Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Abschied -------- Kapitel 17 – Abschied ... ... ... ... ... ... Aubagne, Frankreich. Sechs Jahre früher (Erdzeit) Die Sommerferien waren traditionell der Höhepunkt im alltäglichen Leben junger Schüler. Frei von bedrückenden schulischen Verpflichtungen, die einem die Nachmittage verdarben, lebte es sich ganz einfach leichter. Es war nicht das erste Mal, dass das Trio einen Ausflug in Julies Geburtsort Aubagne unternahm. Ihre Mutter wohnte noch immer in der circa fünfzehn Kilometer östlich vom Marseille gelegenen Ortschaft. Ihre Eltern lebten dadurch zwar getrennt, überbrückten die kurze Distanz aber in aller Regelmäßigkeit, um sich zu sehen. Ihren Vater hatte es vor einigen Jahren aus beruflichen Gründen nach Marseille gezogen – ein Glücksfall für Maurice und Peter. Die Großstadt wollten weder er noch Julie der kränkelnden Frau antun, wenngleich es ihrer geliebten Tochter schwer fiel, ihre Mutter im Alltag nicht mehr um sich zu haben. Doch hatte sie in Marseille sehr schnell Freunde gefunden, die ihr dabei halfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, die – obwohl nur einen Katzensprung von der alten entfernt – so anders war als Aubagne. Julies Eltern waren beide gleichermaßen erfreut darüber: Freunde hatte sie in der Kleinstadt nicht viele gehabt. Es bewies, dass sie alles andere als unnahbar war. Schon allein deswegen war Herr Lauret den beiden Jungen gegenüber seit jeher positiv eingestellt. Mit der Zeit gesellte sich auch Vertrauen zu jenem Empfinden. Die drei Kinder waren allein unterwegs auf einer Straße aus Pflasterstein, welche in den dichten Waldes führte, der sich am Fuße des Garlaban Massivs erstreckte. Die Stadt war von Gebirgen eingerahmt, geschützt vom starken Fels; zumindest wirkte es so. Das Trio war unterwegs zu einer alten Holzfällerhütte, die die Laurets schon vor Julies Geburt erstanden und zu einem Ferienhaus renoviert hatten. Heute würden die drei Freunde ganz allein eben jenen Zufluchtsort abseits der Gemeinde beziehen dürfen. Herr Laurets verspätetes Geburtstagsgeschenk für Peter, der vor einer Woche dreizehn Jahre alt geworden war; auf jeden Fall aber Vertrauen, das sich alle drei redlich verdient hatten. „Ich hoffe, dein Vater hat mittlerweile das Wespennest unter dem Dach ausgeräuchert“, begann Maurice die Konversation. „Spinnst du?“ Julie gab dem langen Schlaks einen Stoß mit dem Ellenbogen auf den Weg. „Die tun dir doch nichts. Das heißt, wenn du sie nicht provozierst!“ „Wer's glaubt!“, meldete sich auch Peter zu Wort, der ein paar Schritte vor den beiden stiefelte. „Ich glaube, die Viecher sind ziemliche Rassisten. Greifen sofort an, wenn sie mich nur sehen“, witzelte Maurice. „Wirst es schon überleben, Momo.“ „Ich setz jedenfalls kein Fuß vor die Tür, während die Biester da herumschwirren.“ „Tja dann,“ Julie wuselte eilig zu Peter und hakte sich bei ihm ein. Schelmisch grinsend warf sie einen Blick zurück auf Maurice, „müssen wir halt ohne dich auskommen.“ Wenn er auch er wusste, dass Julies Annäherungen spontan und bestimmt nicht so vielsagend waren, wie er sich das vielleicht gewünscht hätte, war Peter doch jedes mal erfreut darüber. Bei ihr zu sein, hieß für ihn, glücklich zu sein; sie so nahe bei sich zu haben, nur noch mehr. Er wusste nicht mehr genau, wann genau es gewesen war, dass er einer simplen Berührung von seiner besten Freundin so viel Bedeutung zu schenken begann – es war jedenfalls derselbe Tag, an dem er anfing, mehr und mehr auf Abstand zu gehen. Eine merkwürdige Reaktion, wie Peter es selbst einzuschätzen wusste, nur konnte er ganz einfach nicht anders. Zumindest nutzte er die Gelegenheit noch, Julie eine Frage zu stellen. „Wie geht es deiner Mutter jetzt eigentlich?“ „Ach ...“ Das Mädchen seufzte. „Wie immer, glaube ich.“ „Verstehe.“ Peter traute sich nicht, näher darauf einzugehen. „Aber Papa sagt, das liegt vor allem daran, dass sie jetzt weniger Medikamente nehmen muss“, zeigte sich Julie dann doch noch optimistisch. „Das klingt doch gut.“ Maurice hatte mittlerweile aufgeschlossen. „Klar ist das gut“ munterte auch Peter seine Freundin auf, die es ihm mit einem rührenden Lächeln dankte. „Vielleicht kann sie ja bald doch nach Marseille ziehen.“ „Ich weiß nicht“, gab sich Julie skeptisch. „Es gefällt ihr hier in Aubagne.“ „Aber nur, weil sie die Vorzüge der Großstadt noch nicht kennt“, sinnierte der Dreizehnjährige über die unweit entfernt liegende Heimat. „Und das Essen von meiner Großmutter hat sie ja auch noch nicht probiert!“ „Wieso von deiner Großmutter?“ Maurice schien empört. „Mein Vater ist immerhin Koch!“, argumentierte er energisch. „Kann ja sein – aber hast du jemals in dem Restaurant deines Vaters gegessen?“ Julie konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Oh je, mein Freund, das wirst du noch bereuen!“, entgegnete ihm Maurice ernst. „Du wirst Nachts nicht ruhig schlafen können, glaub mir. Meine Rache wird furchtbar sein!“ Das Miteinander der drei stimmte einfach. Das tat es schon immer. War Julie traurig, wussten die beiden Jungen sie stets aufzumuntern – genauso funktionierte es andersherum. Das goldene Trio genoss jede gemeinsame Minute und nutzte sie so gut es möglich war. In ihrem Alter wussten sie noch gar nicht einzuschätzen, dass jene Momente auf ewig in ihren Erinnerungen verankert bleiben würden, sie als Sinnbild unbeschwerterer Zeiten alle Täler, die es in ihren späteren Lebensjahren zu durchschreiten galt, überdauern würden. Hier und Jetzt lachten sie, lebten sie, liebten sie. Das schöne Mädchen im sommerlichen Gewand; der hochaufgeschossene Fußballer, der nachdenkliche Waise. Grundverschieden und doch eins im Geiste; verbunden auf einer Ebene, die vielen Menschen mit Voranschreiten der Zeit unerreichbar wird, einige gar ein Leben lang nicht beschreiten würden. ... ... ... ... ... ... Er konnte die Gedanken an sie nicht unterdrücken. Die Bilder drangen sich einfach auf, und Peter war ohnmächtig sie abzuwehren. Nach allem, was Lily ihm anvertraut hatte, wunderte er sich allerdings nicht wirklich darüber. Peter sah Eva fortan mit anderen Augen. Er suchte, ohne es wirklich zu wollen, nach Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter. Doch das Mädchen, das er einst gekannt hatte, war noch so jung, als sie verschwand, sodass es ihm merklich schwer fiel. Er gab das bedrückende Vorhaben auf, noch bevor die wieder genesene junge Frau seine eindringlichen Blicke bemerken konnte. „Es wird Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, findet ihr nicht auch?“, sprach ausgerechnet Viola aus, was alle Anwesenden dachten. Ihr Sinneswandel – in welchen infantilen Stadien er sich auch noch immer befinden mochte – erschloss sich der ihr gegenüber skeptisch eingestellten Gemeinschaft natürlich nicht. Der harsch erscheinende Versuch das Gespräch ins Rollen zu bringen, sorgte deshalb allerorts nur für Argwohn. „Kannst du Eva nicht mal das bisschen Ruhe gönnen, nach allem, was sie durchgemacht hat?“, fuhr Lily der weitaus älteren und auch erfahrenen Frau in die Parade, vollends gewillt, ihrer neuen, alten, besten Freundin beizustehen, wo immer es möglich war. „Ich hatte nicht vor ...“ „Nein“, kam Eva jeder Rechtfertigung der schwarzen Kriegerin zuvor. „Viola hat völlig recht! Miraaj hat mir bedeutende Informationen anvertraut und ganz in meine eigene Verantwortung gelegt, was davon ich wem anvertrauen kann“, erklärte sie in aller Ehrlichkeit. Eva trug noch immer das blutbefleckte, zerrissene Hemd, ohne jedoch an die unangenehme Strahlkraft dieses Erinnerungsstückes einer der schwärzesten Stunden der Karawane auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Ganz andere Dinge bestimmten zu dieser Zeit ihr Handeln. „Und was wirst du uns anvertrauen?“, wollte Lester wissen. „Nun ...“ Eva holte tief Luft. „Wenn ich in die Runde schaue, sehe ich meinen treuesten Freund“ Ihr Blick verweilte einige Zeit auf dem grauen Hünen und zog dann weiter. „Meine beste Freundin ... meine Schwester ...“ Nun war es Lily, die im Fokus der blonden Ritterin stand. Sie erwiderte den liebevollen Blick mit offenkundiger Freude und funkelnden Augen. „Eine Gefährtin, von der ich viel gelernt habe, und die stets die erste war, wenn es darum ging, für unsere Sache zu kämpfen.“ Natürlich wusste Eva, dass Viola immer ihre ganz eigenen Gründe mit auf das Schlachtfeld genommen hatte. Zu ihrer freudigen Überraschung jedoch, erwiderte auch sie ihren Blick mit zustimmendem Gesichtsausdruck. „Ich sehe einen gutherzigen jungen Elf, dessen Wille und Leidenschaft ihn – entgegen all meiner Zweifel – zu einer Bereicherung unserer Gruppe gemacht haben.“ Jin wirkte fast schon peinlich berührt. „Und zwei Leidensgenossen, die kaum eine andere Wahl gehabt haben, als sich uns anzuschließen; wofür ich, nach allem, was wir Seite an Seite haben erleben müssen, mittlerweile mehr als dankbar bin.“ Es waren starke Worte, die sogar Aarve nicht kalt ließen, wenngleich er es für übertrieben hielt, von dem Mädchen derart adressiert zu werden, das – wie er es einst formuliert hatte – so großen Gefallen daran gefunden zu haben schien, Ritter zu spielen. Er gehörte nicht zu ihrer Gemeinschaft und würde es wohl auch nie tun. Allerdings war ihm die Gesellschaft der Personen um ihn herum allemal lieber, als die der Dunkelelfen. Mit der Zeit, die verstrichen war und dem Erlebten jener letzten paar Tage sogar noch mehr. „Und das bedeutet?“, fragte der Finne, nicht zuletzt, um die ausgeweitete Einleitung Evas damit abzukürzen. „Ich will euch alles anvertrauen, das ich weiß!“, gab sie schließlich bekannt. „Sicher, dass du das willst?“ Wieder war es Aarve, der Zweifel hegte. Es lag gar nicht daran, dass er selbst ein Problem mit Eva oder ihren Freunden hatte; vielmehr versuchte er, sich in die Lage der jungen Anführerin der Gruppe hineinzuversetzen, um verstehen zu können, warum sie ihm das gleiche Vertrauen zu schenken bereit war, wie den anderen. Hatte er sich das etwa verdient? „Du musst mir nichts erzählen, was ich nicht hören soll. Warum auch ...“ „Glaub mir, Aarve, das wird dich interessieren“, versicherte Eva dem innerlich aufgewühlten Blondschopf. „Zudem haben vor allem du und Peter ein Recht darauf zu erfahren, was ich weiß.“ „Gibt es ein intensiveres Erlebnis, als Seite an Seite in den Kampf zu ziehen?“ Lester stellte diese rhetorische Frage in den Raum. Das kurzweilige Gemetzel an der Oberfläche als Kampf zu bezeichnen, ging vielleicht zu weit, intensiv war es aber mit Sicherheit gewesen. „Das schweißt zusammen! Ganz besonders, wenn man gezwungen ist, die Klinge auf die eigenen Leute zu richten.“ Noch so ein aufmunternder Spruch – ein weiser Satz obendrein. Warum nur waren diese Leute so versessen darauf, sich mit ihm anzufreunden? Aarve beließ es schließlich dabei. Eva schlug der Gruppe schließlich vor, alle ihre Fragen hinten anzustellen. „Lasst uns erst reden und dann Entscheidungen treffen!“ „Guter Vorschlag“, stimmte Viola zu. „Zu allererst sollte euch allen klar sein, das wir nicht zufällig bei unseren Gönnern hier im Untergrund gelandet sind.“ Die Blicke der Kameraden verschärften sich gleichermaßen. „Was soll das denn heißen?“, fragte Lester aufgebracht. „Versteht das nicht falsch“, versuchte Eva sogleich die aufkommenden Wogen zu glätten. „Sie haben unsere Reise überwacht und dabei bemerkt, dass wir Dunkelelfen auf den Fersen hatten. Die Wächter sahen keinen anderen Weg, als sich bedeckt zu halten und dieses Problem für uns zu lösen. Ich denke ihr wisst, wovon ich spreche.“ Wiederum keine schöne Erinnerungen. Das Massaker im Tal an der Weggabelung lag der Gruppe noch ähnlich schwer im Magen, wie das Gefecht in Ballymena. „Also haben die Wächter die Gamms auf die Dunkelelfen losgelassen?“, fragte Peter. „So ist es.“ Mochten ihre Intentionen auch gutherzig gewesen sein, so konnte der Franzose dem eiskalten Kalkül der Wächter, dass sich ihm soeben offenbart hatte, nichts Positives abgewinnen. Es hätte einen anderen Weg geben müssen! „Und was hätten sie getan, wenn wir dennoch nicht den Weg durch die Stadt genommen hätten?“, stellte Lester diese berechtigte Frage „Miraaj versicherte mir, dass sie sich uns spätestens vor Tapion offenbart hätten. So lautete der Plan. Sie wollten nicht, das wir den Umweg durch Ballymena nehmen, doch blieb ihnen letztlich keine andere Wahl. Ich ...“ „Was?“ Lily bemerkte die Verunsicherung ihrer Freundin. „Ich vertraue Miraaj. Sie hat ein gutes Herz und eine große Bürde zu tragen.“ So ähnlich sah es auch Peter. An den Motiven der magisch hochbegabten Elfe zweifelte er zu keiner Zeit, auch jetzt nicht. Ihre Methoden waren jedoch ein ganz anderes Thema. „Von welcher Bürde sprichst du?“, fragte Viola skeptisch. Erneut musste die junge Frau tief durchatmen. „Es geht dabei um die Ereignisse von vor fünfunddreißig Jahren, vor allem jene, die sich ganz hier in der Nähe in Ballymena abgespielt haben. Die Dunkelelfen, die den Krieg letzten Endes auslösten, taten es, um den Hohepriesterinnen zuvorzukommen. Miraaj erklärte mir, dass die Hexen stets unbeobachtet agieren konnten, da sie von Volk und Adel gleichermaßen verehrt wurden. Ihre langwierigen Planungen wären wohl bis zum bitteren Ende geheim geblieben, wäre es nicht um Königin Athlea bestellt gewesen.“ „Wer war sie?“, fragte Peter neugierig. So viele Details hatte er noch nicht in Erfahrung bringen können und war nun dankbar für jede weitere Information, die Licht ins Dunkel dieser Geschichte bringen konnte. „Sie war ursprünglich eine Hohepriesterin.“ Lester wusste ohne Zweifel mehr als jeder andere der Anwesenden über die Dunkelelfen zu erzählen. So übernahm er Evas Part für den Moment. „Wirklich nahe am Volke zu leben begann sie erst, als König Samur sie ehelichte. Ein Novum in der Geschichte! Allerdings wurde es größtenteils positiv aufgenommen, da die sonst so abgeschieden lebenden Hohepriesterinnen plötzlich für jede Elfe und jeden Elf fassbar waren, viel mehr als je zuvor.“ „Richtig.“ Eva dankte ihren Gefährten seine Erläuterung mit einem Nicken und fuhr schließlich fort. „Sie war zudem eine der Auserwählten magisch Begabten, die seinerzeit nach Panafiel reisten, um dort für die Minari das Portal zu aktivieren – wenn auch weder sie, noch ihre Gastgeber damals wussten, womit sie es wirklich zu tun hatten.“ Das waren durchaus bedeutsame Neuigkeiten für Aarve, Viola und auch Lester. Sie alle zeigten ganz eigene Reaktion darauf. Der graue Riese kannte die Erde selbst nur aus den bildhaften Erzählungen vieler Freunde und vor allem denen seiner Eltern; seine Heimat war Minewood, schon immer. Der junge Finne Aarve nahm es ähnlich gelassen, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Trotz der langen Jahre in Vyers vermisste er die Heimat nicht: Alles war besser als sein altes Leben ... „Also war das Ganze nur ein Missgeschick?“, fragte Viola. Sie konnte nicht glauben, dass das Schicksal all der Menschen in Minewood aus solch banalen Gründen so dramatisch beeinflusst worden war. „Und das machen sie daraus ...“ flüsterte sie noch. „Schwer zu glauben, ich weiß. Doch hatten die Dunkelelfen ursprünglich wirklich keine niederen Beweggründe“, erklärte Eva. „Erst als ihre Welt in Scherben lag, und man ein Feindbild brauchte, wurde von einigen der Hass auf die Menschen geschürt.“ „Von Gardif und seinen Leuten“, stellte Lily fest. „Die Geschichte ist uns wohl allen bekannt.“ Die schwarze Assassine wurde ungeduldig. Die bösen Blicke der beiden Elfen nahm sie dabei gar nicht wahr. „Worauf willst du hinaus?“ „Das Portal war nur die Spitze des Eisbergs“, begann Eva die Quintessenz dessen zu offenbaren, was ihr in der letzten Nacht anvertraut worden war. „Als man die Brücke ins Reich der alten Feinde geschlagen hatte, sahen sich beiden Völker einer Revolution in den diplomatischen Beziehungen zueinander gegenüber. Alle Vorurteile und eingestaubten Legenden, die schon über drei Jahrtausende lang jeden Kontakt untereinander verboten hatten, schienen ad acta gelegt.“ „Dabei wusste die Dunkelelfen der Gegenwart genauso wenig über den alten Krieg, wie die Minari.“ fügte erneut Lester hinzu. „Wie meinst du das?“, fragte Jin stellvertretend für die ganze Gruppe. „Wie ihr vielleicht wisst, hatte ich in Zeiten des Friedens viel mit den Spitzohren zu tun.“ Der erfahrene Mann achtete jetzt, da kein Dunkel- oder Halbelf anwesend war, nicht mehr darauf, seine Antipathie zu verbergen. „Über all die Jahre erhielt sich nur ein einziges Dogma, und zwar, dass vor langer Zeit ein schrecklicher Krieg zwischen den Vorfahren beider Völker geherrscht haben musste, und Panafiel fortan verbotenes Territorium war.“ „Und du weißt mehr darüber?“ Berechtigte Zweifel keimten in Viola auf. „Ich?“, gab sich der Ritter verblüfft. „Nein. Wie auch? Nur konnte ich nie verstehen, woher diese unsagbare Angst vor dem Ungewissen eigentlich herrührte. Teufel: Die meisten Dunkelelfen konnten es ebensowenig verstehen. Nur akzeptierte man die Situation eben, wie sie war.“ Eva nahm das sprichwörtliche Zepter wieder in die Hand. „Selbst den Wächtern fiel es schwer, die Vergangenheit wieder ins rechte Licht zu rücken. Miraaj' Studien konnten ihr längst nicht alle Details dieser alten Epoche näherbringen, doch ist allein dieser Umstand wohl vielsagender, als jedes verstaubte Buch aus jener Zeit.“ „Jetzt wird sie wieder so kryptisch“, murmelte Aarve, der Schwierigkeiten hatte zu folgen. Er war aber nicht der einzige. „In ganz Minewood war die Legende über den alten Krieg von vor über dreitausend Jahren bekannt. Doch was damals genau geschehen war, wusste niemand, nicht einmal die Hohepriesterinnen.“ Eva bemühte sich, Licht ins Dunkel zu bringen. „Was also war das Ergebnis jener Auseinandersetzung?“ Keine rhetorische Frage. „Zwei Hochkulturen kreuzten über viele Jahre die Klingen, und so gut wie keine Informationen wurden bis heute überliefert? Kaum eine Aufzeichnung, kaum ein Artefakt konnte erhalten, kaum eine noch so kleine Notiz gefunden werden ...“ „Die Frage ist und bleibt: Warum?“, stellte Peter fest. „Ich sehe es ganz genauso, wie Miraaj“, eröffnete die blonde Kriegerin ihnen allen ihre Gedanken. „Am Ende dieses Krieges stand das Nichts. Beide Völker waren sich ebenbürtig bis zum letzten Gefecht. Als auch die letzten Tropfen Blut vergossen waren, standen sowohl Minari als auch Dunkelelfen am Abgrund – dezimiert auf Hundertschaften, verzaubert, verflucht ...“ „Womöglich“, brummte Lester in seinen Bart. „Doch was hat das alles mit uns zu tun?“ Der Finne Aarve wirkte immerwährend ungehalten, hatte aber ebenso stets berechtigte Bedenken. „Siehst du das denn nicht?“, stichelte Viola in seine Richtung. „Es geschieht alles von Neuem!“ Die Gruppe schreckte auf, wenngleich die meisten längst ähnliche Vermutungen angestellt hatten. „So ist es“, bestätigte Eva es schließlich. „Miraaj hat mich in die Pläne Gardifs eingeweiht. Er will seine Armee nach Panafiel führen, um dort zu herrschen. Mit Prana und Uriah an seiner Seite, wird er wohl nicht aufzuhalten sein. Er wird ganz Minewood erneut ins Chaos stürzen, davon sind unsere Gönner überzeugt.“ „Wie denn?“ Peter zeigte sich merklich verwirrt. „Was sollen die Minari gegen die Magie der Dunkelelfen denn ausrichten?“ „Es existieren noch immer Überbleibsel der Technologien, derer sich die Vorfahren der heutigen Bewohner Panafiels vor langer Zeit bemächtigt haben. Eines dieser Werkzeuge haben die Minari schon vor rund einhundert Jahren wiederentdeckt und letztlich auch aktivieren können.“ „Das Portal“, dämmerte es dem Franzosen. „Ja. Es wäre naiv zu glauben, die Minari hätten die Nachforschungen just nach ihrem größten Fund wieder aufgegeben, oder?“ „Und wahrscheinlich wissen sie nicht mal, dass es sich dabei um das Handwerk ihrer eigenen Vorfahren handelt.“ „Davon ist sogar auszugehen“, bekräftigte Eva die Bedenken ihres alten Freundes. „Die Minari werden diese Relikte längst vergessener Tage erneut gegen die Dunkelelfen einsetzen, ohne das eigene Dilemma überhaupt zu erkennen. Und niemand von uns vermag auch nur zu vermuten, von welcher Art Waffen wir hier reden.“ „Aber Prana ...“ Peter wusste nicht, ob es angebracht war, der Gruppe zu offenbaren, was Miraaj ihm in der vergangenen Nacht anvertraut hatte; er hoffte, dass Eva darüber längst Bescheid wusste. „Ja, Peter“, kam sie ihm zuvor. „Sie ist noch immer der wohl bedeutendste Grund dafür, dass Gardif den entscheidenden Schritt noch nicht getan hat. Immerhin ist es ihr zu verdanken, dass er über dich nicht Bescheid weiß, und ohne den einen Menschen, den er so verzweifelt sucht, wird er den Angriff nicht wagen.“ „Moment mal!“ Sogar dem Ältesten wuchs die Geschichte langsam über den Kopf. „Wovon sprecht ihr hier eigentlich? Die Hexe soll auf unserer Seite sein!? Der Junge ein ... eine Waffe!?“ Alle noch übrig gebliebenen Gefährten reagierten auf ihre eigene Weise auf die bedeutsamen Neuigkeiten, mit denen sie sich in jenen Sekunden konfrontiert sahen. Lester konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben: Er lief in der Krypta auf und ab. Viola wirkte nachdenklich, wie die gesamte Zeit über. Sie war der Anker, an dem Aarve sich in jener Sekunde festhielt. Er fixierte die schöne Frau und verlor sich in ihrem Mienenspiel. Zweifellos hätte er zynischer reagiert, wäre es nicht um sie und seine vorherigen, auf wenig Begeisterung gestoßenen Ausbrüche bestellt gewesen. Jin gab sich überrascht, aber weiterhin schweigsam. Seine Artgenossin Lily zog es unterstützend zu ihrer besten Freundin. „Was ist los mit euch?“, appellierte sie an die Geduld der kleinen Gruppe. „Ich für meinen Teil will jedenfalls wissen, wie es weitergeht!“ „Danke, Lily“, wusste Eva den Einsatz der Elfe angemessen zu würdigen. „Natürlich will ich das auch!“, entfuhr es Lester in tiefem und lautem Tonfall. „Nur ahne ich, worauf das alles abzuzielen droht.“ „Dann erleuchte uns geistig weniger Gesegneten das doch bitte.“ Fast erkannte Aarve seinen eigenen Zynismus in der Stimme Violas wieder. Lester überließ Eva diese wichtige Aufgabe. „Was die Wächter wissen, ist, dass die Minari das Portal vor dreitausend Jahren dazu nutzten, sich eine größere Armee zusammenzustellen. Sie lockten die Menschen damals in größeren Zahlen nach Minewood und ließen sie für sich kämpfen. Ein Mensch war es jedoch auch, der die Quelle der Magie – oder wie auch immer man es nun nennen will – zum Versiegen brachte und dem Krieg somit die entscheidende Wendung gab.“ „Und nun glaubst du ...“ „Miraaj und ihre Leute glauben es“, unterbrach die Anführerin die Zweifel des Blondschopfs, der sich selbst wohl kaum als ihr Untergebener betrachtete. „Okay, wie auch immer. Dann glauben sie eben, dass Peter derjenige welche ist, der in die Fußstapfen dieses tollen Hechtes treten soll?“ Aarve lachte verbittert. „Das kann ja heiter werden.“ „Ach, halt doch den Mund!“, entfuhr es Lily merklich angesäuert. Der Querulant nahm sie gar nicht wahr und widmete sich banalerer Dinge. Er nahm einige grobe Kieselsteine in die Hand und schnippte sie gekonnte in die Luft. Die Aufmerksamkeit des Finnen schien Eva wohl zu verlieren. Es störte sie nicht; sie konnte es gar verstehen. Für jemanden, der vor kurzer Zeit noch als Sklave für die Dunkelelfen hatte schuften müssen, waren wohl weitaus weniger tiefschürfende Dinge von größerer Bedeutung. Umso mehr gewann sie zur gleichen Zeit an Achtung vor Peter. Er war ebenso aus seinem Leben gerissen worden – erst vor wenigen Tagen-, bewies jedoch Mut und ein reifes Bewusstsein für die Dinge, die hier in der Fremde um ihn herum geschahen. Sie konnte nur erahnen, wie er sich in diesem Moment fühlen musste. „Versteht das nicht falsch: Auch die Wächter können nicht mit Sicherheit sagen, was damals vorgefallen ist“, versuchte Eva ihre Kameraden zu beruhigen. „Lediglich eines ist sicher: Es war ein Mensch, der damals das Ende des Krieges einleitete.“ „Doch wie?“ Peter wollte dieses bedeutende Puzzlestück unbedingt in das größere Ganze einfügen. „Was nützt es uns zu glauben, ich – oder irgendwer – sei der Auserwählte, wenn wir nicht mal wissen, was wir als nächstes tun sollen.“ „Er hat recht! Was wissen wir denn über diese eingestaubte Epoche?“ Immer wieder tat auch Lester seine Zweifel kund. „Was hat die Dunkelelfe denn vorgeschlagen, was wir ihrer Meinung nach tun sollten?“ „Sie ...“ Eva zögerte zunächst. Sie suchte den Mut zu überwinden und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Streng genommen gibt es nur eine wirkliche Option: Wir müssen nach Panafiel reisen, zum Ursprung, und dem Ganzen ein für alle Mal Einhalt gebieten.“ „Hey!“, drängte sich Aarve erneut auf. „Das soll unsere einzige Option sein? Wie kommst du denn bitte darauf?“ „Denk doch mal nach, Mann.“ Eine Zurechtweisung von Viola, hatte der vorlaute Kerl wirklich nicht erwartet. „Gardif und seine blauen Handlanger wissen über all das Bescheid. Vermutlich besser, als wir es tun. Wenn Pranas Fassade erst einbricht, was wird er dann wohl tun?“ Endlich klang auch bei dem stolzen Finnen die Bedrohlichkeit der Situation an. „Dann wird er sich erst Peter zurückholen und schließlich in seiner alten Heimat einmarschieren. Mit nobler Absicht, versteht sich ...“ Die Gefährten sahen sich nun allesamt der bedrückenden Realität gegenüber. Alles was hinter ihnen lag, war nur ein Vorgeschmack auf die Prüfungen auf dem langen, steinigen Weg gewesen, der sich noch vor ihnen erstreckte. Alle Zweifel an den Interpretationen jener alten Mythen konnten das ungute Gefühl tief im Innern der so unterschiedlichen Figuren nicht tilgen. Ein Krieg stand bevor, und wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit hinter der Geschichte der Wächter steckte, würde sich kein Elf, kein Minari und kein Mensch den Konsequenzen jener Auseinandersetzung entziehen können. ___________________________________________________________ „Ich konnte sie nicht finden in der letzten Nacht. Da war ... gar nichts“ Miraaj wanderte langsam auf und ab am Rande des Bassins, in das sich der kleine Wasserfall ergoss. Das beruhigende Plätschern konnte die Angespanntheit der Dunkelelfe nicht überspielen. Ihr Gefährte zeigte sich besorgt ob ihrer Missstimmung. „Wovon sprichst du da?“ „Sie hat mir nicht geantwortet. In meinen Träumen, meine ich.“ „Redest du von der Hexe?“, folgerte Neil schließlich „Nenn sie nicht so!“ Von allen Leuten hätte gerade er ihr mehr Respekt zollen müssen, schließlich war Prana letzten Endes seine Lebensversicherung in den vielen Jahren bei den Dunkelelfen gewesen. Hatte sie seine List und seine Fertigkeiten auch benötigt, um das Portal zu bedienen, war er mindestens ebenso abhängig von der ihren Magie gewesen, um es zu nutzen. „Bitte ...“ „Verzeih – aber ich liege doch richtig, oder?“ „Ja“, gestand Miraaj ein. „Ich mache mir große Sorgen. Sie wollte mich kontaktieren, tat es aber nicht. Dabei spielt uns das Schicksal zur Zeit mehr in die Karten, als wir es uns je erträumt hätten.“ „Was kann dahinter stecken?“, fragte ihr alter Freund wissbegierig. Auch er sorgte sich, wenn er Prana auch stets skeptisch gegenüberstand. Für seinen Geschmack umwoben noch viel zu viele Mysterien die schlafende Hexe, um ihr wirklich vertrauen zu können. „Ich weiß es nicht. Prana war selbst nach ihrer Verfluchung noch mächtig genug, zumindest durch Träume mit mir zu kommunizieren; hat aus der Not eine Tugend gemacht. Es kostete sie auch kaum Kraft ...“ „Was denkt ihr also?“ Die Ernsthaftigkeit dieser Angelegenheit zwang Neil geradezu, förmlich zu werden. „Vielleicht ist es aus mit ihr ...“ Bedrückt senkte die Dunkelelfe ihren Kopf. Sie verharrte auf der Stelle und beobachtete ihre verschwommene Reflexion auf der Oberfläche des kristallklaren Wassers. Man konnte leicht bis auf den Grund des seichten Gewässers schauen, und doch schien es Miraaj unmöglich, das eigene Abbild zu überwinden. Für sie selbst war es, als blicke sie in die Augen einer schwachen, gebrechlichen Frau – In diesem Moment mehr als jemals zuvor. „Sie ist ... tot?“ Der kleine Mann fiel aus allen Wolken. „Seid ihr euch da sicher?“ „Nein“, kam umgehend die Antwort. „Ich bin nicht mächtig genug, selbst mit ihr in Kontakt zu treten, oder das bisschen Lebensenergie aufzuspüren, das sie ausstrahlt“, erklärte sie und verurteilte ihre Schwäche im selben Moment innerlich. „Aber wie kann das möglich sein? Wurde sie ermordet?“, vermutete Neil alsbald ein Komplott. „Ermordet?“ Miraaj war sichtlich überrasch. „Wer würde sie ermorden wollen? Wer würde es fertigbringen?“ „Oh, meine Liebe“, holte der weise Kobold zu einem Rundumschlag aus, „ihr wisst ja nicht, wie es um Gardif und seine Untertanen bestellt ist. Die Prinzessin fürchtet Prana schon seit Jahren. Das habe selbst ich gespürt, ganz ohne Hokuspokus. Ihr würde ich eine solche Tat ohne weiteres zutrauen.“ „Doch wäre sie dazu gar nicht in der Lage“, wurde Neil in die Schranken gewiesen. „Prana mochte schwach gewesen sein, doch konzentrierte sie alle Macht, die sie noch besaß, stets auf ihr Überleben. Sie nahm alles wahr, was um sie herum geschah, das hatte sie mir einst anvertraut. Sie hatte keine Angst vor Uriah.“ So wie Miraaj von ihr sprach, war sie wohl doch davon überzeugt, dass Prana nicht mehr unter den Lebenden weilte. Was wusste sie noch? „Dann erklärt es mir!“ Und das tat sie schließlich. „Sie litt stets unter dem Fluch der Königin, und das nicht nur, weil ein längeres Erwachen aus ihrem Schlaf ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Sie war in ihren eigenen Alpträumen gefangen, fünfunddreißig Jahre lang.“ Neil kannte die Details jener Geschichte noch nicht. Es erstaunte ihn, all das zu hören. „Wie mächtig sie gewesen sein musste, sich in jener Dunkelheit zu orientieren und mich zu finden ...“ Miraaj wandte sich endlich ab von ihrem Spiegelbild. „Vor nicht allzu langer Zeit eröffnete Prana mir, das sie sich nach dem Ende sehnte.“ „Sie meinte doch bestimmt das Ende ihrer Mission, oder?“ „Das dachte ich zunächst auch; allerdings sagte sie, dass ihre Hand nicht mehr benötigt werden würde, würde der Auserwählte es erst bis hierher geschafft haben. Fortan läge es nicht mehr in ihrer Macht, den Ausgang des Geschehens zu beeinflussen, meinte sie.“ „Also brachte sie sich um?“ Es bedurfte keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu bemerken, dass Neil nicht daran glaubte. „Schätzt du sie tatsächlich so ein?“ „Fakt ist, dass sie aus ihren Alpträumen erwachen wollte. Nach so langer Zeit gab es nichts, das sie sich sehnlicher wünschte. Zwar wusste sie, dass es ihre letzte Kraft kosten würde, doch von Selbstmord kann dabei keine Rede sein. Es war vielmehr eine Erlösung.“ „Also seid ihr doch überzeugt davon?“, fragte Neil ein letztes Mal, das „Sie“ wieder nutzend, als wolle er seiner Frage dadurch Nachdruck verleihen. „Glaube mir, alter Freund, ich wünschte, ich wäre es nicht.“ Das war Antwort genug für den besorgten Mann. Zunächst konnte er die egoistische Tat der Hexe in Vyers nicht nachvollziehen, doch meinte Miraaj ja zuvor, dass sie ihren Gefolgsleuten in Adessa sowieso nicht mehr hätte helfen können. Überhaupt war die junge Magierin die einzige, die durch ihre speziellen Fähigkeiten Kontakt mit Prana aufnehmen konnte; so war der eine, wirkliche Unterschied der, dass Miraaj nun ganz allein an der Spitze ihrer Gemeinschaft stand. Sie war zweifellos mächtig und wissend genug, die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken, doch war sie auch reif genug dafür? „Was erwartet uns nun?“, fragte sie ihren Gefährten, der sich mit den Dunkelelfen in Caims weit besser auskannte, als sie. „Wenn Uriah Pranas Platz als Beraterin Gardifs einnimmt, könnten sie uns schon bald auf den Fersen sein. Das heißt, wenn die Prinzessin über Peter Bescheid weiß.“ „Und was glaubst du?“, wollte Miraaj eine persönliche Meinung ihres treuen Freundes einholen. „Tja ...“ Neil zupfte grübelnd seinen Kinnbart. „Uriah hatte eine Ahnung, was den Jungen betraf. Wenn sie Gardif von ihrer Meinung überzeugen kann, stecken wir in Schwierigkeiten.“ „Wie würden sie im schlimmsten Falle reagieren?“ „Im schlimmsten Falle?“ Die Blicke der beiden Wächter trafen sich. Der Ausdruck in Neils Augen verhieß nichts Gutes. „Vielleicht würden sie Truppen aussenden, um nach ihm zu suchen.“ Es war eine Hiobsbotschaft für die Dunkelelfe. Sie fürchtete vor allem, dass die Zeit gegen sie arbeiten würde. Was, wenn sie den Jungen und seine Freunde geradewegs in einen Krieg mit ihren Artgenossen schicken würde? Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Peter jenen Konflikt unbeschadet überstehen, wie hoch die, dass er dabei nicht Gardif in die Hände fallen würde? „Egal was auch geschieht, Neil, du darfst darüber kein Wort verlieren!“, wies sie ihren Freund an. „Sie dürfen davon unter keinen Umständen erfahren.“ „Selbst wenn die Entscheidung schon gefällt wäre: Die Dunkelelfen brauchten mindestens eine Woche, um uns zu erreichen. Und selbst wenn sie Tapion direkt über das Meer ansteuern würden, wären Peters Leute immer noch schneller am Ziel.“ „Doch was, wenn sie erfahren, dass der Feind vielleicht ihre Heimat anzugreifen plant? Würden sie ihre Leute im Stich lassen, Neil?“ Natürlich würden sie das nicht tun. Eher würden sie an deren Seite gegen eine Übermacht ankämpfen und dabei umkommen; sogar Peter traute er dergleichen mittlerweile zu. Genau das war ja das große Dilemma bei der ganzen Geschichte: die Unvernunft der menschlichen Rasse. Sie pflegten ihre Prinzipien, insbesondere dann, wenn Emotionen ihnen die ohnehin nicht sehr weit reichende Sicht vernebelten. „Verstehe schon ...“ Dem Zwerg imponierte die Durchtriebenheit der Dunkelelfe. Sie traf eben stets die Entscheidungen, die der Sache am dienlichsten waren, egal wie unpopulär diese auch sein mochten. „Demnach nehme ich auch nicht an, dass die junge Anführerin der Gruppe in Erfahrung gebracht hat, weswegen sie und ihre Leute letztlich bei uns gelandet sind?“ „Sie weiß so gut wie alles darüber“, antwortete Miraaj. Sie konnte Neil dabei aber nicht in die Augen sehen. „Und das ist wohl auch genug!“ „Ja“, gab sich die Magierin bedeckt. „Nun gut.“ Der Zwerg war gewillt, es dabei zu belassen. „Wir sollten uns aber im Klaren darüber sein, das unsere neuen Freunde uns das wohl nicht so leicht verzeihen werden, meine Liebe“, untertrieb Neil sogar noch. „Ich hoffe nicht, dass sie es je erfahren werden“, gab die Magierin zu. „Im Idealfalle siegt in Gardif ja vielleicht sogar die Vernunft.“ „Gibt es etwa Grund zu dieser Annahme?“ „Prana hatte ihn aufrichtig geliebt, schon Jahre vor dem Krieg“, erzählte Miraaj. „Wer weiß, wie viel Einfluss sie wirklich auf ihn hatte. Vielleicht ja genug, um Adessa einen neuerlichen Konflikt zu ersparen ... vielleicht ...“ „Es wäre so oder so nur ein Vorspiel für den eigentlichen Kampf ... Peter darf Gardif nicht in die Hände fallen“, sprach Neil. „Nein, unter keinen Umständen!“ ___________________________________________________________ ... ... ... ... ... ... Aubagne, Frankreich. Sechs Jahre früher (Erdzeit) Obwohl die Temperaturen genauso sommerlich waren, wie die Jahreszeit es nun mal mit sich brachte, fror Peter zu so früher Morgenstunde. Er war in der letzten Nacht in voller Montur ins Land der Träume übergetreten, nachdem er Maurice' Geschichten am Lagerfeuer eine schier endlos lange Zeit standgehalten hatte. Passenderweise war er es auch, der ihn mit seinem penetranten Gelärme aufweckte. Der Schlafraum befand sich auf dem Dachboden des kleinen Hauses, Momo schien ganz offensichtlich in der Küche zugange zu sein. Peter mühte sich redlich, einen Überblick zu ergattern. Trotz verschwommener Wahrnehmung erkannte er, dass Julies Bett verwaist war. Ihr war es überhaupt zu verdanken, dass sich Peter das Doppelbett mit seinem Freund teilen durfte. Gegen eine weniger traditionelle Verteilung, hätte er beileibe nichts einzuwenden gehabt. Als das Getue und Gepfeife aus dem Erdgeschoss immer penetranter wurde, gab es der Junge schließlich auf, wieder abzudriften. Hölzern rollte er sich zu Bettkante, griff nach seiner Waschtasche und zwang sich gähnend in eine aufrechte Position. Anschließend polterte er die kleine, dafür aber umso steilere Holztreppe hinab. „Hättest doch nicht aufstehen müssen“ gab sich sein Rührei zubereitender Busenfreund unschuldig. „Ich lach später ...“ Peter war noch nicht ausreichend auf der Höhe, um tiefgreifenden Gesprächen beizuwohnen, geschweige denn, sie anzufangen. Im engen Badezimmer kam ihn zum ersten Mal in den Sinn, das er Julie im Haus nirgends gesehen hatte. Zu seiner Verwunderung entdeckte er sie alsbald darauf bei einem Blick durch das Badezimmerfenster gleich neben dem Spiegel. Sie saß auf der Holzplatte, die vor Urzeiten sozusagen den ersten Spatenstich bei der Realisierung eines etwas zu ambitionierten Baumhausprojektes darstellte. In einigen Metern Höhe – zwischen den Ästen der beeindruckenden Pflanze – blickte das Mädchen träumend in die Ferne. Im Eiltempo machte sich Peter zurecht; begab sich dann schnurstracks wieder in den Wohnraum. „Was ist mit Julie los?“, fragte er Maurice. „Kein Ahnung. Sie war schon vor mir wach“, erklärte er. „Hab nicht gerade Lust, nachzufragen, wenn sie so drauf ist.“ „Wie ist sie denn drauf?“, gab sich Peter leicht angefressen. „Weißt schon ... so eben“ Maurice zeigte mit einer Gabel auf das angewinkelte Fenster vor ihm in Richtung Julie. „Ich schau mal nach ihr“, entgegnete sein Freund ihm unbeeindruckt. „Wenn du meinst ...“ Momo schien alles andere als begeistert. Unrecht hatte er auch nicht: Julie war manches Mal wie verloren in ihrer eigenen Welt. An solchen Tagen stand ihr der Sinn nicht nach Abenteuern oder kindischem Gerede. Man musste sie dann einfach machen lassen, und das taten die beiden auch immer – schon ganz instinktiv. Heute jedoch war Peter einfach nicht nach Trübsal oder dem Ignorieren seiner besten Freundin. So erklomm der Dreizehnjährige mehr schlecht als recht den Baum, der nur einen Katzensprung von der Hütte entfernt stand. Von hier oben eröffnete sich eine bildschöne Aussicht auf einen idyllisch gelegenen kleinen See, der sich im Tal der Garlabannen befand. Julie schien ihren Freund erst gar nicht zu bemerken, doch musste Peter sich sehr bald ertappt fühlen. „Nett, das du mich besuchen kommst.“ „Äh ... ja“, stotterte er unbeholfen. „Ist immer schöner, Gesellschaft zu haben“, sprach Julie mit Melancholie in der sanften Stimme. „Mein Reden!“, freute sich ihr Besucher über ihre positive Einstellung. „Hatte schon Angst, du würdest lieber für dich sein wollen.“ „Weißt du, ich glaube, das wäre auch so, wenn du es nicht wärst, Peter“, erklärte Julie offen und ehrlich. „Mit dir zu reden, fiel mir immer leicht, egal worüber.“ Wie geschmeichelt sich der Junge tatsächlich fühlte, behielt er für sich. Es fiel ihm ohnehin schwer auf solch bemerkenswerte, wundervolle Worte eine passende Reaktion zu finden. „Geht mir genauso“, brachte er noch über die Lippen und fügte ein: „Wirklich!“ hinzu. „Das freut mich.“ Ihr Lächeln zog Peter magisch in ihren Bann. Behutsam begab er sich direkt neben sie und setzte sich schließlich. „Früher war ich regelmäßig hier“, erzählte Julie. „Als wir noch alle zusammen in Aubagne gewohnt haben.“ „Ja? Wie oft denn?“ „Genau weiß ich es nicht – aber ziemlich oft, das kannst du mir glauben ...“ „Und warum zog es dich so oft hierher, wenn ich fragen darf?“ Natürlich durfte er. „Schwer zu sagen.“ Der Blick Julies wich nie von dem märchenhaften Ambiente, dass sich in der Ferne erstreckte; so wie Peters Blick nie von ihr wich. „Dieser Ort ist wie eine andere Welt, obwohl er gar nicht weit weg von zu Hause ist. Wenn es daheim Probleme gab, bin ich ganz allein hierher gekommen und habe ... habe nachgedacht.“ „Worüber?“ „Über Mama ... Papa ... alles Mögliche.“ „Verstehe.“ Maurice und er, sie beide wussten, wie es um Frau Lauret bestellt war. Lange Jahre schon zehrte der Krebs an ihr. Getroffen, hatten die beiden Jungen sie nur ein einziges mal; das war vor ziemlich genau einem halben Jahr, als man ebenso einen Ausflug nach Aubagne unternahm. Sie war eine sehr schöne Frau – zweifellos Julies Mutter-, wirkte aber auch schwach und zerbrechlich. Mit heiserer Stimme hatte sie die beiden empfangen, als Julie ihr ihre neuen Freunde vorstellen wollte. Immer lächelnd, mit ehrlicher Freude in ihren Augen. Es war ein Trauerspiel, dachte man daran, welch schwere Krankheit diesem gütigen Menschen zu schaffen machte. „Sie wird sterben.“ Peter traf der Schlag. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Ihr Mienenspiel verriet keine Gefühlsregung. Die Melancholie überwog noch immer alles andere. „Julie ...“ „Ich meine, ich weiß das schon seit einiger Zeit, und doch konnte ich es mir nie so recht eingestehen. Wollte nie daran glauben.“ „Das ist doch auch ganz normal“, versuchte Peter seine Freundin zu unterstützen, wo er nur konnte. „Ich musste erst wieder an diesen Ort kommen ... weglaufen, um alledem ins Auge sehen zu können. Und ich weiß nicht mal, wo das hinführen wird.“ Peter verstand nicht, was Julie damit meinte und versuchte instinktiv, ihr weiterhin Mut zuzusprechen. „Vielleicht wird ja noch alles gut!? Immerhin sagtest du doch, sie würde jetzt viel weniger Medikamente nehmen müssen, und das ist doch ein gutes Zeichen, nicht?“ „Das war allein ihre Entscheidung ...“ „Wie meinst du das?“, wunderte sich Peter über die Enttäuschung, die Julie ausstrahlte. „Die Ärzte raten ihr natürlich immer noch dazu, die Pillen einzunehmen, aber Mama sprach eines Tages mit Vater darüber, dass sie keine Kraft mehr hätte, ihr Leiden noch zu verlängern; und zu nichts anderem sind die Medikamente noch gut.“ „D-das ... das tut mir so leid Julie, das wusste ich nicht.“ „Mach dir keine Gedanken, Peter, du kannst ja nichts dafür.“ Ein schwacher Trost für ihn, so wie seine Worte wohl nur ein schwacher Trost für das Mädchen waren, die um das Leben ihrer Mutter bangte. Zumindest ehrlich und gut gemeint waren sie. „Eigentlich bist du der Letzte, dem ich das hätte erzählen sollen. Du weißt schon, weil deine Eltern doch ...“ „Unsinn!“, wehrte Peter Julies Bedenken umgehend ab. „Ich bin froh, dass du mir das alles anvertraust. Wir sind doch Freunde. Ich will alles wissen, was dich bedrückt, und versuchen dir zu helfen, wenn ich es kann.“ „Das tust du.“ Zum ersten Mal wandte Julie ihm ihr hübsches Gesicht zu. Sie weinte nicht, wirkte aber dennoch tieftraurig. „Als ich damals gehört habe, was deinen Eltern zugestoßen ist, als du noch jünger warst, war ich von dir völlig fasziniert“, erklärte sie. „Das bin ich noch immer. Du hast dich zu so einem tollen Menschen entwickelt, obwohl dir das Schicksal so übel mitgespielt hat.“ „Oh ...“ Peter konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie er vom Tod seiner Eltern erfahren und wie er sich mit gerade einmal sieben Jahren damals gefühlt hatte, doch war das schon einige Jahre her; eine lange Zeit für einen so jungen Menschen. Nach und nach hatte er lernen können, damit umzugehen und fühlte sich mittlerweile – nicht zuletzt durch seine Begegnung mit Julie – längst nicht mehr so traurig und niedergeschlagen. Nur noch sehr selten überkamen ihn die Gedanken an jenen schrecklichen Tag. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, hauchte er mehr, als dass er es sprach. „Du brauchst nichts zu sagen“, nahm Julie ihm die Bürde ab. „Ich weiß, dass meine Mutter sterben wird – bald schon. Genausogut weiß ich, dass ich traurig sein werde – trauriger als jemals zuvor. Aber wann immer es auch sein wird, ich werde zu allererst an dich denken, Peter, und was für ein wundervoller Mensch du bist. Ich werde jedes Mal daran denken, wenn ich traurig bin, und jedes Mal schwören, so stark zu sein, wie du es bist. Das verspreche ich dir!“ Worte waren fortan nicht mehr nötig, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, weder von Peters, noch von Julies Seite. Das Mädchen schmiegte sich an ihren Freund, den sie so aufrichtig bewunderte. Peter war noch immer erstaunt – wie erschlagen – von den Komplimenten, die Julie ihm just gemacht hatte. Nie zuvor hatte jemand so offenherzig derart einfühlsame Worte an ihn gerichtet. Niemals. Sie bewunderte ihn also. Es ehrte den Jungen, machte ihn stolz und auch ein wenig verlegen. Er scheute sich anschließend nicht, den Arm um Julie zu legen; es geschah fast schon spontan. Im Morgengrauen, an jenem besonderen Ort, jener außergewöhnlichen Situation schien es ganz einfach das einzig Richtige zu sein. ... ... ... ... ... ... Am Abend versammelte sich die Gruppe – in Begleitung einiger Wächter – bei den improvisierten Stallungen in der Nähe des Eingangs zu den Katakomben. Nuga, Prior und auch Neil waren dort und bereiteten den Abschied von ihren neu gewonnenen Freunden vor. Sie teilten nun eine gemeinsame Sache. Zumindest hoffte Neil, das dem so war. Der untersetzte, alte Mann zeigte sich guter Dinge, dass Miraaj und auch das Mädchen Peter und die anderen hatten überzeugen können. Die größte Bürde lastete nun wohl zweifellos auf den erst neunzehnjährigen Franzosen, dem sich die wirkliche Tragweite von allem, was er im Untergrund in Erfahrung bringen konnte, noch gar nicht erschloss. Neil beobachtete ihn aufmerksam, als er sich im Anblick des Einhorns zu verlieren schien. Vielleicht waren es aber auch seine Gedanken, die ihn seine Umgebung für einen kurzen Augenblick ausblenden ließen. „Wird sie nicht kommen?“, fragte er etwas heiser klingend nach der Dunkelelfe Miraaj. „Oh doch, das wird sie!“, versicherte ihm Neil. „Ich soll es dir eigentlich nicht verraten – aber lass mich dir soviel sagen: Du wirst nicht mit leeren Händen nach Tapion aufbrechen, he he.“ „Ach was?“ Die Geheimniskrämerei des Alten ließ Peter kalt. Miraaj war von den meisten unbemerkt aus dem Dunkel der unterirdischen Gewölbe an die Gruppe heran geschritten. Erst als sie die Hand auf die Schulter des Jungen legte, ward er sich ihrer Anwesenheit voll und ganz bewusst. „Peter?“ Es war nur eine kleine Berührung, doch blieb ein jeder Kontakt mit der faszinierenden Magierin ein unvergessliches Erlebnis. Obwohl so umgänglich und gar menschlich, erhielt sich Miraaj durch ihre gesamte Erscheinung doch stets die Aura des Unerreichbaren. „J-ja?“ „Bevor du aufbrichst, möchte ich dir noch ein Geschenk machen.“ „Oh, tatsächlich? Und ich dachte schon, Neil will mich auf den Arm nehmen.“ Für die verdorbene Überraschung erntete der kleine Mann von seiner Anführerin einen bedrohlich wirkenden Blick aus den Augenwinkeln und ein zufriedenes Grinsen von dem Jungen, dem er vor nicht allzu langer Zeit so viel Kummer bereitet hatte. „Wie dem auch sei“, sprach die Elfe und zog im selben Moment ein matt-goldenes Kurzschwert unter ihrem Umhang hervor. Unbehagen schreckte nicht nur den Jungen auf. Die Augenpaare aller Anwesenden waren auf die beiden gerichtet. „Das hier ist ein ganz besonderes Relikt vergangener Tage.“ Wenn dem denn auch so war, beruhigte die Nähe der Klinge zum Hals ihres Gegenübers die umstehenden Zuschauer nicht im Geringsten. Miraaj hatte zunächst nur Augen für die Waffe. Erst als sie entwaffnend lächelnd das Schwert vorsichtig in beide Hände nahm und Peter mit einer öffnenden Geste präsentierte, ebbte die Anspannung ab. „Und das soll für mich sein?“ Weder wusste Peter mit der eleganten, wenn auch sichtbar alten Waffe umzugehen noch warum er ein Geschenk wie dieses verdient haben sollte. „Ich fürchte, ich bin nicht sonderlich gut im Umgang mit ...“ „Noch nicht!“, kürzte die Dunkelelfe ab. „Darauf kommt es auch gar nicht an. Du musst wissen, dass dieses Schwert einst einem Mitglied der Karawane gehört hat, die es damals in den Norden Panafiels zog.“ „Du meinst ...“ „Ganz recht! Dieselbe Karawane, der auch der Mensch angehörte, dessen Erbe du antreten sollst.“ „Und das soll dreitausend Jahre alt sein?“, gab sich Viola, die das Gespräch der beiden mitgeschnitten hatte, skeptisch. „Eher noch älter“, antwortete Miraaj unbeeindruckt. „Tja, vielleicht kann ich ihm daheim ja ein paar Tricks beibringen.“ Sie meinte das durchaus ernst. „Damit du mich nicht missverstehst, Eva kann mir im Schwertkampf nicht das Wasser reichen“, fügte sie – wenn auch bedeutend leiser – noch hinzu. „Ich werd' drauf zurückkommen!“ „Noch etwas.“ Flüsternd wandte sich Miraaj erneut an den Jungen. „Nimm auch das hier mit.“ Sie überreichte dem Jungen ein dünnes Buch, der Einband war schwarz und leicht angestaubt. Schon die Zeichen auf der Front zu entziffern, war Peter unmöglich. „Und achte immer darauf!“ „Was ist das?“ „Aufzeichnungen, die dir vielleicht noch von Nutzen sein werden.“ „Ich kann's nicht lesen, fürchte ich.“ „Wie ich schon sagte: Noch nicht!“ Scheinbar schien Miraaj Gefallen daran gefunden zu haben, sich in Mysterien zu hüllen. „Es ist in antiker elf'scher Sprache verfasst; sie zu erlernen, wird die eigentliche Schwierigkeit darstellen.“ „Ich denke, Eva und die anderen könnten mir dabei vielleicht behilflich sein.“ „Sie sollen dir helfen, wo es nur geht, doch versprich mir, dass nur du aus diesem Buch lesen wirst, verstanden? Daran läge mir sehr viel.“ „Oh ...“ Peter konnte natürlich nur entfernt erahnen, warum die Magierin von ihm Verschwiegenheit einforderte, doch war es eine Selbstverständlichkeit für ihn, ihr diesen Wunsch zu gewähren. „Versprochen. Ich werde es für mich behalten.“ „Ich danke dir. Und pass gut darauf auf, ja?“ „Werde es hüten, wie meinen Augapfel!“, sagte er lächelnd. Die Dunkelelfe verabschiedete sich mit einer Zärtlichkeit. Sie strich Peter über die Wangen und blickte ihm dabei tief in die Augen. Was sie in ihm sah, erschloss sich dem Neunzehnjährigen noch immer nicht, doch konnte er mittlerweile zumindest vermuten, was es war, nämlich Hoffnung. Nachdem sie den jungen Mann so zuvorkommend verabschiedet hatte, widmete sie sich seinen Gefährten, einem nach den anderen. Für sie alle hatte Miraaj dankende Worte und beste Wünsche übrig. Welch beunruhigende Aura sie auch immer umgeben mochte, so war es nahezu unmöglich, unlautere Absichten bei ihr zu vermuten. „Wenn wir und beeilen, sollten wir die Stadt in drei Tagen erreicht haben“, verkündete Eva lautstark. Sie wies Peter mit unmissverständlicher Körpersprache an, das Einhorn zu satteln und sah sich anschließend in der Runde um. „Meinst du, du kannst mit uns mithalten?“, fragte sie den Elf Jin. Er hatte noch keine Anstalten gemacht, sich einen Platz auf dem Rücken eines der Pferde zu reservieren. Den ganzen Weg über zu fliegen, traute Eva dem willensstarken Jüngling zwar zu, vermutete aber andere Beweggründe. Sie sollte recht behalten. „Ich werde nicht mit euch kommen“, ließ er kurz und knapp verlauten. Die Überraschung war den Freunden des Jungen anzumerken. Besonders Lily glaubte nicht recht, was sie da eben hatte hören müssen. „Bist du auf den Kopf gefallen?“, gab sie sich wenig verständnisvoll. „Natürlich wirst du mit uns kommen! Wo willst du denn sonst hin, huh? Allein zurück nach Ballybofey!?“ „Lily!“, versuchte Eva ihre kleine Freundin zu zügeln. „Versteht das bitte nicht falsch“, begann der sonst so schweigsame Junge sich zu erklären. „Es hat nichts mit euch zu tun, oder mit den Sachen, die Eva uns allen anvertraut hat. Wenn ich auch bezweifle, dass ich euch eine große Hilfe sein könnte, wäre ich euch gerne nach Tapion gefolgt; schon allein, um diesen Ort einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben. Allerdings ...“ „Du hattest von Beginn an deine eigenen Gründe, auf diese Reise zu gehen. Kein Grund jetzt Schuldgefühle zu haben.“ Viola wusste natürlich weit besser darüber Bescheid, was den Elfen bewegte, als Lily. „Und ... und nun?“ Seine Artgenossin schien noch lange nicht fertig zu sein. „Jetzt gibst du auf und bleibst hier? Ausgerechnet hier?“ „Kindchen, wie naiv bist du eigentlich?“, zischte Aarve in Richtung der aufgebrachten Elfe. „Es tut mir leid, Lily,“ glaubte Jin zumindest, obwohl es ihn wunderte, warum ausgerechnet sie so aufgebracht war, „aber meine Entscheidung steht.“ „Fein!“, gab sich die Elfe schließlich geschlagen. „Mach doch, was du willst!“ Mit einer gehörigen Portion Unverständnis aber auch Wehmut, ließ sie von ihm ab. „Dann ist das wohl beschlossene Sache“, stellte Lester fest, der dem Elf als erster die Hand reichte. „Du wirst in unseren Reihen immer willkommen sein, kleiner Jin.“ „D-danke“ Die Worte ehrten den Jungen. Eva war die nächste, die sich von ihm verabschiedete, nahm ihn sogar fest in den Arm und sagte: „Verzeih mir. Ich habe nicht gewollt, das du all das miterleben musst. Ich hoffe, du wirst hier dein Glück finden.“ „Es war nicht deine Schuld, Eva. Nichts davon“, ermunterte der sichtlich gerührte Elfenjunge seine neu gewonnene Freundin. „Ich danke dir, dass du mir meinen Wunsch erfüllt hast. Ohne dich hätte ich es nie soweit geschafft.“ Eva lächelte. Das bittere Gefühl dabei, konnte sie jedoch nicht verdrängen. „Wenn es dich eines Tages wieder in die Heimat ziehen sollte, musst du nicht allein gehen. In Tapion wird es genügend Menschen geben, die die Reise mit dir bestreiten, hörst du?“ „Verstehe. Danke!“ „Meide nur diese ... du weißt schon.“ Ihr Blick schweifte in Richtung Ballymena. „Darauf kannst du dich verlassen!“ „Ihm wird es bei uns an nichts mangeln“, sprach Miraaj, während sie mütterlich den Arm um Jin legte. Die beiden bemerkten sie erst im letzten Moment. „Daran zweifle ich nicht.“ Es waren die letzten Worte, die an jenem Abend zwischen der Gruppe und ihren Gastgebern gewechselt wurden. Der Aufbruch, der nun um ein weiteres Mitglied dezimierten Karawane war zwar nicht tränenreich, aber durchaus wehmütig. Miraaj und Neil hatten nicht zuletzt ihr eigenes Schicksal in die Hände jener mutigen Menschen gelegt. Fortan hätten sie weit weniger Einfluss auf die Geschicke eben jener neu gewonnenen Mitstreiter. Am Ende hatten nicht alle Mitglieder der Gruppe nach den letzten Etappen dieser Reise ausschließlich Verluste zu beklagen. Zumindest Jin hatte in der Nähe der alten Stadt gefunden, wonach er solange gesucht hatte. Der Elf stand noch lange am Rande der Klippen, die nicht weit von den Katakomben entfernt einen weitreichenden Blick über das Land im Norden verschafften. Erst als die Karawane am Horizont verschwand, verließ er seinen Posten. Er war nicht allein. Sie war bei ihm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)