Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Gehasst ------- Kapitel 19 – Gehasst Kerzenlicht erhellte an jenem späten Abend den großen Thronsaal. Die Atmosphäre, die Lady Uriah sich geschaffen hatte, erinnerte nur entfernt an Gardifs persönliche Vorlieben. Nach dem überraschenden Ableben ihres Herren und seiner heißgeliebten Prana hatte Uriah die meiste Zeit am Ort des Geschehens verbracht. Nicht, weil sie der Tat genauer auf den Grund gehen wollte, oder sich in ihrem prädestinierten neuen Domizil wohnlich machen wollte; es waren weit weniger naheliegende Gründe, die die Prinzessin der Dunkelelfen auch zu so später Stunde noch in Akribie versetzten. Uriah war auf der Suche nach den Hinterlassenschaften der nun für alle Ewigkeit schlafenden Hexe. Doch selbst mit einigen Aufzeichnungen Gardifs hätte sie mittlerweile vorlieb genommen – gefunden hatte sie bisher nämlich nichts dergleichen. Obwohl es ihr vorkam, als hätte sie in jeder noch so versteckt gelegenen Nische, in jedem noch so kleinen, geheimen Verschlag, hinter jedem Vorhang, in jedem Regal und unter jedem Gemälde – wie geschmacklos es auch gewesen war – gesucht, drang sich der Magierin der Gedanke auf, etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Ihrer Magie vertraute sie bei der Suche allerdings nicht. Sie war sich durchaus bewusst, dass normale Dunkelelfen, Waldelfen, Minari oder auch Menschen Gegenständen, zu denen sie eine besondere Beziehung pflegten, mit einer emotionalen Spur ihrer selbst belegten, ohne es zu wissen. Wie Fingerabdrücke verloren sich winzige Teile ihrer Seelen auf ihren Schätzen. Der Hexe Prana traute Uriah aber nicht zu, zu Lebzeiten so unvorsichtig gewesen zu sein. Nichtsdestotrotz war die Suche nach eben jenen Spuren der Prinzessin erste Tat. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Ortoroz sie aufsuchen käme; und obschon Uriah ihn längst in ihren Bann gezogen hatte, bereitete ihr das Sorgen. Zumindest der Lauf der Dinge spielte ihr in die Karten. Gedanken an ihre Angst davor, von Prana gerichtet zu werden, rangen ihr mittlerweile nur noch ein müdes Lächeln ab. In Hast versetzt, sah sich Uriah vor die Frage gestellt, ob die Hexe überhaupt auch nur ein Staubkorn, das Rückschlüsse auf ihr Leben zuließ, im Diesseits zurückgelassen hatte, oder ob die Hexe keineswegs so überstürzt und von Gefühlen überwältigt dem eigenen Tod begegnet war, wie es den Eindruck erweckt hatte. Schon lange starrte die Prinzessin dabei über das verwaiste Bett der gehassten Hohepriesterin hinweg in das immer nächtliche Idyll Gardifs' Gewächshauses. Sie kannte diesen Ort kaum; hatte erst wenige Male das zweifelhafte Vergnügen gehabt, einen Blick auf die Sternrosen zu erhaschen, während sie stets dem philosophierenden Minari bei seinen Gesprächen mit der schlafenden Hexe lauschte. Mittlerweile hatte sich das Ambiente jedoch deutlich verändert. Dann fiel es Uriah wieder ein: Die immerwährende Nacht war nur ein Trugbild, das Prana für ihren Geliebten geschaffen hatte, damit jener sich an dem für ihn heimischen Anblick laben konnte. Das Dunkel, in welches die gläserne Kuppel im Hier und Jetzt gehüllt war hingegen, war real und es war endgültig. Es dauerte, bis sie jene Eindrücke völlig verarbeitet hatte, doch letzten Endes sah sie sich in ihren Observationen bestätigt. Normalerweise regte die Nacht die fremdartigen Pflanzen dazu an, ihre silbrig leuchtenden Pollen in die Luft abzusondern. Ein Schauspiel, das den Raum erst wirklich zu erhellen vermochte. Doch in dem Gewächshaus war es stockfinster. Was sich wohl wirklich in jenem Raum verbarg? In Uriah stiegen noch ein weiteres Mal Glücksgefühle auf, wenn sie sich im selben Moment auch dafür Ohrfeigen wollte, nicht schon viel früher an jenen Ort gedacht zu haben. Ihr Streifzug durch das Oval des völlig leer scheinenden Raumes dauerte nicht lange an. Unter den trügerischen Gewändern existierten hier scheinbar nur Gestein, Staub und einige leere Regale, die so alt aussahen, wie die Grundmauern der Festung selbst – fast wie mit ihnen verwachsen. Uriah zeigte jedoch keine Berührungsängste. Sie war es gewohnt, anzupacken, seit jeher schon. Eigenschaften, die sich, nachdem es sie und die Überreste ihres Volkes vor Jahrzehnten nach Caims gezogen hatte, quasi von allein einstellten. Die Privilegien, die sie in Ballymena als Kind hatte genießen können, vermochten weder Gardif, noch Ortoroz, noch irgendwer ihr an diesem Ort zu bieten. Sie hatte sich nie daran gestört; war immer stark gewesen, für ihre Leute, die zu ihr aufsahen. Am Ende ihrer Suche stand ein einziges Buch, ebenso verstaubt wie das Mobiliar, in dem es vor langer Zeit versteckt worden war. Ein flüchtiger Gedanke beunruhigte die Magierin, als sie in dem Heiligtum ihres verstorbenen Herrschers den Hinterlassenschaften ihrer verhassten Feindin Prana auf den Grund ging: Ob die Hexe – ganz wie vor ihrem Tod – wohl auch in der Vergangenheit schon aus ihrem Schlaf erwacht war, um selbst in diesem Buch zu schreiben? War sie wirklich so mächtig gewesen? Vielleicht ... Eine andere Variante, lag jedoch näher. Ohne Zweifel war Prana in der Lage gewesen, selbst außergewöhnlich starke Zauber zu wirken, während sie schlief, das musste Uriah selbst vor kurzer Zeit am eigenen Leibe erfahren. Etwas so triviales, wie ihre Gedanken per Magie zu Papier zu bringen, hätte sie wohl nicht einmal herausgefordert. So wagte Lady Uriah das Buch zu öffnen, und was sie sah, bestätigte ihre Vermutungen: Die uralte Schrift der Hochelfen verriet das Handwerk Pranas. Die Prinzessin sprach in Gedanken ein Stoßgebet in Richtung Himmel aus. Ihrer Mutter – der Königin – und ihrer ganz persönlichen Vorliebe für dieses Überbleibsel vergangener Tage hatte sie es zu verdanken, dass sie nun, ohne viel Zeit zu verlieren, ihre Schlüsse aus den Worten Pranas ziehen konnte. Uriah sah den kommenden Stunden freudig gegenüber. Sie würde jedes Wort in sich aufsaugen, das die Hexe in den vielen Jahren zu Papier gebracht hatte. Jedes einzelne Wort. __________________________________________________________ Die Ländereien nördlich der verwunschenen Stadt Ballymena glichen einer Ödnis. Weit und breit erstreckte sich karges Gestein; ausgetrocknet wirkende Landstriche, die hier und dort wie ein Flickenteppich von Gräsern und Unkraut bedeckt waren – Oasen in jener von der Natur verlassenen Wüste. Reyne war diese Aussicht neu. Erst ein einziges Mal zuvor – es war gut ein Jahr her – war sie zusammen mit Elmo nach Tapion gezogen, allerdings war das Pärchen seinerzeit nicht darauf angewiesen, den gefährlichen Umweg durch die Ruinen der Hauptstadt der Dunkelelfen zu nehmen. Elmo selbst wäre niemals in den Sinn gekommen, seine geliebte Reyne einer solchen Gefahr auszusetzen, wenngleich Abenteuer dieser Art für ihn stets einen gewissen Reiz ausgemacht hatten. Seit jeher zog ihn die Magie Adessas in seinen Bann; so hatte er es Reyne einst anvertraut. Doch obwohl – oder gerade weil – die Dunkelelfe selbst Einsamkeit gewohnt war, hatte sie nie wirklich verstanden, wie man sich danach sehnen konnte. Nachdem er ihr das Leben gerettet hatte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen ... Ob er sich gewünscht hätte, an jenem geheimnisvollen Ort zur Ruhe gesetzt zu werden? Von ihr? Reyne hoffte es, denn mehr hatte sie letzten Endes nicht für ihn tun können. Was ihm einst gelungen war, blieb der schönen Elfe verwehrt. Sie machte das Schicksal dafür verantwortlich. Es schien sie immer wieder auf die Probe stellen zu wollen; ein Martyrium folgte dem nächsten, wenn es dieses Mal auch länger auf sich hatte warten lassen. Der Schmerz saß umso tiefer. Reyne ließ ihren Blick kreisen. Weit und breit kein Anzeichen für Überbleibsel von Zivilisation oder Leben in irgendeiner Form. Ein alter Kompass gab ihr die Richtung vor. Auf der Karte, die sich in ihrem Besitz befand, war Tapion nicht eingezeichnet, doch konnte Reyne sehr gut abschätzen, wo sich die Siedlung der Menschen befand; sie wusste, dass sie sich nordöstlich halten musste. Mit einer liebevollen Streicheleinheit dankte sie ihrem Pferd dessen Mühen, wohlwissend, dass noch ein weiter Weg vor ihnen lag. Sie fürchtete nicht die Strapazen – zumindest der Himmel erwies sich als gnädig, da die dicke, graue Wolkendecke die unbarmherzige Sonne verdeckte und kühlenden Regen versprach-, nur die Einsamkeit bedrückte sie. Schon früh war der aufmerksamen Kundschafterin das abstrakt anmutende Felsmassiv in der Ferne ins Auge gestochen, doch erst jetzt, da sie sich ihrer Entdeckung näherte, wurde ihre Neugier geweckt. Das war kein überdimensionaler Findling inmitten des flachen Landes. Giftgrüne Flora schien sich am Gestein entlang zu schlängeln. Reyne gab ihrem treuen Gefährten die Sporen um jenes Gebilde genauer zu erkunden. Sie stoppte ihren Hengst einige Meter vor der wahren Oase in der Ödnis; in der Tat glich der künstlich scheinende Wasserfall mitsamt des kristallklaren Baches, in den er sich ergoss, wie ein Ölgemälde inmitten der Pampa. Doch wo hatte das Wasser, dass aus dem haushohen Fels drang, seinen Ursprung? Mit Sicherheit im Untergrund, erkannte Reyne das Offensichtliche, da sie weit und breit keinen Flusslauf oder dergleichen ausgemacht hatte. Starker Druck musste die Flüssigkeit an die Oberfläche pumpen um diesen sprudelnden Kreislauf zu erschaffen. Reyne vermutete sofort, dass dieses Naturschauspiel vielleicht gar keines war. Zwar befand sie sich längst weit jenseits der Mauern Ballymenas, doch mutete die Oase inmitten der kargen Landschaft zweifellos magisch an. Die Schlingpflanzen, die sie zuvor aus der Ferne erkannt hatte, entsprangen einer dichten, gut genährt scheinenden Hecke aus saftigem Grün, die über dem ständig pulsierenden Gewässer Schatten spendete. Ein echter Blickfang, zweifellos! Romantisch, gewissermaßen. Und doch ... „Was denkst du, Harad?“, adressierte Reyne aus der Hocke ihren vierbeinigen Freund, ohne dabei den Mut aufzubringen, auch nur einen Finger in das Wasser zu tauchen. Schockiert musste sie kurz darauf erkennen, dass der Durst des Hengstes, der lange schon auf Erfrischung hatte verzichten müssen, ihn unlängst verführt hatte. Gierig trank das Tier und sorgte sich dabei nicht um eventuelle Folgen. Für ihn war diese Oase einzig und allein ein Segen. „Nicht!“, rief seine Herrin schrill; doch bemerkte die Dunkelelfe bald, dass ihre Bedenken wohl unberechtigt waren. Einige Sekunden blieb sie in böser Erwartung völlig regungslos hocken, den Blick fest auf ihren einzigen Gefährten gerichtet, an dessen Schicksal das ihre hier draußen im Nirgendwo zweifellos gebunden war; dann verließ sie langsam aber sicher auch der letzte Rest Besorgnis. Die Dunkelelfe stand auf und schritt bedächtig an ihren Freund heran. Sie tätschelte ihm den kräftigen Hals. Er hatte sich als mutiger erwiesen, als seine Herrin. Auf jeden Fall aber auch als der Naivere der beiden. „Ich hoffe, du genießt es ... Dummkopf!“ Reyne füllte jede Wasserflasche, die sich bei sich hatte und jedes andere Gefäß, dass sich als geeignetes Behältnis für das lebensspendende Elixier erwies. Dabei wuchs noch ein anderes simples Verlangen in der jungen Frau. Die tagelangen Strapazen, allem voran die Erlebnisse in Ballymena, hatten ihre Spuren hinterlassen. „Du hast doch nichts dagegen?“, fragte sie Harad, ohne eine Reaktion oder gar eine Antwort zu erwarten. Eilig legte Reyne ihre spärliche Bekleidung ab – sie zog Bewegungsfreiheit sperriger Rüstung seit eh und je vor. Auch ihren Zopf löste sie, der ihr langes Haar sonst stets zu einem Pferdeschwanz geflochten hielt. Als sie in das kühle Nass eintrat, verursachte die Kälte umgehend eine Gänsehaut bei der Dunkelelfe. Es war ein intensives Gefühl, dass ihr ein überraschtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Vorsichtig schritt sie voran. Im Zentrum des Gewässers war dessen Pegelstand am höchsten, bedeckte den von zahlreichen, künstlerischen Tätowierungen verzierten Körper der Elfe jedoch nur bis zu ihrem Bauchnabel. Sie überwand sich schließlich und tauchte rasch gänzlich in das kristallklare Wasser ein, indem sie sich in die Hocke begab. Die Erfrischung war für einen kurzen Augenblick fast schon überwältigend. „Du solltest das erleben“, empfahl Reyne dem Hengst seufzend, der jedoch gänzlich unbeeindruckt weiter seinen Durst stillte. „Weißt ja nicht, was dir entgeht!“ Die Dunkelelfe reckte und streckte sich genüsslich in dem mysteriösen Bad, dessen Erbauer – und sie war längst davon überzeugt, dass jene Oase kein Wunder der Natur war – sie in Gedanken für seine Genialität bewunderte und es ihm dankte, hier, mitten im Nirgendwo, Reisenden wie ihr ein solches Refugium der Zivilisation hinterlassen zu haben. Es zog Reyne schließlich zu den Kaskaden des kleinen Wasserfalls, der dem merkwürdig geformten, großen Fels entsprang. Nahe an dem Gestein stand sie fast gänzlich im Freien; ihr Körper glänzte im Licht, dass durch die Schwälle des Wassers, die auf sie hinunter prassten, gebrochen wurde. Sie wirkte wahrlich märchenhaft in diesem Ambiente. Wie das fehlende Teil in dem Ölgemälde, an welches die Schönheit jener Ort vor kurzem noch erinnert hatte; makellos in jeder Hinsicht. Doch fiel Reyne just in diesem Moment ein solcher Makel – ein Überbleibsel ihrer Vergangenheit – ins Auge. Während sie sich wusch verharrte sie mit ihrer Hand an einer bestimmten Stelle nahe ihrer linken Schulter. Sie überdeckte eine münzgroße Narbe und konnte in jenem Augenblick beinahe schwören, die Schmerzen von damals kehrten wieder. Doch es waren letztlich nur die Erinnerungen an Erlebtes, das sie wohl niemals würde vergessen können. ... ... ... ... ... ... Caims, westliche Grenzfestung Inverness. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Die Gamms brachten alle Kraft auf, das schwere Tor des Außenpostens zu öffnen. Hindurch schritten schleppend drei weibliche Dunkelelfen; unter ihnen Prinzessin Uriah höchstpersönlich. Die gezähmten Monster machten sich nichts aus der Ehre, die ihnen zuteil wurde; sie hatten nur verinnerlicht, dass jedwedes Ungehorsam stets mit drakonischen Bestrafungen gesühnt wurde und unterwarfen sich ihren Herren – den Dunkelelfen – deshalb demütig, wenn es der Natur der Wesen auch widersprach. Sie waren zu dumm! Zu simpel gestrickt, um einen Aufstand zu wagen. In dem Außenposten waren Spitzohren allerdings nie über einen längeren Zeitpunkt postiert. Ab und an wurde Ausrüstung verstaut und Nahrung für Durchreisende sowie die Gamms herangeschafft, mehr jedoch nicht. Man hatte es geschafft, die wilden, aggressiven Bewohner der Insel soweit zu domestizieren, dass sie sich größtenteils selbst versorgen konnten, wenn sie auf ihre Herren auch nach wie vor angewiesen waren. Lady Uriah gab den Weg vor. Sie stützte dabei eine schwer verletzte Jägerin, deren gesamte linke Körperhälfte blutgetränkt war. Der Verwundeten gelang es nicht mal mehr, sich selbst auf den Beinen zu halten. Einige Meter hinter den beiden quälte sich schließlich Re'na in die kleine Festung. Ein abgebrochener Pfeil durchbohrte ihre Schulter, doch hielt sie sich wacker. „Hier herüber!“, rief ihr die Prinzessin zu und deutete auf eine Holzbank, die vor dem Vorratslager aufgestellt war. Sie setzte ihre geschundene Untertanin vorsichtig ab und untersuchte anschließend deren Verletzungen. Es handelte sich um tiefe Bisswunden, angerichtet von einem wahrlich monströsen Kiefer. „Bleib wach, mein Kind!“ „Wie geht es ihr?“, fragte Re'na schüchtern, als sie die rastenden Frauen schließlich einholte. „Nicht gut“, gestand Lady Uriah ehrlich ein. Sorgen zeichneten ihr Gesicht; sie liebte ihre Mädchen wie ihre eigenen Kinder, wenngleich keine von ihren Gefolgsleuten auch nur annähernd mit ihren Begabungen mithalten konnte. „Und was ist mit dir?“, wandte sie sich an Re'na. „Wird schon wieder“, gab sie sich zuversichtlich. „Danke ...“ „Lass den Pfeil am besten noch stecken. Ich werde deine Wunde bald heilen, versprochen.“ „Das müsst ihr nicht, wirklich ...“ „Aber natürlich!“, entgegnete Uriah entschieden. „Mindestens das bin ich dir schuldig. Schließlich war der Pfeil für mich gedacht gewesen; und so, wie dieser Mensch Tara zugerichtet hat, würde er jetzt wohl in meinem Herzen stecken.“ Tara war nicht die Elfe, um deren Leben es Hier und Jetzt zu bangen galt. Ein einziger Schuss aus einer Armbrust, von der sich Re'na noch immer fragte, wo die Beute dieser missglückten Jagd sie wohl gefunden haben mochte, hatte ausgereicht, um die Vierte im Bunde auszuschalten. Dabei hatte Re'na alles mit ansehen müssen, angefangen beim Schrecken in Taras Gesicht, als sie des Reisenden Waffe erblickte, bis hin zur Panik in ihren Augen, als sogleich der erste abgeschossene Bolzen mit brutaler Kraft ihren Hals durchbohrte und ihre Kameradin verzweifelt um Luft ringend zurückließ. Danach war alles sehr schnell gegangen: Taras Guri nahm Reißaus, genauso wie Re'nas zweibeiniges Reittier, als sie abstieg, um die Prinzessin zu schützen. Sie hatte dabei ganz instinktiv gehandelt: Erst nahm sie den Angreifer in Augenschein und als sie bemerkte, dass er einen weiteren Bolzen gespannt hatte und auf Uriah zielte, warf sie sich wagemutig in die Schusslinie. Auch das majestätische Guri der Prinzessin geriet daraufhin in Panik und warf sie schließlich ab. Es sollte das zweite große Glück der Blaublüterin sein, da ihr Freund in Panik versetzt alles niedermachte, was sich ihm in den Weg stellte. Erst nachdem das wütende Tier den Menschen zerfetzt hatte, begann Uriah einen Zauber zu sprechen, der es beruhigen sollte – doch zu spät ... „Ruhig Blut, Selene“ Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, ihre Wunden schwächten sie bis an den Rand der Bewusstlosigkeit. „Ich hätte ihn töten sollen, als sich die Gelegenheit dazu ergab, stattdessen versuchte ich ihn zu verzaubern.“ gab sich Uriah einsichtig. „Was für eine Anführerin ...“ „Es war nicht ihre Schuld“, versuchte Re'na ihre Herrin aufzumuntern. „Niemand hätte all das voraussehen können. Sie haben nur versucht, das Richtige zu tun.“ „Das habe ich ...“ Uriah strich ihrer sterbenden Artgenossin über die Wange, gab ihr einen Kuss auf die glühende Stirn. „Zumindest jetzt wird dieser elende Zauber noch einmal von Nutzen sein.“ Re'na wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Lady Uriah wollte Selene von ihren Qualen erlösen. Die Verletzungen der Jägerin wogen einfach zu schwer, um sie jetzt noch heilen zu können. Obwohl Re'na der Ansicht war, dass Uriahs Entscheidung die richtige war, konnte sie sich nicht ausmalen, wie schwer es ihrer Anführerin wohl fallen musste, diese letztendlich zu treffen. Als die Magie zu wirken begann, bemerkte die leidende Frau es fast gar nicht. Selene schlief friedlich ein, während eine vereinzelte Träne über ihre zuvor so liebevoll von der Prinzessin berührten Wange glitt. „Das ist dann wohl das Ende dieser Jagd“, zog Uriah ein trauriges Fazit. „Wir werden andere finden, die Tara und Selenes Andenken in Ehren halten werden.“ „Nein, meine Liebe.“ Die Prinzessin stand auf und wandte sich nun ganz ihrer letzten verbliebenen Untertanin zu. „Deine Zeit ist jetzt gekommen. Ich habe andere Pläne für dich.“ ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ Es konnte nicht sein! Niemals! Unmöglich konnte wahr sein, was sie da gelesen hatte. Vielleicht hatte die Hexe ja damit gerechnet, dass ihrer Konkurrentin dieses Buch früher oder später in die Hände fallen würde und gezielt falsche Informationen darin gesät; vielleicht war gar alles darin gelogen!? Ja, so musste es sein! Lieber würde Uriah das Buch – wie aufschlussreich es auch immer schien – verbrennen, als zu glauben, was sich ihr auf dessen letzten Seiten offenbart hatte. Lieber würde sie sich eingestehen, in diese Falle der Hexe getappt zu sein und somit Zweifel an den eigenen Fähigkeiten nähren, als an diesen Humbug zu glauben. Vielleicht hätte sie es sogar lieber gehabt, dass Prana noch am Leben wäre. Das alles nur ein weiteres ihrer durchtriebenen Spielchen war. Das wäre um einiges erträglicher für die Prinzessin gewesen, als akzeptieren zu müssen, dass die Hexe in ihrem Tagebuch wirklich die Wahrheit niedergeschrieben hatte. Längst jedoch hielten Angst, Zorn und Ungeduld Uriahs Seele fest umschlossen, sodass die Dunkelelfe mit keinem geringeren Übel mehr rechnen konnte, auch wenn sie es wollte, sich regelrecht danach sehnte. Dann, wie ein Stich ins Herz, traf sie die Erkenntnis in Form einer noch frischen Erinnerung, die dennoch schon tief in ihrem Innern vergraben lag. Die letzten Worte des weißen Ritters, den Uriah in ihrer Wut vor wenigen Tagen von seinem Leiden erlöst hatte, hallten wieder und wieder in den Gedanken der Hohepriesterin: Du bist nicht die einzige, hatte er gesagt. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte sie gespürt, wie ihre Kehle Staub trocken wurde und Angst die Oberhand gewann. Doch beendete sie nicht nur das Leben des Menschen in jener Nacht – auch der seinen letzten Worten entzog sie das Leben, indem sie bis heute keinen Gedanken mehr daran verschwendet hatte. Uriah fuhr sich nervös durch das aufgewühlte Haar. Unruhig lief sie im Thronsaal umher, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Viele schreckliche Szenarien spielten sich in ihrem Kopf ab. Sie hatte Sindrel und ihre Brut ausgelöscht, noch bevor sie ihr gefährlich werden konnten. Stolz war sie darauf nie gewesen, doch hatte die Prinzessin es stets im Lichte der einzig richtigen Entscheidung betrachtet. Nun begann sie ernsthaft zu zweifeln, ob dem wirklich so war. Bestrafte sie das Schicksal etwa für die Missetaten ihrer Vergangenheit? Wie nur war es möglich, dass es in Adessa eine Hohepriesterin gab? Wo kam diese Miraaj her, mit der Prana bis vor einiger Zeit noch in Kontakt gestanden hat? Wie konnte sie so Nahe der verfluchten Ruinen überleben? Wie mächtig war sie wirklich? Alle Gedanken in Uriahs Kopf drehten sich nur um die fremde Magierin, nicht etwa um die Wächter, oder das offensichtliche Komplott, indem Prana verstrickt gewesen war. Auch die Pläne, die sich der Prinzessin in Form jener detaillierten Aufzeichnungen eröffneten: Das alles war für sie uninteressant, verglichen mit der größten Bedrohung von allen – Miraaj. Um sie herum im Thronsaal war es so still, dass Uriah Schritte aus dem Treppenhaus wahrnehmen konnte. Es waren einige Stunden vergangen, ja, verflogen! Mehr Zeit, als die Elfe für möglich hielt. Sie folgerte, dass es sich nur um ihren Gemahl Ortoroz handeln konnte, der angekündigt hatte, in der Nacht mit ihr Audienz zu halten. Eilig versuchte die Prinzessin sich herzurichten, um ihrem Liebhaber keinen Spielraum für Vermutungen über ihr Wohl zu eröffnen. Sie wischte sich den Staub vom Körper, glättete ihr Haar so gut es ging und atmete einige Male tief durch. Was nun folgen würde, war mit Sicherheit die schwerste Schlacht von allen. Eine Erkenntnis war in Uriah längst gereift: Sie wollte nach Adessa – mit Hundertschaften der Armee – um sie zu finden und zu vernichten, auch wenn es Krieg gegen die Menschen bedeuten würde. Zum Teufel! Früher oder später würde dieser Konflikt unausweichlich sein! Um diesen Plan letzten Endes auch in die Tat umzusetzen, galt es zu aller erst, Ortoroz voll und ganz für sich zu gewinnen. Dafür würde sie zweifellos alles tun, doch hoffte sie inständig, dass es nicht zum Äußersten kommen würde. Nur mit ihm an ihrer Seite, würde das Volk den Entscheidungen frönen, die Uriah längst für sich getroffen hatte, es der Masse aber noch zu verkünden galt. ___________________________________________________________ Es beschlich Reyne das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Instinkte waren messerscharf wie eh und je, und so zweifelte sie keine Sekunde an ihrer Wahrnehmung. Doch wer oder was sollte ihr hierher gefolgt sein? Zudem erachtete die Elfe es als unmöglich, einen Verfolger in diesem Terrain nicht schon früher wahrgenommen zu haben. Es sei denn ... Der Gedanke, einen Artgenossen aus den Reihen ihrer alten Profession auf den Fersen zu haben, beunruhigte Reyne endgültig. In jenem Falle wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert. Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Zudem lag ihre Ausrüstung in weiter Ferne. Für den Augenblick, so musste sich die junge Frau eingestehen, würde ihr schon ein Fetzen Stoff genügen. Harad, der sich am Rande des Gewässers aufhielt, schien keinerlei inneren Tumult zu verspüren – so viel zum Instinkt des Hengstes. Bedrohlich mochte die Situation zwar noch nicht anmuten, doch tat Reyne gut daran, auf der Hut zu sein. Nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken. Erst als ein Rascheln im Dickicht allzu deutlich an ihr Ohr drang, bröckelte die Fassade. Ein Schnauben des Pferdes lenkte sie kurz darauf ab. „Shh!“, wies sie Harad zurecht, der daraufhin ungläubig hinüber zu seiner Herrin blickte. Als der Blick der jungen Dunkelelfe wieder zum Ursprung des Geräusches wanderte, sah sie sich dem Störenfried gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht begegneten sie sich, und Reyne konnte im ersten Moment kaum glauben, was sie sah. Es war ein Tier, nur ein Tier. Eines, von dessen Art sie noch nie zuvor eines gesehen hatte. Eine ranke, schlanke Gestalt; katzenhaft, mit großen, dunklen Augen. Feines, hellbraunes Fell schützte ihren gesamten Körper – glatt überall, nur der Schwanz war von wilderem, buschigen Wuchs des samten schimmernden Haares überzogen. Die markante Schnauze des Wesens erinnerte dagegen viel mehr an ein Nagetier. Sie verlieh dem übereifrigen Etwas unweigerlich listigen Charme. Das Starren nahm Reyne erst einiges später als solches war – immerhin tat sie es dem fremden Wesen gleich. Die Augen des ungebetenen Gastes wichen nicht von ihr, und einen Moment lang fühlte die nackte Frau gar Scham in sich aufsteigen, bis ihr Verstand sich dafür selbst ohrfeigte. Welch niedere Intentionen sollte ein kleines, unscheinbares Tier wie dieses schon mit sich herumtragen? Wahrscheinlich lebte es hier schon seit Jahren. Wenn jemand ungebetener Gast in dieser Oase war, dann war sie es! Ein Schnauben des Hengstes ließ das unscheinbare Ding zusammenzucken, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Nur den Bruchteil einer Sekunde fasste es argwöhnisch Harad ins Auge, nur um gleich darauf erneut die schöne Elfe ins Visier zu nehmen. Trieb ihn die Angst in jene starre Haltung, den Feind fest fixiert? Falls es wirklich Bedrohlichkeit war, die Reyne ausstrahlte, so tat es ihrer wahren Gemütslage unrecht. Auch der Angst war sie, ob des harmlos wirkenden Geschöpfes, nicht verfallen. So beschloss sie, die Wasserstelle behutsam zu verlassen. Sie hatte alles bekommen was sie benötigte. Es gab keinen Grund, den Herren dieses Kleinods der Natur noch weiter zu verärgern. Sie respektierte die Besitzansprüche des Wesens, das auch mitsamt des buschigen Schwanzes – nach Reynes Schätzung – kaum länger sein durfte, als dreißig Zentimeter. Erst im letzten Moment kehrte sie dem Tier den Rücken, während sie ihre Kleidung ergriff. Die ganze Zeit über, hatte es sich nicht vom Fleck gerührt, sie stets angestarrt, als sich die Dunkelelfe dann jedoch wieder nach dem neugierigen Oasenbewohner umsah, war es wie vom Erdboden verschluckt – keine Spur weit und breit. „Du hast es doch auch gesehen, oder?“, hauchte sie in Richtung Harad. Der Hengst gab ihr mit einem heftigen Pusten zu verstehen, was immer sie verstehen wollte. „Merkwürdig“, flüsterte sie noch. ... ... ... ... ... ... Vyers Faste. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Niemals hätte sie geglaubt, dass Lady Uriah ihr ein derartiges Geschenk machen würde, nach den jüngsten Ereignissen schon gar nicht. Bei jedem Gedanken daran, wie sehr sie die Prinzessin noch gehasst hatte, nachdem diese das blutjunge Mädchen damals für die Jäger rekrutierte, kamen ihr schlagartig nichtig und lachhaft vor. Die Hohepriesterin hatte sich unlängst als eine Frau von Ehre erwiesen. Unter ihrer Führung hatte Re'na eine brillante Ausbildung erhalten – einer Soldatin durchaus würdig, wie sich nach all den Jahren herausstellen sollte. Noch beim langen Gang durch die kargen Hallen des Turmes hatte sie sich für das eigene Unvermögen geschämt, das sie ihrer Ansicht nach mitverantwortlich für den Tod ihrer beider Gefährtinnen machte. Dann, als Lady Uriah und sie die große Wendeltreppe der obersten Stockwerke beschritten, verweigerte ihr diese Scham gar die lang ersehnte Freude des Wiedersehens: Am reich verzierten Tor zu den Gemächern des Kommandanten war sie Seija begegnet. Sie stand stramm, den Blick geradeaus gerichtet und wendete sich den beiden Artgenossen erst zu, als Uriah sich ihr soweit genähert hatte, dass sie folgerichtig salutieren musste. In diesem Augenblick hatte Re'na sie auch erkannt. So weit hatte ihre ehemals beste Freundin gebracht! In Vyers eskortierte sie gar den Kommandanten bis in die höchsten Gefilde. Gerne wäre Re'na in diesem Moment stolz auf sie gewesen, gerne hätte sie zu ihr aufgeblickt und ihr ein anerkennendes Lächeln geschenkt. Doch am Ende hatte sie es vor lauter Pein nicht einmal gewagt, sich ihr zu offenbaren. In der Hoffnung, unerkannt bis in den Raum schreiten zu können, senkte sie ihren Kopf demütig und verbarg sich im Schatten und im Glanze ihrer Anführerin. Und Jetzt? Alles war anders. Ihr Leben wurde schlagartig auf den Kopf gestellt. Alles, so schien es, sollte sich letztlich doch noch zum Guten wenden. Dafür wollte sie Lady Uriah danken, Ortoroz danken, der ganzen Welt danken! Doch Re'na behielt in jenem glorreichen Augenblick die Fassung, auch wenn es ihr sichtlich schwer fiel. Die Vorfreude, nach so langer Zeit wieder mit Seija zusammen sein zu können, hätte sie beinahe um den Verstand gebracht, als General Ortoroz sich erbarmte und sie ihrer Fesseln entledigte. „Re'na, du kannst nun gehen. Lady Uriah und ich werden die Details der letzten Jagd besprechen.“ „Jawohl!“, entgegnete die junge Dunkelelfe ihrem neuen obersten Vorgesetzten – ihr Körper kerzengerade-, bevor sie kehrt machte und den Raum durch die massive Holztüre verließ. Tausend Gedanken tanzten in ihrem Kopf umher. Einer jedoch überwog alle anderen: Seija, der sie sogleich in die Arme laufen würde, sollte die erste sein, die die große Nachricht erfahren sollte. Noch während die Tür ins Schloss fiel, war Reyne bereit das Siegel des Schweigens zu brechen, doch fand sie ihre Freundin zunächst nirgends vor. Sie nahm einige Stufen abwärts, um dort nach ihr zu sehen, zunächst ohne jeden Hintergedanken. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Sorge um ihre Artgenossin sie übermannte. Nie und nimmer hätte eine Soldatin unerlaubt ihren Posten verlassen, schon gar nicht sie, meinte Re'na die junge Frau noch immer einschätzen zu können, die sie seit fast dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Selbst wenn ihr Dienst vorüber gewesen war, hätte sie auf ihre Ablösung warten müssen, zudem es in ganz Caims niemanden höheren Ranges gab, der ihr einen Befehl hätte erteilen können, der dem des Kommandanten übergeordnet war. Ungeduldig suchte Re'na die unmittelbare Umgebung nach Hinweisen ab. Etwas lag im Argen, das spürte die junge Frau. Bald überlegte sie, die beunruhigenden Vorgänge Ortoroz und Uriah zu melden, zögerte aber, da sie die Konsequenzen, die dies für Seija nach sich gezogen hätte, fürchtete. Unweit der Türe auf dem oberen Treppenabsatz fand sie schließlich den Hinweis, den sie gesucht hatte, wenngleich sie sich kurz darauf auch wünschte, ihr Verstand hätte ihr bloß einen Streich gespielt. Es war Blut! Einige kleine, tiefrote Tropfen, und sie waren so frisch wie der kühle Wind, der durch die breiten Gänge des Turmes wehte. Fortan war Re'nas Verstand so klar wie nie zuvor. Seija war in Gefahr, und sie würde alles tun, ihr zu helfen! Die Hand am Griff des rechten ihrer Zwillingsschwerter stürmte sie die Treppen hinauf. Ihr war zu jenem Zeitpunkt nicht klar, nicht wichtig, dass am Ende der Wendeltreppe noch einzig und allein die Gemächer Lord Gardifs lagen. Mit jedem Schritt ließ sie mehrere Stufen hinter sich. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Freundin fand. Voller Entsetzen verlor sich die erst vor Minuten zur Soldatin ernannte Re'na in dem Anblick, der sich zu ihren Füßen ergab. Die Blutlache wuchs von Sekunde zu Sekunde an, bis das Blut ihrer Freundin schließlich gar die Stiefel der Dunkelelfe erfasste. Das rote Elixier drang aus der Kehle Seijas, die längst jede Lebenskraft verlassen hatte. Sie lag rücklings auf den steinernen Treppen, ihr Kopf hing leblos vom Absatz einer der Stufen herunter. Der Schrecken, den sie empfunden haben muss, stand der jungen Soldatin noch immer ins Gesicht geschrieben. Ihr Mund stand weit offen – Re'na kam nicht umher, sich das Grauen bildhaft auszumalen: Wie sie flehend nach Luft geschnappt haben muss, nachdem ihr die Kehle durchtrennt worden war. Auch ihre Augen waren aufgerissen, doch in ihnen sah Re'na nichts als Leere. Dieses schreckliche Zerrbild war alles, was ihr von ihrer geliebte Seija noch übrig geblieben war. „Stirb nicht! Ich flehe dich an, Daimia!“ Eine fremde Stimme erklang. Erst jetzt konnte Re'na sich vom Anblick ihrer toten Schwester trennen. Sie erklomm noch einige weitere Stufen, bis sie schließlich die Urheber der Worte ausmachen konnte. Es waren zwei Frauen. Die eine – eine Waldelfe – lag in den Armen der anderen – einer Menschenfrau. Langes, braunes Haar hüllte ihr Gesicht ein. Beide Eindringlinge waren bewaffnet, und an der Klinge des Schwertes, das aus dem Gürtel der Menschenfrau ragte, konnte Re'na schließlich Blut erkennen. Das es das Blut Seijas war, daran zweifelte sie keine Sekunde. Ihre Wut stieg ins Unermessliche, dabei war der Dunkelelfe völlig gleichgültig, ob die Fremden sie mittlerweile bemerkt hatten, oder nicht. Sie waren Mörder, und wie solche würden sie auch gerichtet werden, von ihr höchstpersönlich! Re'na zog die Waffe, auf dessen Griff ihre linke Hand schon lange genug in Erwartung geruht hatte, aus der Scheide. Das helle Geräusch des Stahls alarmierte die Mörderin. „Komm nicht näher!“, rief diese, doch das weinerliche Gebrüll sollte die Dunkelelfe, die zielstrebig und mit hasserfülltem Blick auf sie zukam, völlig unberührt lassen. „Bleib stehen, sag ich!“ Noch immer konnte die Mörderin ihre Tränen nicht unter Kontrolle halten. Womöglich war die kleine Elfenfrau in ihren Armen mittlerweile ihren Verletzungen erlegen. Gut gemacht, Seija!, dachte Re'na. „Du hast sie ermordet!“ Mit diesem Vorwurf stellte sich Re'na vor die kniende junge Frau und blickte angewidert auf sie herab. Als sie ausholte, um zum tödlichen Schlag anzusetzen, schaute sie der Fremden tief in die Augen. Alles was sie sah, war Leere – dieselbe Leere, wie zuvor in den Augen ihrer Freundin. Was sie wohl fühlte? Das tränennasse, hübsche Gesicht, ihr langes, braunes Haar, ihre zierliche Gestalt oder ihre tote Begleiterin – das alles konnte nicht verhindern, was anschließend geschah, was unvermeidlich war, was geschehen musste. Re'na schlitzte mit einer geschickten, wie grausamen Bewegung die Kehle der Fremden auf und tötete sie auf die gleiche Weise, wie die Menschenfrau zuvor Seija getötet hatte. Anschließend sah sie zu, wie das Leben aus dem Körper ihres entsetzten Opfers entwich. Bis zu ihrem letzten Atemzug ließ die Dunkelelfe sie nicht aus den Augen. Sie empfand weder Freude, noch Genugtuung dabei. Ob Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergingen, vermochte sie in ihrem Zustand nicht einzuschätzen. Irgendwann rissen Ortoroz, Uriah und sogar Lord Gardif sie gleichermaßen aus ihrer Trance. Ein Satz ihres Kommandeurs drang schließlich an ihr Ohr. Als jener ihr die Hand auf die Schulter legte und sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war, flüsterte er in seiner Erleichterung: „Gerade noch von der Jägerin zur Soldatin und schon jetzt eine Heldin, mein Kind.“ Wie konnte er es wagen? Zu ihren Füßen lagen nicht nur die Leichen der menschlichen Eindringlinge; nein, auch Seija, für deren Leben die Dunkelelfe ihr eigenes sofort eingetauscht hätte, lag leblos auf dem eiskalten Stufen des Treppenhauses, und alles, was Ortoroz in diesem Moment empfand, waren Stolz und Genugtuung? Was bedeuten ihre Taten jetzt noch? Was ihre Aufnahme im Heer? Alles was Re'na wollte, war mit ihrer Freundin zusammen zu sein. Hätte sie doch nur den Mut aufgebracht, noch wenigstens ein letztes Mal mit ihr zu sprechen, als sich ihr die Gelegenheit geboten hatte. Noch ein einziges Mal ihre Stimme hören, wenigstens das wollte sie. Reynes Welt lag in Scherben. ... ... ... ... ... ... ___________________________________________________________ „Ausrücken? Jetzt? Was ist nur los mit dir?“, echauffierte sich der General. „Gar nichts! Es ist an der Zeit für einen vernichtenden Schlag gegen die Menschen, bevor sie sich erneut organisieren und einen weiteren Angriff auf die Festung starten“, argumentierte Uriah. „Das würden sie nicht wagen.“ Ortoroz klang ganz und gar nicht überzeugt. „Sie haben zu große Verluste erlitten und verfügen nicht über die Ressourcen, einen noch größeren Angriff zu starten.“ „Was wissen wir denn über ihre tatsächliche Stärke?“ Eine berechtigte Frage. „Was wissen wir über ihr Potential?“ „Vielleicht nicht viel“, gab Ortoroz zu. „Auf jeden Fall nicht genug, um sie blindlings angreifen zu können. Vor allem jetzt, da Prana nicht mehr unter uns weilt.“ „Wir werden aber nicht blind sein, Liebster! Das hier“, Uriah zeigte auf das Buch, das sie bisher hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte, „wird unser Auge sein!“ „Und was soll das sein?“ Eindringlich musterte der Kommandant den Gegenstand. „Eine Karte?“ „Mehr noch!“, jubilierte seine Geliebte kurzzeitig. „Ein Bilderbuch, wenn man so will. Angefüllt mit den nie versiegenden Erinnerungen der Hexe. Für mich liegen all diese Informationen nun brach! Verstehst du, was ich sagen will?“ Der Kommandant überhörte ihre merkwürdige Anrede für die verstorbene Hohepriesterin absichtlich. Lange schon hatte er vermutet, dass Uriah Prana fürchtete, sie sogar verachtete. Die Prinzessin selbst bemerkte in ihrer Hochstimmung gar nicht, wie abfällig sie über ihre dahingeschiedene Rivalin sprach. „Was nützen uns ihre Erinnerungen von vor so vielen Jahren?“, fragte der noch immer zweifelnde Kriegsherr. „Prana hat zu ihrer Zeit viele Reisen nach Tapion und sogar nach Panafiel unternommen. Sie hat dabei stets Buch geführt und zahlreiche Zeichnungen angefertigt. Verbunden mit ihrem Streben, auch nach dem Tode zumindest Teile ihrer Seele in Form ihrer Magie zu hinterlassen, sind jene Unterlagen weit mehr als nur Papier und Tinte.“ Ortoroz hatte mit seinen Überzeugungen zu kämpfen. Sollte es wirklich so sein, wie Uriah ihm so begeistert einzureden versuchte, würde er ihr vielleicht sogar Beipflichten; doch davon wollte er sich zunächst selbst überzeugen. Zu sehr verwunderte ihn der plötzliche Sinneswandel der Dunkelelfe. Noch vor einigen Tagen war er es gewesen, der an Ort und Stelle einen militärischen Vergeltungsschlag forderte. „Lass mich sehen!“ „Nur zu.“ Uriah übergab dem Soldaten ohne zu zögern das Buch, von dem sie wusste, dass er es nicht würde deuten können. „Doch wirst du aus dem Kauderwelsch wohl nicht schlau werden.“ In der Tat überstieg schon die Sprache, in der dieses Sammelsurium teils Jahrzehnte alter Schriftstücke verfasst war, die Auffassungsgabe des Mannes. Ortoroz erkannte jedoch sehr deutlich Karten, die seinem noch immer ausgezeichneten Verständnis der Geographie Adessas genau entsprachen. Mehr und mehr wuchs in ihm der Wille, seiner Geliebten Vertrauen zu schenken. Aber einen Krieg führen? Ein solch folgenschwerer Schritt fiel ihm noch immer schwer zu bewältigen. „Was also, wenn wir die Menschen tatsächlich unterschätzen und uns schließlich einer der unseren ebenbürtigen Streitmacht gegenüber sehen?“, fragte der Kommandant in scharfem Ton nach. „Von den Strapazen der Reise gar nicht erst zu sprechen. Hat dieses Volk – unser Volk nicht schon genug leiden müssen? Vor einigen Tagen standest du neben mir und zügeltest den meinen Zorn. Du hieltest mich ab, eine Dummheit zu begehen, die du mir nun als verlockendes Angebot zu unterbreiten gedenkst?“ Ortoroz schüttelte betreten den Kopf. „Das kann ich einfach nicht verstehen.“ Uriah trafen die Worte des Soldaten schwer. Sie wandte sich ab von ihm und schritt bedächtig zu dem Fenster des Thronsaals, aus dem vor nicht allzu langer Zeit der Heißsporn Vash ohne Skrupel einen Artgenossen in den sicheren Tod geworfen hatte. Sie dachte daran, was sie in jenem Moment gefühlt hatte und zu welcher Niedertracht sie sich in den Tagen danach – bis heute – gezwungen sah. Letzten Endes meuchelte sie sogar einen der Ihren, ganz wie jener aufstrebende junge Dunkelelf zuvor. Diese ereignisreichen letzten Tage, die Ortoroz in Erinnerung gerufen hatte, hatten Lady Uriah stark verändert. „Ich hasse ihn“, hauchte Uriah gerade noch wahrnehmbar. „Diesen Ausblick, weißt du?“ Der Aufmerksamkeit des Kommandanten war sie sich sicher. „Und ich hasse den Geruch in den Straßen dieser Stadt. Fünfunddreißig Jahre sind eine lange Zeit, und doch wünschte ich mir manchmal, ich wäre noch einige Jahre früher hierher gekommen.“ „Prinzessin ...“ „So war ich leider alt genug zu vermissen; alt genug, die Heimat lieben gelernt zu haben“, erklärte sie. „Viele der Elfen da unten wissen gar nicht, wie es in Ballymena war; wissen ja nicht einmal, warum sie Prana verehrten, oder warum sie mich verehren. Für sie ist dieser Ort die eigentliche Heimat; und wenn man ihnen nicht stets erzählen würde, aus welchen Gründen sie sich nach der Fremde sehnen sollten, würden sie es wahrscheinlich auch nicht tun. Das alles haben diese dreieinhalb Jahrzehnte angerichtet! Was würde jedes weitere anrichten?“ Wahre Worte, die sie ihm gegenüber bisher nie ausgesprochen hatte. Das sie derartige Gedanken hegte, hatte Ortoroz immer nur vermuten können. Es tat gut, sie so offen sprechen zu hören, obgleich es auch schmerzte. „Ballymena ist Geschichte. Dorthin wird uns die Reise niemals führen, das weißt du doch!?“ „Egal! Sonstwo ist besser als hier!“, brüllte Uriah. Kurz darauf bahnten sich Tränen ihren Weg auf die Wangen der Magierin. „Ich will nicht mehr warten! Jeder Tag hier fühlt sich an wie ... sterben ...“ „Uriah ...“ Ortoroz fühlte mit seiner Geliebten, doch die Zweifel blieben. „Und wenn wir die Menschen besiegt haben, was dann? Panafiel können wir nicht angreifen, ohne den Schlüssel zur Macht der Minari in unseren Händen zu halten. Wir würden weiter suchen müssen, nicht?“ Früher oder später musste der Kommandant dieses Thema anschneiden. Es war die letzte Hürde für die Prinzessin, ihm zu beichten, was sie nun schon seit geraumer Zeit vermutete. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich ihm sofort anzuvertrauen; so oder so würde sie schon sehr bald erfahren, ob sie ihm wirklich vertrauen konnte. „Ortoroz, erinnerst du dich noch an Kara?“, umging sie die eigentliche Frage des Mannes geschickt. „Kara?“ Der Kommandant wusste kaum, wo ihm der Kopf stand, als Uriah urplötzlich über seine frühere Ausbilderin zu sprechen begann. „J-ja, ich erinnere mich an sie.“ „Sie war damals deine Vorgesetzte, richtig?“ „Ja ...“ „Für mich war sie weit mehr als das.“ Das Grinsen seiner Geliebten, deren Blick noch immer aus dem Turmfenster gerichtet war, entging Ortoroz. „Sie war wie eine Schwester für mich: immer da, wenn meine Eltern das Königreich bereisten. Manchmal frage ich mich noch heute, ob sie es ihr befohlen hatten, oder sie es aus freien Stücken tat ...“ „Kara hat dich geliebt wie ihre eigene Tochter, Uriah“, entfuhr es dem Krieger, der nur sehr selten derart rührende Worte verlor. „Ich danke dir, Ortoroz.“ Die Zufriedenheit auf dem makellosen Gesicht der Hohepriesterin breitete sich immer mehr aus. „Du ahnst ja nicht, wie viel mir das bedeutet, dies aus deinem Munde zu hören.“ Daran gab es keinerlei Zweifel. „Ich weiß, dass du sie gemocht hast: Sie hat mir viel erzählt.“ „Hat sie das?“ Ortoroz wollte mehr darüber erfahren, wagte es aber nicht, es offen zuzugeben. „Sie erzählte oft von ihrem Musterschüler Ortoroz und darüber, wie sie dich mehr arbeiten ließ, als alle anderen.“ „Kara“, entwich es wie ein Atemhauch aus der Kehle des Mannes. In Erinnerungen schwelgen – wie lange war es her, dass er das zuletzt getan hatte? Hatte er es jemals getan? „Ich war der Älteste unseres Zuges, ich sollte als Vorbild vorangehen.“ „Zweifellos“, stimmte Uriah zu. „Und doch verriet sie mir eines Tages, dass das nicht der einzige Grund war. Es war derselbe Tag, an dem sie mir ihre Gefühle gegenüber dem Volke offenbarte: Sie sagte, sie wäre deshalb Soldatin geworden, um im schlimmsten Falle alles Leid von mir, meinen Eltern und allen Dunkelelfen fernhalten zu können. Lieber wollte sie ihr eigenes Leben opfern, als jemals den Frieden in Ballymena gefährdet zu sehen. Sie liebte die Harmonie und das Königreich, das diese so lange zu bewahren imstande war, mehr als alles andere.“ Ja, das klang ganz nach der Kara, die Ortoroz gekannt hatte. Obwohl es nur ein triviales Detail war, brannte der Kommandant noch immer darauf zu erfahren, was genau es war, dass Kara Uriah damals betreffend seiner Person anvertraut hatte. Er sollte nicht enttäuscht werden: Die Prinzessin wandte sich ihm nun wieder zu. Auf einen Schlag wich die versteckte Zufriedenheit einer brachliegenden Fassade aus Verzweiflung und Unsicherheit. Zumindest war das der Augenschein. „Uriah, was ist mit dir?“ Ortoroz wich einige Schritte zurück, als er die Trauer im Gesicht seiner geliebten Prinzessin erkannte. „Sie sagte mir, dass dein Leben zu schade wäre, es dem Krieg zu widmen, wo doch der Frieden seit jeher das höchste Gut der Dunkelelfen war. Sie wollte dich auf die Probe stellen – Tag für Tag-, um zu sehen, ob es dir wirklich ernst war.“ Der Kommandant ballte die Fäuste. Er hatte mit der eigenen Fassung zu kämpfen. „Als die Hexen unsere Heimat zerstört hatten und wir hierher flüchten mussten, wollte ich nur das Eine: weniger so sein wie ich und mehr wie sie! Für mein Volk ...“ Ortoroz streckte den Arm nach ihr aus. Er wollte sie bei sich haben, so sehr, wie noch nie zuvor. Niemals hatte er sich ihr derart verbunden gefühlt. Die Prinzessin hatte ihrem Liebsten einen Gefallen unschätzbaren Wertes getan, als sie seine Erinnerungen an dessen erste wirkliche Liebe, mit der vor all den Jahren auch ein Teil seines eigenen Herzens gestorben war, auf so wundervolle Art und Weise auffrischte. Uriah hatte ihn längst neuerlich für sich gewonnen! Die Prinzessin ging auf sein Verlangen ein und begab sich in die schützenden Arme des Mannes, den sie bewusst manipulierte, jedoch auch aufrichtig liebte. Eine so mächtige und starke Frau wie sie zu beschützen, mochte vielleicht nicht nötig sein; das Gefühl zu haben, genau das zu tun, war dafür aber umso überwältigender. „Ich verstehe, was dich bewegt, Uriah.“ „Ich würde mein Volk niemals in den Krieg ziehen lassen, wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass es der einzig richtige Weg sei!“ „Ich weiß, Liebste“, versicherte Ortoroz der Göttin, die in den Armen des bulligen Hünen beinahe winzig wirkte. „Ich weiß ...“ „Und der Schlüssel“, flüsterte die Dunkelelfe, „wird in Adessa auf uns warten!“ ___________________________________________________________ Reyne hatte ihre Ausrüstung wieder angelegt und Harad gesattelt. Ihr langes Haar war noch immer schwer vom vielen Wasser und heftete wild an ihrem Körper. Gerade jetzt, da die Sonne bald vollständig am Horizont verschwunden war, brachte es die Elfe mehr zum Frieren, als dass es sie erfrischte. Eilig band sie ihr Haar zu dem von ihr bevorzugten Pferdeschwanz. Die pechschwarze, wallende Mähne war auch ihr ein stolz gehegtes Gut – ganz in Tradition ihres Volkes, mit dem sie in der Gegenwart nur noch so wenig verband-, doch erachtete sie die offene Pracht auf der Jagd und im Einsatz stets als hinderlich. Für aufwendigere Verzierungen, wie sie viele ihrer weiblichen Artgenossen zur Schau stellten, fehlten ihr sowohl Geduld als auch Fingerspitzengefühl. Sie kam nicht drum herum einen kurzen Gedanken an das seltsame Wesen zu verschwenden, das sie zuvor derart hatte überraschen können. Nach wie vor hielt es sich fern. Versteckt im Dickicht, einer Höhle im Gestein oder einem Erdloch, womöglich. Schon immer sah sich Reyne als begabter im Umgang mit Pfeil, Bogen und Säbel an. Überhaupt zweifelte sie, je einen bleibenden Eindruck beim anderen Geschlecht hinterlassen zu haben. Warum dieser Gedanke sie aber ausgerechnet jetzt ins Grübeln brachte, stellte nicht zuletzt die Dunkelelfe selbst vor ein Rätsel. Elmo war zweifelsohne von ihr angetan gewesen – ungemein sogar-, erinnerte sie sich gern an Zeiten der Zweisamkeit, nur um kurz darauf wieder das Stechen in der Brust zu fühlen, das stets aufkeimte, wenn die betäubende Ohnmacht über das Zurückliegende sie zu übermannen drohte. Dennoch hielt sie an der Frage fest, was es wohl war, das einen Mann wie ihn so an ihr fasziniert hatte. War es wirklich Liebe? Und wenn ja: beruhte sie zwangsläufig auf tiefen Empfindungen? Wie sie als Dunkelelfe wohl auf ihn gewirkt haben musste? Geheimnisvoll, exotisch ... Reyne hasste sich dafür, auch nur geringste Zweifel an der Aufrichtigkeit Elmos zu hegen, doch erkannte sie dadurch wiederum sehr schnell, welche Frage es war, die sich tatsächlich in ihr aufgedrängt hatte: Hatte sie ihn so aufrichtig geliebt, wie er es verdiente? Die Antwort lag in ihrer Jugend. Das Mädchen aus dem Waisenhaus: Seija, ihre Schwester. An der Aufrichtigkeit der Liebe zu ihr gab es nichts zu zweifeln – zu keiner Zeit. Jahre lang hatte sie ganz allein gegen die Widrigkeiten ihrer rauhen Kindheit angekämpft, in der Hoffnung, eines Tages wieder mit ihr vereint sein zu können. Doch war dieser Traum schließlich genauso jäh zerrissen worden, wie ihr Band mit Elmo. Sie beide lagen in der Erde Minewoods begraben; Reynes Liebe kreuzte bisher stets den Pfad des Todes – ein erschreckender Gedanke. Harad schien den Seelenzustand seiner Herrin wahrzunehmen. Er schmiegte seine Wange an die der Dunkelelfe. Reyne streichelte ihn instinktiv und dankte ihm die freundliche Zuneigung mit einem Kuss. Hier draußen in Nirgendwo war die Gesellschaft des Hengstes unschätzbar viel wert. „Komm, mein Freund“, flüsterte sie dem Tier ins Ohr. „Es ist nun nicht mehr weit.“ Reyne sprach öfter mit ihrem vierbeinigen Gefährten, als mit vielen der Zweibeiner, die sie umgaben. Gründe gab es dafür eigentlich keine – nur ihre generelle Zurückhaltung. Bei den Menschen hatte sie sich dabei nicht weniger heimisch gefühlt, als damals auf Caims bei den eigenen Artgenossen. Jetzt, da sie die wenigen neuen Freunde auch noch verloren hatte, wünschte sie sich aber, ihnen gegenüber offener gewesen zu sein. Auf ihrem Weg gen Norden verwehrte ihr sehr bald die Dunkelheit der Nacht ein wachsames Auge auf die Geschehnisse um sie herum. Wachsam genug, sich eines Angriffes zu erwehren, wäre die Soldatin und ausgebildete Jägerin zwar auch im Schlafe gewesen, ein so unscheinbares Wesen, wie den Störenfried von der Oase, der klammheimlich die Verfolgung aufgenommen hatte, wahrzunehmen, war wiederum eine andere Angelegenheit. Reyne vermutete nichts Böses in der trostlosen Umgebung dieser Ländereien, und auch wenn sie das gerissene Katzenwesen bemerkt hätte, wäre sie ob dessen harmloser Ausstrahlung kaum alarmiert worden. Was es war, das in dem Tier so ein brennendes Interesse an der Dunkelelfe geweckt hatte, wusste es letztlich nur selbst. Es tippelte eilig und zielstrebig hinter dem Pferd her und hielt dabei einen großen Sicherheitsabstand. Es wollte nicht entdeckt werden, jetzt noch nicht. ___________________________________________________________ Sie hatte die Nacht an seiner Seite verbracht. Es war das erste Mal seit Gardifs Tod, dass sie den höchsten Turm hinter sich lassen konnte; nun sah sie schwermütig auf dessen beschädigte Fassade. Die Reparaturen hatten umgehend nach dem Angriff begonnen, wovon die Gerüste, die etliche Meter an den Wänden des Bauwerkes hinauf ragten, zeugten. Nach dem heutigen Tage würden alle Arbeiten an jenem Relikt der Minari-Architektur eingestellt werden. Wenn die Nachricht von Gardifs und Pranas Ableben erst an die Ohren des gemeinen Volkes gedrungen war, würde der Zustand der Festung – dieses Gefängnisses – die geringste Sorge der stolzen Dunkelelfen sein. Vyers hatte ausgedient, ganz wie ihr alter Herrscher und dessen Muse. Uriah war nervös. Es war nun einzig und allein an der Prinzessin, ihre Spezies zu führen, und was sie vorsah, war nichts geringeres als Krieg gegen die Menschen. Sie musste den Auserwählten einfach zurückholen, den Verrat Pranas sühnen, koste es, was es wolle. „Es ist soweit.“ Ortoroz schritt durch den schweren Vorhang, der die Plattform im Zentrum des Marktes kreisrund von den Augen der sich sammelnden Menge abschirmte. Es bedurfte noch einiger Schritte, sich den Massen zu präsentieren, deren Präsenz nun aber noch deutlicher zu vernehmen war. „Meine Offiziere stehen in vorderster Front. Sie werden mir folgen, wohin es auch gehen mag. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“ „Ich danke dir.“ Und sie meinte es so. Der Kommandant näherte sich seiner Geliebten jetzt bis auf Haaresbreite und flüsterte ihr zu: „Das erste, was ich tat, als ich heute Morgen erwachte und dich neben mir liegen sah, war, dir mein Herz zu schenken.“ Etwas schien den Elf zu bedrücken. „Es war ein Treueschwur, von dem ich überzeugt war, besiegelt mit ...“ „... einem Kuss“, vollendete Uriah den Satz. Sie konnte sich erinnern. Tiefen Schlaf hatte sie in der vergangenen Nacht nicht gefunden. „Was ist auf einmal mit dir, Liebster?“ Ihren folgenden Annäherungsversuch wies Ortoroz zurück. „Du bist doch ehrlich mit mir?“ fragte er. „Aber ja!“ Warum zweifelte er plötzlich? Woran zweifelte er? „Dann sag mir, Prinzessin: Wo ist mein Sohn?“ Der Schock über diese Frage saß tief. Sie fühlte sich, als hätte soeben ein Pfeil ihre Brust durchbohrt. Als sich die Ereignisse zu überschlagen begannen, hatte sie keinen Gedanken mehr an ihre Jäger verschwendet. Ein großer Fehler, wie ihr schlagartig klar wurde. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung gänzlich wiedererlangte. Dann antwortete sie, ihren Blick beschämt von Ortoroz abgewandt. „Ich habe Prana nie vertraut“, gab sie zu. „Was?“ „Als sie den letzten Menschen abgefertigt hatte, hegte ich große Zweifel an ihrer Entscheidung. Berechtigte Zweifel, wie wir beide mittlerweile Wissen.“ „Und was hat das mit Sang zu tun.“ „Ich ...“ „Antworte schon!“ Ortoroz wurde ungehalten. Seine Wut konnte er nur schwerlich im Zaume halten, obschon er noch nicht wissen konnte, worauf Uriah letztendlich hinauswollte. „Ich habe meine Leute nach Adessa geschickt – alle, einschließlich Sang. Sie sollten die Menschen ausspionieren.“ Der Kommandant war entsetzt ob dieser Nachricht. So viel Leichtsinnigkeit hätte er Uriah niemals zugetraut. Wie konnte sie die Jäger nur ins Feindgebiet aussenden? Dafür waren sie gar nicht ausreichend ausgebildet; und wozu die Menschen ihrerseits in der Lage waren, hatten sie mit dem Angriff auf die Festung unlängst bewiesen. Zum ersten Mal in seinem Leben, war er ernsthaft um das Leben seines Sohnes besorgt. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“, warf Ortoroz der Hohepriesterin vor. „Du hattest kein Recht dazu, dies über uns hinweg allein zu entscheiden!“ Tatsächlich bedurften Schritte wie dieser stets von oberster Instanz abgesegnet zu werden, dessen war sich Uriah sehr wohl bewusst. „Gardif hätte dem niemals zugestimmt ...“ „Natürlich hätte er das nicht! Auf mein Anraten hin!“ „Es tut mir leid, Liebster.“ Eine Lüge, die in jenen Stunden nicht hätte durchschaut werden können. „Hmpf“, schnaubte Ortoroz seine Wut ein letztes Mal heraus, bevor er sich entschloss, es darauf beruhen zu lassen, für den Moment. „Jetzt spielt das auch keine Rolle mehr, schließlich werden wir es deinen Jägern schon sehr bald gleichtun und nach Adessa aufbrechen. Wir lesen sie dann vor Ort auf. Du weißt doch, wo sie sich befinden?“ „Natürlich!“ Erneut sprach die Prinzessin nur das aus, was ihr Gegenüber hören wollte. Den Jägern hatte sie bei ihrer Mission schließlich völlig freie Hand gelassen. „Ihre Routen sind mir sehr wohl bekannt.“ „Nun gut, dann ...“ „... werden wir alsbald den nächsten Schritt gehen“, vollendete die Elfe den Satz. „Vash tötete sie beide“, flüsterte Ortoroz seiner Geliebten noch einmal zu. „Ja, so war es.“ Uriahs Lächeln zeichnete sich nicht auf ihrem Gesicht ab, doch war sie innerlich so zufrieden, wie selten zuvor in ihrem Leben. Als die Prinzessin an die hochgelegene Balustrade schritt, eröffnete sich ihr ein beeindruckendes Schauspiel: Tausende ihrer Artgenossen – Soldaten und Zivilisten – hatte der Kommandant noch in der versiegenden Nacht in Bewegung setzen können. Es war, als wolle ganz Vyers den großen Ankündigungen der letzten noch verbliebenen Tochter des Königshauses lauschen. Wie Ortoroz es versprochen hatte, standen in Reihe und Glied an vorderster Front versammelt die Mitglieder des stolzen Heeres der Dunkelelfen – ein Ehrfurcht erregender Anblick. Dichtgedrängt hatten sich auch die anderen Bürger um den Marktplatz versammelt; jetzt, da sie ihre Prinzessin auf dem Balkon ausmachen konnten, wurde das Getümmel immer wilder, das Getose immer lauter. Sogar auf den Dächern der vielen Häuser der Stadt konnte Uriah noch bis in weite Ferne Dunkelelfen ausmachen, die sich listig einen ganz besonderen Blick auf das Geschehen ergattern konnten. Der Rahmen für ihre bedeutungsvolle Ansprache war geschaffen – nein, gar gesprengt worden. Es würde der Hohepriesterin schwer fallen, dieser in hohe Erwartung versetzten Massen vom Tode ihres Gönners und der Hexe Prana zu erzählen, doch würde dies letzten Endes unvermeidlich sein. Fortan wäre es an ihr und Ortoroz das Volk in die richtigen Bahnen zu leiten. Der Plan dazu war längst geschmiedet. Im kühlen Morgengrauen des noch jungfräulichen Tages blickten unzählige Augen voller Hoffnung auf die blasse Schönheit. Als sie ihre Arme Einhalt gebietend in die Höhe riss, ebbten allerorts die Unruhen ab. Als sich Uriah der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Leute sicher war, begann sie mit kräftiger Stimme, die durch einfache Magie um ein Vielfaches verstärkt wurde, zu reden. „Meine Freunde. Meine geliebten Söhne und Töchter.“ Schon nach den ersten Worten, die voller Selbstbewusstsein aus ihrer magischen Kehle gedrungen waren, verspürte die Prinzessin eine Art der Sensation, des Genusses, den sie zuvor als auf ewig vergessen abgetan hatte. Wie lange war es her, dass sie sich ihren Untertanen zuletzt so enthusiastisch präsentiert hatte? Hatte sie es je zuvor getan, sich jemals selbst als derart bedeutend wahrgenommen? In diesen Momenten tat sie es jedenfalls und dankte den Geistern ihrer verstorbenen Eltern und all jener treuen Ergebenen, die einst für sie gestorben waren. Die Euphorie suggerierte der gereiften Prinzessin, ihrem Volk jedwede noch so tragische Kunde unterbreiten zu können, ohne dass selbst der schmächtigste, feigste oder dümmste Elf sich darauf von ihr abwenden würde. Nicht an diesem jungfräulichen Morgen. Niemand würde je erfahren, wie Lady Uriah einst ihre unschuldige Seele verkauft hatte. Niemand kannte diese Seite der Prinzessin. Niemand wusste, zu welchen Greueltaten sie fähig war. Tausende Elfen blickten zur Balustrade hinauf. Sie alle sahen das Gleiche: Hoffnung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)