Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Die Wächter I ------------- Kapitel 15 – Die Wächter I Stunden nach den kämpferischen Auseinandersetzungen in der Stadt der Dunkelelfen hatten sich die Gemüter der Beteiligten zwar beruhigt, doch waren ihre Sorgen deswegen längst nicht erloschen. Sie alle bangten um das Leben ihrer Anführerin und Freundin, Eva. Die Gewalttaten ihrer eigenen Leute brachten die junge Frau erst in ihre prekäre Situation. Eine Tatsache, die ihr zu allem Überfluss auch noch den Geist vergiftete. Wann immer die Schwäche sie nicht übermannte, dachte Eva über ihr Versagen nach; sie dachte an ihre Unaufmerksamkeit in der Nacht vor dem Unglück, an Rios, wie er sich in der Vergangenheit von ihr abgekapselt und es geschafft hatte, mehr und mehr Gleichgesinnte für sich zu gewinnen. Was es auch immer war: Am Ende sah sie die Schuld stets bei sich selbst. Peter hatte die zierliche Gestalt unbeirrt durch die langen Korridore der Gewölbe getragen, nachdem der Hüne Lester den eigenen Verletzungen Tribut zollen musste, und sie schließlich auf eine Tischplatte aus Granit in ein Provisorium aus weichen Decken und Kissen gebettet, das die Fremden für die verwundete Frau in Eile aufgebaut hatten. Eva fühlte sich in der Nähe des alten Lesters stets geborgen, so auch in jenen Augenblicken. Sie glaubte fest daran, dass ihr nichts geschehen würde, solange er bei ihr war. Sie selbst wusste besser als jeder andere, dass sie den grauen Krieger wie einen Vater verehrte, ihn liebte. Sie beschlich der Gedanke, ihm das noch nie mitgeteilt zu haben, obschon sie sehr gut einzuschätzen wusste, wie viel es ihm bedeutet hätte. Eva hoffte inständig, ihre letzte Gelegenheit darauf nicht verspielt zu haben. Peter verließ zu keiner Zeit die Krypta. Er war Eva ebenso nahe wie auch ihr Beschützer, Lester, dessen Macht- und Hilflosigkeit jener sich selbst als einziger zum Vorwurf machte. Weit mehr als das Verlangen nach Antworten trieb Peter der sehnliche Wunsch an, Eva, wo er nur konnte, zu helfen. Lily hingegen war noch immer vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Elfe hatte weit mehr an den Grausamkeiten, die sie hatte mit ansehen müssen, zu nagen als alle anderen. Ihre gesamte Weltanschauung wurde von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt, als die Menschen vor kaum einer Stunde in ihrem Wahnsinn übereinander herfielen. Nun kauerte sie, fernab des Troubles, im Schatten einer Nische im Gestein, die aufgeschürften Knie bis zum Kinn angezogen, die leeren Augen längst bar jeder Träne. Jin zweifelte, ob sie ihn überhaupt wahrnahm, doch wich er zu keiner Zeit von ihrer Seite. Niemand sprach ein Wort. Die helle Aufregung der ersten Minuten war lange verflogen, was zum größten Teil an der faszinierenden Gestalt lag, die sich von Beginn an aufopferungsvoll um Eva kümmerte und es auch jetzt, da die blonde Kriegerin das Bewusstsein verloren hatte, noch immer tat. Die Frau in dem schlichten, grauen Gewand war weit mehr als nur eine gewöhnliche Dunkelelfe. Sie war die Anführerin der Ausgestoßenen, die sich im Untergrund Ballymenas ihre Heimat aufgebaut hatten. Sie war eine Mutter für die Jünglinge und die Schwester der Älteren; sie war ein Mysterium – selbst für die eigenen Leute; sie war eine lebende Legende, ein Mythos. Miraaj war eine Dunkelelf'sche Magierin, von denen es hieß, sie wären in Minewood ausgestorben. In den Katakomben der verbotenen Stadt bot sie den Ihren Schutz vor den Gefahren der Außenwelt. Die Elfen, Halbelfen und Menschen, die diesen Ort bewohnten, nannten sich selbst Wächter. Sie waren Irrlichter im Dunkel der verlorenen Stadt. „Sie braucht vor allem Ruhe“, drang es samten aus der Kehle der Magierin. „Und ein Wunder!“ tönte Viola aus dem Hintergrund. „Das wäre dann zumindest der richtige Ort dafür, nicht wahr?“ Aarves zynische Rhetorik brachte ihm allerorts wütende Blicke ein. „Es muss doch etwas geben, das wir tun können!“ Auch Peter hielt die leidige Warterei nun nicht mehr aus. „Die Blutung muss gestoppt werden! Richtig, meine ich ... Sie wird verbluten, wenn wir nichts unternehmen.“ Lester trafen die Sorgen Peters sichtbar schwer. Sein Gesicht lag in Falten. Das väterliche Antlitz war in ein Trauerspiel verwandelt. Er wirkte völlig hilflos. Es war das erste Mal, dass Peter ihn derartig niedergeschlagen erlebte, und er bereute sein Mitschuld daran zutiefst. „Sie wird es schaffen, Peter! Da bin ich mir sicher“, versuchte Neil den Jungen aufzumuntern. „Du wirst mir hoffentlich nachsehen, dass ich auf deine Meinung nichts gebe, kleiner Mann!“ wies der Franzose die wohlgemeinten Worte zurück. „Ich vergaß, wie nachtragend ihr Menschen doch seid“, murmelte Neil gerade noch hörbar in seinen Bart. Diese spitzfindige Bemerkung des Kobolds brachte das Fass jzum Überlaufen. Peter schnellte aus der Hocke nach oben und wandte sich zum ersten Mal in jener Nacht von Eva ab. Der Franzose fixierte Neil mit hasserfülltem Blick und marschierte mit großen Schritten auf ihn zu. Bevor der untersetzte alte Mann bemerkte, wie ihm geschah, stemmte Peter ihn auch schon in die Höhe. Es schien ihn kaum Kraft zu kosten, Neil am Kragen auf Augenhöhe zu hieven und an der Wand festzunageln. „Du hast ja nicht die leiseste Ahnung, was in mir vorgeht, du kleiner Heuchler!“ versprühte Peter sein Gift. „Glaub ja nicht, ich hätte irgendwas von dem vergessen, was an jenem Abend geschehen ist! Du schuldest mir Antworten! Du schuldest mir mein Leben!“ Im Rücken Peters näherte sich einer der Wächter. Es war ein Dunkelelf, kräftig und hochaufgeschossen. „Es ist schon gut, Prior“, wies Neil dessen Hilfe zurück. „Er wird sich schon noch besinnen.“ Das tat der Junge gar schneller, als Neil gedacht hatte. Nicht etwa aus Angst vor den Fäusten des ihm zweifellos überlegenen Dunkelelfs, oder gar aus Vergebung – einzig die Vernunft ließ den Neunzehnjährigen inne halten. Wieder auf Grund und Boden geerdet, begann Neil seine Kutte herzurichten. „Du hast recht. Es gibt einiges zu bereden.“ Neil wendete sich völlig unbeeindruckt von Peter ab und begann sich aus der Krypta zu entfernen. „Doch ist das weder der Ort noch die Zeit dafür“, lies die listige Gestalt noch verlauten, bevor er im Schlagschatten eines Tunnels verschwand. „Wo zum Teufel gehst du hin?“ rief Peter erzürnt. „Dorthin, wo du mich finden kannst, wenn du soweit bist“, hallte es aus dem Korridor. „Eure Hingabe sollte im Moment einzig eurer Freundin gelten. Ganz besonders deine, Peter.“ Er wusste nicht recht, welche Hintergedanken Neil diesmal verfolgte, oder warum er diesen letzten Satz gesagt hatte. Vertrauen, konnte und wollte Peter ihm jedenfalls nicht. Im Augenblick war der verräterische alte Mann auch für ihn nur Beiwerk zur ohnehin bedrückenden Situation. Eva brauchte jede Hilfe, die sie bekommen konnte – so schwer verletzt, dass niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob sie je wieder aus ihrer Ohnmacht erwachen würde. Geradezu wie ein Tumult durchbrachen die aufgeregten Schritte eines jungen Mädchens und ihres noch jüngeren Begleiters die bedrückende Stille in der Krypta. Eilig bahnten sie sich ihren Weg durch den selben Tunnel, den zuvor Neil in entgegengesetzte Richtung betrat. Ihre Atemlosigkeit verriet die Dringlichkeit des Erscheinens. Als das Duo von der Vielfalt der Fremden überrascht wurde, wandte sich der zottelige Junge mit den spitzen Ohren verschüchtert an seine ältere, jedoch kaum größere Freundin. „Was ist los?“ fragte der Hüne Prior das ganz in schwarz gehüllte, blasse Mädchen, deren Schopf unter einem Barett versteckt war. „Komm schon“, ermutigte die junge Dame ihren verschüchterten Zögling. „Erzähl ihnen, was du gesehen hast!“ Ängstlich wagte das Kind einen Schritt nach vorn. Seine Beschützerin legte derweil ihre zierlichen Hände auf dessen Schultern, um ihm Halt zu geben. Dann sprach er. „Ich war draußen ... a-an der Oberfläche u-und ...“ Er atmete tief ein. „Bei den Eichen – nahe dem großen Wall – habe ich zwei Gräber entdeckt“, erklärte der Junge stolz. „Ganz frisch!“ fügte er noch hinzu, ehe das Mädchen das Wort ergriff. „Und er hat das hier gefunden.“ Sie lächelte dem Jungen zu, um seinen Mut zu würdigen, bevor sie einen schlichten, silbernen Ring aus ihrer Tasche zog und Miraaj überreichte. Jin betrachtete die Geschehnisse mit Argusaugen. Auch wenn es unter dem pechschwarzen Gewand und dem Barett nur schwer zu erkennen war, meinte der junge Elfe eine Artgenossin ausgemacht zu haben. Mehr verwunderte ihn nur noch der kleine Junge, den sie im Arm hielt. Seine Haut war rosig, wie die der Menschen, doch seine Ohren spitz und markant lang, wie die der Dunkelelfen. So etwas hatte er noch nie gesehen. „Erkennt jemand von euch den Ring?“ fragte Miraaj in die Runde. „Ich glaube, Elmo trägt so einen“, antwortete Lester mit heiserer Stimme. „Reyne auch, wenn ich mich nicht irre.“ „Und ihr habt nur einen dieser Ringe gefunden?“ Miraaj blickte mit ernster Miene in die Augen des Jungen, der errötete. „Er hat wirklich nur den einen“, versicherte die Elfe ihrer Anführerin stellvertretend. Peter zog es zum ein weiteres Mal aus der unmittelbaren Nähe Evas, hin zu der kleinen Gruppe, die sich vor dem westlichen Eingang der Krypta versammelt hatte. „Das heißt, dass einer von beiden noch lebt“, folgerte der Junge optimistisch. Miraaj versank einen Augenblick lang in Gedanken. Sie war völlig losgelöst vom hier und jetzt und wirkte wie in Trance versetzt. Dann – nur Sekunden später – war alles wieder wie vorher. „Um wen es sich auch immer handelt, er – oder sie – befindet sich nicht mehr in unmittelbarer Nähe“, versicherte sie Peter. Niemand sonst schien sich in diesem Moment groß um das Schicksal der beiden Kameraden zu kümmern; keiner schien dazu in der Lage. „Ich danke dir, Tay. Du hast uns sehr geholfen.“ Miraaj strich dem Jungen über die Wangen, bei dem die Zärtlichkeiten der majestätischen Gestalt Gänsehaut hervorriefen. „Es ist wohl das Beste, wenn du unseren Abenteurer jetzt ins Bett bringst“, wies sie die Waldelfe an. „Auch du solltest dich ausruhen. Du hast heute schon so viel für uns getan.“ „Nichts im Vergleich zu dem, was mir jetzt noch bevorsteht“, scherzte das Mädchen. Sie wies dem jungen Tay den Weg aus der Krypta, der sich kaum vom Anblick der Magierin lösen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde erhaschte sie auch einen Blick auf ihre Artgenossen im Schatten eines steinernen Pfeilers in der südwestlichen Ecke des Raumes. Sichtlich erfreut, lächelte die hübsche Elfe dem Jungen zu, der sie so eindringlich musterte. Er war zu überrascht, um ihre liebevolle Geste zu erwidern. Viola beobachtete das seltsame Schauspiel sehr genau, da sich ihre Aufmerksamkeit auf alles andere als die verwundete Eva konzentrierte. Sie war längst nicht mehr Teil dieser Gruppe, wenngleich sie sich auch in der Vergangenheit jener niemals wirklich zugehörig fühlte. Nur wenige Stunden war es her, als auch ihre letzte Verbindung zu den Menschen in Minewood ein jähes Ende gefunden hatte, und noch immer konnte sie sich den Ablauf jener Vorgänge nicht erklären. Es war der Kriegerin ein Rätsel, warum nicht auch sie auf Seiten ihrer verhexten Freunde stand, als sich die Klingen kreuzten. Was war es, das sie von ihnen unterschied? Wieso blieb sie von der Magie Ballymenas verschont? ... ... ... ... ... ... San Francisco. Vier Jahre früher (Erd-Zeit) Der prägnante Rhythmus motivierender Instrumentalmusik versetzte die zahlreichen Körper im Dojo fast wie von Geisterhand in Bewegung. Den meisten gelang es dabei, durch gutes Taktgefühl und Sportlichkeit, die Synchronizität mit der gertenschlanken Frau auf dem Podest vor ihnen zu halten. Hinter der schwarzen Schönheit, der die Ertüchtigungen langsam aber sicher erste Schweißperlen auf die Stirn trieben, erstreckte sich die imposante Altstadt San Franciscos aus luftiger Höhe. Spiegel gab es im Dojo nicht, schließlich war dies kein Aerobic-Kurs, auf den diese etwas andere Aufwärmphase für fortgeschrittene Freizeit-Kampfsportler vielleicht vermuten ließ. Längst nicht alle der beanspruchten Körper sahen in hautenger Sportbekleidung so ansehnlich aus, wie jener der Trainerin, die ihren Schülern für diese Übung helfend die Front entgegnete, und doch war auf den ersten Blick festzustellen, dass diese bunte Ansammlung von Menschen zweifellos von der überdurchschnittlich fitten Sorte war. Zeitgleich mit der Musik ebbten auch die Anstrengungen der Sportler ab. Wie ihre Trainerin es ihnen vormachte, begannen auch ihre lernbegierigen Schüler, sich noch verbliebene Verspannungen aus den Gliedern zu schütteln. In diesem speziellen Kurs lag der Altersdurchschnitt der Teilnehmer nicht weit über der Zwanzigermarke, was auch die schöne Antreiberin Debrah Lillard genau in das Gesamtbild passen ließ. „Das lief doch besser, als erwartet“, zog Debrah ein erstes Fazit. „Vielleicht machen wir das fürs Aufwärmen in Zukunft öfter.“ Aus der Menge drangen keinerlei Widerworte an Debbies Ohr. Die blutjunge schwarze Frau war von Gottes Gnaden zweifelsohne mit einer unverschämt großen Portion Schönheit ausgestattet worden, hatte sich ihren gestählten Körper jedoch ganz allein selbst zu verdanken. Es war seit jüngster Kindheit ihr Traum gewesen, Schauspielerin zu werden. Je älter sie wurde, desto konkretere Formen nahm jene Wunschvorstellung an. Bald schon verliebte sie sich regelrecht in den Gedanken, einmal in einem echten Musical von Weltformat spielen zu dürfen. Als Debrah sich mit vierzehn Jahren das erste Mal ernsthaft damit zu beschäftigen begann, diesen Weg fortan wirklich zu verfolgen, musste sie schnell lernen, dass hinter all der Magie, welche die Künstler, die sie so sehr bewunderte, auf der Bühne versprühten, in erster Linie knochenharte Schinderei stand. Darüber hinaus war die Selektion, die Debbie in dieser Form nie zuvor kennengelernt hatte, absolut gnadenlos. Ging es darum, sich in die A-Liste der Darsteller zu arbeiten, war alles Talent kaum noch von Bedeutung. Es zählte nur noch das Können, die Ausdauer und nicht zuletzt das Aussehen; und Debbie biss sich durch ... Als sie in den Theatern der Großstadt San Francisco und der Bayarea schon fast zum Inventar gehörte und sich mit ihren zwanzig Jahren berechtigte Hoffnungen auf den Durchbruch machte, wurde sie von ihrem damaligen Freund geschwängert. Natürlich machte sich der Mistkerl aus dem Staub, und natürlich kam für die konservative Katholikin Debrah eine Abtreibung niemals in Frage; doch verfluchte sie die Situation zu keiner Zeit, da sie sich der Unterstützung ihrer Familie sicher und – gerade während dieser Zeit – vollends überzeugt von ihrer eigenen psychischen und psychologischen Standhaftigkeit war. Als die Schwangerschaft sie Monate lang von der Bühne fernhielt, beschloss Debbie, erneut auf die Zähne zu beißen und weiterhin erhobenen Hauptes die bevorzugt steile Straße des Lebens zu beschreiten. Nach nun mehr vier vergangenen Jahren war sie längst nicht mehr so häufig auf den Bühnen der Bayarea anzutreffen, wie im kleinen Jiu-Jitsu Dojo in der Fifth Street. Ihre Rollen waren auch längst nicht mehr vom selben Kaliber. „Wir wiederholen zunächst die Übungen der letzten Woche“, verkündete Debrah ihren Schülern. „Vorher aber möchte ich euer Gedächtnis auf Lückenlosigkeit prüfen, also ...“ Gerade, als Debbie ihren Schülern auf den Zahn fühlen wollte, wurde sie vom Geräusch der schweren Hallentür unterbrochen, die ins Schloss fiel. Eine etwas untersetzt wirkende, ebenfalls sportlich gekleidete, weiße Frau kam eilig auf sie zugelaufen. „Miss Lillard“, grüßte die ältere Frau formlos. „Anruf für sie.“ „Kann das nicht warten?“ fragte Debrah flüsternd nach. „Carla meinte, es sei dringend.“ „In Ordnung ...“ Debbie blickte sich mit wehmütigem Blick in der Runde um. „Übernehmen sie für den Moment?“ „Ja“, versicherte Debrahs Kollegin. „Mein Kurs beginnt in ein paar Minuten!“ „Ich werde mich beeilen.“ Im Eingangsbereich der Etage wartete die junge Dame am Empfang bereits auf die Ankunft der Trainerin. Sie wies mit dem rechten Zeigefinger zur Tür hinter dem Tresen. „Ich hab sie ins Büro durchgestellt.“ „Danke“, hauchte Debrah im Vorbeigehen. Sie hielt es nicht für nötig sich zu setzen, sah nur auf das blinkende Licht an der Feststation und dachte nach. Anschließend ergriff sie den Hörer und zögerte ein weiteres Mal, bevor sie den Knopf betätigte. Dann begann sie zu sprechen und nahm das Thema glatt vorweg. „Wie geht's den beiden?“ „Hallo, Debbie. Tut mir wirklich leid, das alles, aber Michael hatte wieder einen schweren Anfall, ich musste ihn ins Krankenhaus bringen“, drang es aus dem Hörer. „Der Arzt sagt aber, er wird schnell wieder auf die Beine kommen“, fügte Debrahs Mutter nervös hinzu. „Bist du gerade im Krankenhaus?“ „Ja, natürlich. Marie habe ich auch mitgenommen. „Und das Problem ist?“ fragte Debrah kühl. Ihre Mutter hielt einige Sekunden lang inne. „Du weißt doch, dass ich heute abend wieder nach Forks fahren muss ...“ In der Tat hätte Debrah das wissen müssen, doch hatte sie diesen Gedanken in den letzten Wochen erfolgreich verdrängt. Die Vorstellung, nach gut einem Jahr bald wieder völlig auf sich allein angewiesen zu sein, war in ihrer Situation geradezu biblisch. „Ja ... ja richtig“, stammelte sie. „Ich kann vielleicht früher los, wenn ich zumindest meinen Kurs fertig bekomme.“ „Ich kann vielleicht noch eineinhalb Stunden bleiben, alles andere würde sehr knapp.“ „Das sollte reichen“, versicherte Debbie ihrer Mutter. „Danke ...“ „Tut mir leid, dass unser letzter Tag so ablaufen muss.“ „Schon okay, du kannst ja nichts dafür.“ Niemand konnte das, weder ihre Mutter, noch Debrah selbst, und schon gar nicht die Kinder, die es von allen Beteiligten am härtesten traf; und doch wuchsen in der Seele der jungen Frau mit jedem verstreichenden Tag Zweifel und Zorn. „Wir sehen uns dann da. Bye Ma“ „Bye mein Schatz. Ich liebe d...“ Sie würgte ihre Mutter nicht absichtlich ab – sie rechnete ganz einfach nicht mehr mit etwas Schönem, wie einem Ich-Liebe-Dich. „Geht es den Kindern nicht gut, Debbie?“ fragte Carla, als sich ihre Kollegin wieder auf den Weg in die Sporthalle machte. „Es geht ihnen nie gut“, erwiderte sie, ohne sich dabei umzuschauen. „Heute eben noch schlechter.“ Als sie die Doppeltür zur Halle aufstemmte, setzte sie das netteste Lächeln auf, zu dem sie sich in diesem Moment noch abringen konnte. Für die nächste Stunde würde sie vor allem damit zu kämpfen haben, den Gedanken an ihren kranken Sohn zu verdrängen. In den letzten vier Jahren hatte es selten Tage gegeben, an denen es anders war, und obwohl Debbie wusste, dass es unangebracht, dass es falsch war, hasste sie es mehr und mehr – ihr neues Leben. ... ... ... ... ... ... Viola hatte sich leisen Schrittes von der Gruppe entfernt. Sie wusste, dass sich ihre Leute nicht sonderlich an ihrer Abwesenheit stören, einige diese sogar begrüßen würden. Es zog sie in die Nähe der Quartiere der Wächter, deren Beweggründe ihr noch immer Rätsel aufgaben. Vor allem aber verwunderte sie die Zusammensetzung jener seltsamen Gemeinschaft. Da waren zum Einen die Dunkelelfen, wie Miraaj oder der ganz besonders freundliche Prior, mit dem selbst Viola nur ungern hätte aneinandergeraten wollen, zum anderen gab es unter ihnen aber auch Kinder, die keineswegs in die feindliche Umgebung dieser Stadt und ihrer Gewölbe passten. Viola mochte nicht recht daran glauben, dass die Anführer der Wächter sie den Gefahren an der Oberfläche Ballymenas aussetzen würden, und doch war ihr Misstrauen groß genug, sie genau für jene Verantwortungslosigkeit zu verabscheuen. Plötzlich öffnete die Elfe von vorher eine hölzerne Tür nur einige Meter von Viola entfernt. Sie konnte nicht sehen, was im Inneren des Raumes vor sich ging, meinte sich jedoch erinnern zu können, dass das Mädchen damit beauftragt war, ihren jungen Begleiter für die Nacht vorzubereiten. Wieder verzog die Kriegerin zornig das Gesicht, da die Räumlichkeiten hier unten mehr wie Verschläge im Fels anmuteten, die sich nahtlos in die schwarzblauen Gesteinswände einzufügen schienen, denn wie Refugien für die Jüngsten. Auch schimmerte das klamme Lichtlein einer einzigen Fackel viel zu schwach für ihren Geschmack. Eine kinderfeindlichere Umgebung, konnte es kaum geben. Viola bemerkte erst spät, dass die Elfe längst auf sie aufmerksam geworden war. „Kann ich dir helfen?“ Dir ... Sicherlich hat sich das Antlitz der schwarzen Menschenfrau über die Jahre prächtig gehalten, sie in eine Altersspanne zu schätzen, die einen solchen Ton rechtfertigte, war wiederum des Guten zu viel. „Ich weiß nicht, Kleines“, antwortete Viola in herablassendem Tonfall. „Kannst du dir denn überhaupt selbst helfen?“ Ihre Andeutung war unmissverständlich, wenn auch nicht wirklich ernst gemeint. „Sagen wir so: Ich bin guter Dinge“, konterte die Elfe, ohne dabei ihr Lächeln zu verlieren. „Außerdem bin ich im Notfall immer einen Tick schneller unterwegs, als die meisten anderen“, ging sie ohne Zweifel auf ihre Abstammung und die damit einhergehenden körperlichen Vorteile ein. Viola stellte ihr heißblütiges Gemüt für den Moment zurück, nicht zuletzt, weil ihr das mutige Auftreten der kleinen Gestalt zu imponieren begann. „Wie ist dein Name, Mädchen?“ „Wie lautet denn deiner?“ entgegnete die Elfe keck. „Mmh ...“ Viola konnte ein Grinsen kaum zurückhalten. „Du bist ja ganz schön vorlaut, Kindchen. Mein Name ist Viola.“ „Schön dich kennen zu lernen, Viola. Ich bin Herz.“ „Herz?“ fragte die bedeutend ältere Frau ob des unüblichen Namens nach. „Wie passend.“ „Vielen Dank! Das sagen alle“, versicherte Herz ihrer neuen Bekanntschaft, die ihre Augenbrauen ungläubig verzog. „Was führt dich also hier her? So weit weg von deinen Freunden?“ Während sie sich an der kargen Umgebung des engen Korridors satt sah, ging Viola einige Schritte auf die Elfe zu – neugierig, mehr über diesen Ort zu erfahren. „Sie sind nicht meine Freunde“, entfuhr es ihr, als ob es die normalste Aussage der Welt wäre. „Es sind nur die Art Zweibeiner, die dich als Menschen hier in Minewood nicht sofort einsperren und foltern.“ „Oha ... Klingt, als könntest du sie nicht sonderlich leiden.“ „Ich hasse Eva“, versicherte Viola Herz mit Nachdruck. „Die anderen sind mir egal. Nur sind ihre Freunde bestimmt nicht meine.“ „Aha!“ jauchzte Herz. „Was ist?“ „Du sagtest, dass sie dir egal wären“, rezitierte das junge Mädchen völlig richtig. „Und?“ „Du sagtest nicht, sie wären deine Feinde.“ Auch das stimmte. „Ich denke, tief im Innern kannst du sie also doch leiden.“ Tatsächlich sorgte sich Herz, wie gefühllos die dunkelhäutige Frau mit ihren Gefährten ins Gericht ging. „Das ist ...“ Viola knirschte mit den Zähnen und malte mit dem Zeigefinger Spiralen auf ihre Stirn, um ihre strapazierten Nerven zu beruhigen. „Du bist ein ziemlich merkwürdiges Exemplar!“ Herz blickte verzückt drein. „Also das höre ich zum ersten Mal!“ ___________________________________________________________ Den jungen Franzosen in seinem Zustand dazu zu bringen, sich von seiner verletzten Kameradin loszueisen und sie vorerst ihrem Schicksal zu überlassen, war Neil nicht leicht gefallen, doch letzten Endes suchte er das Gespräch mit Peter sogar dringender, als der Junge selbst. Mit dem Versprechen ihm ehrliche Antwort auf all seine Fragen zu gewähren, hatte ihn der alte Mann nicht überzeugen können; Miraaj' großzügiges, wie überraschendes Angebot die beiden zu begleiten, wollte Peter dann aber nicht ausschlagen. Ob er überhaupt in der Lage dazu gewesen wäre, blieb somit offen. „Du kümmerst dich aufopferungsvoll um deine Freundin“, bemerkte Miraaj, während die drei sich ihren Weg durch die dunklen Korridore bahnten, die stets nur durch genau die Wandfackeln erleuchtet wurden, die das Trio passierte. „Sie kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.“ „Sie ist nicht meine Freundin“, wiegelte Peter verlegen ab. „Nicht so, wie sie denken.“ „Was denke ich denn?“ entgegnete Miraaj. Das Lächeln auf ihren Lippen nahm der Junge dabei nicht wahr, da er es nicht recht zustande brachte, der Frau in die Augen zu schauen. Neils plötzliche Hochstimmung hingegen bemerkte er. „Vergesst es einfach“, murmelte Peter. „Ich kann mir jedenfalls nichts Freudiges abringen, während sie im Sterben liegt! So gut kenne ich sie.“ „Sei dir sicher, mein Junge“, begann Neil sich behutsam auf ihn einzulassen, wohl wissend, dass der Zorn, den Peter ihm gegenüber empfand, mehr als gerechtfertigt war, „niemand nimmt ihren Zustand auf die leichte Schulter. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Eva zu helfen. Im Moment jedoch ist sie in den Händen Priors am besten aufgehoben, glaube mir.“ Auf dem Fuße zu wenden, kam für Peter sowieso nicht Frage, da er sich über seine eigene Hilflosigkeit sehr wohl im Klaren war. An ihrer Seite zu bangen, war vielleicht edelmütiger, als seinen eigenen Belangen nachzugehen, doch keineswegs nützlicher, dachte er. Doch was gab Eva schon um seine Nähe? Sie kannte ihn doch kaum ... „Ist dieser Kleiderschrank etwa Arzt?“ „Heiler, ja“, erklärte Miraaj, ohne den Jungen wegen seiner Wortwahl zurechtzuweisen. „Doch hat er den Quacksalbern deiner Welt einiges voraus!“ munterte Neil den Jungen zusätzlich auf. Prior kann auf die Heilkräfte magischer Pflanzen zurückgreifen – Überbleibsel der Überschwemmung der Stadt.“ „Überschwemmung?“ „Eine Flut, bestehend aus den mächtigsten Verwünschungen und Flüchen, die am Tage des Untergangs Ballymenas die Stadt geradezu verschlang. Eine lange, traurige Geschichte“, seufzte der kleine Mann. Peter bemerkte, dass nicht weit von ihm das Licht einer Öllampe den Gang erhellte. Er erkannte die Schemen eines Mannes – die eines Dunkelelfs, wie er nur wenige Sekunden später realisierte. Er hielt einen Speer in der linken Hand, den er auf dem Steinboden ruhen ließ. Miraaj erhöhte kurz ihr Schrittempo und begrüßte ihren Artgenossen mit einem angedeuteten Knicks, den dieser mit einer tieferen Verbeugung erwiderte. „Ich danke dir, Nuga. Für heute warst du lange genug auf den Beinen“, sprach die Magierin lächelnd. „Solltest du doch noch Hilfe benötigen, zögere nicht, mich zu rufen“, bot ihr der, in braunes und schwarzes Leder gehüllte Mann, dessen langes, schwarzes Haar sein Gesicht rahmte, an. „Du stehst ganz oben auf meiner Liste“, versicherte Miraaj ihrem Beschützer, bevor jener zügig von dannen schritt. Dann neigte die Dunkelelfe, die Peter noch um eine Fingerspitze überragte, ihren Kopf in dessen Richtung und flüsterte ihm ins Ohr. „Er ist auch der einzige, dem ich das zumuten würde.“ Peter war noch immer viel zu beeindruckt von der mystischen Gestalt zu seiner Rechten, als dass er sich über ihre Späße hätte amüsieren können. Auch verwunderte ihn, dass der Elf sie zuvor geduzt hatte. Scheinbar gab es hier unten keinerlei Ränge oder Stände, nach denen eine Etikette verfasst worden war. Miraaj explizit als Anführerin zu markieren, war bei ihrer faszinierenden Erscheinung allerdings auch nicht wirklich nötig. „Da wären wir“, bemerkte Miraaj und öffnete die Tür mit einem kupfernen Schlüssel. „Warum braucht ihr hier unten eigentlich Wachen?“ „Huh?“ Miraaj hatte die Tür schon einen Spalt weit geöffnet, als sich mit der Scharfsinnigkeit des Neuankömmlings konfrontiert sah. „Manchmal tollen die Kinder hier in der Nähe herum. Schleichen sich des Nachts aus ihren Zimmern – du verstehst!?“ „Ja, schon“, versicherte Peter. „Aber wieso ist das ein Problem? Könntest du die Tür nicht mit ... einem Zauber verschließen?“ Neil umfasste den Unterarm des Jungen, der ihm sofort seine Aufmerksamkeit schenkte. Müßig schüttelte der Zwerg den Kopf. „Diesen Raum nicht“, erklärte Miraaj dem unwissenden Jungen. Ihr Blick schien sich im Nichts zu verlieren. „Diesen nicht ...“ ___________________________________________________________ Die kleine Elfe, die Viola mit ihrer frechen Art so zu imponieren wusste, hatte sich von ihrer neuen Bekanntschaft nicht loseisen können. Sie war mindestens ebenso neugierig, wie redselig, was ganz und gar nicht der Natur ihrer Begleiterin entsprach. Viola wurde den Eindruck nicht los, für Herz ein lebendiges Kompendium an Wissen zu verkörpern, das sich der Waldelfe entzog, die scheinbar den Großteil ihres Lebens von der Außenwelt abgeschnitten verbracht hatte. Ihr eigenes Interesse galt im Augenblick vor allem der märchenhaften Szenerie, die sich ihr just vor wenigen Minuten offenbart hatte. Aus den verwinkelten, kalten Gewölben waren Herz und Viola, die die Überraschung völlig unvorbereitet traf, in eine grüne Oase geschritten, die sich in alle Himmelsrichtungen noch weit bis ins Innere der Erde erstreckte. Es war eine gigantische Grotte, deren Großteil von kristallklarem Wasser angefüllt war, von dem sich zahlreiche Pflanzenarten nährten und das Kleinod der Natur in sattgrüne Farben hüllten. Der Sternenhimmel, der durch zahlreiche Klüfte im Innern der Höhle zu erkennen war, spiegelte sich im Grundwasser, das seinen Ursprung in einem Flussarm an der Oberfläche nahm und sich, in Form eines Wasserfalls, über viele Gumpen im Gestein gleitend, seinen Weg ins Innere der Grotte bahnte. Das lautstarke Tosen rührte jedoch von einem weitaus imposanteren Gefälle her, das für Viola zwar nicht sichtbar war, sie sich jedoch bildhaft hatte vorstellen können. Es war ihr schwer gefallen, ob jener absoluten Schönheit die Fassung zu bewahren. Dass Viola etwas so Vollkommenes zu Gesicht bekommen hatte, war lange her. Ihr Verstand skandierte jedoch berechtigte Zweifel, ob jene Art von Perfektion allein der Natur entsprungen sein konnte. Auf gewisse Weise, so kam ihr in den Sinn, mangelte es diesem Ort an Mahnungen des Realismus. Phantasmen wie diese konnten doch nur dem Geiste eines Wesens entstammen, das sich in ähnlichem Maße an ihnen labte, wie Viola es tat. „Warum hast du mich an diesen Ort gebracht?“ fragte sie die Elfe, die in ihrem schwarzen, luftigen Gewand artfremd an jenem Ort wirkte. „Ich weiß nicht ...“ Herz überlegte angestrengt. „Hier gefällt es mir einfach!“ „Hat seinen Charme, muss ich gestehen.“ Viola tat es der Elfe gleich, die auf einer steinernen Sitzbank Platz nahm, die bei genauerer Betrachtung nur ein sehr schlichtes Provisorium einer solchen war. „Ich habe in der Kapelle antike Möbel gesehen, und Stoffe, für die man mancher Orts ein Vermögen verlangen könnte – es wäre doch wohl nicht zuviel verlangt, einiges davon hier her ...“ „Das würde aber das Gesamtbild ruinieren, findest du nicht?“ unterbrach Herz Viola, die sich erneut auf die Zunge beißen musste, um das junge Ding nicht in die Schranken zu weisen. „Wie wahr“, flüsterte sie. „Und was ist das nun für ein Ort? Eure spirituelle Inspiration?“ Herz kicherte und antwortete: „So habe ich es noch nie betrachtet!“ Sie nahm ihr Barett vom Kopf und enthüllte ihren wilden, pinken Schopf. „Es ist ein Refugium für all jene, die sich verloren fühlen“, erklärte sie. „Davon gibt es hier unten eine ganze Menge.“ „Verstehe.“ Viola musterte die Waldelfe jetzt ganz genau. Ihr typisch elf'sches Gesicht, mitsamt der großen, funkelnden Augen und der blassen Haut; ihr extravagantes Haar, dessen merkwürdigstes Attribut – die auffällige Farbe – ohne Zweifel natürlich war, und auch ihre schwach schimmernden Flügel, die unter dem samtenen, durchsichtigen Stoff ihrer Bluse, die sie über der pechschwarzen Brassière trug, hindurch schimmerten. „Bist du denn oft hier?“ Es dauerte, bis Viola ihre Antwort erhielt. „Ab und zu. Sagen wir: öfter, als die meisten. Aber aus anderen Gründen“, floh sich Herz in Allgemeinplätze. „Die da wären?“ In diesem Moment sah Viola den kleinen Engel auf ihrer Schulter voller Unverständnis die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, bevor er lichterloh in Flammen aufging. „Ich ...“ Herz zögerte. Zum ersten Mal an diesem Abend schien sie verunsichert. „Weißt du, ich wünsche mir Dinge, die so klein, so unbedeutend sind – verglichen mit den Hoffnungen und Träumen der anderen.“ „Meinst du das ernst?“ fragte Viola unverblümt, dabei Gefahr laufend, die kleine Elfe wirklich zu verletzen. „Es ist nun mal einfach die Wahrheit!“ schnaubte diese, das Gesicht vom ersten Anflug von Zorn verzerrt. „Sie tragen ihr Leid und ihren Kummer hier her – echtes Leid und echten Kummer. Ich hingegen weiß nichts über den Großteil meines Lebens. Miraaj und die anderen haben mich vor Jahren hier aufgelesen – schwer verletzt. Ich kann mich an nichts erinnern, was vor diesem Tag war.“ „Das ist ...“ Viola stoppte mitten im Satz und formte ihn um. Ihre Worte sollten diesmal mehr ihren wirklichen Gedanken entsprechen. „Wenn du mich fragst, ist das keineswegs ein leichtes Schicksal – nicht im Geringsten. Du musst du dich für deine Sorgen nicht entschuldigen und schon gar nicht schämen.“ Herz begann wieder zu lächeln. Ihre Verlegenheit war nicht zu übersehen. „Ich danke dir ...“ Das Gespräch der beiden wurde vom Widerhall leiser Schritte unterbrochen, die von Mal zu Mal deutlicher wurden. Sie kamen aus dem Korridor zur Rechten der beiden, den zuvor auch sie durchquert hatten. Aus dem Schatten des Tunnels schritt ein junges, brünettes Mädchen in einem simplen Abendkleid, dessen tiefschwarze Färbung Rückschlüsse auf die tatsächliche Eigentümerin zuließ. Ihr langes Haar fiel bis weit unter ihre Schultern und verdeckte den Großteil ihres Gesichts, trotzdem war sich Viola sicher, dass sie ein Mensch war. Das Mädchen bemerkte die beiden Frauen nicht, die nur wenige Meter abseits von ihr saßen, während sie zielstrebig zur sprudelnden Quelle schritt und schließlich im seichten Wasser niederkniete. „Wer ist ...“ „Shh!“ fiel Herz der älteren Frau erneut ins Wort, diesmal jedoch mit einem Hintergedanken. Flüsternd fuhr sie fort: „Wir sollten jetzt besser gehen.“ „Warum?“ wollte Viola wissen. Sie passte sich der Lautstärke der Elfe an. „Sie kommt jede Nacht hier her“, erklärte Herz. „Seit sie vor einigen Tagen hier angekommen ist, hat sie so gut wie nie geschlafen. Am ersten Tag bin ich ihr bis an diesen Ort gefolgt. Wer weiß, wo sie gelandet wäre, wenn sie nicht hier hergefunden hätte ...“ „Wer ist sie?“ „Das weiß keiner“, flüsterte die Waldelfe. Ihre eigene Neugier schwang dabei unüberhörbar in der gedämpften Stimme mit. „Sie redet mit niemandem, nicht mal mit Miraaj! Den Tag verbringt sie stets allein in ihrem Zimmer. Wir respektieren ihren Wunsch, allein zu sein, auch wenn wir schon zu ihr könnten. Es gibt hier unten nämlich keine Schlösser an den Türen – als Zeichen des Vertrauens. Niemand soll vor den anderen Geheimnisse haben ... doch natürlich gibt es die trotz allem. Die beiden beobachteten das junge Mädchen. Sie begann sich mit dem Quellwasser das Gesicht zu waschen. Ihre Hände zitterten dabei so sehr, dass Viola und Herz ihre Zweifel hatten, ob ihre Reaktion einzig und allein von dem kühlen Nass her rührte. Herz beschlich großes Unbehagen. „Das hier geht uns rein gar nichts an, wir sollten besser gehen!“ „Wartet!“ Zu ihrer Überraschung mischte sich ein weiterer unerwarteter Besucher in das Gespräch ein. Es war Aarve, der sich auf leisen Sohlen unbemerkt ins Innere der Grotte geschlichen hatte. „Was machst du denn hier?“ fragte Viola. „Ich bin ihr gefolgt“, antwortete der Blondschopf. „Ich kenne sie. Sie kam mit unserem Helden nach Vyers.“ Verwundert wendeten sich Viola und Herz wieder dem Mädchen zu. Der Menschenfrau fiel es schwer zu glauben, dass eine so zierliche und zerbrechlich wirkende Gestalt es in der Festung auch nur einen Tag hätte aushalten können. Alles Mitgefühl, das sie ihr gegenüber verspürte, verwandelte sich auf einen Schlag in tiefes Mitleid. ___________________________________________________________ Im Zimmer der Dunkelelfe Miraaj herrschte eine ganz besondere Atmosphäre. Zu jener späten Stunde erleuchteten den kleinen Raum nur wenige Kerzen, die auf einem mehrstufigen Regal an der Nordwand des Zimmers standen. Natürlich machte es hier unter der Erde keinerlei Unterschied, ob an der Oberfläche die Sonne schien, oder nicht, und doch fragte sich Peter, ob seine Gastgeberin die Dunkelheit nicht vielleicht sogar bevorzugte. Ihr Raum wirkte ganz wie ein Rückzugsort auf den Jungen – so spärlich und gemütlich eingerichtet war er. Erwartet, hatte Peter eine Art Büro, eine Schaltzentrale, von der aus sie die Geschicke ihrer Mannen leiten konnte. Ferner der Realität hätten seine Vermutungen letztlich nicht sein können. Neil bat ihm den Platz auf dem Bett an, den der junge Franzose von sich aus nie im Leben in Anspruch genommen hätte. Miraaj lächelte ihm jedoch ermutigend zu, als sie seinen verunsicherten Blick wahrnahm. Ihm genügte das schlussendlich als Bestätigung. Der Geruch des heißen Wachses mischte sich mit den stärkeren Aromen der frischen Wäsche und des vielen Holzes. Peter fühlte sich, ob jener ihm wohl bekannten Düfte, beinahe heimisch. Es war ein Hauch des ihm völlig unbekannten Odors der hochaufgeschossenen Frau, das ihn faszinierte und mit jedem Atemzug wieder vor Augen führte, wo er sich tatsächlich befand. Während seiner kurzen Zeit in Minewood hatte Peter schon mit einigen grundverschiedenen Exemplaren der Dunkelelfen zu tun gehabt, sodass es ihn selbst am meisten wunderte, wie sehr er von der Aura Miraaj' in ihren Bann gezogen wurde. Die Eindrücke, die er in ihrem privaten Zimmer sammelte, verstärkten dieses Gefühl nur noch. Es gab hier nichts außergewöhnliches zu bestaunen: keine Waffen, keine Skulpturen oder Anzeichen merkwürdiger Botanik – einzig eine Kletterpflanze rankte sich gegenüber Peter am tiefblauen Fels entlang und verlor sich hinter einem prall gefüllten Bücherregal. Zudem konnte Peter keine Tränke oder sonstige typische Anzeichen praktizierter Magie ausmachen, wenn er sich auch ehrlicherweise eingestehen musste, von diesem Thema nicht die leiseste Ahnung zu haben. In der Tat wirkte die eigenwillige Ordnung in dem Zimmer eher kindlich, als erwachsen, fast schon nostalgisch in seiner Gänze. Peter gefiel das – sehr sogar. „Ich habe diesen Raum vor vielen Jahren verwünscht“, begann Miraaj zu erzählen. Sie stand mit dem Rücken zu ihren Gästen, die linke Hand auf einem massiven Schreibtisch aus dunklem Eichenholz abgestützt,. „Mein Ziel war es, einen Ort zu schaffen, an dem meine Fähigkeiten keinerlei Bedeutung hatten; an dem ich nicht anders war, als die anderen, und sie mir somit ebenbürtig.“ Peter war überrascht, das zu hören. Zumal diese Äußerung den Anschein erweckte, sie würde sich anderen überlegen fühlen. Er war gespannt, die Geschichte zu Ende zu hören. „Damals war das Misstrauen zwischen mir und meinen Freunden noch sehr groß, und das nicht mal zu unrecht.“ Ihr Blick war noch immer auf den Tisch gerichtet. Was genau sich die Dunkelelfe ansah, konnte Peter nicht erkennen. „Ich kannte ihre Sorgen und Ängste, da ich selbst so verängstigt war, mich ihrer Gedanken zu bedienen“, erzählte sie. „Auch wenn das nie ausgesprochen wurde, so war es doch ein offenes Geheimnis. Also verhexte ich dieses Zimmer mit einem unwiderruflichen Zauber – einem Fluch, genauer gesagt –, der es mir für die Ewigkeit unmöglich machen sollte, im Innern dieser vier Wände Magie zu beschwören, ganz egal, wie trivial.“ Dadurch erklärte sich Peter auch die Geschichte mit dem Türschloss. Obwohl er nicht danach gefragt hatte, war er dankbar für diesen Exkurs in die Vergangenheit der geheimnisvollen Frau. Es half ihm, sich ihr etwas näher zu fühlen und ihm die Angst vor der eigenen Ehrlichkeit zu nehmen. „Und ausgerechnet diesen Ort habt ihr für euch ausgewählt!?“ folgerte der Junge ungläubig. „Ich habe dich heute schon mehrmals per Du adressiert, Peter. Wenn du mich noch länger siezt, muss ich wohl meine Umgangsformen überdenken“, führte Miraaj beiläufig an. Am Ende strahlte den Jungen ein weiteres Mal das traurig-schöne Lächeln der blassen Schönheit an. „Mich soll der Blitz treffen, wenn mir das nochmal passiert!“ witzelte der Franzose. Miraaj nickte zufrieden. „Was deine Frage angeht: Ja, habe ich! In diesen vier Wänden habe ich nach und nach das Vertrauen der Frauen und Männer gewonnen, die ich heute stolz meine Freunde nennen darf. Hier begannen sie, mir gegenüber offen zu sein, da sie keine Angst mehr vor dem hatten, was mir selbst sogar noch mehr Angst machte ...“ Erneut senkte die Dunkelelfe den Blick. „Mittlerweile bin ich wirklich gern hier, wenn auch zumeist allein.“ „Ich will nicht unhöflich sein, aber wir sollten uns dem eigentlichen Thema widmen“, unterbrach der dritte im Bunde das Gespräch jäh. Miraaj nickte nur verlegen. Es war Peter, der sich in seinem Dialog mit der Dunkelelfe gestört sah. „Und welches Thema schwebt dir vor?“ konterte der Junge zornig. „Warum du mich entführt hast? Warum du mich, und die unzähligen anderen, die du auf die Insel gebracht hast, beii diesen Menschenhassern unserem Schicksal überlassen hasst? Oder wie du dich aus dem Staub gemacht hast und urplötzlich aus dem Nichts wieder aufgetaucht bist?“ Peters Wut verselbstständigte sich mit jedem Wort. „Wie du es fertiggebracht hast, gerade spät genug auf der Bildfläche zu erscheinen, Eva und den anderen nicht mehr helfen zu können?“ Neil schwieg. Wie hätte er auch reagieren sollen? „Dem Mädchen wird geholfen, und das weißt du auch“, wehrte Miraaj den letzten seiner Vorwürfe ab, ohne dabei jedoch in Selbstherrlichkeit zu verfallen. „Die Leute, die ihr das angetan haben, waren längst verloren, als die Stadt sie rief, so leid es mir auch tut, das zu sagen.“ Aus ihrem Munde klangen diese Worte glaubhaft und ehrlich gemeint. In der Stimme der Magierin vermutete der Franzose nicht Lug und Betrug, was, so wurde ihm schnell klar, wohl der Hauptgrund für ihre Anwesenheit war – das und die Angst des Zwerges, von dem temperamentvollen Jungen aufgefressen zu werden. „Schon gut“, besänftigte Peter vor allem das eigene Gemüt. „Ist ja schließlich Vergangenheit, nicht wahr?“ Er erwartete keine Antwort auf seine kleine Rhetorik. „Trotzdem will ich wissen, wieso ich hier bin – wieso irgendein Mensch hier ist, denn Minewood scheint nicht wirklich ein erstrebenswerter Rückzugsort für meine Spezies zu sein.“ „Und du hast ein Recht darauf, es zu erfahren“, gluckste Neil, dem die Neugier Peters merklich gefiel. Er hatte es noch nicht aufgegeben, sich mit ihm wieder auf einen grünen Zweig zu begeben. „Minewood ist eine Welt fern der Sphären deiner Erde, Peter. Wie auch dein Planet hat sich dieser über Äonen hinweg zu dem entwickelt, was du heute siehst. Die Menschen nehmen in jener langen Geschichte einen geradezu lächerlich winzigen Abschnitt ein – umso größer jedoch sind die Folgen eures Erscheinens. Und glaube mir, ich bin dafür keineswegs verantwortlich.“ Peter wurde hellhörig. Er wollte mehr erfahren. „Es war ein Portal – eine Maschine, die dich und all die anderen hier hergebracht hat. Und diese magische Maschine ist letzten Endes auch der Schlüssel zum größeren Ganzen. „Vor über hundert Jahren wurde sie auf dem nördlichen Kontinent von der dort herrschenden Spezies – den Minari – entdeckt und lange Zeit erfolglos erforscht. Auch wenn sie die Technologie hinter dem mysteriösen Gerät zu verstehen imstande waren, entzog sich ihnen doch ihr wahres Wesen. Schließlich wandte sich das Königshaus höchstpersönlich an die Dunkelelfen in Adessa – eine kleine Sensation, bedachte man die Historie der beiden Völker.“ Neil bemerkte, wie er in die Politik abzuschweifen begann. „Schlussendlich sandte Ballymena einige der begabtesten Hohepriesterinnen aus, den Minari in Panafiel bei ihrem Problem unter die Arme zu greifen. Das Resultat war eine Katastrophe.“ „Was ist denn passiert?“ drängte Peter auf rasche Antwort. „Die Minari hatten die Antwort in der Magie der Dunkelelfen vermutet, weil sie mit ihrem eigenen Latein längst am Ende gewesen waren, und das Portal allein physikalisch scheinbar nicht zu ergründen war. „Tatsache ist, dass weder die eine, noch die andere Spezies zu jenem Zeitpunkt wusste, womit sie es überhaupt zu tun hatte“, erzählte Neil mit großer Begeisterung. „Ja: Den Hohepriesterinnen gelang es dann tatsächlich, das Portal zu öffnen, doch vermochten sie nicht, es jemals wieder zu schließen, geschweige denn es gezielt zu bedienen. Als es seine eigene Magie entfaltete, wussten sie nicht einmal etwas damit anzufangen, da es scheinbar keinerlei sichtbare Folgen nach sich zog. Erst lange nachdem die Dunkelelfen Panafiel wieder verlassen hatten, bemerkten die Minari, was sie angerichtet hatten. „Eines Tages machten Kundschafter unweit der Grenzen ihres Königreichs eine Karawane von Pilgern aus: Es waren Menschen, die ihrerseits genau so überrascht und verwirrt waren, wie die Minari selbst. Sie wurden wie Könige in Empfang genommen und teilten ihre faszinierenden Geschichten mit ihren neuen Gönnern. Das die geheimnisvolle Maschine mit ihrer Ankunft zu tun hatte, konnte und wollte bald niemand mehr ausschließen. „Die Menschen machten sich ihrerseits große Hoffnungen, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, während die Minari zunächst auch alles versuchten, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen – doch vergebens. Sie waren der Situation genauso machtlos erlegen, wie zuvor dem Geheimnis des Portals ...“ Peter versuchte, sich in Gedanken den ihm unbekannten Kontinent im Norden vorzustellen. Wie die Fremden an Stränden, in Dschungeln und gar in Eiswüsten erwachten, wie er selbst es einst im Wald auf der Insel Caims tat, überwältigt von den faszinierenden Eindrücken jener neuen Welt. Auch wenn die Reise ins Unbekannte für ihn selbst alles andere als gut verlaufen war, so war er zumindest froh, schnell Verbündete und sogar Freunde gefunden zu haben. Über Wochen, Monate oder gar Jahre in dieser fremden Welt auf sich allein gestellt zu sein, war eine beunruhigende Vorstellung. „Und sie beließen es einfach dabei?“ „Oh nein, keineswegs!“ wiegelte Neil ab. „Auch wenn beide Parteien einsehen mussten, dass das Schicksal der schon gestrandeten Menschen wohl besiegelt war, hofften die Minari, zumindest einen Weg finden zu können, das Portal wieder zu verschließen.“ „Warum haben sie es denn nicht einfach zerstört?“ fragte Peter „Was würde es nützen, Pandoras Büchse zu zerstören, wenn man sie erst geöffnet hat?“ versuchte der Zwerg dem Jungen das Dilemma metaphorisch näher zu bringen. „Niemand mochte es riskieren, verstehst du?“ „Schätze schon. Nur erklärt das noch lange nicht, wieso die Dunkelelfen auf Caims die Menschen versklaven.“ „So bitter das auch klingen mag, Peter, so ist auch dieses Mysterium doch schnell ergründet. Nachdem die Minari ihre Bemühungen ein für alle Mal einstellten, wurde den Menschen in Panafiel von Gesandten des Königreichs versichert, man wäre dem Problem Herr geworden und hätte das Portal für alle Zeit verschlossen. In Wahrheit aber schickte man eine Schar Siedler fern in den Süden – nach Caims. Dort erbauten die Minari eine Festung, in deren tiefsten Gewölben sie das Portal verstecken wollte – und dessen Kinder, die es in Zukunft nach Minewood ziehen würde, ebenso!“ Peter dachte über die Worte des listigen Mannes nach. Immer auf der Suche nach einem Widerspruch. Bis jetzt machte die Geschichte Neils zwar Sinn, wirklich glauben, mochte er ihm deshalb aber noch lange nicht. Einmal mehr erkannte Peter den wahren Grund für die Anwesenheit der Dunkelelfe. In Miraaj' lautloser Zustimmung sollte auch er Vertrauen finden. „Man erweiterte die Siedlung über die Jahre hinweg mit dem noblen Ziel, den verirrten Menschen einen Auffangpunkt zu bieten – das heißt: Denjenigen, die die Strapazen auf der Insel tatsächlich überstanden. Letztlich verließen die Minari Siedler Caims jedoch, noch bevor sie den ersten Kontakt mit den Neuankömmlingen hergestellt hatten.“ „Man hat sie also einfach sich selbst überlassen?“ hakte Peter empört nach. „Zunächst ja“, bestätigte Neil. „Man ging davon aus, dass es von der Insel kein Entkommen gab. Die rauhe Elfenbeinsee trennte sie von Adessa, und schier endlose Ozeane von Panafiel oder den weiter östlich gelegenen Regionen. Caims war jedoch groß und reich genug an Natur, dass die Menschen auf sich allein gestellt hätten überleben können. Niemand wollte ihnen Leid zufügen ... damals“ „Und so haben sich die Minari einfach aus der Affäre gezogen ...“ „Ja. In der Tat.“ Neils Worte entrangen dem Mann keinerlei Gefühle, während er sprach. Es war nicht seine Untat, und er betrachtete sich auch nicht als Mitschuldigen. „Das war vor ungefähr neunzig Jahren, wenn ich mich recht entsinne.“ Neunzig Jahre ... Peter erschlug der Gedanke beinahe, dass schon seit so langer Zeit Menschen in Minewood lebten. „Wäre es nur dabei geblieben“, seufzte der alte Mann. „Wie meinst du das?“ „Haben deine Freunde dir Geschichten über den Krieg erzählt, der vor fünfunddreißig Jahren in dieser Stadt wütete?“ wollte Neil wissen. „Lester redete darüber, ja. Er war völlig außer sich, fast so, als spräche er von einer Legende, einem Mythos.“ „Mit jedem Tag der verstreicht, wird der große Krieg das auch mehr und mehr“ erklärte Neil. „Nachdem die wenigen überlebenden Dunkelelfen sich aus der verfluchten Stadt gerettet hatten und in Regionen im sicheren Norden Adessas geflüchtet waren, standen sie vor dem Nichts. Der Großteil ihrer Art war ausgelöscht, ihr König war tot und die Zukunft ungewiss. Sie alle litten unter den Auswirkungen der Flüche, die die Hohepriesterinnen in ihrem Wahn über ihr eigenes Volk ausgesprochen hatten“, rezitierte der alte Mann weiter. „Die Pilgerschaft, die sich aus den Fängen des todgeweihten Landes hatte befreien können, wusste nichts über die Hintergründe der Katastrophe. Niemand konnte oder wollte diese hinterfragen, zu jener Zeit.“ „Und?“ Peter wurde ungeduldig, da er sich mehr und mehr an der Art Neils zu stören begann. Es schien, als wollte er die Dunkelelfen und die Minari, die ohne Zweifel verantwortlich für alles Leid der Menschen in Minewood waren, in Schutz nehmen. „Es sprach sich herum, dass die Hohepriesterinnen, die sich scheinbar gegen die Ihren verschworen hatten, einer alten Prophezeiung gefolgt waren, die sie letzten Endes gar zu ihren grausamen Taten motiviert haben soll.“ „Eine Prophezeiung?“ Ein bitteres Lächeln verriet Peters Ungläubigkeit. „Dafür all das?“ „Man mag es kaum glauben“, stimmte auch Neil mit ein. „Sie wurde von einigen der Frauen überliefert, die einst bis tief in den Norden Panafiels gereist waren und dort das Schicksal von euch Menschen so dramatisch beeinflussen sollten. In vielerlei Hinsicht war der Wahnsinn, den sie mit zurück nach Adessa brachten, das Erbe ihres Hochmutes.“ „Was besagte diese Prophezeiung denn?“ Den Franzosen drängte die Neugier. „Niemand weiß das genau. Sie ging mitsamt ihrer Urheber, die stets darauf bedacht waren, ihre Motive vor Außenstehenden zu verschleiern, im großen Krieg unter.“ Enttäuscht fiel Peter weiter in das weiche Bett seiner Gastgeberin zurück. „Die Hohepriesterinnen hatten schon Jahre vor der Katastrophe ihre Vorbereitungen getroffen, ohne dass jemals jemand davon erfuhr. Dunkle Rituale wurden durchgeführt, Beschwörungen praktiziert ... Tag für Tag, über einen so langen Zeitraum! Und niemand bemerkte es!“ Neil steigerte sich immer mehr in seine Erzählungen. Er hatte sich mittlerweile von Peter und Miraaj abgewendet und blickte missmutig in einen kahlen Winkel des Zimmers, der vom spärlichen Licht der Kerzen nicht erfasst wurde und in völliger Dunkelheit lag. „Eine ganze Spezies fiel dem Wahn ihrer eigenen Königin zum Opfer, wenngleich Athleas Volk nur ein scheinbar notwendiges Opfer auf dem Weg zur Erfüllung ihres eigentlichen Plans war. Ein Opfer, das sie ohne zu zögern bereit war, zu erbringen.“ „Aber die Menschen hatten offensichtlich damit zu tun, oder?“ „Offensichtlich“, bestätigte Neil. „Allerdings gehören diese Überzeugung so wie all jene, die sie mit ihren grauenhaften Methoden in die Tat umzusetzen versuchten, der Vergangenheit an. Mittlerweile geht es den Dunkelelfen darum, einen ganz besonderen Menschen zu finden und ihn zur Strecke zu bringen.“ Noch bevor Peter zur nächsten sich aufdrängenden Frage ausholen konnte, begann Neil ihm im Detail zu erklären, was es mit dem sogenannten Messias auf sich hatte. „Die Minari ergriffen die Gunst der Stunde und nahmen sich der verbliebenen Dunkelelfen an, als sie ihnen die Bedrohung offenbarten, die über Minewood schwebte. Sie gaben die Ankunft der Menschen als dunkles Omen für das Unheil aus, das über diese einst friedfertige Welt hereingebrochen war. Gardif schürte das Feuer indem er ein klares Feindbild suggerierte: Den Menschen ...“ „War das etwa alles allein seine Idee?“ „Womöglich gab er den Impuls, ja. So oder so – es spielt letzten Endes keine Rolle. Es war jedenfalls eine intelligente Entscheidung, die Menschen in Caims nicht einfach sich selbst zu überlassen. Früher oder später hätten sie womöglich ihren Weg von der Insel gefunden, und so entschieden sich die Minari schließlich doch dafür, kein unnötiges Risiko einzugehen. Gardif war derjenige, der sich allen voran freiwillig in die wüsten Landen der Insel zurückzuziehen gedachte, um dort als Anführer der Dunkelelfen eine neue Existenz zu errichten.“ „Die Minari verloren auf diese Art und Weise keinerlei weitere Ressourcen. Man behalf sich der Kraft einer Heerschar von hasserfüllten Elfen, denen die Unterjochung der Menschen auf Caims von großem Nutzen und zugleich eine persönliche Genugtuung war“, beendete Miraaj die Ausführungen Neils mit den ersten Worten, die sie seit längerer Zeit sprach. „Und an der Seite Gardifs, an der Spitze dieser neugeborenen, nach Blut dürstenden Rasse, thront seither die einzig verbliebene Hohepriesterin, die vom eigenen Volke wegen ihrer Abstammung wie eine Göttin verehrt wird.“ „Die Frau in dem Turm“, erinnerte sich Peter im Flüsterton. „Prana! Die Hexe, die schließlich Athlea niederstreckte und somit ihr Volk vor dem Untergang bewahrte ... Du hast sie getroffen, nicht wahr?“ wollte die Magierin nun in Erfahrung bringen, was sie ohnehin schon vermutete. „Ja“, antwortete der Junge ehrlich. „Und wenn ich das alles richtig verstanden habe, ist sie es doch, die euren Messias ausfindig machen soll!?“ „Und?“ Die Ausführungen Peters zwangen Neil ein schelmisches Grinsen auf die spröden Lippen. „Was soll ich groß sagen?“ reagierte Peter trotzig. „Ich landete in einer Zelle! Wie alle anderen auch.“ „Nun“, Miraaj wechselte einen flüchtigen Blick mit ihrem kleingewachsenen Gefolgsmann, bevor sie sich ganz Peter zuwandte. Innig blickte sie dem irritierten jungen Mann in die Augen, „wenn die Dunkelelfen in Caims diesen besonderen Menschen erst einmal gefunden haben, hält sie nichts mehr auf der Insel. In den fünfunddreißig Jahren der Suche wuchs Gardifs treu ergebenes Volk zu einer ernstzunehmenden Macht heran. Er hat eine schlagkräftige Armee um sich gescharrt – vielleicht stark genug, den Kampf gegen das Königshaus in Panafiel aufzunehmen und es zu stürzen. Mit dem Menschen, der das Schicksal Minewoods in seinen Händen hält, als Druckmittel wären seine Streitmächte ja womöglich sogar unaufhaltsam ...“ „Ich verstehe es immer noch nicht.“ Perplex starrte Peter der wundersamen Gestalt im grauen Gewand in die Augen. „Gardif verfolgt seine eigenen Pläne. Das tat er schon immer“, fügte Miraaj an. „Und niemand von uns würde ihm den einen, den auserwählten Menschen auf dem Silbertablett präsentieren, um ihm den Weg zur Alleinherrschaft zu ebnen.“ „Von euch? Wen meint ihr?“ Peter erwartete nicht weniger als einen Paukenschlag von Überraschung. Worauf zielte die mysteriöse Elfenfrau ab? Bevor Miraaj dem Jungen ihren größten Trumpf jedoch offenbarte, sah sie sich zum ersten Mal in dieser Nacht zu einem Lächeln bewegt. „Die Frau, auf der alle Hoffnungen Gardifs ruhen, ist unsere mächtigste Verbündete!“ So bewahrheitete sich dann schließlich auch, was Peter mit jedem weiteren Wort, das er vernahm, mehr zu dünken begann. Miraaj und Neil und weiß Gott wer noch hielten ihn – den jungen Jedermann aus Frankreich – für ihren Heilsbringer. Sie sahen tatsächlich ihn in der Rolle des Menschen, dessen Schicksal unmittelbar mit dem dieser ganzen merkwürdigen Welt verbunden war. Ausgerechnet ihn. Von allen Menschen ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)