich bin nicht sonderlich gut im Umgang mit ...“ „Noch nicht!“, kürzte die Dunkelelfe ab. „Darauf kommt es auch gar nicht an. Du musst wissen, dass dieses Schwert einst einem Mitglied der Karawane gehört hat, die es damals in den Norden Panafiels zog.“ „Du meinst ...“ „Ganz recht! Dieselbe Karawane, der auch der Mensch angehörte, dessen Erbe du antreten sollst.“ „Und das soll dreitausend Jahre alt sein?“, gab sich Viola, die das Gespräch der beiden mitgeschnitten hatte, skeptisch. „Eher noch älter“, antwortete Miraaj unbeeindruckt. „Tja, vielleicht kann ich ihm daheim ja ein paar Tricks beibringen.“ Sie meinte das durchaus ernst. „Damit du mich nicht missverstehst, Eva kann mir im Schwertkampf nicht das Wasser reichen“, fügte sie – wenn auch bedeutend leiser – noch hinzu. „Ich werd' drauf zurückkommen!“ „Noch etwas.“ Flüsternd wandte sich Miraaj erneut an den Jungen. „Nimm auch das hier mit.“ Sie überreichte dem Jungen ein dünnes Buch, der Einband war schwarz und leicht angestaubt. Schon die Zeichen auf der Front zu entziffern, war Peter unmöglich. „Und achte immer darauf!“ „Was ist das?“ „Aufzeichnungen, die dir vielleicht noch von Nutzen sein werden.“ „Ich kann's nicht lesen, fürchte ich.“ „Wie ich schon sagte: Noch nicht!“ Scheinbar schien Miraaj Gefallen daran gefunden zu haben, sich in Mysterien zu hüllen. „Es ist in antiker elf'scher Sprache verfasst; sie zu erlernen, wird die eigentliche Schwierigkeit darstellen.“ „Ich denke, Eva und die anderen könnten mir dabei vielleicht behilflich sein.“ „Sie sollen dir helfen, wo es nur geht, doch versprich mir, dass nur du aus diesem Buch lesen wirst, verstanden? Daran läge mir sehr viel.“ „Oh ...“ Peter konnte natürlich nur entfernt erahnen, warum die Magierin von ihm Verschwiegenheit einforderte, doch war es eine Selbstverständlichkeit für ihn, ihr diesen Wunsch zu gewähren. „Versprochen. Ich werde es für mich behalten.“ „Ich danke dir. Und pass gut darauf auf, ja?“ „Werde es hüten, wie meinen Augapfel!“, sagte er lächelnd. Die Dunkelelfe verabschiedete sich mit einer Zärtlichkeit. Sie strich Peter über die Wangen und blickte ihm dabei tief in die Augen. Was sie in ihm sah, erschloss sich dem Neunzehnjährigen noch immer nicht, doch konnte er mittlerweile zumindest vermuten, was es war, nämlich Hoffnung. Nachdem sie den jungen Mann so zuvorkommend verabschiedet hatte, widmete sie sich seinen Gefährten, einem nach den anderen. Für sie alle hatte Miraaj dankende Worte und beste Wünsche übrig. Welch beunruhigende Aura sie auch immer umgeben mochte, so war es nahezu unmöglich, unlautere Absichten bei ihr zu vermuten. „Wenn wir und beeilen, sollten wir die Stadt in drei Tagen erreicht haben“, verkündete Eva lautstark. Sie wies Peter mit unmissverständlicher Körpersprache an, das Einhorn zu satteln und sah sich anschließend in der Runde um. „Meinst du, du kannst mit uns mithalten?“, fragte sie den Elf Jin. Er hatte noch keine Anstalten gemacht, sich einen Platz auf dem Rücken eines der Pferde zu reservieren. Den ganzen Weg über zu fliegen, traute Eva dem willensstarken Jüngling zwar zu, vermutete aber andere Beweggründe. Sie sollte recht behalten. „Ich werde nicht mit euch kommen“, ließ er kurz und knapp verlauten. Die Überraschung war den Freunden des Jungen anzumerken. Besonders Lily glaubte nicht recht, was sie da eben hatte hören müssen. „Bist du auf den Kopf gefallen?“, gab sie sich wenig verständnisvoll. „Natürlich wirst du mit uns kommen! Wo willst du denn sonst hin, huh? Allein zurück nach Ballybofey!?“ „Lily!“, versuchte Eva ihre kleine Freundin zu zügeln. „Versteht das bitte nicht falsch“, begann der sonst so schweigsame Junge sich zu erklären. „Es hat nichts mit euch zu tun, oder mit den Sachen, die Eva uns allen anvertraut hat. Wenn ich auch bezweifle, dass ich euch eine große Hilfe sein könnte, wäre ich euch gerne nach Tapion gefolgt; schon allein, um diesen Ort einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben. Allerdings ...“ „Du hattest von Beginn an deine eigenen Gründe, auf diese Reise zu gehen. Kein Grund jetzt Schuldgefühle zu haben.“ Viola wusste natürlich weit besser darüber Bescheid, was den Elfen bewegte, als Lily. „Und ... und nun?“ Seine Artgenossin schien noch lange nicht fertig zu sein. „Jetzt gibst du auf und bleibst hier? Ausgerechnet hier?“ „Kindchen, wie naiv bist du eigentlich?“, zischte Aarve in Richtung der aufgebrachten Elfe. „Es tut mir leid, Lily,“ glaubte Jin zumindest, obwohl es ihn wunderte, warum ausgerechnet sie so aufgebracht war, „aber meine Entscheidung steht.“ „Fein!“, gab sich die Elfe schließlich geschlagen. „Mach doch, was du willst!“ Mit einer gehörigen Portion Unverständnis aber auch Wehmut, ließ sie von ihm ab. „Dann ist das wohl beschlossene Sache“, stellte Lester fest, der dem Elf als erster die Hand reichte. „Du wirst in unseren Reihen immer willkommen sein, kleiner Jin.“ „D-danke“ Die Worte ehrten den Jungen. Eva war die nächste, die sich von ihm verabschiedete, nahm ihn sogar fest in den Arm und sagte: „Verzeih mir. Ich habe nicht gewollt, das du all das miterleben musst. Ich hoffe, du wirst hier dein Glück finden.“ „Es war nicht deine Schuld, Eva. Nichts davon“, ermunterte der sichtlich gerührte Elfenjunge seine neu gewonnene Freundin. „Ich danke dir, dass du mir meinen Wunsch erfüllt hast. Ohne dich hätte ich es nie soweit geschafft.“ Eva lächelte. Das bittere Gefühl dabei, konnte sie jedoch nicht verdrängen. „Wenn es dich eines Tages wieder in die Heimat ziehen sollte, musst du nicht allein gehen. In Tapion wird es genügend Menschen geben, die die Reise mit dir bestreiten, hörst du?“ „Verstehe. Danke!“ „Meide nur diese ... du weißt schon.“ Ihr Blick schweifte in Richtung Ballymena. „Darauf kannst du dich verlassen!“ „Ihm wird es bei uns an nichts mangeln“, sprach Miraaj, während sie mütterlich den Arm um Jin legte. Die beiden bemerkten sie erst im letzten Moment. „Daran zweifle ich nicht.“ Es waren die letzten Worte, die an jenem Abend zwischen der Gruppe und ihren Gastgebern gewechselt wurden. Der Aufbruch, der nun um ein weiteres Mitglied dezimierten Karawane war zwar nicht tränenreich, aber durchaus wehmütig. Miraaj und Neil hatten nicht zuletzt ihr eigenes Schicksal in die Hände jener mutigen Menschen gelegt. Fortan hätten sie weit weniger Einfluss auf die Geschicke eben jener neu gewonnenen Mitstreiter. Am Ende hatten nicht alle Mitglieder der Gruppe nach den letzten Etappen dieser Reise ausschließlich Verluste zu beklagen. Zumindest Jin hatte in der Nähe der alten Stadt gefunden, wonach er solange gesucht hatte. Der Elf stand noch lange am Rande der Klippen, die nicht weit von den Katakomben entfernt einen weitreichenden Blick über das Land im Norden verschafften. Erst als die Karawane am Horizont verschwand, verließ er seinen Posten. Er war nicht allein. Sie war bei ihm. Gehasst ------- Kapitel 19 – Gehasst Kerzenlicht erhellte an jenem späten Abend den großen Thronsaal. Die Atmosphäre, die Lady Uriah sich geschaffen hatte, erinnerte nur entfernt an Gardifs persönliche Vorlieben. Nach dem überraschenden Ableben ihres Herren und seiner heißgeliebten Prana hatte Uriah die meiste Zeit am Ort des Geschehens verbracht. Nicht, weil sie der Tat genauer auf den Grund gehen wollte, oder sich in ihrem prädestinierten neuen Domizil wohnlich machen wollte; es waren weit weniger naheliegende Gründe, die die Prinzessin der Dunkelelfen auch zu so später Stunde noch in Akribie versetzten. Uriah war auf der Suche nach den Hinterlassenschaften der nun für alle Ewigkeit schlafenden Hexe. Doch selbst mit einigen Aufzeichnungen Gardifs hätte sie mittlerweile vorlieb genommen – gefunden hatte sie bisher nämlich nichts dergleichen. Obwohl es ihr vorkam, als hätte sie in jeder noch so versteckt gelegenen Nische, in jedem noch so kleinen, geheimen Verschlag, hinter jedem Vorhang, in jedem Regal und unter jedem Gemälde – wie geschmacklos es auch gewesen war – gesucht, drang sich der Magierin der Gedanke auf, etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Ihrer Magie vertraute sie bei der Suche allerdings nicht. Sie war sich durchaus bewusst, dass normale Dunkelelfen, Waldelfen, Minari oder auch Menschen Gegenständen, zu denen sie eine besondere Beziehung pflegten, mit einer emotionalen Spur ihrer selbst belegten, ohne es zu wissen. Wie Fingerabdrücke verloren sich winzige Teile ihrer Seelen auf ihren Schätzen. Der Hexe Prana traute Uriah aber nicht zu, zu Lebzeiten so unvorsichtig gewesen zu sein. Nichtsdestotrotz war die Suche nach eben jenen Spuren der Prinzessin erste Tat. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Ortoroz sie aufsuchen käme; und obschon Uriah ihn längst in ihren Bann gezogen hatte, bereitete ihr das Sorgen. Zumindest der Lauf der Dinge spielte ihr in die Karten. Gedanken an ihre Angst davor, von Prana gerichtet zu werden, rangen ihr mittlerweile nur noch ein müdes Lächeln ab. In Hast versetzt, sah sich Uriah vor die Frage gestellt, ob die Hexe überhaupt auch nur ein Staubkorn, das Rückschlüsse auf ihr Leben zuließ, im Diesseits zurückgelassen hatte, oder ob die Hexe keineswegs so überstürzt und von Gefühlen überwältigt dem eigenen Tod begegnet war, wie es den Eindruck erweckt hatte. Schon lange starrte die Prinzessin dabei über das verwaiste Bett der gehassten Hohepriesterin hinweg in das immer nächtliche Idyll Gardifs' Gewächshauses. Sie kannte diesen Ort kaum; hatte erst wenige Male das zweifelhafte Vergnügen gehabt, einen Blick auf die Sternrosen zu erhaschen, während sie stets dem philosophierenden Minari bei seinen Gesprächen mit der schlafenden Hexe lauschte. Mittlerweile hatte sich das Ambiente jedoch deutlich verändert. Dann fiel es Uriah wieder ein: Die immerwährende Nacht war nur ein Trugbild, das Prana für ihren Geliebten geschaffen hatte, damit jener sich an dem für ihn heimischen Anblick laben konnte. Das Dunkel, in welches die gläserne Kuppel im Hier und Jetzt gehüllt war hingegen, war real und es war endgültig. Es dauerte, bis sie jene Eindrücke völlig verarbeitet hatte, doch letzten Endes sah sie sich in ihren Observationen bestätigt. Normalerweise regte die Nacht die fremdartigen Pflanzen dazu an, ihre silbrig leuchtenden Pollen in die Luft abzusondern. Ein Schauspiel, das den Raum erst wirklich zu erhellen vermochte. Doch in dem Gewächshaus war es stockfinster. Was sich wohl wirklich in jenem Raum verbarg? In Uriah stiegen noch ein weiteres Mal Glücksgefühle auf, wenn sie sich im selben Moment auch dafür Ohrfeigen wollte, nicht schon viel früher an jenen Ort gedacht zu haben. Ihr Streifzug durch das Oval des völlig leer scheinenden Raumes dauerte nicht lange an. Unter den trügerischen Gewändern existierten hier scheinbar nur Gestein, Staub und einige leere Regale, die so alt aussahen, wie die Grundmauern der Festung selbst – fast wie mit ihnen verwachsen. Uriah zeigte jedoch keine Berührungsängste. Sie war es gewohnt, anzupacken, seit jeher schon. Eigenschaften, die sich, nachdem es sie und die Überreste ihres Volkes vor Jahrzehnten nach Caims gezogen hatte, quasi von allein einstellten. Die Privilegien, die sie in Ballymena als Kind hatte genießen können, vermochten weder Gardif, noch Ortoroz, noch irgendwer ihr an diesem Ort zu bieten. Sie hatte sich nie daran gestört; war immer stark gewesen, für ihre Leute, die zu ihr aufsahen. Am Ende ihrer Suche stand ein einziges Buch, ebenso verstaubt wie das Mobiliar, in dem es vor langer Zeit versteckt worden war. Ein flüchtiger Gedanke beunruhigte die Magierin, als sie in dem Heiligtum ihres verstorbenen Herrschers den Hinterlassenschaften ihrer verhassten Feindin Prana auf den Grund ging: Ob die Hexe – ganz wie vor ihrem Tod – wohl auch in der Vergangenheit schon aus ihrem Schlaf erwacht war, um selbst in diesem Buch zu schreiben? War sie wirklich so mächtig gewesen? Vielleicht ... Eine andere Variante, lag jedoch näher. Ohne Zweifel war Prana in der Lage gewesen, selbst außergewöhnlich starke Zauber zu wirken, während sie schlief, das musste Uriah selbst vor kurzer Zeit am eigenen Leibe erfahren. Etwas so triviales, wie ihre Gedanken per Magie zu Papier zu bringen, hätte sie wohl nicht einmal herausgefordert. So wagte Lady Uriah das Buch zu öffnen, und was sie sah, bestätigte ihre Vermutungen: Die uralte Schrift der Hochelfen verriet das Handwerk Pranas. Die Prinzessin sprach in Gedanken ein Stoßgebet in Richtung Himmel aus. Ihrer Mutter – der Königin – und ihrer ganz persönlichen Vorliebe für dieses Überbleibsel vergangener Tage hatte sie es zu verdanken, dass sie nun, ohne viel Zeit zu verlieren, ihre Schlüsse aus den Worten Pranas ziehen konnte. Uriah sah den kommenden Stunden freudig gegenüber. Sie würde jedes Wort in sich aufsaugen, das die Hexe in den vielen Jahren zu Papier gebracht hatte. Jedes einzelne Wort. __________________________________________________________ Die Ländereien nördlich der verwunschenen Stadt Ballymena glichen einer Ödnis. Weit und breit erstreckte sich karges Gestein; ausgetrocknet wirkende Landstriche, die hier und dort wie ein Flickenteppich von Gräsern und Unkraut bedeckt waren – Oasen in jener von der Natur verlassenen Wüste. Reyne war diese Aussicht neu. Erst ein einziges Mal zuvor – es war gut ein Jahr her – war sie zusammen mit Elmo nach Tapion gezogen, allerdings war das Pärchen seinerzeit nicht darauf angewiesen, den gefährlichen Umweg durch die Ruinen der Hauptstadt der Dunkelelfen zu nehmen. Elmo selbst wäre niemals in den Sinn gekommen, seine geliebte Reyne einer solchen Gefahr auszusetzen, wenngleich Abenteuer dieser Art für ihn stets einen gewissen Reiz ausgemacht hatten. Seit jeher zog ihn die Magie Adessas in seinen Bann; so hatte er es Reyne einst anvertraut. Doch obwohl – oder gerade weil – die Dunkelelfe selbst Einsamkeit gewohnt war, hatte sie nie wirklich verstanden, wie man sich danach sehnen konnte. Nachdem er ihr das Leben gerettet hatte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen ... Ob er sich gewünscht hätte, an jenem geheimnisvollen Ort zur Ruhe gesetzt zu werden? Von ihr? Reyne hoffte es, denn mehr hatte sie letzten Endes nicht für ihn tun können. Was ihm einst gelungen war, blieb der schönen Elfe verwehrt. Sie machte das Schicksal dafür verantwortlich. Es schien sie immer wieder auf die Probe stellen zu wollen; ein Martyrium folgte dem nächsten, wenn es dieses Mal auch länger auf sich hatte warten lassen. Der Schmerz saß umso tiefer. Reyne ließ ihren Blick kreisen. Weit und breit kein Anzeichen für Überbleibsel von Zivilisation oder Leben in irgendeiner Form. Ein alter Kompass gab ihr die Richtung vor. Auf der Karte, die sich in ihrem Besitz befand, war Tapion nicht eingezeichnet, doch konnte Reyne sehr gut abschätzen, wo sich die Siedlung der Menschen befand; sie wusste, dass sie sich nordöstlich halten musste. Mit einer liebevollen Streicheleinheit dankte sie ihrem Pferd dessen Mühen, wohlwissend, dass noch ein weiter Weg vor ihnen lag. Sie fürchtete nicht die Strapazen – zumindest der Himmel erwies sich als gnädig, da die dicke, graue Wolkendecke die unbarmherzige Sonne verdeckte und kühlenden Regen versprach-, nur die Einsamkeit bedrückte sie. Schon früh war der aufmerksamen Kundschafterin das abstrakt anmutende Felsmassiv in der Ferne ins Auge gestochen, doch erst jetzt, da sie sich ihrer Entdeckung näherte, wurde ihre Neugier geweckt. Das war kein überdimensionaler Findling inmitten des flachen Landes. Giftgrüne Flora schien sich am Gestein entlang zu schlängeln. Reyne gab ihrem treuen Gefährten die Sporen um jenes Gebilde genauer zu erkunden. Sie stoppte ihren Hengst einige Meter vor der wahren Oase in der Ödnis; in der Tat glich der künstlich scheinende Wasserfall mitsamt des kristallklaren Baches, in den er sich ergoss, wie ein Ölgemälde inmitten der Pampa. Doch wo hatte das Wasser, dass aus dem haushohen Fels drang, seinen Ursprung? Mit Sicherheit im Untergrund, erkannte Reyne das Offensichtliche, da sie weit und breit keinen Flusslauf oder dergleichen ausgemacht hatte. Starker Druck musste die Flüssigkeit an die Oberfläche pumpen um diesen sprudelnden Kreislauf zu erschaffen. Reyne vermutete sofort, dass dieses Naturschauspiel vielleicht gar keines war. Zwar befand sie sich längst weit jenseits der Mauern Ballymenas, doch mutete die Oase inmitten der kargen Landschaft zweifellos magisch an. Die Schlingpflanzen, die sie zuvor aus der Ferne erkannt hatte, entsprangen einer dichten, gut genährt scheinenden Hecke aus saftigem Grün, die über dem ständig pulsierenden Gewässer Schatten spendete. Ein echter Blickfang, zweifellos! Romantisch, gewissermaßen. Und doch ... „Was denkst du, Harad?“, adressierte Reyne aus der Hocke ihren vierbeinigen Freund, ohne dabei den Mut aufzubringen, auch nur einen Finger in das Wasser zu tauchen. Schockiert musste sie kurz darauf erkennen, dass der Durst des Hengstes, der lange schon auf Erfrischung hatte verzichten müssen, ihn unlängst verführt hatte. Gierig trank das Tier und sorgte sich dabei nicht um eventuelle Folgen. Für ihn war diese Oase einzig und allein ein Segen. „Nicht!“, rief seine Herrin schrill; doch bemerkte die Dunkelelfe bald, dass ihre Bedenken wohl unberechtigt waren. Einige Sekunden blieb sie in böser Erwartung völlig regungslos hocken, den Blick fest auf ihren einzigen Gefährten gerichtet, an dessen Schicksal das ihre hier draußen im Nirgendwo zweifellos gebunden war; dann verließ sie langsam aber sicher auch der letzte Rest Besorgnis. Die Dunkelelfe stand auf und schritt bedächtig an ihren Freund heran. Sie tätschelte ihm den kräftigen Hals. Er hatte sich als mutiger erwiesen, als seine Herrin. Auf jeden Fall aber auch als der Naivere der beiden. „Ich hoffe, du genießt es ... Dummkopf!“ Reyne füllte jede Wasserflasche, die sich bei sich hatte und jedes andere Gefäß, dass sich als geeignetes Behältnis für das lebensspendende Elixier erwies. Dabei wuchs noch ein anderes simples Verlangen in der jungen Frau. Die tagelangen Strapazen, allem voran die Erlebnisse in Ballymena, hatten ihre Spuren hinterlassen. „Du hast doch nichts dagegen?“, fragte sie Harad, ohne eine Reaktion oder gar eine Antwort zu erwarten. Eilig legte Reyne ihre spärliche Bekleidung ab – sie zog Bewegungsfreiheit sperriger Rüstung seit eh und je vor. Auch ihren Zopf löste sie, der ihr langes Haar sonst stets zu einem Pferdeschwanz geflochten hielt. Als sie in das kühle Nass eintrat, verursachte die Kälte umgehend eine Gänsehaut bei der Dunkelelfe. Es war ein intensives Gefühl, dass ihr ein überraschtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Vorsichtig schritt sie voran. Im Zentrum des Gewässers war dessen Pegelstand am höchsten, bedeckte den von zahlreichen, künstlerischen Tätowierungen verzierten Körper der Elfe jedoch nur bis zu ihrem Bauchnabel. Sie überwand sich schließlich und tauchte rasch gänzlich in das kristallklare Wasser ein, indem sie sich in die Hocke begab. Die Erfrischung war für einen kurzen Augenblick fast schon überwältigend. „Du solltest das erleben“, empfahl Reyne dem Hengst seufzend, der jedoch gänzlich unbeeindruckt weiter seinen Durst stillte. „Weißt ja nicht, was dir entgeht!“ Die Dunkelelfe reckte und streckte sich genüsslich in dem mysteriösen Bad, dessen Erbauer – und sie war längst davon überzeugt, dass jene Oase kein Wunder der Natur war – sie in Gedanken für seine Genialität bewunderte und es ihm dankte, hier, mitten im Nirgendwo, Reisenden wie ihr ein solches Refugium der Zivilisation hinterlassen zu haben. Es zog Reyne schließlich zu den Kaskaden des kleinen Wasserfalls, der dem merkwürdig geformten, großen Fels entsprang. Nahe an dem Gestein stand sie fast gänzlich im Freien; ihr Körper glänzte im Licht, dass durch die Schwälle des Wassers, die auf sie hinunter prassten, gebrochen wurde. Sie wirkte wahrlich märchenhaft in diesem Ambiente. Wie das fehlende Teil in dem Ölgemälde, an welches die Schönheit jener Ort vor kurzem noch erinnert hatte; makellos in jeder Hinsicht. Doch fiel Reyne just in diesem Moment ein solcher Makel – ein Überbleibsel ihrer Vergangenheit – ins Auge. Während sie sich wusch verharrte sie mit ihrer Hand an einer bestimmten Stelle nahe ihrer linken Schulter. Sie überdeckte eine münzgroße Narbe und konnte in jenem Augenblick beinahe schwören, die Schmerzen von damals kehrten wieder. Doch es waren letztlich nur die Erinnerungen an Erlebtes, das sie wohl niemals würde vergessen können. ... ... ... ... ... ... Caims, westliche Grenzfestung Inverness. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Die Gamms brachten alle Kraft auf, das schwere Tor des Außenpostens zu öffnen. Hindurch schritten schleppend drei weibliche Dunkelelfen; unter ihnen Prinzessin Uriah höchstpersönlich. Die gezähmten Monster machten sich nichts aus der Ehre, die ihnen zuteil wurde; sie hatten nur verinnerlicht, dass jedwedes Ungehorsam stets mit drakonischen Bestrafungen gesühnt wurde und unterwarfen sich ihren Herren – den Dunkelelfen – deshalb demütig, wenn es der Natur der Wesen auch widersprach. Sie waren zu dumm! Zu simpel gestrickt, um einen Aufstand zu wagen. In dem Außenposten waren Spitzohren allerdings nie über einen längeren Zeitpunkt postiert. Ab und an wurde Ausrüstung verstaut und Nahrung für Durchreisende sowie die Gamms herangeschafft, mehr jedoch nicht. Man hatte es geschafft, die wilden, aggressiven Bewohner der Insel soweit zu domestizieren, dass sie sich größtenteils selbst versorgen konnten, wenn sie auf ihre Herren auch nach wie vor angewiesen waren. Lady Uriah gab den Weg vor. Sie stützte dabei eine schwer verletzte Jägerin, deren gesamte linke Körperhälfte blutgetränkt war. Der Verwundeten gelang es nicht mal mehr, sich selbst auf den Beinen zu halten. Einige Meter hinter den beiden quälte sich schließlich Re'na in die kleine Festung. Ein abgebrochener Pfeil durchbohrte ihre Schulter, doch hielt sie sich wacker. „Hier herüber!“, rief ihr die Prinzessin zu und deutete auf eine Holzbank, die vor dem Vorratslager aufgestellt war. Sie setzte ihre geschundene Untertanin vorsichtig ab und untersuchte anschließend deren Verletzungen. Es handelte sich um tiefe Bisswunden, angerichtet von einem wahrlich monströsen Kiefer. „Bleib wach, mein Kind!“ „Wie geht es ihr?“, fragte Re'na schüchtern, als sie die rastenden Frauen schließlich einholte. „Nicht gut“, gestand Lady Uriah ehrlich ein. Sorgen zeichneten ihr Gesicht; sie liebte ihre Mädchen wie ihre eigenen Kinder, wenngleich keine von ihren Gefolgsleuten auch nur annähernd mit ihren Begabungen mithalten konnte. „Und was ist mit dir?“, wandte sie sich an Re'na. „Wird schon wieder“, gab sie sich zuversichtlich. „Danke ...“ „Lass den Pfeil am besten noch stecken. Ich werde deine Wunde bald heilen, versprochen.“ „Das müsst ihr nicht, wirklich ...“ „Aber natürlich!“, entgegnete Uriah entschieden. „Mindestens das bin ich dir schuldig. Schließlich war der Pfeil für mich gedacht gewesen; und so, wie dieser Mensch Tara zugerichtet hat, würde er jetzt wohl in meinem Herzen stecken.“ Tara war nicht die Elfe, um deren Leben es Hier und Jetzt zu bangen galt. Ein einziger Schuss aus einer Armbrust, von der sich Re'na noch immer fragte, wo die Beute dieser missglückten Jagd sie wohl gefunden haben mochte, hatte ausgereicht, um die Vierte im Bunde auszuschalten. Dabei hatte Re'na alles mit ansehen müssen, angefangen beim Schrecken in Taras Gesicht, als sie des Reisenden Waffe erblickte, bis hin zur Panik in ihren Augen, als sogleich der erste abgeschossene Bolzen mit brutaler Kraft ihren Hals durchbohrte und ihre Kameradin verzweifelt um Luft ringend zurückließ. Danach war alles sehr schnell gegangen: Taras Guri nahm Reißaus, genauso wie Re'nas zweibeiniges Reittier, als sie abstieg, um die Prinzessin zu schützen. Sie hatte dabei ganz instinktiv gehandelt: Erst nahm sie den Angreifer in Augenschein und als sie bemerkte, dass er einen weiteren Bolzen gespannt hatte und auf Uriah zielte, warf sie sich wagemutig in die Schusslinie. Auch das majestätische Guri der Prinzessin geriet daraufhin in Panik und warf sie schließlich ab. Es sollte das zweite große Glück der Blaublüterin sein, da ihr Freund in Panik versetzt alles niedermachte, was sich ihm in den Weg stellte. Erst nachdem das wütende Tier den Menschen zerfetzt hatte, begann Uriah einen Zauber zu sprechen, der es beruhigen sollte – doch zu spät ... „Ruhig Blut, Selene“ Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, ihre Wunden schwächten sie bis an den Rand der Bewusstlosigkeit. „Ich hätte ihn töten sollen, als sich die Gelegenheit dazu ergab, stattdessen versuchte ich ihn zu verzaubern.“ gab sich Uriah einsichtig. „Was für eine Anführerin ...“ „Es war nicht ihre Schuld“, versuchte Re'na ihre Herrin aufzumuntern. „Niemand hätte all das voraussehen können. Sie haben nur versucht, das Richtige zu tun.“ „Das habe ich ...“ Uriah strich ihrer sterbenden Artgenossin über die Wange, gab ihr einen Kuss auf die glühende Stirn. „Zumindest jetzt wird dieser elende Zauber noch einmal von Nutzen sein.“ Re'na wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Lady Uriah wollte Selene von ihren Qualen erlösen. Die Verletzungen der Jägerin wogen einfach zu schwer, um sie jetzt noch heilen zu können. Obwohl Re'na der Ansicht war, dass Uriahs Entscheidung die richtige war, konnte sie sich nicht ausmalen, wie schwer es ihrer Anführerin wohl fallen musste, diese letztendlich zu treffen. Als die Magie zu wirken begann, bemerkte die leidende Frau es fast gar nicht. Selene schlief friedlich ein, während eine vereinzelte Träne über ihre zuvor so liebevoll von der Prinzessin berührten Wange glitt. „Das ist dann wohl das Ende dieser Jagd“, zog Uriah ein trauriges Fazit. „Wir werden andere finden, die Tara und Selenes Andenken in Ehren halten werden.“ „Nein, meine Liebe.“ Die Prinzessin stand auf und wandte sich nun ganz ihrer letzten verbliebenen Untertanin zu. „Deine Zeit ist jetzt gekommen. Ich habe andere Pläne für dich.“ ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Es konnte nicht sein! Niemals! Unmöglich konnte wahr sein, was sie da gelesen hatte. Vielleicht hatte die Hexe ja damit gerechnet, dass ihrer Konkurrentin dieses Buch früher oder später in die Hände fallen würde und gezielt falsche Informationen darin gesät; vielleicht war gar alles darin gelogen!? Ja, so musste es sein! Lieber würde Uriah das Buch – wie aufschlussreich es auch immer schien – verbrennen, als zu glauben, was sich ihr auf dessen letzten Seiten offenbart hatte. Lieber würde sie sich eingestehen, in diese Falle der Hexe getappt zu sein und somit Zweifel an den eigenen Fähigkeiten nähren, als an diesen Humbug zu glauben. Vielleicht hätte sie es sogar lieber gehabt, dass Prana noch am Leben wäre. Das alles nur ein weiteres ihrer durchtriebenen Spielchen war. Das wäre um einiges erträglicher für die Prinzessin gewesen, als akzeptieren zu müssen, dass die Hexe in ihrem Tagebuch wirklich die Wahrheit niedergeschrieben hatte. Längst jedoch hielten Angst, Zorn und Ungeduld Uriahs Seele fest umschlossen, sodass die Dunkelelfe mit keinem geringeren Übel mehr rechnen konnte, auch wenn sie es wollte, sich regelrecht danach sehnte. Dann, wie ein Stich ins Herz, traf sie die Erkenntnis in Form einer noch frischen Erinnerung, die dennoch schon tief in ihrem Innern vergraben lag. Die letzten Worte des weißen Ritters, den Uriah in ihrer Wut vor wenigen Tagen von seinem Leiden erlöst hatte, hallten wieder und wieder in den Gedanken der Hohepriesterin: Du bist nicht die einzige, hatte er gesagt. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte sie gespürt, wie ihre Kehle Staub trocken wurde und Angst die Oberhand gewann. Doch beendete sie nicht nur das Leben des Menschen in jener Nacht – auch der seinen letzten Worten entzog sie das Leben, indem sie bis heute keinen Gedanken mehr daran verschwendet hatte. Uriah fuhr sich nervös durch das aufgewühlte Haar. Unruhig lief sie im Thronsaal umher, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Viele schreckliche Szenarien spielten sich in ihrem Kopf ab. Sie hatte Sindrel und ihre Brut ausgelöscht, noch bevor sie ihr gefährlich werden konnten. Stolz war sie darauf nie gewesen, doch hatte die Prinzessin es stets im Lichte der einzig richtigen Entscheidung betrachtet. Nun begann sie ernsthaft zu zweifeln, ob dem wirklich so war. Bestrafte sie das Schicksal etwa für die Missetaten ihrer Vergangenheit? Wie nur war es möglich, dass es in Adessa eine Hohepriesterin gab? Wo kam diese Miraaj her, mit der Prana bis vor einiger Zeit noch in Kontakt gestanden hat? Wie konnte sie so Nahe der verfluchten Ruinen überleben? Wie mächtig war sie wirklich? Alle Gedanken in Uriahs Kopf drehten sich nur um die fremde Magierin, nicht etwa um die Wächter, oder das offensichtliche Komplott, indem Prana verstrickt gewesen war. Auch die Pläne, die sich der Prinzessin in Form jener detaillierten Aufzeichnungen eröffneten: Das alles war für sie uninteressant, verglichen mit der größten Bedrohung von allen – Miraaj. Um sie herum im Thronsaal war es so still, dass Uriah Schritte aus dem Treppenhaus wahrnehmen konnte. Es waren einige Stunden vergangen, ja, verflogen! Mehr Zeit, als die Elfe für möglich hielt. Sie folgerte, dass es sich nur um ihren Gemahl Ortoroz handeln konnte, der angekündigt hatte, in der Nacht mit ihr Audienz zu halten. Eilig versuchte die Prinzessin sich herzurichten, um ihrem Liebhaber keinen Spielraum für Vermutungen über ihr Wohl zu eröffnen. Sie wischte sich den Staub vom Körper, glättete ihr Haar so gut es ging und atmete einige Male tief durch. Was nun folgen würde, war mit Sicherheit die schwerste Schlacht von allen. Eine Erkenntnis war in Uriah längst gereift: Sie wollte nach Adessa – mit Hundertschaften der Armee – um sie zu finden und zu vernichten, auch wenn es Krieg gegen die Menschen bedeuten würde. Zum Teufel! Früher oder später würde dieser Konflikt unausweichlich sein! Um diesen Plan letzten Endes auch in die Tat umzusetzen, galt es zu aller erst, Ortoroz voll und ganz für sich zu gewinnen. Dafür würde sie zweifellos alles tun, doch hoffte sie inständig, dass es nicht zum Äußersten kommen würde. Nur mit ihm an ihrer Seite, würde das Volk den Entscheidungen frönen, die Uriah längst für sich getroffen hatte, es der Masse aber noch zu verkünden galt. ___________________________________________________________ Es beschlich Reyne das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Instinkte waren messerscharf wie eh und je, und so zweifelte sie keine Sekunde an ihrer Wahrnehmung. Doch wer oder was sollte ihr hierher gefolgt sein? Zudem erachtete die Elfe es als unmöglich, einen Verfolger in diesem Terrain nicht schon früher wahrgenommen zu haben. Es sei denn ... Der Gedanke, einen Artgenossen aus den Reihen ihrer alten Profession auf den Fersen zu haben, beunruhigte Reyne endgültig. In jenem Falle wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert. Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Zudem lag ihre Ausrüstung in weiter Ferne. Für den Augenblick, so musste sich die junge Frau eingestehen, würde ihr schon ein Fetzen Stoff genügen. Harad, der sich am Rande des Gewässers aufhielt, schien keinerlei inneren Tumult zu verspüren – so viel zum Instinkt des Hengstes. Bedrohlich mochte die Situation zwar noch nicht anmuten, doch tat Reyne gut daran, auf der Hut zu sein. Nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken. Erst als ein Rascheln im Dickicht allzu deutlich an ihr Ohr drang, bröckelte die Fassade. Ein Schnauben des Pferdes lenkte sie kurz darauf ab. „Shh!“, wies sie Harad zurecht, der daraufhin ungläubig hinüber zu seiner Herrin blickte. Als der Blick der jungen Dunkelelfe wieder zum Ursprung des Geräusches wanderte, sah sie sich dem Störenfried gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht begegneten sie sich, und Reyne konnte im ersten Moment kaum glauben, was sie sah. Es war ein Tier, nur ein Tier. Eines, von dessen Art sie noch nie zuvor eines gesehen hatte. Eine ranke, schlanke Gestalt; katzenhaft, mit großen, dunklen Augen. Feines, hellbraunes Fell schützte ihren gesamten Körper – glatt überall, nur der Schwanz war von wilderem, buschigen Wuchs des samten schimmernden Haares überzogen. Die markante Schnauze des Wesens erinnerte dagegen viel mehr an ein Nagetier. Sie verlieh dem übereifrigen Etwas unweigerlich listigen Charme. Das Starren nahm Reyne erst einiges später als solches war – immerhin tat sie es dem fremden Wesen gleich. Die Augen des ungebetenen Gastes wichen nicht von ihr, und einen Moment lang fühlte die nackte Frau gar Scham in sich aufsteigen, bis ihr Verstand sich dafür selbst ohrfeigte. Welch niedere Intentionen sollte ein kleines, unscheinbares Tier wie dieses schon mit sich herumtragen? Wahrscheinlich lebte es hier schon seit Jahren. Wenn jemand ungebetener Gast in dieser Oase war, dann war sie es! Ein Schnauben des Hengstes ließ das unscheinbare Ding zusammenzucken, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Nur den Bruchteil einer Sekunde fasste es argwöhnisch Harad ins Auge, nur um gleich darauf erneut die schöne Elfe ins Visier zu nehmen. Trieb ihn die Angst in jene starre Haltung, den Feind fest fixiert? Falls es wirklich Bedrohlichkeit war, die Reyne ausstrahlte, so tat es ihrer wahren Gemütslage unrecht. Auch der Angst war sie, ob des harmlos wirkenden Geschöpfes, nicht verfallen. So beschloss sie, die Wasserstelle behutsam zu verlassen. Sie hatte alles bekommen was sie benötigte. Es gab keinen Grund, den Herren dieses Kleinods der Natur noch weiter zu verärgern. Sie respektierte die Besitzansprüche des Wesens, das auch mitsamt des buschigen Schwanzes – nach Reynes Schätzung – kaum länger sein durfte, als dreißig Zentimeter. Erst im letzten Moment kehrte sie dem Tier den Rücken, während sie ihre Kleidung ergriff. Die ganze Zeit über, hatte es sich nicht vom Fleck gerührt, sie stets angestarrt, als sich die Dunkelelfe dann jedoch wieder nach dem neugierigen Oasenbewohner umsah, war es wie vom Erdboden verschluckt – keine Spur weit und breit. „Du hast es doch auch gesehen, oder?“, hauchte sie in Richtung Harad. Der Hengst gab ihr mit einem heftigen Pusten zu verstehen, was immer sie verstehen wollte. „Merkwürdig“, flüsterte sie noch. ... ... ... ... ... ... Vyers Faste. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Niemals hätte sie geglaubt, dass Lady Uriah ihr ein derartiges Geschenk machen würde, nach den jüngsten Ereignissen schon gar nicht. Bei jedem Gedanken daran, wie sehr sie die Prinzessin noch gehasst hatte, nachdem diese das blutjunge Mädchen damals für die Jäger rekrutierte, kamen ihr schlagartig nichtig und lachhaft vor. Die Hohepriesterin hatte sich unlängst als eine Frau von Ehre erwiesen. Unter ihrer Führung hatte Re'na eine brillante Ausbildung erhalten – einer Soldatin durchaus würdig, wie sich nach all den Jahren herausstellen sollte. Noch beim langen Gang durch die kargen Hallen des Turmes hatte sie sich für das eigene Unvermögen geschämt, das sie ihrer Ansicht nach mitverantwortlich für den Tod ihrer beider Gefährtinnen machte. Dann, als Lady Uriah und sie die große Wendeltreppe der obersten Stockwerke beschritten, verweigerte ihr diese Scham gar die lang ersehnte Freude des Wiedersehens: Am reich verzierten Tor zu den Gemächern des Kommandanten war sie Seija begegnet. Sie stand stramm, den Blick geradeaus gerichtet und wendete sich den beiden Artgenossen erst zu, als Uriah sich ihr soweit genähert hatte, dass sie folgerichtig salutieren musste. In diesem Augenblick hatte Re'na sie auch erkannt. So weit hatte ihre ehemals beste Freundin gebracht! In Vyers eskortierte sie gar den Kommandanten bis in die höchsten Gefilde. Gerne wäre Re'na in diesem Moment stolz auf sie gewesen, gerne hätte sie zu ihr aufgeblickt und ihr ein anerkennendes Lächeln geschenkt. Doch am Ende hatte sie es vor lauter Pein nicht einmal gewagt, sich ihr zu offenbaren. In der Hoffnung, unerkannt bis in den Raum schreiten zu können, senkte sie ihren Kopf demütig und verbarg sich im Schatten und im Glanze ihrer Anführerin. Und Jetzt? Alles war anders. Ihr Leben wurde schlagartig auf den Kopf gestellt. Alles, so schien es, sollte sich letztlich doch noch zum Guten wenden. Dafür wollte sie Lady Uriah danken, Ortoroz danken, der ganzen Welt danken! Doch Re'na behielt in jenem glorreichen Augenblick die Fassung, auch wenn es ihr sichtlich schwer fiel. Die Vorfreude, nach so langer Zeit wieder mit Seija zusammen sein zu können, hätte sie beinahe um den Verstand gebracht, als General Ortoroz sich erbarmte und sie ihrer Fesseln entledigte. „Re'na, du kannst nun gehen. Lady Uriah und ich werden die Details der letzten Jagd besprechen.“ „Jawohl!“, entgegnete die junge Dunkelelfe ihrem neuen obersten Vorgesetzten – ihr Körper kerzengerade-, bevor sie kehrt machte und den Raum durch die massive Holztüre verließ. Tausend Gedanken tanzten in ihrem Kopf umher. Einer jedoch überwog alle anderen: Seija, der sie sogleich in die Arme laufen würde, sollte die erste sein, die die große Nachricht erfahren sollte. Noch während die Tür ins Schloss fiel, war Reyne bereit das Siegel des Schweigens zu brechen, doch fand sie ihre Freundin zunächst nirgends vor. Sie nahm einige Stufen abwärts, um dort nach ihr zu sehen, zunächst ohne jeden Hintergedanken. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Sorge um ihre Artgenossin sie übermannte. Nie und nimmer hätte eine Soldatin unerlaubt ihren Posten verlassen, schon gar nicht sie, meinte Re'na die junge Frau noch immer einschätzen zu können, die sie seit fast dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Selbst wenn ihr Dienst vorüber gewesen war, hätte sie auf ihre Ablösung warten müssen, zudem es in ganz Caims niemanden höheren Ranges gab, der ihr einen Befehl hätte erteilen können, der dem des Kommandanten übergeordnet war. Ungeduldig suchte Re'na die unmittelbare Umgebung nach Hinweisen ab. Etwas lag im Argen, das spürte die junge Frau. Bald überlegte sie, die beunruhigenden Vorgänge Ortoroz und Uriah zu melden, zögerte aber, da sie die Konsequenzen, die dies für Seija nach sich gezogen hätte, fürchtete. Unweit der Türe auf dem oberen Treppenabsatz fand sie schließlich den Hinweis, den sie gesucht hatte, wenngleich sie sich kurz darauf auch wünschte, ihr Verstand hätte ihr bloß einen Streich gespielt. Es war Blut! Einige kleine, tiefrote Tropfen, und sie waren so frisch wie der kühle Wind, der durch die breiten Gänge des Turmes wehte. Fortan war Re'nas Verstand so klar wie nie zuvor. Seija war in Gefahr, und sie würde alles tun, ihr zu helfen! Die Hand am Griff des rechten ihrer Zwillingsschwerter stürmte sie die Treppen hinauf. Ihr war zu jenem Zeitpunkt nicht klar, nicht wichtig, dass am Ende der Wendeltreppe noch einzig und allein die Gemächer Lord Gardifs lagen. Mit jedem Schritt ließ sie mehrere Stufen hinter sich. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Freundin fand. Voller Entsetzen verlor sich die erst vor Minuten zur Soldatin ernannte Re'na in dem Anblick, der sich zu ihren Füßen ergab. Die Blutlache wuchs von Sekunde zu Sekunde an, bis das Blut ihrer Freundin schließlich gar die Stiefel der Dunkelelfe erfasste. Das rote Elixier drang aus der Kehle Seijas, die längst jede Lebenskraft verlassen hatte. Sie lag rücklings auf den steinernen Treppen, ihr Kopf hing leblos vom Absatz einer der Stufen herunter. Der Schrecken, den sie empfunden haben muss, stand der jungen Soldatin noch immer ins Gesicht geschrieben. Ihr Mund stand weit offen – Re'na kam nicht umher, sich das Grauen bildhaft auszumalen: Wie sie flehend nach Luft geschnappt haben muss, nachdem ihr die Kehle durchtrennt worden war. Auch ihre Augen waren aufgerissen, doch in ihnen sah Re'na nichts als Leere. Dieses schreckliche Zerrbild war alles, was ihr von ihrer geliebte Seija noch übrig geblieben war. „Stirb nicht! Ich flehe dich an, Daimia!“ Eine fremde Stimme erklang. Erst jetzt konnte Re'na sich vom Anblick ihrer toten Schwester trennen. Sie erklomm noch einige weitere Stufen, bis sie schließlich die Urheber der Worte ausmachen konnte. Es waren zwei Frauen. Die eine – eine Waldelfe – lag in den Armen der anderen – einer Menschenfrau. Langes, braunes Haar hüllte ihr Gesicht ein. Beide Eindringlinge waren bewaffnet, und an der Klinge des Schwertes, das aus dem Gürtel der Menschenfrau ragte, konnte Re'na schließlich Blut erkennen. Das es das Blut Seijas war, daran zweifelte sie keine Sekunde. Ihre Wut stieg ins Unermessliche, dabei war der Dunkelelfe völlig gleichgültig, ob die Fremden sie mittlerweile bemerkt hatten, oder nicht. Sie waren Mörder, und wie solche würden sie auch gerichtet werden, von ihr höchstpersönlich! Re'na zog die Waffe, auf dessen Griff ihre linke Hand schon lange genug in Erwartung geruht hatte, aus der Scheide. Das helle Geräusch des Stahls alarmierte die Mörderin. „Komm nicht näher!“, rief diese, doch das weinerliche Gebrüll sollte die Dunkelelfe, die zielstrebig und mit hasserfülltem Blick auf sie zukam, völlig unberührt lassen. „Bleib stehen, sag ich!“ Noch immer konnte die Mörderin ihre Tränen nicht unter Kontrolle halten. Womöglich war die kleine Elfenfrau in ihren Armen mittlerweile ihren Verletzungen erlegen. Gut gemacht, Seija!, dachte Re'na. „Du hast sie ermordet!“ Mit diesem Vorwurf stellte sich Re'na vor die kniende junge Frau und blickte angewidert auf sie herab. Als sie ausholte, um zum tödlichen Schlag anzusetzen, schaute sie der Fremden tief in die Augen. Alles was sie sah, war Leere – dieselbe Leere, wie zuvor in den Augen ihrer Freundin. Was sie wohl fühlte? Das tränennasse, hübsche Gesicht, ihr langes, braunes Haar, ihre zierliche Gestalt oder ihre tote Begleiterin – das alles konnte nicht verhindern, was anschließend geschah, was unvermeidlich war, was geschehen musste. Re'na schlitzte mit einer geschickten, wie grausamen Bewegung die Kehle der Fremden auf und tötete sie auf die gleiche Weise, wie die Menschenfrau zuvor Seija getötet hatte. Anschließend sah sie zu, wie das Leben aus dem Körper ihres entsetzten Opfers entwich. Bis zu ihrem letzten Atemzug ließ die Dunkelelfe sie nicht aus den Augen. Sie empfand weder Freude, noch Genugtuung dabei. Ob Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergingen, vermochte sie in ihrem Zustand nicht einzuschätzen. Irgendwann rissen Ortoroz, Uriah und sogar Lord Gardif sie gleichermaßen aus ihrer Trance. Ein Satz ihres Kommandeurs drang schließlich an ihr Ohr. Als jener ihr die Hand auf die Schulter legte und sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war, flüsterte er in seiner Erleichterung: „Gerade noch von der Jägerin zur Soldatin und schon jetzt eine Heldin, mein Kind.“ Wie konnte er es wagen? Zu ihren Füßen lagen nicht nur die Leichen der menschlichen Eindringlinge; nein, auch Seija, für deren Leben die Dunkelelfe ihr eigenes sofort eingetauscht hätte, lag leblos auf dem eiskalten Stufen des Treppenhauses, und alles, was Ortoroz in diesem Moment empfand, waren Stolz und Genugtuung? Was bedeuten ihre Taten jetzt noch? Was ihre Aufnahme im Heer? Alles was Re'na wollte, war mit ihrer Freundin zusammen zu sein. Hätte sie doch nur den Mut aufgebracht, noch wenigstens ein letztes Mal mit ihr zu sprechen, als sich ihr die Gelegenheit geboten hatte. Noch ein einziges Mal ihre Stimme hören, wenigstens das wollte sie. Reynes Welt lag in Scherben. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ „Ausrücken? Jetzt? Was ist nur los mit dir?“, echauffierte sich der General. „Gar nichts! Es ist an der Zeit für einen vernichtenden Schlag gegen die Menschen, bevor sie sich erneut organisieren und einen weiteren Angriff auf die Festung starten“, argumentierte Uriah. „Das würden sie nicht wagen.“ Ortoroz klang ganz und gar nicht überzeugt. „Sie haben zu große Verluste erlitten und verfügen nicht über die Ressourcen, einen noch größeren Angriff zu starten.“ „Was wissen wir denn über ihre tatsächliche Stärke?“ Eine berechtigte Frage. „Was wissen wir über ihr Potential?“ „Vielleicht nicht viel“, gab Ortoroz zu. „Auf jeden Fall nicht genug, um sie blindlings angreifen zu können. Vor allem jetzt, da Prana nicht mehr unter uns weilt.“ „Wir werden aber nicht blind sein, Liebster! Das hier“, Uriah zeigte auf das Buch, das sie bisher hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte, „wird unser Auge sein!“ „Und was soll das sein?“ Eindringlich musterte der Kommandant den Gegenstand. „Eine Karte?“ „Mehr noch!“, jubilierte seine Geliebte kurzzeitig. „Ein Bilderbuch, wenn man so will. Angefüllt mit den nie versiegenden Erinnerungen der Hexe. Für mich liegen all diese Informationen nun brach! Verstehst du, was ich sagen will?“ Der Kommandant überhörte ihre merkwürdige Anrede für die verstorbene Hohepriesterin absichtlich. Lange schon hatte er vermutet, dass Uriah Prana fürchtete, sie sogar verachtete. Die Prinzessin selbst bemerkte in ihrer Hochstimmung gar nicht, wie abfällig sie über ihre dahingeschiedene Rivalin sprach. „Was nützen uns ihre Erinnerungen von vor so vielen Jahren?“, fragte der noch immer zweifelnde Kriegsherr. „Prana hat zu ihrer Zeit viele Reisen nach Tapion und sogar nach Panafiel unternommen. Sie hat dabei stets Buch geführt und zahlreiche Zeichnungen angefertigt. Verbunden mit ihrem Streben, auch nach dem Tode zumindest Teile ihrer Seele in Form ihrer Magie zu hinterlassen, sind jene Unterlagen weit mehr als nur Papier und Tinte.“ Ortoroz hatte mit seinen Überzeugungen zu kämpfen. Sollte es wirklich so sein, wie Uriah ihm so begeistert einzureden versuchte, würde er ihr vielleicht sogar Beipflichten; doch davon wollte er sich zunächst selbst überzeugen. Zu sehr verwunderte ihn der plötzliche Sinneswandel der Dunkelelfe. Noch vor einigen Tagen war er es gewesen, der an Ort und Stelle einen militärischen Vergeltungsschlag forderte. „Lass mich sehen!“ „Nur zu.“ Uriah übergab dem Soldaten ohne zu zögern das Buch, von dem sie wusste, dass er es nicht würde deuten können. „Doch wirst du aus dem Kauderwelsch wohl nicht schlau werden.“ In der Tat überstieg schon die Sprache, in der dieses Sammelsurium teils Jahrzehnte alter Schriftstücke verfasst war, die Auffassungsgabe des Mannes. Ortoroz erkannte jedoch sehr deutlich Karten, die seinem noch immer ausgezeichneten Verständnis der Geographie Adessas genau entsprachen. Mehr und mehr wuchs in ihm der Wille, seiner Geliebten Vertrauen zu schenken. Aber einen Krieg führen? Ein solch folgenschwerer Schritt fiel ihm noch immer schwer zu bewältigen. „Was also, wenn wir die Menschen tatsächlich unterschätzen und uns schließlich einer der unseren ebenbürtigen Streitmacht gegenüber sehen?“, fragte der Kommandant in scharfem Ton nach. „Von den Strapazen der Reise gar nicht erst zu sprechen. Hat dieses Volk – unser Volk nicht schon genug leiden müssen? Vor einigen Tagen standest du neben mir und zügeltest den meinen Zorn. Du hieltest mich ab, eine Dummheit zu begehen, die du mir nun als verlockendes Angebot zu unterbreiten gedenkst?“ Ortoroz schüttelte betreten den Kopf. „Das kann ich einfach nicht verstehen.“ Uriah trafen die Worte des Soldaten schwer. Sie wandte sich ab von ihm und schritt bedächtig zu dem Fenster des Thronsaals, aus dem vor nicht allzu langer Zeit der Heißsporn Vash ohne Skrupel einen Artgenossen in den sicheren Tod geworfen hatte. Sie dachte daran, was sie in jenem Moment gefühlt hatte und zu welcher Niedertracht sie sich in den Tagen danach – bis heute – gezwungen sah. Letzten Endes meuchelte sie sogar einen der Ihren, ganz wie jener aufstrebende junge Dunkelelf zuvor. Diese ereignisreichen letzten Tage, die Ortoroz in Erinnerung gerufen hatte, hatten Lady Uriah stark verändert. „Ich hasse ihn“, hauchte Uriah gerade noch wahrnehmbar. „Diesen Ausblick, weißt du?“ Der Aufmerksamkeit des Kommandanten war sie sich sicher. „Und ich hasse den Geruch in den Straßen dieser Stadt. Fünfunddreißig Jahre sind eine lange Zeit, und doch wünschte ich mir manchmal, ich wäre noch einige Jahre früher hierher gekommen.“ „Prinzessin ...“ „So war ich leider alt genug zu vermissen; alt genug, die Heimat lieben gelernt zu haben“, erklärte sie. „Viele der Elfen da unten wissen gar nicht, wie es in Ballymena war; wissen ja nicht einmal, warum sie Prana verehrten, oder warum sie mich verehren. Für sie ist dieser Ort die eigentliche Heimat; und wenn man ihnen nicht stets erzählen würde, aus welchen Gründen sie sich nach der Fremde sehnen sollten, würden sie es wahrscheinlich auch nicht tun. Das alles haben diese dreieinhalb Jahrzehnte angerichtet! Was würde jedes weitere anrichten?“ Wahre Worte, die sie ihm gegenüber bisher nie ausgesprochen hatte. Das sie derartige Gedanken hegte, hatte Ortoroz immer nur vermuten können. Es tat gut, sie so offen sprechen zu hören, obgleich es auch schmerzte. „Ballymena ist Geschichte. Dorthin wird uns die Reise niemals führen, das weißt du doch!?“ „Egal! Sonstwo ist besser als hier!“, brüllte Uriah. Kurz darauf bahnten sich Tränen ihren Weg auf die Wangen der Magierin. „Ich will nicht mehr warten! Jeder Tag hier fühlt sich an wie ... sterben ...“ „Uriah ...“ Ortoroz fühlte mit seiner Geliebten, doch die Zweifel blieben. „Und wenn wir die Menschen besiegt haben, was dann? Panafiel können wir nicht angreifen, ohne den Schlüssel zur Macht der Minari in unseren Händen zu halten. Wir würden weiter suchen müssen, nicht?“ Früher oder später musste der Kommandant dieses Thema anschneiden. Es war die letzte Hürde für die Prinzessin, ihm zu beichten, was sie nun schon seit geraumer Zeit vermutete. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich ihm sofort anzuvertrauen; so oder so würde sie schon sehr bald erfahren, ob sie ihm wirklich vertrauen konnte. „Ortoroz, erinnerst du dich noch an Kara?“, umging sie die eigentliche Frage des Mannes geschickt. „Kara?“ Der Kommandant wusste kaum, wo ihm der Kopf stand, als Uriah urplötzlich über seine frühere Ausbilderin zu sprechen begann. „J-ja, ich erinnere mich an sie.“ „Sie war damals deine Vorgesetzte, richtig?“ „Ja ...“ „Für mich war sie weit mehr als das.“ Das Grinsen seiner Geliebten, deren Blick noch immer aus dem Turmfenster gerichtet war, entging Ortoroz. „Sie war wie eine Schwester für mich: immer da, wenn meine Eltern das Königreich bereisten. Manchmal frage ich mich noch heute, ob sie es ihr befohlen hatten, oder sie es aus freien Stücken tat ...“ „Kara hat dich geliebt wie ihre eigene Tochter, Uriah“, entfuhr es dem Krieger, der nur sehr selten derart rührende Worte verlor. „Ich danke dir, Ortoroz.“ Die Zufriedenheit auf dem makellosen Gesicht der Hohepriesterin breitete sich immer mehr aus. „Du ahnst ja nicht, wie viel mir das bedeutet, dies aus deinem Munde zu hören.“ Daran gab es keinerlei Zweifel. „Ich weiß, dass du sie gemocht hast: Sie hat mir viel erzählt.“ „Hat sie das?“ Ortoroz wollte mehr darüber erfahren, wagte es aber nicht, es offen zuzugeben. „Sie erzählte oft von ihrem Musterschüler Ortoroz und darüber, wie sie dich mehr arbeiten ließ, als alle anderen.“ „Kara“, entwich es wie ein Atemhauch aus der Kehle des Mannes. In Erinnerungen schwelgen – wie lange war es her, dass er das zuletzt getan hatte? Hatte er es jemals getan? „Ich war der Älteste unseres Zuges, ich sollte als Vorbild vorangehen.“ „Zweifellos“, stimmte Uriah zu. „Und doch verriet sie mir eines Tages, dass das nicht der einzige Grund war. Es war derselbe Tag, an dem sie mir ihre Gefühle gegenüber dem Volke offenbarte: Sie sagte, sie wäre deshalb Soldatin geworden, um im schlimmsten Falle alles Leid von mir, meinen Eltern und allen Dunkelelfen fernhalten zu können. Lieber wollte sie ihr eigenes Leben opfern, als jemals den Frieden in Ballymena gefährdet zu sehen. Sie liebte die Harmonie und das Königreich, das diese so lange zu bewahren imstande war, mehr als alles andere.“ Ja, das klang ganz nach der Kara, die Ortoroz gekannt hatte. Obwohl es nur ein triviales Detail war, brannte der Kommandant noch immer darauf zu erfahren, was genau es war, dass Kara Uriah damals betreffend seiner Person anvertraut hatte. Er sollte nicht enttäuscht werden: Die Prinzessin wandte sich ihm nun wieder zu. Auf einen Schlag wich die versteckte Zufriedenheit einer brachliegenden Fassade aus Verzweiflung und Unsicherheit. Zumindest war das der Augenschein. „Uriah, was ist mit dir?“ Ortoroz wich einige Schritte zurück, als er die Trauer im Gesicht seiner geliebten Prinzessin erkannte. „Sie sagte mir, dass dein Leben zu schade wäre, es dem Krieg zu widmen, wo doch der Frieden seit jeher das höchste Gut der Dunkelelfen war. Sie wollte dich auf die Probe stellen – Tag für Tag-, um zu sehen, ob es dir wirklich ernst war.“ Der Kommandant ballte die Fäuste. Er hatte mit der eigenen Fassung zu kämpfen. „Als die Hexen unsere Heimat zerstört hatten und wir hierher flüchten mussten, wollte ich nur das Eine: weniger so sein wie ich und mehr wie sie! Für mein Volk ...“ Ortoroz streckte den Arm nach ihr aus. Er wollte sie bei sich haben, so sehr, wie noch nie zuvor. Niemals hatte er sich ihr derart verbunden gefühlt. Die Prinzessin hatte ihrem Liebsten einen Gefallen unschätzbaren Wertes getan, als sie seine Erinnerungen an dessen erste wirkliche Liebe, mit der vor all den Jahren auch ein Teil seines eigenen Herzens gestorben war, auf so wundervolle Art und Weise auffrischte. Uriah hatte ihn längst neuerlich für sich gewonnen! Die Prinzessin ging auf sein Verlangen ein und begab sich in die schützenden Arme des Mannes, den sie bewusst manipulierte, jedoch auch aufrichtig liebte. Eine so mächtige und starke Frau wie sie zu beschützen, mochte vielleicht nicht nötig sein; das Gefühl zu haben, genau das zu tun, war dafür aber umso überwältigender. „Ich verstehe, was dich bewegt, Uriah.“ „Ich würde mein Volk niemals in den Krieg ziehen lassen, wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass es der einzig richtige Weg sei!“ „Ich weiß, Liebste“, versicherte Ortoroz der Göttin, die in den Armen des bulligen Hünen beinahe winzig wirkte. „Ich weiß ...“ „Und der Schlüssel“, flüsterte die Dunkelelfe, „wird in Adessa auf uns warten!“ ___________________________________________________________ Reyne hatte ihre Ausrüstung wieder angelegt und Harad gesattelt. Ihr langes Haar war noch immer schwer vom vielen Wasser und heftete wild an ihrem Körper. Gerade jetzt, da die Sonne bald vollständig am Horizont verschwunden war, brachte es die Elfe mehr zum Frieren, als dass es sie erfrischte. Eilig band sie ihr Haar zu dem von ihr bevorzugten Pferdeschwanz. Die pechschwarze, wallende Mähne war auch ihr ein stolz gehegtes Gut – ganz in Tradition ihres Volkes, mit dem sie in der Gegenwart nur noch so wenig verband-, doch erachtete sie die offene Pracht auf der Jagd und im Einsatz stets als hinderlich. Für aufwendigere Verzierungen, wie sie viele ihrer weiblichen Artgenossen zur Schau stellten, fehlten ihr sowohl Geduld als auch Fingerspitzengefühl. Sie kam nicht drum herum einen kurzen Gedanken an das seltsame Wesen zu verschwenden, das sie zuvor derart hatte überraschen können. Nach wie vor hielt es sich fern. Versteckt im Dickicht, einer Höhle im Gestein oder einem Erdloch, womöglich. Schon immer sah sich Reyne als begabter im Umgang mit Pfeil, Bogen und Säbel an. Überhaupt zweifelte sie, je einen bleibenden Eindruck beim anderen Geschlecht hinterlassen zu haben. Warum dieser Gedanke sie aber ausgerechnet jetzt ins Grübeln brachte, stellte nicht zuletzt die Dunkelelfe selbst vor ein Rätsel. Elmo war zweifelsohne von ihr angetan gewesen – ungemein sogar-, erinnerte sie sich gern an Zeiten der Zweisamkeit, nur um kurz darauf wieder das Stechen in der Brust zu fühlen, das stets aufkeimte, wenn die betäubende Ohnmacht über das Zurückliegende sie zu übermannen drohte. Dennoch hielt sie an der Frage fest, was es wohl war, das einen Mann wie ihn so an ihr fasziniert hatte. War es wirklich Liebe? Und wenn ja: beruhte sie zwangsläufig auf tiefen Empfindungen? Wie sie als Dunkelelfe wohl auf ihn gewirkt haben musste? Geheimnisvoll, exotisch ... Reyne hasste sich dafür, auch nur geringste Zweifel an der Aufrichtigkeit Elmos zu hegen, doch erkannte sie dadurch wiederum sehr schnell, welche Frage es war, die sich tatsächlich in ihr aufgedrängt hatte: Hatte sie ihn so aufrichtig geliebt, wie er es verdiente? Die Antwort lag in ihrer Jugend. Das Mädchen aus dem Waisenhaus: Seija, ihre Schwester. An der Aufrichtigkeit der Liebe zu ihr gab es nichts zu zweifeln – zu keiner Zeit. Jahre lang hatte sie ganz allein gegen die Widrigkeiten ihrer rauhen Kindheit angekämpft, in der Hoffnung, eines Tages wieder mit ihr vereint sein zu können. Doch war dieser Traum schließlich genauso jäh zerrissen worden, wie ihr Band mit Elmo. Sie beide lagen in der Erde Minewoods begraben; Reynes Liebe kreuzte bisher stets den Pfad des Todes – ein erschreckender Gedanke. Harad schien den Seelenzustand seiner Herrin wahrzunehmen. Er schmiegte seine Wange an die der Dunkelelfe. Reyne streichelte ihn instinktiv und dankte ihm die freundliche Zuneigung mit einem Kuss. Hier draußen in Nirgendwo war die Gesellschaft des Hengstes unschätzbar viel wert. „Komm, mein Freund“, flüsterte sie dem Tier ins Ohr. „Es ist nun nicht mehr weit.“ Reyne sprach öfter mit ihrem vierbeinigen Gefährten, als mit vielen der Zweibeiner, die sie umgaben. Gründe gab es dafür eigentlich keine – nur ihre generelle Zurückhaltung. Bei den Menschen hatte sie sich dabei nicht weniger heimisch gefühlt, als damals auf Caims bei den eigenen Artgenossen. Jetzt, da sie die wenigen neuen Freunde auch noch verloren hatte, wünschte sie sich aber, ihnen gegenüber offener gewesen zu sein. Auf ihrem Weg gen Norden verwehrte ihr sehr bald die Dunkelheit der Nacht ein wachsames Auge auf die Geschehnisse um sie herum. Wachsam genug, sich eines Angriffes zu erwehren, wäre die Soldatin und ausgebildete Jägerin zwar auch im Schlafe gewesen, ein so unscheinbares Wesen, wie den Störenfried von der Oase, der klammheimlich die Verfolgung aufgenommen hatte, wahrzunehmen, war wiederum eine andere Angelegenheit. Reyne vermutete nichts Böses in der trostlosen Umgebung dieser Ländereien, und auch wenn sie das gerissene Katzenwesen bemerkt hätte, wäre sie ob dessen harmloser Ausstrahlung kaum alarmiert worden. Was es war, das in dem Tier so ein brennendes Interesse an der Dunkelelfe geweckt hatte, wusste es letztlich nur selbst. Es tippelte eilig und zielstrebig hinter dem Pferd her und hielt dabei einen großen Sicherheitsabstand. Es wollte nicht entdeckt werden, jetzt noch nicht. ___________________________________________________________ Sie hatte die Nacht an seiner Seite verbracht. Es war das erste Mal seit Gardifs Tod, dass sie den höchsten Turm hinter sich lassen konnte; nun sah sie schwermütig auf dessen beschädigte Fassade. Die Reparaturen hatten umgehend nach dem Angriff begonnen, wovon die Gerüste, die etliche Meter an den Wänden des Bauwerkes hinauf ragten, zeugten. Nach dem heutigen Tage würden alle Arbeiten an jenem Relikt der Minari-Architektur eingestellt werden. Wenn die Nachricht von Gardifs und Pranas Ableben erst an die Ohren des gemeinen Volkes gedrungen war, würde der Zustand der Festung – dieses Gefängnisses – die geringste Sorge der stolzen Dunkelelfen sein. Vyers hatte ausgedient, ganz wie ihr alter Herrscher und dessen Muse. Uriah war nervös. Es war nun einzig und allein an der Prinzessin, ihre Spezies zu führen, und was sie vorsah, war nichts geringeres als Krieg gegen die Menschen. Sie musste den Auserwählten einfach zurückholen, den Verrat Pranas sühnen, koste es, was es wolle. „Es ist soweit.“ Ortoroz schritt durch den schweren Vorhang, der die Plattform im Zentrum des Marktes kreisrund von den Augen der sich sammelnden Menge abschirmte. Es bedurfte noch einiger Schritte, sich den Massen zu präsentieren, deren Präsenz nun aber noch deutlicher zu vernehmen war. „Meine Offiziere stehen in vorderster Front. Sie werden mir folgen, wohin es auch gehen mag. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“ „Ich danke dir.“ Und sie meinte es so. Der Kommandant näherte sich seiner Geliebten jetzt bis auf Haaresbreite und flüsterte ihr zu: „Das erste, was ich tat, als ich heute Morgen erwachte und dich neben mir liegen sah, war, dir mein Herz zu schenken.“ Etwas schien den Elf zu bedrücken. „Es war ein Treueschwur, von dem ich überzeugt war, besiegelt mit ...“ „... einem Kuss“, vollendete Uriah den Satz. Sie konnte sich erinnern. Tiefen Schlaf hatte sie in der vergangenen Nacht nicht gefunden. „Was ist auf einmal mit dir, Liebster?“ Ihren folgenden Annäherungsversuch wies Ortoroz zurück. „Du bist doch ehrlich mit mir?“ fragte er. „Aber ja!“ Warum zweifelte er plötzlich? Woran zweifelte er? „Dann sag mir, Prinzessin: Wo ist mein Sohn?“ Der Schock über diese Frage saß tief. Sie fühlte sich, als hätte soeben ein Pfeil ihre Brust durchbohrt. Als sich die Ereignisse zu überschlagen begannen, hatte sie keinen Gedanken mehr an ihre Jäger verschwendet. Ein großer Fehler, wie ihr schlagartig klar wurde. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung gänzlich wiedererlangte. Dann antwortete sie, ihren Blick beschämt von Ortoroz abgewandt. „Ich habe Prana nie vertraut“, gab sie zu. „Was?“ „Als sie den letzten Menschen abgefertigt hatte, hegte ich große Zweifel an ihrer Entscheidung. Berechtigte Zweifel, wie wir beide mittlerweile Wissen.“ „Und was hat das mit Sang zu tun.“ „Ich ...“ „Antworte schon!“ Ortoroz wurde ungehalten. Seine Wut konnte er nur schwerlich im Zaume halten, obschon er noch nicht wissen konnte, worauf Uriah letztendlich hinauswollte. „Ich habe meine Leute nach Adessa geschickt – alle, einschließlich Sang. Sie sollten die Menschen ausspionieren.“ Der Kommandant war entsetzt ob dieser Nachricht. So viel Leichtsinnigkeit hätte er Uriah niemals zugetraut. Wie konnte sie die Jäger nur ins Feindgebiet aussenden? Dafür waren sie gar nicht ausreichend ausgebildet; und wozu die Menschen ihrerseits in der Lage waren, hatten sie mit dem Angriff auf die Festung unlängst bewiesen. Zum ersten Mal in seinem Leben, war er ernsthaft um das Leben seines Sohnes besorgt. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“, warf Ortoroz der Hohepriesterin vor. „Du hattest kein Recht dazu, dies über uns hinweg allein zu entscheiden!“ Tatsächlich bedurften Schritte wie dieser stets von oberster Instanz abgesegnet zu werden, dessen war sich Uriah sehr wohl bewusst. „Gardif hätte dem niemals zugestimmt ...“ „Natürlich hätte er das nicht! Auf mein Anraten hin!“ „Es tut mir leid, Liebster.“ Eine Lüge, die in jenen Stunden nicht hätte durchschaut werden können. „Hmpf“, schnaubte Ortoroz seine Wut ein letztes Mal heraus, bevor er sich entschloss, es darauf beruhen zu lassen, für den Moment. „Jetzt spielt das auch keine Rolle mehr, schließlich werden wir es deinen Jägern schon sehr bald gleichtun und nach Adessa aufbrechen. Wir lesen sie dann vor Ort auf. Du weißt doch, wo sie sich befinden?“ „Natürlich!“ Erneut sprach die Prinzessin nur das aus, was ihr Gegenüber hören wollte. Den Jägern hatte sie bei ihrer Mission schließlich völlig freie Hand gelassen. „Ihre Routen sind mir sehr wohl bekannt.“ „Nun gut, dann ...“ „... werden wir alsbald den nächsten Schritt gehen“, vollendete die Elfe den Satz. „Vash tötete sie beide“, flüsterte Ortoroz seiner Geliebten noch einmal zu. „Ja, so war es.“ Uriahs Lächeln zeichnete sich nicht auf ihrem Gesicht ab, doch war sie innerlich so zufrieden, wie selten zuvor in ihrem Leben. Als die Prinzessin an die hochgelegene Balustrade schritt, eröffnete sich ihr ein beeindruckendes Schauspiel: Tausende ihrer Artgenossen – Soldaten und Zivilisten – hatte der Kommandant noch in der versiegenden Nacht in Bewegung setzen können. Es war, als wolle ganz Vyers den großen Ankündigungen der letzten noch verbliebenen Tochter des Königshauses lauschen. Wie Ortoroz es versprochen hatte, standen in Reihe und Glied an vorderster Front versammelt die Mitglieder des stolzen Heeres der Dunkelelfen – ein Ehrfurcht erregender Anblick. Dichtgedrängt hatten sich auch die anderen Bürger um den Marktplatz versammelt; jetzt, da sie ihre Prinzessin auf dem Balkon ausmachen konnten, wurde das Getümmel immer wilder, das Getose immer lauter. Sogar auf den Dächern der vielen Häuser der Stadt konnte Uriah noch bis in weite Ferne Dunkelelfen ausmachen, die sich listig einen ganz besonderen Blick auf das Geschehen ergattern konnten. Der Rahmen für ihre bedeutungsvolle Ansprache war geschaffen – nein, gar gesprengt worden. Es würde der Hohepriesterin schwer fallen, dieser in hohe Erwartung versetzten Massen vom Tode ihres Gönners und der Hexe Prana zu erzählen, doch würde dies letzten Endes unvermeidlich sein. Fortan wäre es an ihr und Ortoroz das Volk in die richtigen Bahnen zu leiten. Der Plan dazu war längst geschmiedet. Im kühlen Morgengrauen des noch jungfräulichen Tages blickten unzählige Augen voller Hoffnung auf die blasse Schönheit. Als sie ihre Arme Einhalt gebietend in die Höhe riss, ebbten allerorts die Unruhen ab. Als sich Uriah der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Leute sicher war, begann sie mit kräftiger Stimme, die durch einfache Magie um ein Vielfaches verstärkt wurde, zu reden. „Meine Freunde. Meine geliebten Söhne und Töchter.“ Schon nach den ersten Worten, die voller Selbstbewusstsein aus ihrer magischen Kehle gedrungen waren, verspürte die Prinzessin eine Art der Sensation, des Genusses, den sie zuvor als auf ewig vergessen abgetan hatte. Wie lange war es her, dass sie sich ihren Untertanen zuletzt so enthusiastisch präsentiert hatte? Hatte sie es je zuvor getan, sich jemals selbst als derart bedeutend wahrgenommen? In diesen Momenten tat sie es jedenfalls und dankte den Geistern ihrer verstorbenen Eltern und all jener treuen Ergebenen, die einst für sie gestorben waren. Die Euphorie suggerierte der gereiften Prinzessin, ihrem Volk jedwede noch so tragische Kunde unterbreiten zu können, ohne dass selbst der schmächtigste, feigste oder dümmste Elf sich darauf von ihr abwenden würde. Nicht an diesem jungfräulichen Morgen. Niemand würde je erfahren, wie Lady Uriah einst ihre unschuldige Seele verkauft hatte. Niemand kannte diese Seite der Prinzessin. Niemand wusste, zu welchen Greueltaten sie fähig war. Tausende Elfen blickten zur Balustrade hinauf. Sie alle sahen das Gleiche: Hoffnung. Das Tagebuch ------------ Kapitel 20 – Das Tagebuch Gerade zwei Tage war es her gewesen, dass der junge Waldelf Jin seinen Freunden Lebewohl sagte. Den Freunden, denen er es zu verdanken hatte, seinen Weg zu ihr gefunden zu haben, seiner verloren geglaubten Liebe. Er verdankte es ihrer Großherzigkeit und Aufopferung; und während großes Leid jene Gefährten ereilt hatten, war ausgerechnet er es, der sein Glück finden durfte. Alleine hätte er es aus der wohl behüteten Heimat unmöglich bis an diesen Ort geschafft. Niemals hätte er die lange Reise bis in den Norden des Kontinents Adessa heil bewältigen können, lauerten doch so viele Gefahren in den verzauberten Landen, von denen die meisten anderen Waldelfen zu Lebzeiten kaum einen Bruchteil zu Gesicht bekamen. Jin konnte erst jetzt wirklich beurteilen, wie glücklich sich seine Artgenossen in Ballybofey schätzen konnten, ein solch friedliches Paradies ihre Heimat nennen zu dürfen, und wie naiv diejenigen waren, die hinter den Grenzen des magischen Waldes Orte vermuteten, die es wirklich wert waren, erkundet zu werden. Auch wenn man Adessa seine Schönheit, Vielfalt und vor allem Magie nicht absprechen konnte, war dieses einstmals so harmonische Land über die letzten Dekaden der Dunkelheit hinweg doch immer mehr zu einen finsteren Schatten von alledem verkommen, für das man es einst rühmte. Hass verschlang den Kontinent – ein Übel, das die Bewohner dieser Welt vor langer Zeit selbst über sich gebracht hatten. Ein ganzes Volk vermochte das unaufhaltsame Elend, dessen Ursprung weder Magie noch finstere Mächte waren, schon auszulöschen, und es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis es die nächsten treffen würde. Irgendwann, so war Jin sich sicher, würden auch die Elfen des Lichts den Kampf gegen Niedertracht und Missgunst verlieren, die wie der schwarze Tod in Adessa wüteten. Vernunft und Furcht hatten versucht, Jin, als Schutzpatrone seiner selbst, diese Reise von Beginn an auszureden. Nur bewies sich die feurige Leidenschaft in der Brust des Jungen zu jener Zeit stärker als sein Verstand. Zum Glück, denn sie führte ihn zuletzt doch noch ans Ziel; führte ihn zu seinem Begehren, zu seinem Herzen. Als er ihr vor drei Tagen zum ersten Mal in die Augen sah, hätte Jin das Mädchen beinahe nicht wiedererkannt, obschon die junge Frau mit dem entzückenden Namen Herz seit jeher der immer wiederkehrende Traum war, der den Ursprung seiner Melancholie darstellte. Zugleich schöpfte Jin aus ihm jedoch auch all die Kraft und den Mut, den es aufzubringen galt, um die beschwerliche Reise anzugehen. Nur hatte er den Eindruck erlangt, dass von dem lebensfrohen und aufgeweckten Mädchen, das er einst lieben gelernt hatte, kaum noch etwas übrig war. Versteckt unter einer tiefschwarzen Tracht – das leuchtende Farbenspiel ihrer Flügel hinter dem dunklen Stoff verborgen – lag nicht mehr das junge, sorglos scheinende Mädchen, nein, Herz war längst erwachsen geworden, auf seltsame Art und Weise. Doch riss dieser erste Eindruck ihn auch tiefer in die Abgründe der Traurigkeit, so schwand seine Besorgnis dafür mit jeder Stunde, die er in ihrer Nähe verbringen konnte. Sie war verändert, ohne Zweifel, aber ihr Wesen konnte ihr keine Magie der Welt nehmen, nicht mal die der mächtigen Hohepriesterin, die die Gruppe von Ausgestoßenen anführte. Herz hatte in ihnen eine neue Familie gefunden. Sie hatte vergessen, was vor vier Jahren geschehen war. Sie hatte alles vergessen, was die Erinnerung an jene Nacht irgendwie hätte ans Tageslicht zurückbringen können. Ihre gesamte Vergangenheit. ___________________________________________________________ Die Magie im Herzen, versuchte sich der junge Elf in Gedanken zu motivieren. Mit diesen Worten hatte er diese Chance überhaupt erst erlangt; sie verschafften ihm Zeit, die er in ihrer Nähe verbringen konnte – in der Nähe des Mädchens, das ihn so faszinierte, ja, um den Verstand brachte. Doch was wusste er schon von ihr? Seit drei Jahren lebte sie nun schon Seite an Seite mit den Frauen, Männern und Kindern in den riesigen Gewölben des Untergrunds, nahe der Ruinen Ballymenas, der einstmals stolzen Hauptstadt der Dunkelelfen. Sie war längst Teil dieser Ausgestoßenen, die sich selbst die Wächter nannten. In den letzten Tagen hatte Jin das Mädchen bei jeder Gelegenheit beobachtet, sie fast schon observiert. Er war nicht so naiv zu glauben, es sei ihr nie aufgefallen, allerdings schien sich das aufgeweckte Elfenmädchen mit den rosigen Wangen nicht sonderlich daran zu stören. Gefahr strahlte der Neuankömmling wahrlich nicht aus. Was es letzten Endes war, das sie dazu bewog, den fremden Jungen anzusprechen, sollte Jin ein Rätsel bleiben. Eine schicksalhafte Fügung, die ihm zumindest eine Bürde von den Schultern nahm. „Hey, könntest du mir vielleicht zur Hand gehen?“ Im ersten Moment wäre Jin am liebsten tief im Erdboden versunken. Nun waren ihr seine Rundgänge also endgültig aufgefallen. Ob sie ahnte, worauf das alles abzielte? So oder so: Irgendwann musste dieses mühselige Spiel ja mal ein Ende finden, auch wenn es ihn traf, wie der Schlag. „I-ich?“ „Natürlich du!“ Die Elfe, die ihre zierliche Person zumeist unter schwarzer Seide und das kurze, rosa Haar unter einem ebenso finsteren Barett verbarg, saß ganz allein in dem Schlafsaal, den in den Abendstunden die Jünglinge bevölkerten. Außer Jin war keine Seele in der Nähe. „Ist doch sonst niemand hier, oder?“ Jin atmete tief ein und versuchte seine Nervosität zu verbergen, so gut ihm das in ihrer Nähe eben möglich war. „Klar helfe ich, wenn ich kann.“ „Oh, das wirst du schon packen, glaube ich.“ „Worum geht es denn?“ erkundigte er sich nach dem Anliegen der jungen Dame und trat dabei etwas zögerlich an sie heran. „Tja ...“ Jins Herzdame sprang von dem kleinen Bett auf, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte und stützte Pläne schmiedend ihren Kopf auf dem rechten Handrücken ab. „ich bereite eine kleine Überraschung für unsere Jüngste vor: Nico wird morgen neun Jahre alt. Du weißt schon: das Mädchen mit den blonden Locken!?“ „Oh, ja, ja, ich erinnere mich.“ Tatsächlich hätte der Zottelkopf Jin längst die gesamte Meute mitsamt Namen, Marotten und Essgewohnheiten aufzählen können – so oft, wie er sich in deren Nähe herumtrieb. „Sie ist ein Mensch, wenn ich mich nicht irre?“ „Tust du nicht“, erfreute sich die Waldelfe an der Aufmerksamkeit ihres Artgenossen. „Sie ist allerdings auch das einzige Vollblut hier. Oft hat sie es deswegen schwer in der Gemeinschaft. Gerade Kinder können ... aber was jetzt kommt, weißt du ja.“ „Deswegen die Überraschung, verstehe.“ „Nein, nein! So ist das wirklich nicht“, beteuerte Herz vehement. „Mir sind sie wirklich alle sehr wichtig. Sie alle sind etwas Besonderes. Kinder, die alles Glück der Welt verdient haben, wenn du mich fragst.“ Diese Worte riefen unweigerlich Erinnerungen an vergangene Tage in Jin hervor. Auch jene, die ihn schließlich an diesen Ort geführt hatten. „Nur könnte für Nico in der Gruppe noch etwas dabei herausspringen, wie du richtig erkannt hast.“ „Soll also heißen, wenn sie alle immer schön artig sind, gibt es besonders schöne Geburtstagsfeiern?“ „So ungefähr. Ich sehe schon, wir verstehen uns.“ Sie grinste schelmisch. „Ich heiße übrigens ...“ „Herz! Ich weiß“, kam der Junge ihr zuvor, nur um gleich darauf ob seiner eigenen Spontanität zu erröten. „Oh, das tust du?“ wunderte sich das Elfenmädchen „Na ja, so oft, wie du in den letzten Tagen hier warst, ist das wohl nicht weiter verwunderlich.“ Es war weder böse noch abwertend gemeint – es klang auch nicht so – dennoch fühlte sich Jin für einen Moment in die Enge getrieben und suchte nach Ausflüchten. „D-das tut mir wirklich leid, ich wollte dich nicht belästigen.“ „Huh?“ Herz formte mit ihren zarten, roten Lippen einen wehmütigen Schmollmund und ahmte ganz offensichtlich die reuige Haltung ihres Gegenüber nach. „Das hast du auch nicht getan, Jin.“ Scheinbar hatte auch sie ausreichend spioniert, um seinen Namen zu erfahren, oder ihn – und das war die wahrscheinlichere Variante – in den letzten Tagen einfach beizeiten aufgegriffen. So nahm Herz ihrem Artgenossen auf entzückende Art und Weise auch die letzte Unsicherheit. „Verzeihung, dumm von mir. Was schwebt dir also vor? Als Überraschung, meine ich.“ „Nun, zum Einen könnten wir an der Oberfläche ein paar ganz besondere Leckerbissen ergattern. Was in den Wäldern um Ballymena für Früchte wachsen, muss man einfach mit eigenen Augen gesehen haben“, schwärmte die Elfe. „Ist ein echter Nährboden für Extravagantes.“ „Du weißt doch aber schon, dass es in der Stadt sehr gefährlich ist, oder?“ „Wir werden die Stadt ja gar nicht betreten, du Hasenfuß!“ Diese Nachricht beruhigte den Jungen ungemein, hatte er doch vor wenigen Tagen erst eine Kostprobe dessen bekommen, was die brachliegende Magie dort noch immer anzurichten imstande war. „Zu deiner Beruhigung können wir auch einen besonders großen Abstand von den Stadtmauern halten. Na, wäre das was?“ „Schon kapiert ...“ „Gut“, beendete Herz die kleinen Neckereien abrupt. „Vielleicht fangen wir, wenn wir Glück haben, sogar eine Fee.“ „Ich nehme mal an, die sind in dieser Gegend eher selten.“ Diese besonderen Naturgeister, deren verspieltes Gemüt sie nicht selten dazu trieb, Gestalt und Form anzunehmen und so in die Sphären der an die Fesseln des Körpers gefesselten Wesen einzudringen, waren im Elfenwald Ballybofey in unvergleichlicher Vielfalt anzutreffen und deshalb keine Besonderheit für Jin. „Ziemlich selten, ja.“ Schon in ihrer Antwort lag eine nicht zu überhörende Portion Wehmut. Gewissermaßen beneidete sie Jin um seine Herkunft und die Erinnerungen an seine Heimat. „Und? Wirst du mir nun helfen?“ Der junge Elf antwortete lächelnd. „Natürlich.“ „Wunderbar!“ gluckste Herz zufriedengestellt. „Dafür hast du was bei mir gut.“ Bereits auf dem Weg hinaus aus den Gewölben fiel Jin die einzig passende und für ihn wirklich lohnende Gegenleistung ein. Zudem würde Herz ihm einen so banalen Wunsch wohl kaum ausschlagen. „Weißt du, du würdest mir schon einen großen Gefallen tun, wenn du etwas Zeit für mich opfern könntest. Nur so ... zum Reden.“ „Huh?“ Merklich irritiert versuchte das zierliche Elfenmädchen in schwarz einen tieferen Sinn hinter Jins Begehren auszumachen – ohne Erfolg. „Was verschafft mir denn die Ehre?“ „Einfach, weil wir beide doch Waldelfen sind und ...“ Stets versuchte eine innere Stimme ihn dazu hinzureißen, mit der Tür ins Haus zu fallen, doch konnte sich Jin beherrschen. „Viele von uns gibt es hier ja nicht, wer weiß ob---“ „Es würde mich freuen.“ So fiel Herz ihrem Artgenossen ins Wort, der ihr dafür wirklich dankbar war. Alles an ihr war schlicht und ergreifend umwerfend. Ihre Art zu reden, ihr Charme, ihre Erscheinung – trotz der eher bedrohlich wirkenden Farbwahl-, einfach alles. Das Erfreulichste für Jin jedoch war, dass sie ihm wirklich zugeneigt zu sein schien. Er würde die Zeit an ihrer Seite genießen, und allein die Vorfreude darauf war stark genug, all die Dornen behafteten Erinnerungen, diese schwarzen Rosen der Sorge, welken zu lassen. ___________________________________________________________ „Kanntest du sie?“ Behutsam und aus sicherer Entfernung beobachtete Herz das Verhalten ihrer neuen Bekanntschaft. Sie traute sich in diesem Moment nicht recht in seine Nähe. Ihr Ausflug hatte die beiden Elfen auf eine hochgelegene Lichtung an den Rand eines dicht bewachsenen Waldstückes geführt, nahe der Ruinen Ballymenas. Wie der Schutzpatron dieses Laubwaldes wachte ein einzelner, mächtiger Baum, dessen gewaltige Krone ein beachtliches Stück Erde in Schatten hüllte, pompös einige Schritte vor all den anderen seiner Art. Herz war dieser Ort längst ein Begriff. Oft schon hatte es das junge Mädchen hierher verschlagen. Doch die Stelle, der in dieser Minute Jins gesamte Aufmerksamkeit galt, hatte sich stark verändert. Selbst im Schatten der ehrwürdigen und uralten Pflanze war dies auf den ersten Blick zu erkennen. Zwei aufgeschüttete Erdhaufen ließen nur einen Schluss zu. „Ja.“ Es dauerte einige Sekunden, bis Jin den wieder aufkeimenden Schmerz verdrängen konnte und seiner Begleiterin den Gefallen tat, sich auszusprechen. „Beide gehörten zur Karawane. Allerdings waren sie nicht dabei als ... du weißt schon.“ Die Elfe hielt ihr Barett ehrfürchtig in beiden Händen. Die Situation zwang sie ganz unterbewusst zu diesem Verhalten. Ihr Gewissen schrieb ihr ein bestimmtes Maß an Trübseligkeit und Demut vor, auch wenn sie die Menschen nicht gekannt hatte, die hier zu Grabe getragen worden waren. Herz erhaschte gerade noch ein höchst unerwartetes, angedeutetes Lächeln, das in den Zügen des Jungen lag, als er sich von den improvisierten Grabmälern abwandte. War das etwa Zufriedenheit? „Was ist denn auf einmal?“ „Eine Freundin hat sie hier begraben.“ „Wer?“ drängte Herz auf eine etwas konkretere Antwort. „Reyne, eine Dunkelelfe. Zumindest glaube ich, das sie es war.“ Er zweifelte wirklich nicht mehr daran. „Ja“, betonte er daraufhin noch einmal. Jin sandte einen wehmütigen Blick in Richtung untergehende Sonne aus und legte daraufhin den Ring, den Lester ihm für genau diesen Zweck noch vor Aufbruch der Gruppe anvertraut hatte, auf das größere der beiden Gräber, von dem er sicher war, dass es des stolzen Kriegers Elmos letzte Ruhestätte war. So hatte Reyne es schließlich gewollt, es war nicht an ihnen, dieses Grabmal zu verfälschen. Eine einfache, dafür aber umso bedeutsamere und ehrenvollere Aufgabe für Jin. Er lächelte, als er seine Pflicht erfüllte, wenn der Anlass ihn auch traurig stimmte. „Gute Nachrichten. Das freut mich.“ Allein dem unsicheren Gesichtsausdruck der jungen Waldelfe war zu entnehmen, dass es ihr trotz der neuerlichen Hoffnungen Jins unangenehm war, ihn noch weiter für sich einzuspannen. „Du musst mir jetzt wirklich nicht helfen; ist auch halb so wild, eigentlich ...“ „Hm? Keine Chance!“, wies Jin die einfühlsamen Argumente seiner Artgenossin vehement zurück. „So schnell wirst du mich nicht los. Ich lass mir eine Feenjagd mit der hübschesten Waldelfe weit und breit doch nicht entgehen.“ In jedem Wort klang eine Nuance Überwindung mit, die der siebzehnjährige Elf noch immer aufbringen musste, um freien Herzens auf solch charmante Art und Weise zu sprechen. Es war einfach nicht seine Art, und Herz brauchte ihn auch gar nicht näher zu kennen, um das schon jetzt beurteilen zu können. Umso mehr schmeichelten ihr die lieb gemeinten Worte des Jungen, die ihm so schwerlich über die Lippen gingen. „Die Hübscheste also?“ Gewiss war Herz weit und breit auch die einzige Waldelfe, was die Angelegenheit für sie allerdings nur zusätzlich mit einer Prise Humor versüßte. „Du sammelst fleißig Punkte, Jin.“ „Ich wollte nicht aufdringlich sein.“ „Ach“, seufzte Herz. „Wenn du was falsch machst, lass ich es dich schon spüren!“ feixte das Mädchen mit dem kurzen, pinken Haar, dass sie im selben Atemzug wieder unter ihrem Barett versteckte. Sie trabte eilig an Jin vorbei. Zielstrebig gab sie die Richtung vor und schenkte ihrem Begleiter bei einem flüchtigen Blick zurück einen dieser unvergesslichen Momente der Zuneigung. Nur Sekunden des Lächelns, die Jin jedoch für alle Ewigkeit unvergesslich bleiben würden. Er würde das Mädchen fortan nicht mehr aus den Augen lassen, auf das all die noch bevorstehenden magischen Augenblicke seiner Aufmerksamkeit niemals entgehen sollten. ... ... ... ... ... ... Ballymena – Untergrund. Vor drei Tagen (Minewood-Zeit) Bei aller Aufregung und Sorge, zwischen all den bizarren, ungewohnten Emotionen, die nicht nur den Jüngsten dieser auf so schreckliche Art und Weise dezimierten Karawane ins Gesicht geschrieben standen, erhaschte Jin einen einzelnen flüchtigen Blick auf eine ihm seltsam vertraut scheinende Gestalt, die sich halb verdeckt im Schlagschatten eines Torbogen einen Überblick über die prekäre Situation verschaffte. Auch sie hielt sich bedeckt, wie all die anderen Fremden, denen die Gruppe ihr Schicksal in die Hände hatte legen müssen. Das Leben einer Weggefährtin und Freundin hing noch immer am seidenen Faden. Zeit für Misstrauen gab es nicht mehr, sodass Jin und seine Freunde letzten Endes gar keine andere Wahl geblieben war, als die Hilfe der Fremden entgegenzunehmen. Er selbst war dabei völlig ausgeblendet. Er war kein Krieger und regelrecht starr vor Entsetzen, seitdem seine Gefährten in der verfluchten Stadt ihre Schwerter gegeneinander erhoben und Blut vergossen hatten. So vermochten es die plötzlichen Erinnerungen an sehr viel weiter zurückliegende, sorglosere Zeiten, die die Schemen des fremden Mädchens im Kopf des Jungen aufblitzen ließen, ihn aus seiner Apathie zu entreißen und wieder Herr seiner Sinne werden zu lassen. Wer war sie? ... ... ... ... ... ... Wie gemalt schienen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne durch das Geäst in das dichte Waldstück. Es kam ihm vor, als befände er sich inmitten seines liebsten Gemäldes, geschaffen von der eigenen Seele, deren Inspiration stets eine Muse war, welche in diesem wundervollen Augenblick für alle Zeit verewigt werden sollte. Die Leinwand war nach wie vor Jins Gedächtnis, und nach wie vor vermischte sich in ihrer Gegenwart die Realität immer wieder mit der Fantasie des Elfen, ganz wie die Farben auf dem Tablett des Malers, dem die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten es versagten, den finalen Pinselstrich zu setzen. „Da wir ja nun allein sind, würde ich wirklich gern mehr über dich erfahren, Jin. Über dich und deine ... unsere Heimat.“ Herz lag bequem gebettet auf einem massiven Ast einige Meter über dem Erdboden, dicht am Wipfel eines der vielen Bäume. Zur Überraschung ihrer Begleitung war sie vor wenigen Minuten völlig unbeeindruckt auf die nötige Höhe geflogen. Jins Vermutungen, dass sie ihre Flügel aus Scham unter dem pechschwarzen Stoff versteckte, verblassten während des zauberhaften Vorgangs. „Wie alt warst du noch gleich?“ „Siebzehn. Ich hatte es allerdings noch nicht erwähnt.“ „Oh, ja richtig!“ fiel es dem Mädchen wieder ein. „Siebzehn, ja? Also genau mein Jagdgebiet“, scherzte sie ganz unverfroren. „Und was war dein Antrieb, Ballybofey in so jungen Jahren schon zu verlassen? Miraaj erzählte mir, dass die meisten Waldelfen nicht viel von der Außenwelt halten.“ „Tun wir nicht, das ist richtig. Auch ich nicht!“ Jin ließ seine neugierige Zuhörerin ganz bewusst spüren, welche Meinung er diesbezüglich vertrat. „Hier draußen verlieren sie den Verstand.“ „Sie?“ „Sie alle. Menschen, Elfen ...“ Der Junge hatte längst die Übersicht verloren, wie oft Erinnerungen an die letzte Etappe seiner Reise mit der Karawane ihn in den vergangenen Tagen schon eingeholt hatten. Nun war es erneut so weit. „Einfach alle! Dunkelheit dringt in ihre Herzen, Hass. Nein, in Ballybofey würde so etwas nicht geschehen.“ „Scheinbar doch“, wandte Herz ein und richtete sich danach auf. „Muss es nicht reiner Irrsinn sein, ein solches Paradies freiwillig zu verlassen?“ Mit gewollt übertriebener Gestik verlieh das Elfenmädchen ihren Worten zusätzlichen Biss. „Und doch bist du hier.“ Wirklich amüsieren, konnte Jin diese Bemerkung nicht, denn es steckte zu viel Wahrheit darin. „Den Verstand verloren, habe ich jedenfalls nicht, wenn du das denkst. Mir wurde etwas weggenommen, was mir wichtig war, sehr wichtig, und es wiederzufinden, ist es einfach wert, die Heimat hinter sich zu lassen. Ich bereue es jedenfalls nicht, egal was auch geschehen sein mag.“ „Verstehe“, flüsterte Herz bedächtig. „Und du glaubst, hier bei uns fündig zu werden?“ „Ich ...“ Peinlich berührt und etwas ratlos wandte sich Jin dem feuchten Erdboden zu. „Ich hoffe es. Nur ist das nicht ganz so leicht. Was ich verloren habe, das findet man nicht einfach, das ... das ...“ „Ist schon gut. Ich wollte dich nur ein wenig aus der Reserve locken“, flaxte die Elfe. „Du musst mir das nicht verraten, es geht mich ja schließlich nichts an, nicht wahr?“ Bestätigen wollte er dies nicht so recht, war aber froh über ihr Einlenken. „Was hast du also auf Lager, Jin?“ „A-auf Lager?“ „Welche aufregenden Geschichten, meine ich? Von der Heimat, deinen Freunden.“ Herz schwärmte bei dem Gedanken an Ballybofey regelrecht. „Ich will alles wissen! Eben alles, was du auf Lager hast. Ich hoffe, das meintest du, als du von Miteinander Reden sprachst.“ „Ja, sicher!“ Endlich konnte der Waldelf das Ruder wieder an sich reißen. „Was immer dir auch beliebt. Ich habe da genau das richtige Mitbringsel bei mir.“ Eifrig kramte Jin in seiner Fell überzogenen Ledertasche nach einem ganz besonderen Gegenstand. Aufmerksam und voller Erwartung beobachtete seine Artgenossin das Schauspiel, damit rechnend, jeden Augenblick eine besonders freudige Überraschung zu erleben. Als der Junge letzten Endes ein recht abgenutztes Buch mit rotem Einband hervorholte, wusste Herz nicht recht, was sie denken sollte. „Und das ist?“ „Mein Tagebuch!“ antwortete Jin selbstzufrieden, wobei es ihm unmöglich war, die Augen von dem schwer mitgenommenen Büchlein zu nehmen. „Zeit für eine Geschichte, Herz?“ Die Elfe lächelte verzückt. „Aber sicher!“ ... ... ... ... ... ... Ballymena – Untergrund. Vor einem Tag (Minewood-Zeit) „Ich fürchte, ich kann das nicht zulassen, junger Freund.“ Stets strahlte Miraaj eine beeindruckende Ehrfurcht auf ihre Mitmenschen aus, obwohl sie zugleich ihre Zerbrechlichkeit nicht verbergen konnte. In der Stimme der Dunkelelfe lag eine Art esoterische Anziehungskraft, gepaart mit fast mütterlicher Ruhe. Ihr Charisma verlieh der jungen und doch so vergänglich wirkenden Gestalt den Charme einer Heiligen, so weise wie die Zeit selbst. „Ihr habt nichts zu befürchten, Lady Miraaj. Ich werde Herz nichts erzählen.“ Auch wenn der kleine Waldelf die hochaufgeschossene Magierin mit seinen Worten zu beschwichtigen versuchte, ließ der zornige Klang in seiner Stimme Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkeimen. „Ich kann es schaffen, da bin ich mir sicher!“ „Wieder muss ich dich enttäuschen. Das kannst du leider nicht, dafür habe ich gesorgt, auf ihren eigenen Wunsch hin.“ „Das sagtet ihr schon“, erinnerte Jin an ein früheres Gespräch. „Und trotzdem will ich es nicht glauben!“ „Hm ...“ Miraaj bewegte sich einige Schritte auf den Jungen zu, der fast drei Köpfe kleiner war als sie. Die feuchten Gewölbe des Untergrundes wurden einer so beeindruckenden Gestalt wirklich nicht gerecht, zudem wäre es für sie ein Kinderspiel gewesen, diesen Ort zumindest äußerlich in ein Paradies zu verwandeln, doch die Dunkelelfe legte keinerlei Wert auf Reichtum oder Stand. Sie wurde vielleicht als Anführerin angesehen, doch fühlte sie sich nicht als solche. Hier unten versammelten sich nicht Königin und Gefolge, sondern vielmehr eine Familie, deren Oberhaupt sie war. „Dein Starrsinn wäre fast bewundernswert, wäre er nicht auf ein solch hoffnungsloses Unterfangen gerichtet, kleiner Elf.“ „Es ist nicht hoffnungslos!“ beteuerte Jin – allerdings so entmutigt, als würde der schwarzhaarige Zottelkopf den eigenen Worten noch weniger Glauben schenken, als seine Gönnerin. „Die Magie, die ich auf Herz angewandt habe ...“ Sie zögerte. „Es war ein Fluch, Jin. Ein Übel, das die meisten Wesen wohl als Bestrafung ansehen würden. Sie wollte das so. Es war ihr Wunsch, Jin, und du solltest das akzeptieren.“ „Nein. Das kann ich unmöglich.“ Der Waldelf senkte den Blick, um die Verachtung, die er in diesem Augenblick für Miraaj empfand, zu verstecken. „Wie könnte ich das je akzeptieren? Sie wollte vergessen, ja, aber wieso alles, wieso ... mich?“ „Ich kenne eure Vergangenheit nicht. Diese Frage kann ich dir also nicht beantworten. Doch lass mich dir soviel sagen: Als sie vor drei Jahren hier ankam, war sie völlig verzweifelt und gewillt ihr früheres Leben hinter sich zu lassen. Endgültig. So wünschte sie es, und dieser Zauber ist unumkehrbar!“ Es war Miraaj ernst. Sie wollte, dass Jin verstand, dass seine Bemühungen – wenn auch löblich – zwecklos waren. Die Magierin wusste, dass es den Jungen nur noch unglücklicher machen würde, würde er am eigenen Leibe erfahren, wie stark ihre Zauberkraft tatsächlich war. So stark, dass sie den eigenen Fluch des Vergessens nicht mehr von seinem geliebten Mädchen nehmen könnte, selbst wenn sie es wollte. „Ich habe Magie in mir ....“ Verwundert neigte die Dunkelelfe ihren Kopf zur Seite. Die Ungläubigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie überlegte einen Moment – umfasste dabei das silberne, vierblättrige Kleeblatt, das an einer feingliedrigen Kette um ihren Hals hing und sprach: „Die Lichtelfen sind begabt im allgemeinen Hokuspokus, wenn ich es so ausdrücken darf, Jin. Mir wäre es jedoch neu, dass---“ „Das meine ich nicht!“ fiel der sElf ihr ins Wort. „Ich rede von meinen Gefühlen für Herz. Egal, wie stark dieser Fluch auch immer sein mag: Sie lieben sie nicht! Sie wissen nicht, wie sehr ich mir wünsche, wieder bei ihr zu sein, die richtige Herz wieder zurück zu bekommen.“ Nie zuvor hatte Jin so offen über seine Gefühle gesprochen. Doch hier stand er nun – unter den Augen der wohl mächtigsten Dunkelelfe – und erklärte sich mit Mut und Ehrlichkeit. „Das ist stärker als jeder Zauber, Lady---“ Miraaj hob Einhalt gebietend die Hand. Den Bruchteil einer Sekunde verängstigte ihre Reaktion den blassen Waldelf, der jedoch kurz darauf bemerkte, wie sie vergebens versuchte, ein charmantes Lächeln zu unterdrücken. „Zunächst einmal: Nenn mich nie wieder Lady, verstanden?!“ Jin nickte zustimmend, wie ein Jüngling, der gerade eine gehörige Standpauke von seiner Mutter erhalten hatte. „Davon bekomme ich jedes Mal ein unangenehmes Kribbeln in den Fingerspitzen. Das kann ein unschönes Ende nehmen“, erklärte Miraaj ihm scherzend. „Was dein Anliegen betrifft, so werde ich dir deinen Wunsch gewähren, aber du bist dabei ganz auf dich allein gestellt! Herz hat hier ein völlig neues Leben begonnen. Soweit es sie betrifft, wurde sie von uns ohne Erinnerungen an ihre Kindheit aufgelesen. letzten Endes lasse ich dich entscheiden, ob es richtig oder falsch ist, sie aus alledem herauszureißen.“ „Es ist ein einziger Schwindel ...“ „Die letzten Jahre sind das nicht! Und nun beruhige dich wieder! Es dir auszureden, versuche ich ja gar nicht mehr. Ich will nur, dass du dir darüber im Klaren bist, dass du alles noch schlimmer machen könntest, viel schlimmer, für euch beide.“ Einige Sekunden lang schwiegen die beiden. Jins Entscheidung stand zwar schon lange fest, dennoch regten ihn die Worte von Miraaj zum Nachdenken an. „Das weiß ich.“ „Dann soll es so sein! Ich werde dir fortan nicht mehr in die Planungen fallen. Es ist deine Entscheidung, somit auch deine Verantwortung.“ Miraaj fertigte Jin mit ihrer Ansprache ab, als würde sie ihn zum Ritter schlagen. Dabei legte die Dunkelelfe zwar nur die rechte Hand, die in einen samtenen Handschuh gehüllt war, auf die Schulter des Jungen, doch wirkte diese Art Zeremonie keineswegs minder Ehrfurcht gebietend. „Verlierst du auch nur ein Wort darüber, was vor drei Jahren geschehen ist ...“ Miraaj sprach diese Drohung nicht zu Ende aus. In der Tat wusste sie selbst nicht, ob es überhaupt einen Unterschied machen würde, Herz von ihrem Wunsch zu erzählen. Für das Mädchen wäre das nur eine Geschichte, ein Märchen – weiter nichts –, denn erinnern, konnte sie sich schließlich nicht. „Ach und Jin ...“ Längst hatte sich die Dunkelelfe vom Neuankömmling abgewandt, ließ es sich jedoch nicht nehmen noch ein letztes Mal das Wort an ihn zu richten. „Viel Glück!“ ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Die beiden Artgenossen führte es an manch fabelhaften Ort im Untergrund der verwunschenen Stadt. Es war offensichtlich, dass die Dunkelelfen ihrer Zeit die Höhlen nicht nur als Kanalisation genutzt hatten, vor allem jene nicht, die schon lange vor ihnen im urzeitlichen Gestein existierten. Miraaj' Magie hatten die Wächter es zu verdanken, dass man sich im Innern der verworrenen Untergrundtunnels gegenwärtig so leicht zurechtfinden konnte. Die Lichter kamen und gingen so, wie die Träumer die Gewölbe durchquerten, versunken in Erinnerungen, die sie beide auf eine ganz andere Art hätten teilen müssen, doch waren sie noch immer nur Geschichten für das junge Elfenmädchen Herz. Geschichten, denen sie nur zu gerne lauschte. „Das Fest ist Jahr für Jahr der Höhepunkt der Feierlichkeiten in Ballybofey. Meine Freunde und ich waren noch so jung, für uns war es das Größte. Ich bewunderte die Artisten und Musiker mehr als jeder andere, nur war mir eine solche Gabe nicht wirklich in die Wiege gelegt worden, wenn du verstehst, was ich meine.“ Herz trat ganz unverhofft so dicht an Jin heran, wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie versuchte einen Blick auf die Zeilen in dem Tagebuch zu erhaschen, aus denen der Elf seine Inspirationen für die wundersamen Geschichten aus der Heimat entnahm. Ihre Wangen berührten sich, und für einen Moment glaubte Jin zu träumen. So nahe war er ihr nie zuvor gewesen; niemals jedenfalls, seitdem er sich über seine wahren Gefühle für die zierliche Elfe mit dem pinken Haar im Klaren war. „Tja, auch deine Handschrift ist nicht unbedingt ein Kunstwerk.“ Womöglich bemerkte Herz gar nicht, wie ihr Begleiter errötete. Vielleicht aber dachte sie auch, er würde ihre lieb gemeinte Kritik zu ernst nehmen. „Also warst du einmal mehr nur Zuschauer, huh?“ „R-richtig.“ Jin fing sich wieder. „Und ausgerechnet Keean hatte das Rampenlicht für sich allein. Das war ...“ Er stoppte mitten im Satz, und nicht nur die Stimme versagte ihm in diesem Augenblick. „Was?“ fragte Herz überrascht. „Wie geht die Geschichte aus?“ Jin zögerte, weil er zum ersten Mal aufrichtig und völlig selbstlos über seine Handlungen nachzudenken begann. Der Freund, von dem er redete, war ein wichtiger Teil des Lebens seiner Angebeteten. Wenn man recht darüber nachdachte, vielleicht sogar der wichtigste. Sein Tod war es, der die Welt von Herz einst mit einem Schlag auf den Kopf gestellt und ein einziges Chaos zurückgelassen hatte. Natürlich hatte Jin das niemals vergessen. Auch für ihn war die Nacht im Mondtal ein Albtraum gewesen. „Eigentlich ... war es einfach großartig ...“ „Ich wette, die Mädchen waren beeindruckt!“ „Das waren sie mit Sicherheit – und erst seine Eltern! Ich habe ihn oft um seine Talente beneidet, auch um seine Art.“ Herz blickte zu Boden und zögerte kurz, auf ihn einzugehen. „Wann immer du aus deinem Tagebuch vorgelesen hast, kam er darin vor. Ich denke, Keean war dein bester Freund!?“ Man sah dem Mädchen eine gewisse Traurigkeit an. „Warum dann der Neid?“ „Ich wollte eben so sein, wie er ... manchmal.“ „Blödsinn!“ Jin wunderte die Reaktion seiner neu gewonnenen, alten Freundin nicht einmal. Sie hatte schließlich recht: Es war Blödsinn. „Die Wahrheit ist, dass ich all seine Vorzüge zu meinen machen wollte. Ich dachte, dann würde ich ihr besser gefallen.“ „Oh Jin!“ Herz verpasste ihrem Artgenossen einen nicht zu verachtenden Schlag gegen die Schulter. „Kein vernünftiges Mädchen denkt so, glaub mir! Ich muss es schließlich wissen.“ Ihre Bemerkungen brachten sie beide zum Lächeln. „Du hast natürlich recht“, fuhr Jin fort. „Weißt du, in Wirklichkeit gab es nur eine Sache, die ich an Keean hätte beneiden sollen: seine Aufrichtigkeit als Freund. Ich glaube, nein, ich weiß, dass er niemals solche Gedanken gehegt hat.“ Jin log und doch fühlte er, dass er das Richtige tat. Natürlich wusste er besser als jeder andere – mit Ausnahme des Mädchens zu seiner Rechten –, dass Keean jene unlauteren Gedanken letzten Endes gar bis zum Äußersten getrieben hatten. Mehr und mehr näherte sich Jin dieser traurigsten aller Geschichten. Doch wer glaubte er zu sein, der neugeborenen Herz diese schreckliche Erinnerung zurückzugeben, oder ihr auch nur davon zu erzählen? „Er war mein bester Freund, Herz. Wie gern hätte ich es ihm gesagt ...“ „Ich bin mir sicher, du wirst ihn eines Tages wieder sehen. Deine Reise wird dich sicher irgendwann wieder in die Heimat führen. Die meisten Reisen enden dort, wo sie angefangen haben“, redete sie ihm gut zu, ohne zu erahnen, wie falsch sie damit lag. „Du hast doch aber nicht vor, nach Ballybofey zurückzukehren, oder?“ „Ich ...“ Jin hatte einen wunden Punkt in der Gefühlswelt der Elfe getroffen, auch wenn er eigentlich nur das Thema wechseln wollte. „Ich fühle mich zu diesem Ort hingezogen, vor allem jetzt, nachdem ich vom wohl großartigsten Geschichtenerzähler des Waldes so viel Neues darüber erfahren habe.“ Wieder errötete der Junge. Das funktionierte einfach jedes Mal! „Aber meine Heimat ist dieser Ort hier, Jin. Ich kenne nichts anderes.“ „Das verstehe ich. Wirklich ...“ „Vielleicht eines Tages, irgendwann bestimmt – dann komme ich dich besuchen, versprochen!“ Kein Wort brachte der Elfenjunge mehr über die Lippen. Würde Herz noch wissen, was damals geschehen war, würde sie es wohl niemals wagen, wieder einen Fuß über die Grenzen des Waldes zu setzen. Natürlich war es eine Tragödie, doch letztlich nicht mehr zu ändern. Er verschleierte die Wahrheit noch immer und schmückte sie zum Gefallen seiner großen Liebe so aus, dass sie in ihr eine bestehende Sehnsucht wachsen ließ, die zweifellos zu ihrem Untergang führen konnte. All das, obwohl er vor kurzem noch stolzen Hauptes vorgegeben hatte, nach Jahren der Lüge endlich ehrlich mit ihr sein zu wollen. Die Wahrheit ... Die Wahrheit war, dass Miraaj Recht hatte! Herz hatte niemals um diese Art der heuchlerischen Erleuchtung gebeten, ob sie das in ihrem Zustand nun überhaupt konnte, war dabei völlig belanglos, und mit jedem wunderschönen Wort, das die beiden freundschaftlich wechselten, verlor Jin mehr und mehr an Zuversicht. „Was ist?“ fragte die Elfe. „Du siehst traurig aus.“ Liebevoll strich Herz dem Jungen ganz leicht über die Wange. Sie spürte seine Zerrissenheit. Sie sorgte sich um ihn. ___________________________________________________________ Jin reflektierte seine Taten immerwährend. Er hatte Herz noch viele andere Geschichten erzählt, es dabei jedoch nie fertig gebracht, ihr die Wahrheit zu offenbaren oder überhaupt einen Hinweis darauf zu eröffnen. Irgendwann nahm auch sie in diesen Geschichten eine dominantere Rolle ein, nur hatte er beim Erzählen nicht nur ihren Namen, sondern auch seine Gefühle zu ihr verfälscht. Die Angst war einfach zu groß. In dieser Nacht dann hatte er sein eigenes Spiel endgültig aufgegeben und verloren. Wie ein Dieb war er in ihr Zimmer geschlichen, um ihr sein Tagebuch unterzuschieben. Im Morgengrauen wäre von ihm keine Spur mehr, nur seine und ihre Vergangenheit würde in den Gewölben zurückbleiben. Dass er ihr diese Erkenntnis auf solch hinterlistige Art aufzuzwingen versuchte, schürte nur weiteren Selbsthass im Innern des Waldelfs. Die entscheidenden Seiten hatte er herausgerissen, und doch war Herz ohne jeden Zweifel clever genug, eins und eins zusammenzählen und die einzig richtige Schlussfolgerung aus den Einträgen ziehen zu können. Während er sich aus dem Staub machte, würde sie ihren Namen lesen, würde Einträge studieren, in denen ein verliebter junger Taugenichts ihre Schönheit und Eigenarten beschreibt, ihr seine Gefühle offenbart. Zumindest schöne Erinnerungen waren es, die Jin ihr zurückließ. „Du verlässt uns also schon wieder? Nach so kurzer Zeit?“ Miraaj hatte Jin dabei ertappt, wie er zu unheiliger Tageszeit klammheimlich sein spärliches Hab und Gut zusammensuchte. „Woher der plötzliche Sinneswandel, junger Elf?“ Jin fühlte sich sichtlich überrumpelt, auch wenn es alles andere als überraschend war, dass die Dunkelelfe ihn entdeckt hatte. „Was kann ich noch sagen ... Ihr wart im Recht, und ich im Unrecht“, entgegnete Jin der Anführerin der Ausgestoßenen. Seine Nerven lagen blank. „Ach, also läufst du jetzt davon, verstehe ich das richtig?“ Miraaj' Vorwurf traf ihn nicht wirklich. Jin hatte sich innerlich längst ausgiebig mit allem eventuellen Unverständnis für seine Entscheidung beschäftigt. Er wusste ganz genau, wie feige es war, sich auf diese Art aus der Affäre zu ziehen. Sie konnte ihn unmöglich so sehr verachten, wie er es selbst tat. „Es ist besser so“, erklärte der Junge wenig überzeugend. „Ich habe nicht das Recht, Herz aus diesem Leben zu reißen.“ Jin schämte sich dafür, seiner Wohltäterin so vor den Kopf zu stoßen. Ihr hatte er es überhaupt erst zu verdanken, seine Jugendliebe nach jahrelanger, vergeblicher Suche doch noch gefunden zu haben. Ihre Magie rettet der jungen Elfe einst das Leben und schenkte ihr ein neues. „Es tut mir leid, dass ich so naiv war zu glauben, ich könnte Herz glücklich machen, wo sie hier doch ganz offensichtlich gefunden hat, wonach sie wirklich suchte.“ „Ist das deine ehrliche Meinung?“ fühlte Miraaj dem Waldelf schmerzlich auf den Zahn. „Wieso fragt ihr? Findet es doch einfach heraus“, spielte er jener auf die unumstößliche Tatsache an, dass die Dunkelelfe längst genau hätte Bescheid wissen können, wenn sie es nur gewollt hätte. „So etwas tue ich nicht, Jin! Und ich dachte auch nicht, dass du mir dergleichen zutrauen würdest.“ Noch mehr Vorwürfe, noch mehr Enttäuschung. Was immer der Elfenjunge auch anpackte, schien zum Scheitern verurteilt. „Ich bin dir nicht böse, falls du das glaubst.“ „Ach nein?“ Ihre Äußerung verwunderte den Waldelf. „Nein. Zumindest nicht deswegen.“ Jin wurde ein letztes Mal hellhörig. „Doch hat es mich in der Tat verletzt, als du behauptet hast, ich würde Herz nicht lieben. Sie gehört zu uns, zu dieser Familie. Du weißt nicht, wovon du redest, wenn du mir die Liebe zu meinen Leuten absprichst.“ „Verzeiht ...“ „Keine Entschuldigungen mehr! Glaube mir: Ich bin nicht nachtragend.“ Etwas an der Mimik der blassen Gestalt ließ Jin jedoch genau das Gegenteil vermuten. „Wann wirst du uns verlassen?“ „Morgen, gleich nach Sonnenaufgang. Je früher, desto besser.“ Miraaj nahm seine Entscheidung hin und erlöste den Elfen aus dieser unangenehmen Situation. Keine Fragen mehr, denen er sowieso am liebsten ausgewichen wäre. Er machte sich selbst so große Vorwürfe, dass er in jedem Wort der weisen Dunkelelfe dergleichen vermutete. ___________________________________________________________ Ursprünglich hatte Jin geplant, den Untergrund unbemerkt in der Nacht vor seiner angekündigten Abreise zu verlassen, um somit weiteren unangenehmen Abschieden aus dem Wege zu gehen. Nur musste er zu jener späten Stunde einsehen, dass ihm Herz stets einen Schritt voraus war – ganz wie in alten Zeiten. Lautlos war sie ihrem Artgenossen auf den Fersen, während dieser sich redlich mühte, das verworrene Höhlensystem zu durchqueren, bis er es schließlich an die Oberfläche geschafft hatte und an dem Waldrand vorbei schritt, an dem er das unsägliche Spiel mit des Mädchens Vergangenheit vor wenigen Tagen begonnen hatte. Vor nichts fürchtete sich Jin mehr, als ein letztes Mal von seinem Schwarm gestellt zu werden – Nichts wünschte er sich sehnlicher. „Wieso verschwindest du?“ Ein zartes Flüstern, so vorwurfsvoll, dass es dem Jungen durch Mark und Bein ging. Eine Antwort des Jungen blieb aus. „Ich lasse dich nicht so einfach gehen!“ fuhr sie ihn an. All seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. „Du wirst mir doch wohl zumindest auf Wiedersehen sagen können, oder nicht?“ Mit jedem Wort, das Herz sprach, verunsicherte sie Jin mehr. Er wusste längst nicht mehr, mit der Situation umzugehen. Worauf zielte sie ab? „Das ist nur nicht so leicht, wie es sich anhört“, stammelte er, ohne dabei den Mut aufzubringen, ihr in die Augen zu sehen. „Ich dachte, so wäre es besser.“ „Besser für dich oder für mich?“ Die Frage stach wie ein Dorn im Nacken des Elfen. „Was denkst du, wie es mir ergangen wäre, wenn ich Morgen in der Früh aufgewacht wäre und dich nirgends hätte finden können?“ Jin erahnte nun nicht mehr nur, dass Herz sein Spiel durchschaut hatte, er wusste es. Doch hielt er sich noch immer zurück und klammerte sich an den letzten Funken Hoffnung, der ihm noch blieb. Was hatte er nur angerichtet? Als er endlich den Mut aufbrachte, sich ihr zu stellen, geschah etwas Unerwartetes, etwas Unvorhersehbares, das Jin glatt den Halt verlieren ließ. Herz holte das kleine, rote Tagebuch aus ihrer Gürteltasche hervor, dass ihr der Waldelf überlassen hatte und eröffnete ihrem Artgenossen die Gelegenheit, es an sich zu nehmen. In ihren Augen funkelten einige wenige kristallklare Tränen, die sie mit aller Macht zu unterdrücken versucht hatte. Nur ein einziges Mal hatte Jin das Mädchen zuvor weinen gesehen: Es war an jenem Tag im Mondtal, den er noch bis heute und ganz besonders in diesem Augenblick verfluchte. „Ich verstehe nicht?“ verlieh der Waldelf seiner Überraschung stotternd Ausdruck. „Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich will es nicht haben!“ „Aber ... du ...“ Hatte sie etwa noch nicht darin gelesen? Konnte er es tatsächlich noch rückgängig machen? „Nimm es einfach!“ Zögerlich kam Jin ihrer Bitte nach, verstand ihre Beweggründe aber noch immer nicht. Sie wirkte nicht wütend, aufgeregt oder enttäuscht. Als es Herz schließlich nicht mehr gelang, ihren Tränen Einhalt zu gebieten, erhaschte der Elf sogar ein Lächeln im kindlichen Gesicht der jungen Dame. „Dann ist das hier ...“ „Nur ein Abschied“, vollendete sie den Satz des Jungen. „Ich wollte dich nicht gehen lassen, ohne Lebewohl zu sagen. Das hättest du nicht verdient gehabt.“ Ein Stein fiel Jin vom Herzen, und doch begann es so rasant wie niemals zuvor zu schlagen, als er realisierte, dass dieser Abschied womöglich endgültig sein könnte. Der idealistische und vor allem naive Teil seiner Seele hatte noch immer gehofft, dass sich doch noch alles zum Guten wenden würde, verdrängte dabei aber die unumstößliche Tatsache, dass er längst gescheitert war. „Das Mädchen aus deinen Geschichten“, riss Herz ihn aus seiner Trance. „Lass sie gehen! Vergiss sie nicht, niemals, aber lass sie endlich los!“ All das aus ihrem Munde. Ob sie ahnte, welche Verbindung sie mit jener Elfe teilte? „Aber wie?“ Verzweifelt wandte sich der Elf an die wohl einzige Person, die auf diese Frage eine Antwort hätte wissen können: das Mädchen aus seinen Geschichten. „Sag mir nur wie!“ „Es geht ihr gut, Jin! Das weißt du jetzt. Du musst dich jetzt nicht mehr um sie sorgen. Nicht um ihre Zukunft und auch nicht um ihre Vergangenheit.“ Noch vor einer Minute hätte ihn eine vielsagende Bemerkung wie diese wohl in Panik versetzt. Mittlerweile dämmerte ihm aber, dass Herz auch von ihrer Gerissenheit nichts eingebüßt und seinen Beweggründe wahrscheinlich schon viel früher richtig hatte deuten können. Sie wusste längst über alles Bescheid! Zudem hatte sie recht mit dem, was sie sagte. In der Tat wusste der Junge sogar noch besser als Herz selbst einzuschätzen, wie gut es ihr in den letzten Jahren ergangen war. Zu lange schon war er in Selbstmitleid zerflossen. Vor lauter Gram war es ihm kaum möglich gewesen zu erkennen, dass sein größter Wunsch sich längst erfüllt hatte. Seine große Liebe, die er vor langer Zeit verloren hatte, war wohl auf und hatte den Weg zu ihrem Glück gefunden. Nie wieder würden Albträume jenes schicksalhaften Tages Jin den Schlaf rauben, und die Angst um das Mädchen ihn den Boden unter den Füßen wegreißen. Der schüchterne Elf würde sich nun nicht mehr länger von seinen Freunden und seiner Familie abschotten. Jetzt, da ihm diese ganz persönliche Erleuchtung zuteil geworden war, versuchte Jin sich schließlich auch der letzten Prüfung zu stellen, die ihm Herz höchstpersönlich auferlegt hatte. „Loslassen ...“ „Ja. Das würde sie sich wünschen.“ „Huh, j-ja, da bin ich mir sicher.“ Lächelnd streckte Jin seiner Herz die Hand entgegen. „Bist du auch ganz sicher, dass wir das Richtige tun?“ Einen Moment lang zögerte das Elfenmädchen, erwiderte dann aber doch auf ihre liebenswerte, unvergessliche Art sein Lächeln. „Du sagtest doch auch, sie hätte niemals eine Entscheidung getroffen, von der sie nicht absolut überzeugt gewesen wäre, richtig?“ „Niemals“, wiederholte er. „Dann ist dieses Leben ihr Geschenk an mich.“ Herz schüttelte ihrem Artgenossen nicht die Hand, stattdessen drückte sie sie sanft beiseite und näherte sich dem Jungen auf eine Nasenlänge. „Du wirst hier für immer Freunde haben und Zuflucht finden.“ „Ich danke dir ...“ Auch wenn er den Kuss hätte kommen gesehen, so wäre seine Reaktion wohl kaum anders ausgefallen. Mit weit aufgerissenen Augen und weichen Knien nahm er dieses wundervolle Geschenk vielmehr entgegen, als es zu erwidern. Es war kein Kuss, den eine Frau ihrem Geliebten entgegenbringen würde, und doch weit mehr, als nur eine intime Bekundung der Freundschaft. Diese Zärtlichkeit war Hoffnung. „Ich glaube, das ist jetzt der richtige Moment, Abschied zu nehmen, oder?“ Peinlich berührt, rieb Herz sich die Schläfe. Nach diesem Gefühlsausbruch traute sie sich vor lauter Verlegenheit kaum noch, ihm in die Augen zu schauen. „Ich hoffe nicht, für immer.“ „Ganz sicher nicht, versprochen!“ „Wirst du nach Ballybofey zurückkehren?“ „Nein, noch nicht“, antwortete Jin voller Entschlossenheit, die Herz zugleich verwunderte und beeindruckte. „Bei einer Sache lagst du nämlich falsch.“ „Ich höre.“ „Du sagtest, dass ich mir keine Sorgen mehr um deine Zukunft machen müsse. Doch so lange der Konflikt anhält, sind wir alle in Gefahr. Egal wer zuerst Blut vergoss, es gilt nicht, vergangene Untaten zu sühnen, sondern ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen.“ Die Worte des Waldelfen sollten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Meine Freunde befinden sich auf dem richtigen Pfad. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, ich kann ihnen wirklich helfen. Ich will es zumindest versuchen, verstehst du?“ „Natürlich. Du gehörst zu ihnen!“ stärkte sie dem Jungen den Rücken. „Ja, ich glaube, das tue ich wirklich.“ „Dann ist das der Weg, den du einschlagen musst.“ Da war es wieder, dieses Lächeln, das, egal wie oft Jin es schon zu sehen bekommen hatte, nie auch nur einen Funken der Magie verlor, die es besaß. Die beschwerlichen letzten Tage, die der Waldelf an ihrer Seite verbracht hatte, sollten ihm am Ende nur Gutes eingebracht haben. All sein Dank galt Herz. In ihr fand Jin, was er so lange so sehnsüchtig gesucht hatte und zugleich noch viel mehr. „Du wirst dich anstrengen müssen, willst du deine Freunde noch einholen.“ „Glücklicherweise kann ich den direkten Weg nehmen“ Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung im Untergrund breitete Jin seine Flügel aus, die auf ewig die Narben der Vergangenheit tragen würden. Zwar sollten sich ihre Pfade ganz wie damals trennen, doch glich in dieser Nacht lediglich die späte Stunde dem tragischen Ereignis von vor drei Jahren, mit dem nun auch Jin endgültig hatte abschließen können. Der Junge strich die letzten Tränen von den Wangen seiner Freundin und wandte sich anschließend dem neuen alten Abschnitt seines Lebens zu, aus dem er schon jetzt neuen Mut hatte schöpfen können. Seite An Seite -------------- Kapitel 21 – Seite an Seite Gelegenheiten zur Rast hatte es auf dem Weg nach Tapion bisher kaum gegeben. Alle Reisenden waren sich einig, dass nach dem längeren Intermezzo bei den Wächtern ausreichend Kraft getankt worden war, um nun eine gewisse Eile an den Tag zu legen. Auf den Rücken ihrer Pferde erging es ihnen zudem nicht wirklich schlecht. Die Tiere selbst zeigten keinerlei Anzeichen von Erschöpfung – ihr Durchhaltevermögen zu strapazieren, bedurfte es weit größerer Anstrengungen. Gut genährt und erholt waren sie die eigentlichen treibenden Kräfte auf dem mühseligen Weg nach Tapion. Allen voran trabte Momo, der leuchtend weiße Hengst mystischer Abstammung. Peter und Lily, die sich vor einiger Zeit schweigsam an den jungen Franzosen geheftet hatte, bemerkten als erste das ungewöhnliche Gebilde, das sich am Horizont abzeichnete. Die morgendliche Sonne gewährte den beiden einen weitreichenden Blick über das triste Terrain, das nur sehr langsam fruchtbarere Konturen erahnen ließ. Peter hob die Hand und stoppte Momos Bewegung mit einem leichten Ruck an dessen Zügeln. Das Einhorn reagierte nach wie vor untertänig auf die Order des Reiters und ließ dessen Unerfahrenheit auf diese Weise weniger deutlich erscheinen. Sehr bald hatten die anderen Mitglieder der kleinen Gefolgschaft zu ihm aufgeschlossen. Eine Frage nach den Beweggründen erübrigte sich beim Anblick der trügerischen Oase in der Ferne. „Was ist das?“ fragte Aarve in die Runde. Allerorts begegneten ihm nur zuckende Schultern. „Eine Ruine womöglich“, folgerte Eva nüchtern und logisch. „Nein. Das ist ausgeschlossen.“ Der Älteste war sich seiner Kenntnisse sehr sicher. „So weit draußen haben die Dunkelelfen nichts errichtet.“ „Woher willst du das wissen?“ Aarve war durchaus neugierig. „Wie weit reicht ihre Geschichte zurück? Fünftausend Jahre? Zehntausend?“ „Wahrscheinlich noch länger.“ Für Lester gab es keinerlei Grund an der eigenen Aussage zu zweifeln. „Mit Ausnahme der Reise nach Panafiel, von der Eva uns allen ja ausführlich erzählte, war es den Dunkelelfen über Jahrtausende bei Strafe verboten, so nahe gen Nordkap Adessas zu reisen. Ein festgeschriebenes Dogma, begründet im Schrecken eines vergangenen Krieges. Und ich bezweifle ebenso, dass wir es hierbei mit noch älterer Architektur zu tun haben, über die wir nun nach so langer Zeit ganz zufällig stolpern.“ Aarve schwieg fortan. Was der Mann sagte, klang plausibel. Das Gefühl, belehrt worden zu sein, gefiel dem Heißsporn zwar nicht, jedoch verkniff er sich eine überflüssige Reaktion – dieses Mal. „Wird wahrscheinlich nur ein Findling sein ... vielleicht mehrere“, Viola verstand nicht, warum man überhaupt stoppte. „Es liegt so oder so auf unserem Weg, warum finden wir es nicht einfach heraus? Oder halten wir jetzt bei jedem Gebüsch, das in der Ödnis artfremd wirkt?“ „I-ich dachte nur ...“ Peter versuchte sich zu rechtfertigen. Zweifelsohne hatte er keinerlei Hintergedanken gehabt, als er seine Kameraden zum Halten aufforderte. „War nicht böse gemeint, Kleiner.“ „Ich sehe es wie Viola.“ Bisher hatte Eva sich schweigsam gegeben. Auch ihr Blick war neugierig gen Norden gerichtet; sie schien gefesselt von dem Anblick. „Was auch immer es ist. Wir werden es uns einfach ansehen.“ Etwas schwebte im Klang ihrer Stimme mit. Melancholie womöglich. Peter schien es als einziger zu bemerken; sein Blick löste sich zu keiner Zeit von ihr. In ihren Augen erkannte er große Erwartung. „Tapion ist nicht mehr weit.“ Als sie mit der linken Hand auf eine sich abzeichnete Gebirgsformation in der Ferne deutete, trafen sich die Blicke der beiden. Immer noch nachdenklich gestimmt, nickte sie nur – ihre Art des Lächelns, womöglich. Welche Erinnerungen sie dabei in ihm hervorrief, konnte sie nicht ahnen. „Die Täler sind unser Ziel.“ Und so gab die junge Anführerin der Gruppe erneut die Richtung vor. ___________________________________________________________ Reyne war nervös – voller Erwartungen, die nichts Gutes verhießen. Bald schon würde sie die bestellten Felder vor der Stadt erreichen. Zu dieser Jahreszeit würde sie dann mit Sicherheit Menschen in die Arme laufen. Menschen, die sie nicht kannte. Die Dunkelelfe sorgte sich, welche Reaktion man ihr wohl entgegenbringen würde. Dass sie nichts als schlechte Nachrichten mit sich brachte, verschlimmerte jene Sorgen nur noch. Die blühenden Kronen einiger Apfelbäume versperrten ihr eine weitreichende Sicht auf die Farm, vor der sie sich befand. Reyne erinnerte sich nur noch schemenhaft an ihren früheren Ausflug in die Stadt und ihre ländlichen Vororte. All jene Bilder hatten eines gemeinsam: Den wundersamen Anblick dieser Früchte tragenden Pflanzen. Die Menschen hatten sie einst angepflanzt. Sie waren so viel schöner als das karge, wuchernde Geäst auf Caims. Überhaupt war alles an dem großen Kontinent, der grünte und vor Leben überquoll, um Vieles faszinierender als die Insel im Osten; zumindest daran konnte sich Reyne dieser Tage noch erfreuen. Als sich Harad der Farm weiter genähert hatte, erkannte Reyne allmählich die Schemen einiger Zweibeiner: Menschen, ohne Frage, und doch ... Es war eine ganze Gruppe von ihnen – einige wild gestikulierend. Bald drangen auch die ersten Worte an ihr Ohr, wenn Reyne auch nicht viel aus den Streitgesprächen lernen konnte. Dann wurde sie von zweien der Männer bemerkt: Sie mühten sich nicht, ihre Pferde zu satteln und machten sich kurzerhand zu Fuß auf den Weg. Eiligen Schrittes näherten sie sich. „Hey!“ rief der größere der beiden. „Hier her!“ Feindselig gestimmt, schienen die Männer nicht zu sein. Sie trugen noch einige leichte Teile der Rüstungen, die Evas Männer zu ihrem Schutz anzulegen pflegten. Ein Stein fiel Reyne vom Herzen. Scheinbar waren es die Ritter, die später von Ballybofey aufgebrochen waren. Sicher haben sie die Dunkelelfe sofort erkannt. „Ich nehme ihn“, bot der Jungspund, den sie um eine halbe Kopflänge überragte, ihr lächelnd an, Harad anzubinden. Immer noch zögerlich in ihren Bewegungen übergab sie ihm schließlich die Zügel. Sie wagte nicht recht, die freundschaftliche Geste zu erwidern oder ihm zu danken. Ohne Elmo an ihrer Seite, der stets ihr Zugang zu den anderen Menschen gewesen war, übermannte Reyne die Nervosität fast. Sie hatte Jahre lang miterlebt, wie man in Kreisen der eigenen Artgenossen mit den Menschen umsprang und fürchtete nichts mehr als ihren Hass, ob er – gegen sie gerichtet – nun verdient gewesen wäre oder nicht. „Du bist Elmos Freundin, nicht?“ Auch der ältere, bullige Krieger bekam keine Antwort, nur ein schüchternes Nicken als Bestätigung. „Reyne ... So lautete doch dein Name? Verzeih', wenn ich da etwas durcheinander bringe.“ „Nein.“ Sie brach ihr Schweigen aus der Freude heraus, dass man sie erkannt hatte. „Das ist er.“ „Ich bin Alain“, stellte der Ritter sich vor und reichte ihr dabei freundschaftlich die Hand. „Wir kennen uns nur flüchtig“, spielte er die offenkundige Unwissenheit der jungen Frau charmant herunter. Sie erwiderte den Händedruck kräftig – mit der innerlichen lodernden Wut auf die eigene Unart, sich in drei Jahren so wenig in den Reihen der Menschen integriert zu haben, wenn es auch nie wirklich ihr Wunsch gewesen war. „Du kommst gerade recht, das kannst du mir glauben.“ Alain wirkte besorgt. „Wo hast du die anderen gelassen?“ fragte er läppisch, ohne ernsthafte Zweifel zu hegen, dass seine Kameraden noch auftauchen würden. Erst das trübselige Mienenspiel der Dunkelelfe ließ ihn Schlimmes vermuten. „Was ist denn? Was ist geschehen?“ Reyne begann zu erzählen. „Als wir Ballymenas Grenzen umgehen wollten, stießen wir auf ein Hindernis, das uns den sicheren Weg versperrte. Gamdschas hatten sich in das Tal verirrt und dort eine Gruppe Dunkelelfen überrascht, die uns auf den Fersen gewesen waren.“ „Jäger – daran besteht kein Zweifel.“ Reyne wurde hellhörig. Alain wusste scheinbar, wovon sie sprach. „Wir sind ihnen auch begegnet; nahmen, wie abgesprochen, von Beginn an eine alternative Route, dort liefen uns dann zwei von ihnen in die Arme. Es war ihr Glück, könnte man wohl sagen. Wir haben sie in den Schuppen der Bauern, die diese Felder bestellen, gesperrt – vorerst.“ „Hätten wir den Umweg nur ebenso in Kauf genommen“, hauchte die Elfe. Alain entging die Schwermütigkeit der Frau natürlich nicht. In der Tat hatte er diese schon von Beginn an, als er ihr die Hand reichte, um sie in Willkommen zu heißen, gespürt. Er rechnete nunmehr mit dem Schlimmsten. Schweren Herzens bereitete sich Reyne darauf vor, alles Übel zu offenbaren, das ihr und ihren Freunden in Ballymena zugestoßen war. „Ich denke, alle sollten das hören“, schlug sie – allen Mut zusammengenommen – vor. ___________________________________________________________ Was sie letztendlich vorfanden, verschlug ihnen glatt die Sprache. Keiner hatte damit gerechnet, in eine derartige Szenerie zu stapfen. Der verwaiste große Vorratswagen und die vielen Lebensmittel, die in der Sonne zu Faulen begannen, erweckten den Eindruck eines Raubes, wobei der Großteil der potentiellen Beute allem Anschein nach von keinerlei Interesse für die Täter gewesen war. Alles Obst war kaum angerührt, und auch Gemüse und andere unverdauliche Güter verschwendet. Das getrocknete Blut, das den rissigen Boden an vielen Stellen zierte, stammte womöglich von Tieren, wenn von einem Kadaver auch weit und breit keine Spur war. Das Geschirr der Pferde war außerdem zerstört, was darauf schließen lies, das die Vierbeiner irgendwann während des Überfalls Reißaus genommen hatte. „Hat jemand eine Idee, was hier passiert sein könnte?“, konnte Aarve seine Neugier nicht unkommentiert lassen. Lester begann als erster sich eine Theorie zu erdenken. „Das ist ein ganz normaler Wagen für den Transport, wie wir sie in Tapion zuhauf benutzen.“ „Ganz sicher also einer von unseren“, fügte Viola hinzu. „Aha. Und gibt es hier irgendwelche Raubtiere, die eure Transporte überfallen?“ „Keine Ahnung“, gab Eva ganz offen zu. „Um ehrlich zu sein, sollte so weit hier draußen kein Mensch unterwegs sein. Schon gar nicht mit Nahrungsmitteln und anderen Gütern.“ „So ist es.“ Der graue Ritter stimmte nickend mit ein. „Am weitesten reichen noch die Felder einiger Bauern in den Süden hinaus, aber selbst die liegen noch zig Kilometer weit von hier entfernt. Der Wagen befand sich also auf einer Reise ins Nirgendwo.“ „Der Schein trügt wohl“, erklang es aus dem Hintergrund. Peter hatte seine eigene Meinung dazu. Der erwartungsvolle Blick des grinsenden Hünen drängten ihn zu einer Erläuterung. „Ich meine, es ist ja wohl klar, dass diese Leute nicht grundlos hier rausgeschickt wurden!?“ „Welche Leute denn? Ich sehe hier niemanden“, bemerkte Aarve das Offensichtliche. „Sie werden wohl auf den Pferden davon sein“, schüttelte Peter eine Antwort aus dem Ärmel, die ihm logisch erschien. „Und wovor sind sie geflüchtet?“ fragte Lily in die Runde und beteiligte sich somit auch an der Diskussion. „Es führt jedenfalls eine Spur nach Osten“, erkannte Viola, die den vereinzelten Blutstropfen ein Stück weit in diese Richtung gefolgt war. Und noch etwas fiel ihr bald darauf ins Auge: „Ich glaube, ich kann hier Spuren erkennen.“ Der Aufmerksamkeit ihrer Freunde hatte sie nun auf sich gezogen. Lily schwirrte als erste zu ihr und wusste sofort einzuschätzen, worum es sich handelte. „Wolfspfoten!“ erkannte die Elfe scharfsinnig. Ihr Blick für derlei Dinge war besonders geschärft – als Waldelfe war ihr diese hohe Auffassungsgabe für die Natur mit in die Wiege gelegt worden. „Kojoten, um genau zu sein.“ Die Kenntnisse, die Lily schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte, hatte Eva erst mühsam erlernen müssen. Mit ihrer Freundin jedoch, hatte sie immer eine hervorragende Lehrerin gehabt. „Tiere, die sich den widrigen Verhältnissen hier draußen gut anzupassen wissen. Aber dass die eine Karawane überfallen ... kaum zu glauben.“ „Wer weiß, wie es um ihre Nahrung bestellt ist. Ein ausgezehrtes Rudel würde vielleicht soweit gehen“, versuchte Lester dem Ganzen Sinn zu verleihen. „Was interessiert es uns noch?“ Wenngleich Aarve am wenigsten zur Diskussion beitragen konnte, plärrte er immer am lautesten. „Ihr denkt doch deswegen nicht ernsthaft über einen erneuten Umweg nach, oder?“ meinte er die Neugier seiner Gefährten richtig einschätzen zu können. „Was kümmert es dich ...“ Peters geflüsterte Spitze ging im Winde unter – wie gewollt. „Wenn ein Rudel hungriger, womöglich tollwütiger Steppenwölfe hier ihr Unwesen treibt, sollten wir etwas dagegen unternehmen.“ Lester gab sich abenteuerlustig. Er schien seit der raschen Genesung Evas wieder ganz der alte. „Natürlich ist das nur meine Meinung“, brummte er lächelnd. „Würde uns wohl einen weiteren Tag kosten“, analysierte Viola nüchtern. Sie schien nicht begeistert von der Idee. „Ihr habt doch selbst gesagt, dass hier draußen keiner was zu suchen hat. Selber schuld, würde ich sagen.“ „Und genau das ist doch der Punkt, Aarve.“ Eva wies den Finnen das erste Mal zurecht, müßig darauf bedacht, nicht ausfallend zu werden. „Dieser Transport hatte einen Sinn. Wohin er auch wollte oder woher er kam: Dort werden aller Voraussicht nach Menschen sein. Menschen, die nun auf diese Wagenladung voll mit Nahrung verzichten müssen.“ Natürlich leuchtete diese Erklärung dem jungen Mann ein; warum sieh die Katze nicht gleich aus dem Sack gelassen hatte, regte ihn allerdings nur noch mehr auf. „Und eine weitere gute Tat, die wir uns in unsere Pfadfinder-Büchlein schreiben können. Vielleicht kriegen wir ja alle einen Orden dafür!?“ „Bleib doch hier und bewach die Tomaten“, zischte Viola und warf ihm eine schimmlige, rote Frucht zu, die er affektiv auffing und dabei versehentlich zerquetschte. „Gut gefangen!“ Aarve schmierte sich den modrig riechenden Brei an seinem Hosenbein ab. Das Hemd, das Viola ihm in den Katakomben geschenkt hatte, wollte er nicht beschmutzen. „Wirklich witzig ...“ „Die Tiere sind sehr anpassungsfähig, doch würde ich sagen, dass unsere Chancen groß sind, in dem Waldstück am Fuße des Gebirgskamms fündig zu werden“, erläuterte die schwarze Frau das weitere Vorgehen. Ihre Expertise wurde dankbar entgegen genommen. „Dann sollten wir uns beeilen“, gab Eva die Marschrichtung vor, während sie wieder auf ihr Pferd stieg. „Ich will nicht mehr Zeit verlieren, als unbedingt notwendig.“ Alle ihre Kameraden taten es ihr daraufhin gleich. Auch Aarve gab sich schließlich noch einsichtig, wenn ihm seine Missstimmung auch noch deutlich anzusehen war. „Warum so mies gelaunt?“ erkundigte sich Viola, die erfreut war, dass der Blondschopf sich doch noch dazu hatte entschließen können, sich an der Jagd zu beteiligen. „Bin ich nicht“, wiegelte er ab. „Hab nur langsam die Nase voll von all den Umwegen. Davon hatte ich schon mehr als genug, das kannst du mir glauben.“ „Klingt ja fast, als wolltest du dich in Tapion niederlassen, ha ha.“ Ein wenig genoss Aarve es, zur Abwechslung selbst in Rätseln sprechen zu können. Dass er Vieles zu verbergen hatte, stimmte ihn tief im Innern allerdings traurig. Er hatte in den letzten Tagen unentwegt gefühlt, was er nach außen hin nie würde zeigen wollen: Wehmut. In Vyers war dies anders gewesen, wo die Wut alle anderen Emotionen überwog. ... ... ... ... ... ... Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit) Während der dumme Junge einmal mehr durch das vergitterte Fenster ins Nichts hinaus starrte, plagte ihn die Ungewissheit. Hätte er es mit mehr Mut, mehr Anstand und mehr Disziplin wirklich schaffen können, alldem zu entgehen? Aarve zweifelte mittlerweile ernsthaft daran. Was anfangs noch Reue gewesen war, hatte sich im Verlauf der letzten Monate in etwas anderes verwandelt – ein Gefühl der Angst. Angst davor, genau hier in diese Anstalt, diese Zelle zu gehören. Das Schicksal hatte es wahrlich nicht gut mit ihm gemeint? Schicksal ... der Glaube daran machte es zumindest einfacher, nicht völlig den Verstand zu verlieren. Wie so quälend oft war es auch an diesem Tag sein Zellengenosse, der Aarve mit seiner penetranten Art aus dessen Gedanken riss. War diese Anstalt auch ohne Frage ein Gefägnis, erweckten einige der Insassen – so auch Jari – eher den Eindruck, als befände man sich in einem Irrenhaus. Der aufgewühlte Junge war in erster Linie Nachts eine wahre Qual für seinen Zellenkameraden: In seinem ohnehin unruhigen Schlaf redete er unentwegt. Ganze Romane hätte man mit seinem Gemurmel füllen können. Um die Träume, die ihn zum Schreien brachten – oft so laut, dass die Wärter eingreifen mussten – beneidete Aarve den Jungen nicht. Hatte er auch unter diesen und ähnlichen Eskapaden zu leiden, tat ihm der Kerl einfach zu leid, um ihn ruhig zu stellen. Jari hatte es wohl irgendwann bemerkt und dankte es nun mit seiner übertriebenen Zuneigung. Seit geraumer Zeit schon teilte er jeden noch so wirren Gedankengang ohne Aufforderung mit seinem Mitbewohner. Aarve beachtete das meiste von seinem Geschwätz nicht weiter. Er hatte es zur Gewohnheit werden lassen, sich den winzigsten Ansatz eines Lächelns aufzuzwingen und den ganzen Schwachsinn einfach wortlos abzunicken. Seine verqueren Ideen von einem Ausbruch hatte Aarve auch nicht ernst genommen. Schon seit Wochen redete Jari davon, hatte bisher aber noch nichts unternommen, was auch nur ansatzweise die Wärter hätte beunruhigen müssen. Eines hatten seine Hirngespinste aber für sich: Es wäre durchaus verlockend, den Störenfried endlich los zu sein, ging es Aarve durch den Kopf „Heute, mein Freund!“ flüsterte Jari vom oberen Etagenbett aus zu ihm herunter. „O-oder besser ... morgen früh ...“ Wie fast immer reagierte Aarve nicht auf seine Andeutungen. „Hörst du nicht?“ „Ich will hier nur nachdenken, okay?“ Aarve wusste unmittelbar nachdem die letzte Silbe über seine Lippen gegangen war, dass er damit die Lawine erst ins Rollen gebracht hatte. „Dann denk mal drüber nach, was du als erstes machen wirst, wenn du aus diesem Loch raus bist!“ „Das weiß ich schon! In den Bus steigen und in die Stadt fahren“, antwortete er gelassen. „Ein knappes Jahr noch. Kann es kaum erwarten ...“ „Ein ganzes Jahr noch?“ lachte Jari. „Das kann doch keiner überstehen!“ „Ich komm schon klar, danke.“ „Und wenn die Tür hier eines Tages aufgehen würde, würdest du die Chance nicht ergreifen?“ Aarve schüttelte nur den Kopf. „Die Tür geht hier jeden Tag ein paar Mal auf, das heißt noch lange nicht, dass du einfach aus dem Gebäude spazieren kannst.“ In gewisser Weise meinte er diesen Hinweis durchaus ernst. Aarve traute Jari zu, eines Tages einfach die Beine in die Hand zu nehmen und auf gut Glück davon zu rennen. „Wovor hast du eigentlich solche Angst?“ Nun begann der etwas jüngere Jari, Aarve schwer auf die Nerven zu gehen. „Glaub mir, Freund, Angst habe ich schon lange nicht mehr!“ „Ja klar. Wem versuchst du was vorzuspielen? Ich versuche nur, dir zu hel---“ Mit dieser Bemerkung hatte er das Fass zum Überlaufen gebracht. Aarve sprang von seinem Stuhl auf und hämmerte einmal kräftig mit geballter Faust auf den klapprigen Tisch, an dem er zuvor so nachdenklich gesessen hatte. Das dumpfe Pochen war zweifellos im ganzen Trakt zu hören gewesen, doch daran verschwand Aarve keinen Gedanken, als er seinen Zellengenossen in die Schranken zu weisen begann. „Pass gut auf, Kleiner“, nahm sein Wutausbruch erste Formen an, „du bist nun wirklich der letzte, der allerletzte Mensch auf diesem Planeten, der mir irgendwas von Angst erzählen sollte! Nacht für Nacht plärrst du den ganzen Knast zusammen, heulst dir die Seele aus dem Leib wie ein Kleinkind und pisst dir – weiß Gott wie oft – ohne Grund in die Hosen, und du jämmerlicher Kerl willst mir erzählen, ich hätte vor irgendwas Angst?“ Allein seine Schonungslosigkeit und offenkundige Wut ließen in diesem Moment aber auf nichts anderes schließen. Sogar der verrückte Jari, so verunsichert er nun auch war, konnte schwerlich übersehen, dass er einen wunden Punkt bei Aarve getroffen hatte. „Heute Nacht werden wir ja sehen ...“ Es waren die letzten Worte, die Jari an diesem Tag sprach. Ihn so still zu erleben, war ganz bestimmt eine angenehme Abwechslung; der Grund dafür zu sein und aus seinen letzten Worten nicht schlau zu werden, beunruhigte Aarve allerdings. Stunde um Stunde fragte er sich, was Jari wohl damit gemeint haben könnte. Was hatte er wirklich vor? Nicht zuletzt sorgte sich Aarve um sein eigenes Wohlergehen, auch wenn er jedes Mal innerlich zu lachen anfangen musste, wenn er sich vorzustellen begann, Jari könnte ihm vielleicht aus Rache etwas antun wollen. Ob nun beim Essen, bei der Arbeit oder beim Hofgang – Aarve behielt Jari im Auge, wann immer es ihm möglich war. Als die Nacht angebrochen war, spielte Aarve noch eine ganze Weile mit dem Gedanken, nicht einzuschlafen. Natürlich nicht aus Angst, wie er sich einredete – er wollte nur vorsorgen. Doch hielt er das müßige Unterfangen kaum eine Stunde durch. Zu viele Gedanken schossen dem schläfrigen Finnen durch den Kopf, die letztlich stufenlos in Träume übergingen. Das er der Müdigkeit doch erlegen war, bemerkte er erst, nachdem Jari ihn mitten in der Nacht aufweckte, wie er es versprochen hatte. „Hey!“ Der Junge rüttelte an seiner Schulter. „Wach auf!“ „W-was ...“ Es dauerte einen Moment, bis Aarve Traum und Wirklichkeit wieder zu unterscheiden imstande war. „Du solltest dich ein bisschen beeilen, wenn du mitkommen willst.“ „Was redest du?“ fragte der verschlafene Blondschopf überrascht und war zugleich erleichtert, dass seine ärgsten Bedenken offensichtlich unbegründet waren. „Die Tür ist jetzt offen“, sagte Jari mit einem Lächeln auf den Lippen und neigte seinen Kopf leicht ans Fußende des Bettes. Tatsächlich stand die Zellentür einen Spalt weit offen. „Willst du wirklich hierbleiben, oder kommst du mit?“ „Bist du jetzt endgültig übergeschnappt?!“ Aarve war fest davon überzeugt, dass Jari die Tür aufgebrochen haben musste, wie auch immer er das auch fertiggebracht hatte. „Wenn die Wärter das sehen ... viel Spaß in einer Einzelzelle ...“ „Die Wärter werden mich nie wieder sehen!“ prahlte Jari und holte ein dickes Schlüsselbund aus seiner Tasche, welches er Aarve alsbald triumphal präsentierte. „Wo hast du die Schlüssel her?“ „Spielt das denn jetzt noch eine Rolle? Das ist unser Ticket in die Freiheit!“ „Durch die Tore draußen kommst du mit den Dingern auch nicht, die sind alle elektrisch“, zeigte Aarve sich wenig hoffnungsvoll. „Ja, aber bis zu den Mauern schaffen wir es allemal, danach nur noch der Zaun, und das war's!“ „Schon mal versucht, einen Stacheldrahtzaun hinaufzuklettern?“ „Hiermit sollte das unser geringstes Problem sein!“ Als hätte er nur darauf gewartet, hielt Jari Aarve auch schon das nächste Flucht-Utensil unter die Nase. Es handelte sich um einen kleinen Seitenschneider. Der Junge hatte also vorgesorgt ... „Du bist doch total irre, weißt du das?“ „Und wenn schon! Ich bin aber viel lieber draußen irre, als hier drinnen, Kumpel!“ ... ... ... ... ... ... Das heiße Klima, das in der Region vorherrschte, machte der Gruppe an diesem Tage besonders zu schaffen. In der Nähe des überschaubaren Gebirgszuges angelangt, bot sich den Frauen und Männern ein altbekanntes Bild: Weit und breit hatte die Dürre die Flora dieses Teils von Adessa niedergekämpft. Morsche Baumstümpfe und staubtrockene Gräser ließen nur entfernt erahnen, dass hier einstmals Grün das sandige Ocker überwogen, oder zumindest mit ihm konkurriert hatte. „Niemals leben hier Menschen!“ verlieh Aarve seinem ersten Gedanken sofort Worte. Er hatte recht. Es war abwegig zu glauben, dieser Ort beheimatete irgendwelche Zweibeiner. Allein die Tatsache, dass alle Wasserquellen scheinbar schon vor langer Zeit versiegt sein mussten, ließ auch die anderen daran zweifeln. „Davon war ohnehin nicht auszugehen, oder?“ fragte Viola. Eva brachte es dann auf den Punkt: „Das ist der einzige Ort weit und breit, der am Tage Schutz vor der Sonne bietet.“ Sie zeigte auf einen im Schlagschatten eines kantigen Felsens versteckt liegenden Höhleneingang, den ihre verblüfften Gefährten erst daraufhin als solchen erkannten. „Beeindruckende Sehkraft, Kindchen“, triezte die erfahrene Kriegerin das blonde Mädchen. „Das wird sicher kein Spaziergang“, fügte sie noch hinzu. „In der Tat. Wir müssen uns vorsehen. Ein einzelner Biss könnte fatale Folgen haben, wenn die Biester wirklich krank sind“, ermahnte Lester seine Freunde zur Vorsicht. Als hätte er einen Befehl gegeben, machten sich die Soldaten der Sechsergruppe daran, Teile ihrer Rüstung anzulegen. Eva und Lester hatten zuvor längst jeden unnötigen Teil des schweren Stahls in ihrem Gepäck verstaut, um in der Hitze unter Adessas Sonne nicht gebraten zu werden; jetzt würden sie jedoch auf diesen Schutz angewiesen sein. Viola verband nur ihre Unterarme provisorisch. Das enge Leder hatte die stolze Frau willensstark am Leibe auch durch die Wüste getragen. „Nur wir drei, huh?“ zeigte sie sich besorgt. „Auf keinen Fall!“ schritt Aarve nach für ihn ungewohnt langem Schweigen zur Tat. „Das geht doch nicht“, argumentierte er jedoch reichlich unausgegoren. „Was? Willst du etwa mitkommen?“ Ihr Grinsen verriet, dass Viola nicht ernsthaft auf sein Angebot einging. Es war durchaus amüsant zu beobachten, wie stereotyp der Finne sich in dieser Situation verhielt. „Hier draußen bist du besser aufgehoben, Aarve. Vielleicht bekommst du ja auch etwas Farbe“, Neckte sie ihn „Ich find' das nicht witzig!“ wurde die Angelegenheit noch nicht ruhen gelassen. „Wir schicken da also einen alten Mann und zwei Frauen rein, obwohl hier zwei gesunde Kerle zur Verfügung stehen?!“ Als Lester ihm einen dunklen, beunruhigenden Blick zuwarf, fügte er hinzu: „Nichts für ungut.“ Allerorts erwartete man ein Machtwort von der jungen Eva, die nach wie vor die Anführerin der dezimierten Gruppe war, doch wandte sie sich zunächst von dem sich anbahnenden Streit ab und begab sich zu Peter und der Elfe Lily, die nicht minder unter den Strapazen der Reise zu leiden hatte. „Und du?“ „Ich?“ Peter zeigte sich überrascht ob der seltsamen Anrede. „Was ist mit mir?“ „Willst du uns nicht begleiten?“ „Du würdest ihn doch sowieso nicht lassen!“ erkannte Lily besserwisserisch. „Schon ... Ich dachte nur ...“ „Es reicht, wenn ihr zu dritt arme Tiere abschlachtet, aus ihm müsst ihr nicht auch noch einen Mörder machen!“ giftete die Elfe. Sie konnte der bevorstehenden Hetzjagd nichts Gutes abgewinnen. „Gerade weil sie so arm dran sind, ist das für alle die beste Lösung“, ließ die entschlossene Soldatin die Argumente des Mädchens verpuffen. Noch einmal versuchte sie Peter eine bestimmte Antwort zu entlocken. „Also?“ „Ihr habt doch groß und breit erklärt, dass es zu gefährlich ist“, rechtfertigte sich Peter, auch wenn er nicht wirklich verstand, wieso. War Eva etwa enttäuscht von ihm? „Du hast recht. Dumm von mir.“ Mit diesen beinahe wehmütig klingenden Worten zog sie schließlich wieder von dannen und ließ das Trio um Lily, Momo und den Jungen verdutzt hinter sich. „Sie kann so seltsam sein“, sinnierte die Waldelfe über ihre Freundin. „Vielleicht will sie aus dir auch einen Krieger machen!?“ Peter rümpfte die Nase. „Ich habe keinerlei Interesse daran, gegen irgendwen oder irgendwas zu kämpfen!“ Lily, die sich wie ein nasses Handtuch auf den Rücken Momos geworfen hatte, applaudierte vor Begeisterung und schmeichelte dem Menschen sofort. „Es gibt also doch noch vernünftige Exemplare eurer Spezies. Wir würden ein tolles Paar abgeben, du und ich“, gluckste sie frohlockend. „Ich glaube nicht an Elfen“, konterte der Junge humorvoll. Alle Aufmerksamkeit galt jedoch sehr bald wieder den mutigen Soldaten, die es fertiggebracht hatten, den Querelen Aarves einen Riegel vorzuschieben. Für den Moment, so schien es, hatte er sich jedenfalls geschlagen gegeben. Abgefertigt und darüber alles andere als begeistert nahm der Finne auf einem Steinklotz in der Nähe der Höhle platz, scheinbar fest entschlossen, Lester und den Damen als Nachhut zu folgen, sollte es denn nötig werden. „Passt bitte auf Lily auf, ja?“ Eva wusste im Voraus, wie dieser mütterliche Ratschlag bei der kaum jüngeren, dafür aber umso stolzeren Elfe ankommen würde. Vielleicht verabschiedete sie sich auch gerade deswegen mit jenen Worten. Sie folgte Lester, der den Weg mit einer Fackel erhellte und ging der Assassine Viola voraus, die ihre Armbrust im Anschlag bereithielt. „Sie sollte dieses Mal lieber besser auf sich selbst aufpassen, pah!“ Das wahrhafte Sorge dahinter steckte, konnte Lily kaum verbergen. „Lester wird sie schon im Auge behalten“, beruhigte Peter, der mit verschränkten Armen an Momos Seite selbst wachende Blicke auf die im Schatten verschwindende Gruppe warf, auch seine eigenen Nerven. „Und wer wird auf ihn aufpassen?“ Lily beobachtete den immerwährend wütend dreinschauenden Aarve aus den Augenwinkeln. „Der wird schon klar kommen.“ Auf eine Auseinandersetzung mit dem aufbrausenden Blondschopf hatte Peter am allerwenigsten Lust. Er mochte ihn nicht und war sich auch sicher, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Bisher hatte Aarve dem Franzosen gegenüber zu keiner Zeit Anstalten gemacht, sich von einer neutralen, geschweige denn freundschaftlichen Seite zu zeigen. ... ... ... ... ... ... Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit) Kaum zu glauben, aber sie hatten es tatsächlich aus dem Hauptgebäude geschafft. Mit den Schlüsseln des Wärters standen den beiden jungen Finnen die Türen in die Freiheit buchstäblich offen. Doch war das Areal alles andere als schlecht bewacht, erst recht im Freien würde ihr waghalsiges Unterfangen auf eine harte Probe gestellt werden. Es war kalt hier draußen, insbesondere zu so später Stunde, doch war Aarve für die Dunkelheit dankbar. Die Orientierung im Hinterhof fiel ihm merklich schwerer, als Jari, der die Gefilde wie seine Westentasche zu kennen schien. Wie viele Jahre seines jungen Lebens er schon an Orten wie diesem verbracht hatte, hatte Aarve nie von ihm erfahren. Das Duo schlich an der Wand des flachen Kantinen-Komplexes entlang, Jari sagte, hier wäre der Winkel für die Suchscheinwerfer tot und man könne sie gar nicht entdecken. Aarve vertraute den vielversprechenden Worten seines Zellengenossens nicht wirklich, war jedoch viel zu nervös, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. „Halt!“ zischte Jari. Keine Sekunde später passierte der Lichtkegel eines Scheinwerfers das Gebiet vor den beiden. „Ha ha ... knapp, was?“ „Findest du das witzig?“ Aarve hatte alle Mühe sein Entsetzen zu verbergen. „Shh!“, ließ Jari wiederum keinerlei Zweifel daran aufkeimen, wer der Führer auf dieser Reise ins Ungewisse war. „Wir sollten vorsichtiger sein“, flüsterte sein Freund vorwurfsvoll. „Wir sollten uns vor allem beeilen“, meinte Jari darauf. „Was meinst du?“ „Irgendwann werden die sicher merken, dass nur Kissen und Bücher in unseren Betten liegen.“ „A-aber ...“ Nur zu gerne hätte Aarve dem Kerl hier und jetzt eine verpasst, doch hielt er sich zurück. Letzten Endes war er sich der Gefahren bewusst gewesen. Es keimten Zweifel in ihm auf, ob das alles hier wirklich eine gute Idee war. „Verdammt nochmal ...“ „Lass mich jetzt nicht hängen, Mann!“ „Schon gut, schon gut! Beweg dich!“ Die Entscheidung war endgültig gefällt: Gab es zuvor noch eine Möglichkeit, wieder umzukehren und die gestohlenen Schlüssel sonstwo zu deponieren, war diese alsbald verwirkt. Jetzt galt es für die zwei Sträflinge vor allem schnell zu sein und diesen Abschnitt ihres Lebens hinter sich zu lassen. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Dass sie genau zur rechten Zeit die Felder erreichte, lag zu Reynes Überraschung an ihrer Abstammung, denn wie sich schnell herausstellte, hatten die Soldaten um Alain zwei ihrer Artgenossen gefangen genommen, als sie auf der Heimreise nach Tapion waren. Zwei Jäger – soviel konnte Reyne, auch ohne die beiden gesehen zu haben, sofort schlussfolgern. Es mussten einfach Überlebende des Trupps gewesen sein, die im Tal von den Gamms aufgerieben worden waren. Das Bauernhaus hatte sich für Reyne als wahrer Palast entpuppt. Es war lange her gewesen, dass die junge Dunkelelfe in einer so geräumigen, prunkvoll ausgestatteten Behausung residierte. Selbst in den besseren Vierteln der riesigen Festung Vyers war alles weitaus rustikaler gehalten als hier im Idyll der offenen Natur. Die Herren dieser Ländereien mussten Könige sein; nicht vorstellbar, dass sie ihre üppigen Felder selbst bestellten. Ein Blick in die leeren Augen eines der rastenden Soldaten riss sie aus ihren belanglosen Gedanken. Die Frauen und Männer, die sie vor wenigen Stunden noch so herzlich empfangen hatten, verdankten den dramatischen Umschwung ihrer Gemütslage den Erzählungen der Dunkelelfe. Ausführlich hatte sie den Soldaten das Schicksal ihrer Kameraden offenbart. Keine Überlebenden – so das niederschmetternde Fazit ihrer Geschichte ... ihrer Reise ... Auch wenn Reyne zunächst zögerte, da sie die Trauer dieser Menschen durchaus verstand und respektierte, vergaß sie ihr eigenes Anliegen nicht. Bedacht schritt sie in die Küche des Hauses, deren Größe mehr an einen Speisesaal erinnerte. Das stark gemaserte Ebenholz der Wände strahlte dennoch ein wohlige Wärme aus, ließ die Räumlichkeit etwas enger wirken. Alain und einige seiner Leute saßen am Esstisch bei Wasser, Brot und frischem Obst. Keinem von ihnen stand in dieser schweren Stunde der Sinn danach. Reyne tastete sich vorsichtig nahe an Alain heran und fragte schließlich: „Darf ich mit den beiden gefangenen Dunkelelfen sprechen, Alain?“ Ihre Höflichkeit drückte sich in ihrem zaghaften, beinahe kindlichen Tonfall aus. Weder wollte sie jemanden verärgern, noch irgendwie ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen, dazu fühlte sie sich zum einen zu fremd in dieser Gemeinschaft, zum anderen erbot es ihr der Respekt vor der Trauer der Menschen. „Ach ja richtig, beinahe hätte ich es vergessen“, stieß Alain mit kraftloser Stimme aus. „Einer meiner Männer bewacht sie im Schuppen“, erklärte er der exotischen Frau. „Es ist der kleinere von beiden, ein etwas älterer Anbau gleich zu deiner Linken, wenn du das Haus verlässt“, fügte er noch hinzu. „Ich danke dir.“ „Nicht nötig.“ Tatsächlich wirkte der stramme Kerl beinahe gerührt. „Ich bin nur froh, dass es überhaupt jemand geschafft hat.“ Mehr als ein zustimmendes Nicken brachte die scheue Dunkelelfe darauf nicht zustande. Es ärgerte nur sie selbst, derart ängstlich auf die freundschaftlichen Gesten des Mannes reagieren zu können, doch hatte sie sich mit dieser Facette ihres Charakters längst abgefunden und ihre Schüchternheit als Teil ihres Wesens zu akzeptieren gelernt. Es brachte durchaus auch Vorteile mit sich – nicht zuletzt im Hinblick auf das andere Geschlecht. ___________________________________________________________ Aarve lief einige Meter entfernt von Peter nervös auf und ab. Der Franzose konnte nicht erahnen, was in dem merkwürdigen Kerl vor sich ging. Dessen eigenen zynischen Schlagseiten war es zu verdanken, dass es auch niemanden wirklich interessierte. Wirkliche Sorgen machte Peter sich um Lily; die zottelige Waldelfe zog es immer näher zu dem finsteren Höhleneingang, in dem ihre Freunde vor mehr als einer halben Stunde verschwunden waren – zumindest schätzte Peter, der auf funktionierendes Gerät zur Zeitmessung verzichten musste, dass es ungefähr so lange her sein musste. „Lily?“ rief er mehr fragend als fordernd. Die Elfe drehte sich nicht mal zu ihm um, winkte nur gelangweilt ab. „Was hast du vor?“ bestand Peter auf eine Erklärung. „Nichts!“ ertönte es kurz und knapp und mindestens ebenso scharf. „Nach 'Nichts' sieht mir das aber nicht aus ...“ „Wer bist du, mein Vater?“ Jetzt starrten zwei wütende Augen den Jungen an. Er hatte keinerlei Bedürfnis, das Mädchen zu bevormunden, doch dem Trio in die Höhle folgen lassen, würde er sie ebensowenig. Peter fühlte sich in gewissem Maße verantwortlich für Lily, die zweifellos weit besser wusste, wie man in der Natur auf sich allein gestellt überlebte – das war schon ihrer Herkunft und Abstammung geschuldet –, nichtsdestotrotz fremd in dieser Gegend war. „Du kommst da jedenfalls nur über meine Leiche rein!“ Woraufhin das zierliche Ding ihm ein durchtriebenes, vielsagendes Grinsen entgegnete. „Mach keinen Unsinn“, stammelte Peter noch. Zu seinem Erstaunen kam Lily der Bitte jedoch alsbald nach und schlenderte mit verschränkten Armen und noch immer grinsend zu ihm zurück. „Keine Sorge, Paps.“ zog sie den Jungen, dessen Beschützerinstinkt ganz neue Formen angenommen zu haben schien, auf. „Nichts und niemand würde mich da rein bekommen. Ich habe nur etwas gesucht.“ „Und nicht gefunden?“ „Zu meinem Erstaunen, nein!“ Die Elfe sprach in Rätseln. „Darf ich dann auch erfahren, wonach du gesucht hast?“ „Wenn du es wirklich wissen willst: nach Feen“, hieß es kurz und knapp. „Und du hast hier Feen erwartet, weil ...“ „Weil man sie eben überall findet, Dummkopf!“ Warum er das hätte wissen sollen, gab Peter neuerliche Rätsel auf. „Ist das so?“ „So ist das!“ Alsbald bereitete sich die jugendliche Waldelfe auf einen Vortrag sondergleichen vor; nahm dafür gar auf dem Rücken Momos Platz, um ihren Schüler standesgemäß zu überragen. Einen kurzen Augenblick dachte sie gar daran, Aarve in das Gespräch miteinzubeziehen, doch der temperamentvolle, wütend dreinblickende Blondschopf schien voll und ganz in Gedanken verloren. „Feen und andere Naturgeister sind für das bloße Auge unsichtbar.“ Soviel zur überraschten Reaktion des Jungen – gut, dass Lily ihn erst einen Dummkopf geschimpft hatte, um sich danach einsichtig zu zeigen ... „Obwohl es auch Individuen unter ihnen gibt – den Feen vornehmlich – die sich für die unsere Ebene des Seins interessieren. Ihre Neugier verleitet sie dann gerne dazu, eine Form anzunehmen, die sich sogar deiner ungeschulten Wahrnehmung erschließt.“ „Ungeschult?“ Lily klang ganz und gar hochtrabend – daran gab es rein gar nichts zu beschönigen. Sie genoss ihre Rolle als wandelndes Lexikon. Ihr Zuhörer hielt sie keinen Moment lang für so schlau wie sie gern auf ihn gewirkt hätte, doch nahm Peter es mit einem Lächeln. Es gab durchaus noch mehr Dinge in Minewood, von denen er nichts verstand; warum sich also nicht etwas weiterbilden? „Erinnerst du dich nicht?“ „An das Ding im Baum?“ erwiderte Peter plump. „Dieses Ding war eine solche Fee, ja, und der Baum“, betonte Lily mit einem übertrieben idiotischen Gesichtsausdruck, mit dem sie den Franzosen imitieren wollte, „ist zufällig mein Zuhause!“ Peter verkniff sich ein Kichern daraufhin nicht. „Ihr Menschen denkt alle, ihr wärt so besonders.“ „Huh?“ Erneut amüsierte sich der Neunzehnjährige über ihre Worte. „Wirklich nicht, nein.“ „Warum machst du dich dann über die Geheimnisse dieser Welt lustig?“ „Tu ich nicht!“ wies Peter den Vorwurf entschieden von sich. „Es ist nur ...“ „Was?“ Langsam beruhigte sich Peter wieder. „Du wärst eine miserable Lehrerin.“ Sofort plusterte sich das zierliche Wesen auf. Ihren hochroten Kopf wandte sie erbost ab von dem Fiesling, der ihr so frech in die Parade gefahren war. Jedoch kam sie nicht drum herum, sich ihre kleine Ansprache noch einmal vor Augen zu führen. Ohne es zu wollen – ohne anders zu können – stimmte sie schließlich in das Gelächter des Jungen mit ein. In ihrem Stolz verletzt wegen einer solchen Kleinigkeit? Nein, wirklich nicht; das war einfach zu komisch! „Könnt ihr nicht mal die Klappe halten?“ erklang es aus nächster Nähe. Aarve hatte sich in dem kleinen Tumult unbemerkt zu den beiden begeben und machte deutlich, was er wollte. „Ich leih mir das mal kurz aus“, verkündete er dreist und zog kurz darauf das Kurzschwert, das Peter von Miraaj als Geschenk überreicht bekommen hatte, aus dem Gepäck des Jungen, das zu Hufen Momos lag. „Hey!“ Peter reagierte sofort zornig. „Was fällt dir eigentlich ein!“ Ohne Umschweife hievte Aarve den antiken Stahl in die Höhe und hielt ihn dem Franzosen drohend vor die Brust. „Du bekommst es bald zurück, verstanden?“ Keine Antwort. Peter schien geradezu schockiert, dass Aarve so weit zu gehen bereit war. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“ Ohne noch einen Blick zurück auf den perplexen Jungen und seine exotische Freundin zu werfen, machte sich der Finne auf, den drei Soldaten in die Höhle zu folgen. An seiner Entschlossenheit war nicht zu zweifeln. Warum er es tat – was ihn bewegte – wusste einzig und allein er selbst. ... ... ... ... ... ... Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit) Sein Atem war schwer; er spürte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper. Als der Alarm ausgelöst worden war, hatte Jari ihn angehalten, die Beine in die Hand zu nehmen. Zuerst hatte er noch gezögert, aus Angst, alles nur noch schlimmer zu machen; doch schlussendlich folgte er seinem Kameraden. Irgendwann hatte er ihn gar eingeholt und auf dem Weg in die Wälder hinter sich gelassen. Jetzt stoppte Aarve zum ersten Mal. Die Sirenen des Gefängnisses waren nicht mehr zu hören, womöglich waren sie schon wieder abgestellt worden. Ohne Zweifel war man ihnen auf den Fersen. Wie lange konnte es dauern, bis die Wachen und die Hunde sie fanden? Wo um alles in der Welt war Jari abgeblieben? Aarve wollte nach ihm rufen, ließ den Unsinn dann aber bleiben, um nicht unnötig auf sich Aufmerksam zu machen; alleine hatte er vielleicht eher eine Chance. Vielleicht hatte er auch nur alleine eine Chance, das alles hier heil zu überstehen. Dann sah er schwach das wild flackernde Licht einer Taschenlampe in der Ferne. Sofort versuchte Aarve sich im Schlagschatten eines Baumes zu verstecken; von dort aus wollte er zumindest für einen Moment beobachten, was vor sich ging. Sein Verstand sträubte sich zwar, wollte weiterlaufen soweit seine Füße ihn tragen würden, sein Herz jedoch konnte es nicht verantworten, im Ungewissen über Jaris Schicksal einfach davon zu rennen. Tatsächlich erkannte er schon bald die Schemen eines Menschen, den der Lichtkegel ab und zu traf, jedoch nie auf ihm verweilte. Wenn es wirklich Jari war, dann gab es für die beiden vielleicht doch noch Hoffnung. Aarve verließ den Sichtschutz des breiten Baumstammes langsam in der Hocke. Bald hörte er auch das wilde Rascheln, das die schnellen, unregelmäßigen Schritte seines Kameraden verursachten. „Hey, hier bin ich, Jari!“ machte Aarve nun endlich auf sich aufmerksam, und das lauter, als es gut gewesen war. Das Rascheln verklang sofort. Jari hatte ihn gehört. „Hier!“ gab Aarve sich noch ein weiteres Mal zu erkennen. Diesmal konnte Jari die Richtung, aus der das Rufen kam, genau ausmachen. Er verschwendete keine Zeit, sich wieder mit seinem Komplizen zusammenzutun. Als der völlig erschöpfte Kerl seinen Landsmann erreichte, stand ihm sowohl Erleichterung als auch Angst ins Gesicht geschrieben. „Die haben uns“, keuchte er. „Noch hat uns keiner!“ ermutigte ausgerechnet Aarve den Drahtzieher dieses zum Scheitern verurteilten Unterfangens. In der Stunde der Niederlage und der Schwäche seines Kumpanen war er entschlossener als je zuvor. „Wir rennen einfach weiter, hörst du?“ „Wohin denn? Die kriegen uns doch sowieso!“ jammerte der verängstigte Kerl – sein Wille schien gebrochen. „Es tut mir leid, Aarve“, zumindest seine Rolle bei diesem Fiasko wusste er noch richtig einzuschätzen. „Sei still!“ kam es ihm daraufhin scharf entgegen. „Wir rennen, bis wir umfallen, kapiert!? Ich geh nicht wieder zurück, auf keinen Fall!“ „A-aber ...“ Jari atmete noch immer so schwer, als hätte er die letzte halbe Stunde unter Wasser verbracht. „Aarve!?“ Der Blondschopf hatte sich schon einige Schritte von ihm entfernt und drauf und dran wahr zu machen, was er angekündigt hatte. Er wollte tatsächlich weitermachen, wenngleich die Situation aussichtslos schien. Einmal blickte Aarve noch zurück, streckte seinem Freund die Hand entgegen. „Komm!“ wies er ihn an, und das Häufchen Elend, das Jari verkörperte, setzte sich noch einmal in Bewegung, während das Gebrüll der Wachen und das Bellen der Hunde immer lauter wurde. Gerade zwei Schritte konnte er noch machen, dann endete der Traum von der Freiheit für ihn und Aarve endgültig. Die Kugel traf Jari im Hals, durchbohrte ihn und zischte einen knappen halben Meter an seinem Komplizen vorbei. Feine Fäden warmen Blutes spritzten in abstraktem Muster auf dessen Hemd, Arm und Gesicht. Aarve war völlig starr vor Entsetzen; er nahm gar nicht zur Kenntnis, wie ein von der Leine gelassener Schäferhund mit aller Kraft am Bein des Toten zu zerren begann, kaum als Jari zusammengesackt und schließlich vornüber in den Dreck gefallen war. Auch das jämmerliche Wimmern des näher kommenden Wärters, dessen dilettantischer Warnschuss so katastrophal daneben gegangen war, vernahm er nicht. „Oh Gott ... oh Gott ...“ ertönte es immer wieder aus der staubtrockenen Kehle des Mörders. „D-das w-wollte ich nicht!“ versuchte er sich zu rechtfertigen, vor allem vor Gott und sich selbst. „Es war ein ... ein Unfall ...“ Erst die nächsten beiden Wachleute, die beinahe zeitgleich am Ort des Geschehens eintrafen, begannen nach dem ersten Schock, den auch sie nicht verbergen konnten, damit, Aarve abzuführen. Sie hätten den Jungen wohl auch noch nach Tagen unverändert an Ort und Stelle finden können. Er war nicht ansprechbar, gar nicht mehr Teil dieser Welt, so schien es. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Es war kein würdiger Ort für zwei Gefangene solch erhebender Abstammung – das sicher nicht –, dennoch zweifelte Reyne keine Sekunde daran, dass weder der schlaksige, kantige junge Kerl noch seine schöne Kameradin auch nur Ansatzweise so schlecht behandelt worden waren, wie die Menschen von den dunkelelf'schen Artgenossen in Caims. Beim Anblick der beiden, wie sie sich weit entfernt voneinander einen Platz in der geräumigen, jedoch baufälligen Stallung gesucht hatten, huschte Reyne ein Grinsen über die Lippen. Sang wandte sich sofort zu der eintretenden Frau um und war umso überraschter, eine offensichtlich frohlockende Dunkelelfe vor sich stehen zu haben. „Was haben die uns ins Wasser getan?“ fragte er leise, mehr an sich selbst gerichtet; dann lauter: „Wer zum Teufel bist du?“ Zur Höflichkeit war der Knabe jedenfalls nicht erzogen worden. „E-eine Dunkelelfe, die bei den Menschen ein und aus geht?! Ich ...“ Er konnte es nicht fassen. Ohne auch nur das kleinste Detail über seine Artgenossin in Erfahrung gebracht zu haben, verurteilte Sang sie auch schon. Seine tief empfundene Abscheu stand dem jungen Mann in sein eckiges Gesicht geschrieben. „Ich fürchte, das geht dich gar nichts an“, reagierte Reyne ganz süffisant auf die Antipathien, die ihr entgegnet wurden. Ihre Aufmerksamkeit galt dabei mehr dem regungslosen Mädchen am anderen Ende der Stallung, das zusammengekauert im Schatten die Wand anstarrte. Sie rührte sich kein Stück von der Stelle, als Sang seinem Temperament Luft verschaffte. „Was ist mit ihr los?“ Sang rümpfte die lange Nase und spuckte der Verräterin plakativ vor die Füße. So viel halte ich von dir, verrieten seine funkelnden Augen. Er war auch noch stolz auf sein widerliches Benehmen. Das Opfer jener Unsittlichkeit nahm es gelassen. „Schätze, du bist nicht zu Gesprächen aufgelegt.“ „An eine feige Verräterin habe ich keine Worte zu verlieren“, verhöhnte Sang sie nur noch weiter. Reyne bemerkte einige Ohrlöcher und gar eines in der Nase des Elfs. Sicher waren dort einst Schmuckstücke angebracht gewesen. „Zu feige sogar, mir ihren Namen zu verraten.“ „Was würde dir das bringen?“ kam es ihm umgehend entgegen. Doch war das noch nicht alles. „In Adessa kennt man mich unter dem Namen Reyne. Und wie nennen sie dich?“ „Reyne ...“ Sang grübelte vergebens. Der Name war ihm nicht bekannt. „Aus welchen modrigen Spelunken deine armseligen Vorfahren auch immer gekommen sein mochten, sie würden sich schämen für---“ „Hüte deine Zunge, oder du verlierst sie!“ Zum ersten Mal zeigten die abschätzigen Worte des Dunkelelfs Wirkung. Reyne hielt dem grinsenden Maulheld ihr Schwert unters Kinn. Wie die Ironie es wollte, hatte Sang einen wunden Punkt bei ihr getroffen: Sie hatte ihre Eltern niemals kennengelernt. Wer weiß, wer sie wirklich waren ... wie sie wirklich waren. „Wenn du nur zu spotten imstande bist, vielleicht sollte ich mich dann lieber ihr zuwenden“, drohte Reyne aus den Augenwinkeln zu der apathischen Frau lugend. Überraschenderweise schien auch sie mit ihrer neuerlichen Taktik ins Schwarze getroffen zu haben. „Leiria hat schon genug durchmachen müssen du ...“ Er verkniff sich die Beleidigung aus Respekt vor der Klinge an seiner Kehle – gerade noch. „Niemand mit auch nur einem Funken Anstand würde sich an ihr vergreifen!“ „Leiria, huh?“ Merklich zufrieden senkte Reyne ihr Schwert und ließ es zurück in die Scheide gleiten. „D-du ...“ Sang hatte gar nicht bemerkt, wie ihm zuallererst der Name seiner Kameradin herausgerutscht war. „Wie tief willst du noch sinken?“ „Ich?“ Reyne lachte. „Diese Frage solltest du dir selber stellen und dann auf die Menschen übertragen, die euch hier in diesen vier Wänden Speise und Trank ausgeben, anstatt euch den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen!“ „Also bist du eine von ihnen.“ Stand es für ihn denn wirklich noch außer Frage? „Ein Menschenfreund!“ Sang wich angewidert einen Schritt zurück. „Nimmst sie sogar in Schutz! Diese Tiere!“ „Wie Tiere haben sie euch also behandelt? Wann war das: Bevor oder nachdem sie euch vor den Gamms gerettet haben? Haben sie euch schon zur Zwangsarbeit geschickt, oder in die Minen, in die Wüste womöglich?“ Es war keinesfalls ihr Ziel gewesen, eine Debatte über die Sitten und Unsitten der Dunkelelfen anzuführen, welche die Menschen in Sachen Grausamkeit im Umgang mit der jeweils anderen Spezies zweifelsohne um Längen übertrafen, und doch bezog sie derart klar Stellung, dass es sie selbst verwunderte. „Was zur Hölle willst du also?“ wollte Sang die schmerzenden Lobeshymnen auf die verhassten Menschen wieder verklingen lassen. „Antworten auf meine Fragen, alle meine Fragen“, drückte sie sich klar und deutlich aus. „Und wenn du sie mir nicht freiwillig geben willst, dann holen ich und meine Menschenfreunde sie uns eben mit Gewalt – von deiner Freundin, kapiert?“ Ernsthaft hatte Reyne diese Option zwar nicht in Betracht gezogen, doch wusste sie bei dem arroganten Jägersmann mittlerweile die richtigen Knöpfe zu betätigen, um ihn aus der Reserve zu locken. „Ich bin Sang, erster und einziger Sohn des großen Ortoroz, dem ersten Offizier und Führer der gesammelten Streitkräfte von Lord Gardif“, beantwortete der Elf die Frage, die ihm Reyne eingangs gestellt hatte, pro forma wie ein guter Soldat. „Ortoroz' Sohn?“ Reyne war verblüfft und konnte es kaum glauben. Nach näherer Betrachtung erinnerte sie sich jedoch an ein Treffen mit dem jugendlichen Sang. Es musste kurz nach dessen Einberufung zu den Jägern gewesen sein: Sie war damals eine von drei weiblichen Leibwachen des Kommandanten. Ihre Anwesenheit bei jenen Anlässen war eine von vielen Bevorzugungen, die Reyne in den ersten Monaten als Soldatin zuteil wurden; ihre heroische Tat im höchsten Turm ward nie vergessen. „Unsere Namen sind dir also bekannt, ja?“ „Nun, wie du auch bin ich ein Kind Vyers'“, räumte sie Missverständnisse aus. „Ich kann mich auch noch gut an die pikanten Gerüchte erinnern, die die Runde machten, als bekannt wurde, dass dem Sohn des stolzen Ortoroz eine Karriere im Militär nicht vergönnt war.“ Der noch stolzere Sang begann vor Wut zu kochen. „Das gefällt dir, was? Mich zu erniedrigen!?“ Reyne verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, wie ironisch diese Worte aus seinem Munde klangen. Im Prinzip war der Knabe sogar ein Leidensgenosse von ihr, was diese bestimmte Unzulänglichkeit anging. „Wie auch immer ... was mich wirklich interessiert, ist, warum ihr den Angreifern im Geheimen gefolgt seid.“ „Was glaubst du wohl?“ zischte der Elf. „Plant Gardif einen Vergeltungsschlag gegen die Menschen?“ „Selbst wenn er das ursprünglich nicht getan hat, was denkst du, werden die Kameraden in der Heimat tun, wenn sie erfahren, dass wir vermisst werden?“ Eine Frage, auf die Sang an allererster Stelle selbst zu gern selbst eine definitive Antwort gehabt hätte. „Meinst du, dein Leben ist wichtig genug, dafür einen Krieg zu riskieren?“ Keine Wort drang aus der Kehle des jungen Mannes. Er hegte Zweifel daran. „Und die Menschen würden euch beide sicher aushändigen, wenn sich dadurch ein Konflikt vermeiden ließe.“ „Pah!“ echauffierte Sang sich lauthals. „Das würde auch nur alles hinauszögern.“ „Man sieht die Menschen in Tapion jetzt also als Bedrohung an ...“ Was die große Mehrheit den waghalsigen Aktionen der Soldaten um Eva zu verdanken hatte. Ganz wie Elmo hatte auch Reyne von Anfang an arge Bedenken gehabt, was Evas Pläne anbelangte. „Bedrohung? Das soll wohl ein Witz sein!? Diese Bauerntölpel mit ihren Mistgabeln sind allerhöchstens lästig. Eine Plage, von der die Welt befreit werden muss; das ist alles.“ „Ha ha ha.“ Etwas amüsierte die Dunkelelfe: Sangs Hochmut gründete sich auf seiner eigenen Unwissenheit. „Was ist so verdammt komisch, huh?“ „Sagen wir so: Ich werde mein Möglichstes tun und ein gutes Wort für euch bei Alain einlegen, damit ihr die Reise nach Tapion mit uns bestreiten dürft.“ Sang bekam umgehend große Augen. „Wenn wir die Felder der Bauerntölpel hinter uns gelassen haben, wirst du die Dinge vielleicht in einem anderen Licht sehen, Sang.“ ___________________________________________________________ Es war ganz und gar nicht der Anblick, den sie alle erwartet hatten. Zwar war die Suche nach den wilden Tieren in gewisser Weise ein Erfolg gewesen, doch sie in diesem Zustand vorzufinden, in erster Linie eine faustdicke Überraschung. Die Höhle erstreckte sich bis weit in den Berg hinein und bot auch in die Vertikale mehr als genug Platz für die Menschen, die sie so mutig erkundeten. Die Luft war schal und stickig, in diesem besonderen Oval gar modrig. Es roch nach Verwesung, und der Grund dafür lag offenkundig auf dem kargen Felsboden verstreut. „Kojoten“ Lester, der über einen der weniger in Mitleidenschaft gezogenen Kadaver gebückt war, gab sich einsilbig. „Nicht mal von besonderer Abstammung oder dergleichen“, sinnierte Eva über den Schrecken. Ein ganzes Rudel der abgemagerten Tiere lag in den Tiefen dieses Höhlensystems begraben, teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt in den eigenen Eingeweiden gebettet. „Scheinbar ist uns jemand zuvorgekommen“ Violas Worte brachten Eva zum Nachdenken. „Niemals hätte wir so ein Blutbad angerichtet!“ gab sie sich idealistisch. „Es sieht fast aus, als wären sie ...“ „Angenagt worden, ja“, vollendete Lester den Satz. Eva zuckte bei dem Gedanken zusammen. Der Gestank war kaum noch auszuhalten – allzu lange konnte das Massaker jedenfalls noch nicht zurückliegen. „Die Frage ist: Sind diese Biester hier wirklich die Räuber, die den Wagen draußen in der Prärie überfallen haben, oder ...“ Als erzählte sie eine Spukgeschichte, stoppte Viola plakativ. „Oder was?“ Die junge blonde Anführerin sprang sofort darauf an, ihre Fantasie drehte sich längst im Kreise. „Wer soll es sonst gewesen sein?“ „Was auch immer dieses stolze Rudel hier wie Papier zerrissen hat, zum Beispiel“ Wenn Viola den Augenblick auch genoss, da es ihr gelungen war, die frühreife Soldatin wie ein ängstliches Kind vorzuführen, so fühlte sie gleichermaßen tiefes Unbehagen. „Es muss ein beachtliches Biest gewesen sein.“ „Du glaubst nicht, dass es Menschen ...“ Violas Kopfschütteln erstickte Evas Frage frühzeitig. „Die Spuren, auf die wir gestoßen sind, stammen aber von diesen Tieren hier“, zeigte sich Lester skeptisch. „Wenn die Kojoten den Lebensraum des oder der Wesen betreten und es dadurch provoziert haben, sollten wir es dabei belassen und nicht den gleichen Fehler begehen.“ „Haben wir das nicht schon?“ Auch die schwarze, gertenschlanke Assassine schien trotz der saloppen Kommentare besorgt. „Wir sollten achtgeben und ...“ Eva kam ins Grübeln. Sie suchte eifrig in Gedanken nach der besten Lösung. „Gehen wir eben wieder“, schlug Viola vor. „Die Kojoten haben die Leute überfallen, und die ... tja, die sind jetzt tot. Ihr Schlächter soll von mir aus diese Höhlen hier so lange in Anspruch nehmen, bis die Sonne erlischt!“ Versichernd blickte Eva zu ihrem Mentor, der Violas Vorschlag nickend absegnete. „Das wäre wohl das Beste. Nicht das unsere Rasselbande da draußen auf dumme Gedanken kommt und ...“ Der Schrei des todesmutigen blonden Abenteurers ließ Lester seine Worte verfluchen. Dieser verdammte Hitzkopf konnte wirklich keine Stunde stillsitzen, ohne dass sein zorniger Geist ihn zu irgendwelchen Dummheiten hinriss. Dieses Mal war er vielleicht zu weit gegangen. „Aarve dieser Trottel!“ rief Lester, der sich aber noch im selben Moment aufmachte, dem Finnen zur Hilfe zu eilen. Noch vor ihm schob sich Viola durch die engen, dunklen Korridore aus scharfkantigem Gestein, die Fackel vor sich her tragend. Sie eilte wie besessen gen Eingang, den richtigen Weg durch die verwinkelten Gassen instinktiv zurückverfolgend. Lester und Eva waren ihr dicht auf den Fersen und vertrauten ihrer Intuition. Sie alle hatten ihren Weg ins Innere des Berges mit Markierungen versehen, im Augenblick aber weder die Zeit noch die Geduld nach diesen Ausschau zu halten. „Beeilt euch!“ mahnte Viola vor allem Lester, der wegen seiner bulligen Statur am meisten Schwierigkeiten hatte, sich durch die Gänge zu manövrieren. So war es schlussendlich auch Viola, die sich als erste mit dem unwirklichen Anblick des Kampfes zwischen Mensch und Monstrum konfrontiert sah. „Aarve!“ gab sie sich lautstark zu erkennen und lenkte sowohl die Aufmerksamkeit des Mannes als auch die des Tieres auf sich, dessen unwirkliches Äußeres der tapferen Kriegerin Angst und Schrecken bereitete. „Bleibt weg!“ wies Aarve seine Kameraden an, die nun alle drei in die kleine Grotte eingedrungen waren, in der der Finne auf das Ding gestoßen war. „Was ist das nur, Lester?“ fragte Eva entsetzt, während sie das stämmige Biest musterte. Auch auf ihre Worte hin schenkte der grässliche Löwe ihr einen eindringlichen Blick aus seinen blutroten Katzenaugen. Es war beinahe unmöglich an dem Vieh vorbei zu sehen. Seine massigen Schultern und voluminöse, dunkle Mähne bildeten einen schaurigen Rahmen für die vor Wut verzerrte Schnauze. Die gefletschten Zähne und seine Klauen, mit denen das Wesen ohne Zweifel die Kojoten zerrissen hatte, blitzten im reflektierten Licht von Violas Fackel regelrecht auf. Das Fell wirkte darin hingegen beinahe dunkler als die pechschwarze Schatten, die das Feuer an die Felswände warf. „Das ist ...“ drang es heiser aus der Kehle des Kriegers. „Was? Lester!“ Es gelang Eva glücklicherweise, den alten Mann wieder in die Realität zurückzuholen. „I-ich“, stammelte er, bevor er sich wieder völlig gefangen hatte. „Ich werde ihn ablenken, während ihr euch in Sicherheit bringt, ist das klar?“ befahl der Älteste seinen Kameraden wüst, das lauernde Biest, das jeden Augenblick angreifen konnte, dabei fest im Blick. „Aber---“ „Keine Diskussion, ich muss JETZT angreifen!“ brüllte der graue Riese und wuchtete seinen Zweihänder mit aller Macht so gut es ging hinter seinen Körper, um dem Monstrum wenn möglich mit einem einzigen gewaltigen Hieb das Leben zu rauben – ein weiterer wäre ihm aller Voraussicht nach nicht vergönnt. Seine Vorbereitung lenkte die Aufmerksamkeit des Tieres ganz auf ihn, während Viola und Eva sich westwärts an den Wänden der Höhle – ganz im Schatten – Richtung Ausgang vorarbeiteten. Aarve war an die gegenüberliegende Wand gepresst. Sie beide hofften, dass ihr vermutlich verletzter Gefährte es ihnen gleichtun würde, doch nahm dieser Alptraum einen ganz anderen Verlauf. Im selben Moment, in dem Lester zum Schlag ansetzte, sprang auch der Löwe auf ihn zu, das Maul weit aufgerissen und die mächtigen vorderen Pranken ausgestreckt. Doch noch bevor das Biest ihn erreichte, ließ großer Schmerz es aufschreien und seitlich in sich zusammensacken: Aarve hatte ihm das gestohlene Schwert von Peter fast bis zur Parierstange in den Bauch gerammt. Eines der kräftigen Hinterbeine schlug dabei nach ihm aus und warf ihn mit einem Ruck zurück an die Wand. Lester – nur für den Bruchteil einer Sekunde perplex – nutzte die Gelegenheit und rammte sein riesiges Schwert mit der Spitze voran in den Kopf des Höllenwesens, das daraufhin am ganzen Leibe spastisch zu zucken begann und ein letztes panisches Röcheln hervorbrachte. Die Gefahr schien tatsächlich gebannt. Lester suchte zuallererst nach Eva. Zwar erkannte er sie im spärlichen Licht von Violas Fackel nicht, doch ging er fest davon aus, das auch sie es geschafft haben musste, sich in Sicherheit zu bringen. Dann fasste er Aarve ins Auge, der erschöpft an der Westwand lehnte. Als er seinen Blick erwiderte, würdigte Lester den Mut des jungen Blondschopfs mit einem Lächeln, wie es ein stolzer Vater seinem Sohn nach guter Tat nicht ehrlicher hätte entgegnen können. Eva, Viola, er selbst – sie alle verdankten dem Wagemut des Heißsporns ihr Leben. ___________________________________________________________ Der Abend hatte klammheimlich zu dämmern begonnen. Gespannt warteten Lily und Peter noch immer auf die Rückkehr ihrer Freunde. Nach Aarves Entscheidung, sich dem abenteuerlustigen Trio anzuschließen, hatte sich alles nur noch länger hinausgezögert. Langsam aber sicher begann auch der Franzose sich ernsthaft Sorgen um seine Freunde zu machen. Die Waldelfe – immer in seiner unmittelbaren Nähe – war gar kaum noch zu halten. „Peter?“ fragte sie zum x-ten Male. „Wo bleiben sie nur?“ „Ich weiß es nicht!“ platzte es schroff aus ihm heraus. Lily wollte nur aufgemuntert werden und sich zumindest einreden, alles wäre in Ordnung, solange Peter ihr es fürsorglich versicherte. Nun drohte sie alle Hoffnung zu verlieren. Kindlich schlug sie die Hände vor ihr zartes Gesicht um doch noch irgendwie zu verhindern, lauthals loszuheulen. „Hör mal, das tut mir wirklich---.“ „Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?“ ertönte es darauf aus dem Schatten des Höhleneingangs, dem sich Lily und Peter von Minute zu Minute Schritt für Schritt genähert hatten. Zunächst stiefelte Viola aus dem Dunkel ins Tageslicht; sie schien bester Laune zu sein. Dann schob sich Eva an ihr vorbei – der Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Blick verriet deutlich ihre Besorgnis. Beide Frauen machten daraufhin Platz für Lester und Aarve, der von dem grauen Hünen gestützt wurde. Lester hatte noch immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn der Anblick des jungen Mannes, dem er so fürsorglich unter die Arme griff, auch alles andere als belustigend war. Aarves Hemd war getränkt von Blut und auch auf Gesicht und Hals entstellten in wilder Anordnung rote Spritzer seine Haut, wenn eine Wunde auch nicht zu erkennen war. „Was ist denn da drinnen passiert?“ bettelte Peter regelrecht um Erleuchtung. „Unser Freund hier,“ erklärte der Älteste begeistert, „hat eine La'al Löwen erlegt!“ „La-was?“ Der Franzose hatte keine Ahnung, von wem oder was Lester da sprach. „E-erlegt ... hast wohl eher du ihn“, zeigte sich Aarve überraschend bescheiden. Die Schmerzen waren ihm deutlich anzumerken. „Ach was! Das Biest hätte mich verschlungen, wenn du nicht auf ihn losgegangen wärst.“ Mit diesen Worten setzte er den Finnen vorsichtig auf dem Boden ab, stützte ihm aber noch weiter den Rücken, bis Viola ihm diese Aufgabe dankend abnahm. „Ich verstehe nicht!?“ musste sich auch die Elfe eingestehen, die vor allem darüber froh war, Eva und die anderen munter und – zum größten Teil – gesund wieder bei sich zu haben. „La'al ist eine Region weiter westlich im alten Reich der Dunkelelfen. Legendär vor allem wegen der üppigen und vielfältigen Fauna. Das Biest in der Höhle,“ richtete sich Lester nun in erster Linie an die Beteiligten des Kampfes, die ebensowenig wussten, wovon er sprach, „war eine besondere Züchtung, die aus diversen Katzenarten hervorgegangen ist. Nicht weniger als das Wappentier Ballymenas: Der Löwe von La'al!“ „Und wie kam dieses Vieh hierher?“ fragte Aarve keuchend. „Wahrscheinlich auf demselben Wege wie wir. Der Hunger wird es wohl irgendwann aus den Überbleibseln Ballymenas in die Prärie getrieben haben.“ „Bis es schließlich hier landete“, folgerte Viola, während sie dem tapferen Aarve Halt gab. „Und wenn es davon noch mehr gibt?“ zeigte sich Eva besorgt. „Vielleicht ja sogar hier in diesen Höhlen!?“ „Dann könnten, nein, dann sollten wir es trotzdem dabei belassen“, schätzte Lester die Lage als zu gefährlich ein. „Eines dieser Biester hat jedenfalls ausgereicht, um das ganze Rudel Kojoten zu reißen, die den Vorratswagen überfallen haben, und war dann sogar noch so nett, sich von uns erlegen zu lassen, ha ha ha!“ „Können wir denn so weiterziehen?“ fragte Peter in Sorge über Aarves Zustand. Der Finne richtete sich daraufhin mit Violas tatkräftiger Unterstützung auf und warf dem Neunzehnjährigen das blutverschmierte Schwert vor die Füße, das sich als eine überaus nützliche Leihgabe erwiesen hatte. „Das kriegen wir schon hin!“ feixte er und genoss dabei den klaren Triumph über den Helden Peter Dirand, der vielleicht zum ersten Mal seit dem Beginn der Reise von Ballybofey nach Tapion nicht im Vordergrund stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)