Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Lang Lebe Der König ------------------- Kapitel 14 – Lang Lebe Der König Wie nie zuvor verriet der Magierin allein der bittere Geruch frischer Morgenluft, eingeatmet tief im Innern des kargen Steinkolosses, ihre eigene Transparenz. Es fühlte sich an, als wüsste jeder Hauch der kühlen Luft Bescheid, als würde jeder Windzug, wenn er pfeifend durch die kapellenartigen Gänge des höchsten Turmes wehte, Anklage gegen die wunderschöne Dunkelelfe erheben. Ein jeder Blick in die verwirrten, verängstigten, oder wütenden Augen eines ihrer Untertanen erschien ihr wie ein Dolchstoß bis tief ins Innerste. Dies alles gebar der Furcht Uriahs, der Furcht, durchschaut worden zu sein; der Furcht, ihren Platz verlieren zu können, ihre Stellung, ihre Zukunft. Im Moment der Bekanntgabe jener neuerlichen Zusammenkunft der Generäle begann die Vorstellungskraft der Hohepriesterin zum ersten Mal seit einer unendlich lang zurückliegend scheinenden Zeit, wieder kindliche Ausmaße anzunehmen. So durfte es nicht enden, das könnte sie ihr niemals antun! ... ... ... ... ... ... Ballymena, Rubina-Kathedrale. Fünfunddreißig Jahre früher (Minewood-Zeit) Das Mädchen war alt genug zu begreifen, was mit ihrer Mutter geschah; nicht jedoch alt genug, um zu verstehen, wieso sie sterben musste. Was in diesen schicksalhaften Momenten außerhalb der Tore der Kathedrale passierte, entzog sich dem Vorstellungsvermögen des zierlichen Wesens. Wahnsinn hatte die Stadt überfallen wie eine wilde Bestie und die Tollwut des Monsters breitete sich in Ballymena aus wie der schwarze Tod. „Versprich mir, mein Kind ...“, mit letzter Kraft wandte sich die Dunkelelfe, die in ein prächtiges Festkleid aus schneeweißem und weinrotem Samt gehüllt, und deren Körper über und über mit Schmuck behangen war, an ihre einzige Tochter, in deren Armen sie auf dem kalten Boden der Kirche Halt fand. „Beende, was wir angefangen haben! Prana ist unser Untergang. Lass niemals zu, dass dein Volk unterjocht wird, hörst du?“ „Mama ...“, schluchzte das bitterlich weinende Elfenmädchen. „Du musst es mir versprechen, Uriah!“, antwortete ihre Mutter fordernd. „Du wirst die Letzte sein, mein Kind. Die letzte mit der Gabe, die Welt zum Guten zu verändern. Einzig Prana ... du musst sie ... U-Uri...ah, d-du ...“ Ohne das Anliegen, das für die Frau in ihren letzten Zügen von größerer Bedeutung war, als alles andere, ihrer Tochter ein letztes Mal nahe bringen zu können, verließen sie ihre Kräfte und somit das letzte bisschen Leben in ihr, das bis zum tragischen Ende gegen das Unvermeidliche anzukämpfen versucht hatte. Königin Athlea starb in den armen ihrer Tochter, der Zukunft eines ganzen Volkes, das noch vor wenigen Stunden – Augenblicken, so schien es – auf dem Höhepunkt seines Schaffens gedieh. Innerhalb dieses Wimpernschlages jedoch schien sich alles Glück dieser Welt von jener stolzen und mächtigen Rasse abgewendet zu haben. Erst fielen sie vom Himmel, dann stürzten sie in den schier bodenlosen Abgrund des Wahnsinns. Vor den schweren Toren der Kathedrale fielen sie noch in diesen Minuten übereinander her. Freunde, Familien, Frauen, Kinder ... Wie und warum sie es auch immer angerichtet hatte – Uriah zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde an den Worten ihrer Mutter: Prana würde für diesen schrecklichen Gräuel bezahlen müssen! Eines Tages würde sie die Rache der Prinzessin treffen! ... ... ... ... ... ... Fünfunddreißig Jahre lang hatte sie gewartet und keine Angst vor weiteren fünfunddreißig. Uriah hatte sich stets geduldig gezeigt, vor allem, als das Heiland ihres geschundenen Volkes durch ihn herbeigeführt wurde. Der Gedanke an Blutrache schwand mit jedem Jahr, das Uriah an der Seite Gardifs verbrachte. Schon bald, so hatte sie sich von Jahr zu Jahr eingeredet, würde es die Hexe ganz von selbst dahinraffen; irgendwann würde sie nicht mehr mächtig genug sein, den Fluch, der auf ihr lag, den tiefsten Regionen ihrer Seele fernzuhalten und sich ihrem Schicksal beugen müssen, ohne, dass Uriah selbst jemals in den Verdacht geraten würde, mit dem Ende Pranas in irgendeiner Form zu tun zu haben. Nur lebte und atmete die schlafende Hexe noch immer. Womöglich hatte sie die Intentionen der prädestinierte Anführerin des Volkes der Dunkelelfen sogar durchschaut, was dem Ende aller Pläne Uriahs gleichkäme. Dieser Gedanke war es schließlich auch, der das Herz der Hohepriesterin unaufhörlich rasen ließ, als sie sich die letzten Stufen hinauf zu den Räumen des Lords begab. „Ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht.“ „Wie?“ Erschrocken neigte Uriah den Kopf in die Richtung des Mannes, der sich der gedankenverlorenen Magiern unbemerkt bis auf einige wenige Schritte genähert hatte. „Ortoroz!“ „Überrascht, mich zu sehen, Liebste?“, fragte der Krieger und fuhr einen zärtlichen Handkuss später fort. „Du wirkst nervös.“ „Bin ich nicht“, wiegelte die Dunkelelfe ab. „Wirklich nicht!“ „Ich wollte dich längst aufsuchen, nach dem Massaker in der Stadt, es tut mir ...“ „Schon in Ordnung. Ich habe keinen Kratzer abbekommen.“ Worauf die Prinzessin durchaus stolz war, „Das beruhigt mich.“ Fortan beschritt das Paar den Weg zum Thronsaal gemeinsam. „Man sagte mir, du hättest den Menschen letztendlich aufgehalten. War es so?“ „Ja. Es war notwendig.“ „Richtig! Und genau das ist auch das Problem!“, zeigte sich der Kommandant erzürnt. „Wovon sprichst du?“ „Es war ein Mann, Uriah, und meine Soldaten wurden nicht mit ihm fertig. Ein beängstigender Gedanke, nicht wahr?“, erklärte sich Ortoroz demütig. „Niemand war auf solch eine verzweifelte Tat vorbereitet.“ Uriah hätte ihrem Geliebten leicht erklären können, wieso es seine Männer nicht mit dem Fremden hatten aufnehmen können, doch war sie alles andere als erpicht darauf, jenes Geheimnis zu lüften. „Es konnte niemand damit rechnen.“ „Nimm sie nicht in Schutz, Uriah, das beleidigt mich!“ „Nur wenn du mir versprichst, deine Leute nach alledem nicht auch noch zu bestrafen.“ „Ich ...“ Ein inniger Blick in die zeitlosen Augen der Hohepriesterin genügte, um sich dem Verlangen der Schönheit bedenkenlos unterzuordnen. „Wir werden sehen“, hielt er sich eine Hintertür offen. Zusammen beschritten die beiden Generäle den verbliebenen Weg bis zu den Gemäuern ihres Herren, hoch oben an der Spitze des Turmes. Dort thronte der einzige Nicht-Elf über die Hundertschaften der Spezies, für deren Fortbestehen die aufopferungsvolle Hilfe des Minari einst von essentieller Bedeutung gewesen war. Seit jeher war Gardif eine Art ungekrönter König für die Dunkelelfen gewesen, die ihm bis zum heutigen Tage ohne Widerwillen folgten. Einzig Uriah beschlichen mehr und mehr Zweifel an der Aufrichtigkeit des alternden Retters. Seine Ambitionen – so behauptete er stets – galten allein dem Wiederaufbau der Zivilisation der Dunkelelfen und der damit verbundenen Rückerlangung ihrer Macht. Die Frage nach dem Warum hatten seine treu ergebenen Zöglinge, die in ihm eine lebende Legende sahen, niemals zu stellen gewagt. Vor den prunkvollen Toren angelangt, überkamen Uriah neuerliche Bedenken an der Integrität ihres Herren. Bedenken, die es abzustellen galt, wollte sie diesen Tag unbeschadet überstehen. Die bloße Anwesenheit Pranas wusste der weit jüngeren Hohepriesterin das Fürchten zu lehren. Nichts und Niemand auf der Welt vermochte Lady Uriah zu ängstigen, da einfach nichts existierte, das ihr ernsthaft gefährlich werden konnte. Nur die graue Hexe, die im Herzen Vyers – in Morpheus Armen – bis an ihr Ende zwischen Dies- und Jenseits wandelte, war eine Bedrohung für sie. „Es ist Zeit für gute Neuigkeiten“, witzelte Ortoroz mit grimmiger Miene, den Blick auf die imposante Freske an der Tür gerichtet. „Das wäre das erste Mal.“ ... ... ... ... ... ... Vyers. Sechsundzwanzig Jahre früher (Minewood-Zeit) Jeder Dunkelelf – ob Mann oder Frau – wusste, welch außergewöhnlicher Abstammung die beiden Mädchen waren. Im Angesicht der blutjungen Schönheiten spiegelten sich zugleich Hoffnung wie auch Verzweiflung wieder. Sie verkörperten die Zerbrechlichkeit einer gesamten Spezies und auch ihre gesamte Macht, ihr gesammeltes Potential. Uriah und Sindrel waren die letzten noch lebenden Hohepriesterinnen. Sprösslinge zweier legendärer Familien, die im großen Krieg Seite an Seite gegen den gemeinsamen Feind gekämpft hatten, der auch jetzt, fast zehn Jahre nachdem der letzte Tropfen Blut in Ballymena vergossen worden war, noch immer keine Identität hatte. Respektvoll war nicht der richtige Ausdruck, um zu beschreiben, wie die beiden jungen Damen in Reihen der Ihren behandelt wurden; vielmehr vergötterte sie das Fußvolk in Vyers, wann immer den weniger privilegierten Elfen die seltene Ehre zuteil wurde, einen Blick von den legendären jungen Frauen zu erhaschen. Besonders des gefallenen Königshaus' Nachkomme, Uriah, begegnete das Volk in diesen schweren Zeiten ganz wie in frühesten Kindertagen. Sie war noch immer ihre geliebte Prinzessin und würde es auch immer bleiben. Im Glanz ihrer Augen war die Erinnerung an Zeiten des Ruhmes und des Friedens auf ewig festgehalten. Am heutigen Abend, da man den achtzehnten Geburtstag der Magierin ausgiebig feierte, war die gesamte Stadt auf den Beinen und labte sich freudetrunken am Geschenk ihrer Anwesenheit. „Darf ich um Ruhe bitten!“ Die kräftige, rauhe Stimme ihres Anführers wusste die Dunkelelfen, die den Marktplatz von Vyers in ein Tollhaus verwandelt hatten, schlagartig zum Schweigen zu bringen. Auch die Anwesenheit Gardifs wurde mit Voranschreiten der Zeit ein immer selteneres Privileg. „Zu allererst gilt es, mich bei euch allen zu bedanken!“ Der Minari stand am Rande einer kreisrunden Holzplattform, die einen knappen Meter über den Boden ragte und eigens für die Feierlichkeiten das Zentrum des Marktes ausschmückte. Feinste Seide fiel von den baumhohen Pfeilern wie ein Zeltdach. Weinrote Banner wehten im seichten Winde der anbrechenden Nacht. Bahnen edelsten Teppichs – genauso dunkelrot –, rundeten das Gesamtbild ab. Eine improvisierte Bühne inmitten des Knotenpunktes der Stadt, die für das gemeine Volk zwar nicht zugänglich war, den Hochadel jenem allerdings näher brachte, als die meisten Elfen es sich je hätten erträumen lassen. „Euer so zahlreiches Erscheinen ehrt mich und natürlich auch eure wunderschöne junge Prinzessin, der es heute gebührend Ehre zu erweisen gilt!“ Es war nicht zu überhören, dass Gardif es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst ausgelassen an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Seine Rede wurde nach jedem beendeten Satz durch tosendem Applaus honoriert. „Nun, da Prinzessin Uriah ihr achtzehntes Lebensjahr beschreitet, rückt der Tag der Wiederkehr in greifbare Nähe.“ Ein unvergleichlicher Jubelsturm ließ den Boden unter den Füßen der Massen erzittern. „Mit dem Schicksal dieser beiden Frauen eng verbunden, ist das Schicksal eines jeden einzelnen von uns.“ Gardif präsentierte der Menge mit einer öffnenden Geste die Magierinnen, die sich in ihren Festkleidern an dem prächtig verzierten Eichenholztisch im Zentrum der Bühne gegenüber saßen. Ihnen war die hochtrabende Ansprache des Mannes nicht wirklich genehm. Keine der beiden genoss eine derartige Zurschaustellung ihrer Person, es waren eher die Männer um sie herum, die sich dem Rampenlicht nur zu gerne auszusetzen schienen. „Ich hoffe, dein Geschenk entschädigt mich für das hier“, flüsterte Uriah ihrer engsten Freundin zu, ohne dabei jedoch allzu ernst zu wirken. „Garantiert!“, antwortete Sindrel. Ihr Lächeln verriet die eigene Vorfreude. „Ist es denn wirklich so schlimm für dich?“ Uriahs Blick wanderte in einem Halbkreis durch die Reihen ihrer Artgenossen. Wo immer ihre Aufmerksamkeit auch erwidert wurde, schaute die junge Frau in trügerische Glückseligkeit, die ihr zu schön erschien, um wahr zu sein. In den Augen eines einzigen Soldaten konnte sie derlei Gefühle jedoch nicht ausmachen. Ortoroz wandte sich ihr nicht einmal zu. „Er sieht besorgt aus, findest du nicht?“ „Und das gefällt dir, nicht wahr?“, stichelte die vom Wein leicht betörte Magierin. „Unsinn!“ Uriah ließ für diese freche Bemerkung mit einem einfachen Fingerzeig einen der Träger des Festkleides ihrer Freundin sich lösen. Sindrel versuchte das peinliche Missgeschick eilig zu verbergen. „Leg dich nicht mit einer Prinzessin an – wir sind eitel!“ „Ich habe doch aber recht, oder?“, bohrte Sindrel in der Wunde. „Sicher ist er anders als die meisten anderen“, erklärte Uriah. „Und das gefällt mir, ja. Wieso auch nicht ...“ Ihre Aufmerksamkeit wandte sie mit diesen Worten erneut auf den Krieger, der im entlegensten Winkel der Plattform über sein Volk zu wachen schien. „Selbst heute wirkt er traurig.“ „Eher angespannt, wenn du mich fragst. Wahrscheinlich, weil er zu viel nachdenkt. Über die Vergangenheit, du verstehst?“ Auch Sindrel hatte Ortoroz unlängst ausmachen können. „Oder ...“ „Was?“ „Reiß mir dafür bitte nicht die Kleider vom Leibe, aber,“ Zufrieden grinsend beugte sich die Hohepriesterin zu ihrer Freundin und flüsterte ihr zu, „vielleicht ist er ja auch nur einsam.“ Uriah antwortete darauf nicht einmal. Durchschaut hatte ihre Freundin sie sowieso längst. Vielleicht sollte sie den nächsten Schritt wagen, schon um mit Sindrel gleichzuziehen, die ihr Glück in der Liebe unlängst gefunden hatte. Vielleicht wäre das eine gute Idee. Den nötigen Mut dazu, besaß sie. Gardif richtete das Wort unterdessen noch immer an das Volk, sein Volk. Dem Verlauf seiner Ansprache konnten das Geburtstagskind und ihre beste Freundin zwar nicht mehr folgen, doch – und dessen waren sie sich sicher – hatten sie wohl kaum weltbewegendes versäumt. Seine letzte Ankündigung jedoch, sollten sie beide noch aufschnappen. „So besonders dieser Tag ist, so schwer fällt es mir, noch länger den Mantel des Schweigens aufrecht zu erhalten, was die Zukunft unserer anderen hoch talentierten jungen Magierin betrifft.“ Gardif wechselte einen flüchtigen Blick mit Sindrel, die ihm gezwungener Maßen nickend Zugeständnisse machte, da es nun kaum noch einen Ausweg gab. „Voller Freude und erfüllt mit großem Stolz ist es mir nun erlaubt euch allen zu verkünden, dass Lady Sindrel und Sir Leban sich im kommenden Winter Familie nennen dürfen!“ Gardif erntete allerorts Beifall ob dieser wahrhaft großen Kunde. Die frohe Botschaft vermochte es schließlich Heerscharen von Dunkelelfen in freudige Ekstase zu versetzen. Sie alle wussten, wie wichtig die Fortführung der Blutlinie der Hohepriesterinnen war. „Sindrel, du bist schwanger?“, fragte Uriah erschrocken. Sie war völlig ahnungslos. „Ich wollte es dir nach der Feier mitteilen. Mein Geschenk ist nicht weniger als die Patenschaft für meine Tochter. Es sollte doch etwas ganz Besonderes sein, verstehst du?“ Gardif unterbrach das Gespräch der beiden Frauen. Er legte seine knochige Hand auf die Schulter Uriahs, die noch immer nicht glauben konnte, was sie soeben gehört hatte. Das Wort richtete er allerdings an die werdende Mutter. „Es tut mir wirklich leid, dass ich mit der Tür ins Haus gefallen bin und dir die Überraschung nahm. Ihr wisst ja, wie mich der ein oder andere Tropfen zu viel mitzureißen vermag.“ Breit grinsend spielte der Minari in großväterlicher Manier die jüngsten Ereignisse herunter. Zumindest Uriah, deren Herz vor Wut raste, musste es so vorkommen. „Wie es scheint, hat es der Prinzessin glatt die Sprache verschlagen!“ Die gesamte Stadt schien im Taumel der Freude zu versinken. Man tanzte, man trank, man speiste und spielte – überall um sie herum. Nur Uriah selbst war in diesen Augenblicken weit weg von alledem. Sie mochte der Grund für die Feierlichkeiten gewesen sein, doch war jedwede Freude in der Seele der jungen Hohepriesterin seit jener erschütternden Nachricht schlagartig abgestorben. Ihre einzige Konkurrentin, die vor allem deswegen eine so gute Freundin war, da sie es nicht wagte ihre Fähigkeiten mit denen Uriahs zu messen, brütete tatsächlich die nächste Generation ihrer verräterischen Blutlinie aus. Lady Uriah fühlte sich verraten. Heimtückisch und ohne Vorwarnung fiel ihr ihre beste Freundin und engste Vertraute in den Rücken. Was Sindrel selbst wohl niemals hätte erreichen können, sollte nun ihr Kind fortführen? War das ihr Plan? Uriah den Platz an der Seite Gardifs streitig zu machen, indem sie ihren Spross zu dem machte, was sie selbst nicht hatte sein können? Wie es die Magierin auch drehte und wendete, stets kam sie zu dem selben Ergebnis. Nie zuvor hatte sich Uriah so unsicher, so nackt, so verraten gefühlt, wie in jener Nacht ihres achtzehnten Geburtstags. Ein Teil ihrer Seele zerbrach an diesem Tag, während ein anderer sich anschickte, zum Zentrum ihres Seins aufzusteigen. Vertrauen wich Misstrauen; Gunst wich Missgunst. Alle Zuneigung zu ihrer geliebten Freundin schwand so rasch, dass die Prinzessin selbst sich vor dem eigenen Zorn zu fürchten begann. ... ... ... ... ... ... Die Tage des Unwohlseins waren längst zahllos geworden; die wenigsten waren der Dunkelelfe so gut in Erinnerung geblieben, wie etwa der Todestag ihrer über alles geliebten Mutter, oder ihr achtzehnter Geburtstag. Gleichsam waren es jene Ereignisse, die die bisher größten Veränderungen ihres Lebens nach sich ziehen sollten und Uriah war nicht müde geworden sich der Vorstellung zu bekräftigen, dass es sich zum Besseren hin entwickelt hatte. Alles deutete darauf hin, dass auch der heutige Tag unvergesslich werden würde. Beinahe sicher war, dass er Veränderung nach sich ziehen würde – gravierende Veränderungen. Einmal mehr fand sich Lady Uriah an der Seite Ortoroz und Vashs im Thronsaal wieder. Unbehagen löste allein der Gedanke daran aus, dieses Mal das Zentrum der Aufmerksamkeit sein zu können – das einzig bedeutsame Thema der illusteren Runde, deren Rädelsführer seit der Ankunft seiner Untertanen noch nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte, sich vom Ausblick aus dem Fenster der östlichen Wand zu lösen. „Mein Lord, weshalb die eilige Zusammenkunft?“ Uriah empfand des jungen Generals wenig schickliche Anfrage als reichlich naiv und wagemutig, andererseits hatte er ja nichts zu befürchten. „Etwas ist geschehen.“ Mit artfremder Melancholie in seiner Stimme erläuterte Gardif den Dunkelelfen seine Beweggründe. „Prana gelang es, die Erinnerungen des toten Ritters zu extrahieren. Es war ...“ Der Minari bemühte sich, seine Trauer nicht offenkundig preiszugeben. „Es war mein Wunsch. Und obwohl es unmöglich schien, gelang es Prana – sogar in ihrem schlechten Zustand-, die Geschichte dieses Mannes wie sein Tagebuch offen zu legen.“ Nichts konnte Uriah in diesem Moment noch erschüttern. Die Macht der Hexe hatte sie stets gefürchtet; ihr ausgeliefert zu sein, ängstigte sie mehr, als jedes noch so düstere Schicksal, das sie sich in ihrer Fantasie auszumalen vermochte, und gerade jetzt spielte jene irreale Welt im Geiste der Hohepriesterin regelrecht verrückt. „Was ist dann passiert?“, fragte Ortoroz. „Sie ...“ Endlich wandte sich Gardif ab vom Ausblick auf die Wolken, die der höchste Turm an manchen Tagen zu durchbrechen im Stande war. „Sie starb. Prana opferte auch den letzten Rest ihrer Kraft, die sie am Leben erhielt. Ich habe sie verloren, sie getötet!“, wimmerte er. Die Kundgabe des Ablebens Pranas wusste alle drei Offiziere gleichsam zu überraschen, jedoch konnte Uriah nur schwerlich glauben, was sie soeben mit angehört hatte. War es denn wirklich möglich, dass dieser unlängst verfluchte Tag eine solch dramatische Wendung zum Guten nehmen sollte, entgegen aller Vorzeichen? Uriah hielt sich bedeckt und ließ geschehen, was geschehen musste. „Was sollen wir jetzt machen?“, flehte General Vash seinen Führer geradezu um Antwort an. „Was hat das zu bedeuten, Lord Gardif?“ „Was das bedeutet?“ Noch immer schien der alte Mann abwesend, ja, fast schon apathisch. „Vielleicht ist die Zeit gekommen, abzudanken.“ „Unmöglich!“, entfuhr es Ortoroz lauthals. „Das können sie nicht ernst meinen!“ „Ohne die Macht einer Hohepriesterin ist die Wiederauferstehung dieses Volkes ein nicht zu meisterndes Unterfangen“, begann Gardif zu erläutern. „Die Rückkehr in die verfluchte Stadt, ohne die Macht inne zu haben, die Verwünschung ein für alle Mal aufzuheben, ohne den Schlüssel in unserem Besitz nach Panafiel aufbrechen!? Ein Leben in Adessa, das dem Großteil der Bevölkerung fremd ist und nur noch eine fernes Licht verblassender Erinnerungen im Geiste der anderen!? Was würde es noch nützen?“ „Ich glaube nicht, was ich da höre! Haben sie ihren Verstand verloren?“, rief Vash seinem Herren ins Gewissen. „Ruhe!“, zügelte sein Artgenosse das Temperament des jüngeren Kriegers. „Vergiss nicht, wen du vor dir hast!“ Eine Weile hielt Stille Einzug in die dunklen Gemäuer, deren karge Felswände das Licht duzender Kerzen in geisterhafte Schattenspiele tauchte. „Nein, vergessen habe ich das nicht, Kommandant“, flüsterte Vash. „Nur erkenne ich nicht die Person, die vor mir steht und die Zukunft meines Volkes mit Füßen tritt! Soll das etwa der Messias sein, dem ein jeder Mann, eine jede Frau und ein jedes Kind fünfunddreißig unendlich lange Jahre lang in Demut und Treue ergeben waren, nur um ...“ „Schweig endlich!“, fauchte Ortoroz. „Ich denke, es wäre besser, wenn du jetzt gehst, Vash.“ Der Heißsporn ließ sich kein zweites Mal bitten und machte auf der Stelle kehrt. Es war ihm zuwider auch nur eine einzige weitere Sekunde in der Nähe des schwächelnden Minaris zu verbringen. Das Vertrauen in die Kompetenz seines Herren war erloschen. Als der schwere Torbogen wieder in die Angel fiel, war es an der Zeit, die Dinge richtig zu stellen. „Sie müssen wieder zur Besinnung kommen, mein Lord! Das Volk vertraut ihnen. Mit solch unüberlegten Äußerungen könnten sie eine Katastrophe auslösen.“ „Die Katastrophe ist längst unvermeidbar, Ortoroz!“, schrie Gardif mit zittriger Stimme. „Du weißt ja nicht, was Prana mich hat sehen lassen!“ „Dann sagen sie es mir!“ „Ich will mit Uriah allein sprechen“, wiegelte der alte Mann urplötzlich ab. „Was ...“ Das Paar wechselte einige flüchtige Blicke – unsicher, was es zu tun galt. Die Gefühlswelt der Frau spielte in diesem Augenblick erneut verrückt. Wäre Prana noch am Leben, würde sie wahrscheinlich kurzen Prozess mit der verräterischen Magierin machen. „Gut. Wenn es das ist, was ihr wünscht“, zeigte sich Ortoroz noch immer unterwürfig, da er weiterhin an die Integrität seines Herren glauben wollte. Er verließ die Gemächer ohne einen weiteren Blick an Gardif zu verschwenden. So sehr er sich auch bemühte, dem Verhalten des Minari Verständnis entgegen zu bringen, so sehr verabscheute er dessen Schwäche, die er, in Selbstmitleid zerfließend, so offenkundig preisgab. Nun kam es also tatsächlich zu der Gegenüberstellung, die Lady Uriah von der ersten Minute an gefürchtet hatte, nur hatten sich die Vorzeichen mittlerweile verändert. Gardif ruhte nicht mehr im sicheren Schoß der grauen Hexe, ganz im Gegenteil, er war der jüngeren Hohepriesterin hilflos ausgeliefert, die er zuvor in keiner Weise zu erwähnen gedacht hatte, als er von der Zukunft der Dunkelelfen sinnierte. „Folge mir, Prinzessin, ich will das in ihrem Beisein besprechen.“ Prinzessin – so hatte er sie seit Jahren nicht mehr betitelt. Allein der Gedanke, sich in unmittelbarer Nähe Pranas zu befinden, ganz gleich ob tot oder lebendig, war eine schmerzende Brutalität für die Seele des Blaubluts. ___________________________________________________________ Mit jedem weiteren Schritt, den das Trio sich in das überwucherte Tal wagte, bereuten sie ihre Entscheidung, dem Verschwinden ihrer Artgenossen auf den Grund zu gehen, mehr und mehr. Etwas hier war faul, auch wenn die vorherrschende Stille es dem ersten Anschein nach nicht vermuten ließ. Ihr Instinkt ließ die Dunkelelfen den Weg achtsam beschreiten. Sie waren den Spuren ihrer Freunde bis weit gen Nordosten gefolgt, wo sie sich schließlich in einem dichten Waldstück verlor. Sang war die Mission, auf der er sich befand, schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. In seinem Falle mochte es die eigene Mutlosigkeit sein, die unaufhörlich tief in seinen Eingeweiden wühlte und ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Womöglich war es aber auch die Gewissheit, einen großen Fehler zu begehen, die im Bewusstsein des jungen Elfs Ranken schlug. „Wir sollten umkehren, Braja“, keuchte der Jäger. „Ruhe Sang! Wir sind hier absolut richtig.“ In dieser Angelegenheit zumindest gab es keine zwei Meinungen. Sie waren allesamt hervorragende Fährtenleser. Das wilde Getrampel der herrenlosen Guris zurück zu verfolgen, war keine wirkliche Herausforderung für sie gewesen; doch fühlte auch die Anführerin der Gruppe ein Unbehagen, das ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. „Du würdest auch nicht wollen, dass man dich hier zurücklässt, oder?“ „Nein, ernsthaft, ich will verdammt noch mal hier weg!“, jammerte Sang ein weiteres Mal. „Was in Pranas Namen ist los mit dir? Und du willst der Sohn Ortoroz' sein?“, wies Braja ihren Untergebenen in aller Deutlichkeit zurecht. „Vielleicht hat er Recht, Bra“, stimmte die junge Leiria mit ein. „Dieses Mal ...“ „Nicht auch noch du!“ „Merkst du das denn nicht?“ Erst jetzt fiel Braja auf, dass sich ihre Freundin – wie die kleine Schwester des Elfs – im Windschatten des hochaufgeschossenen Sangs zu verstecken versuchte. Nie zuvor hatte die Dunkelelfe ihre Partnerin so ängstlich erlebt, und das Schlimmste daran war, dass sie sich selbst kaum anders fühlte. „Irgendwas beobachtet uns! Ich glaube nicht, dass unsere Leute noch am Leben sind.“ Schockiert musterte die Anführerin des kleinen Jagd-Trupps ihre Kameradin, so als hätte sie just der Schlag getroffen, dann wisperte sie: „Was ist das?“ Nur einen stummen Fingerzeig konnte sich Braja abringen. Ihre Glieder waren zu starr vor Schreck, um eine sinnvolle Reaktion zeigen zu können. Sie deutete mit fahlem Blick auf die Schulter der Dunkelelfe. Blut. Es war Blut! Aufgeregt verwischte Leiria die tiefroten Tropfen auf ihrer Haut. Im ersten Augenblick dachte sie womöglich, sie selbst hatte sich verletzt. Die Wahrheit jedoch war weitaus tragischer. „Ich glaub' das einfach nicht!“, stieß Sang mit heiserer Stimme aus, als er den leblosen, verstümmelten Körper im Geäst der massiven Pflanze ausgemacht hatte. Es waren die geschundenen Überreste eines Kameraden. Ob Mann oder Frau vermochte keiner der drei noch bestimmen zu können. Es spielte auch keine Rolle mehr – für sie oder ihn kam längst jede Hilfe zu spät. „Waren das die Menschen?“ Noch nie hatte Sang einen ähnlichen Anblick ertragen müssen. Er prügelte und triezte die Menschen in Caims nur zu gerne – behandelte sie wie Vieh-, nie jedoch war er so weit gegangen, einen Pinkie zu töten. Sang mochte sich eingebildet haben, eine derartige Tat mit Leichtigkeit vollbringen zu können, wenn er es nur wollte, musste sich beim Anblick seines gemeuchelten Artgenossen jedoch eingestehen, das Gesicht des Todes mehr als alles andere zu fürchten und gar zu verabscheuen. Waren die Menschen wirklich dazu fähig, ein derartiges Massaker anzurichten? War ihr Hass auf die Dunkelelfen wirklich so grenzenlos? Es passte in das Bild, das man seinem Volk von jener Spezies vermittelt hatte, und doch keimten Zweifel in dem Jungen auf, da er in Vyers viele Menschen kennengelernt hatte, die ihn fürchteten. „Niemals! Das ist nicht das Werk der Menschen“, zweifelte auch Braja am Schicksal ihrer Freunde, das zwar nahe lag, der Wahrheit letztlich aber fern war. „Wer war es dann? Wer hat sie umgebracht?“ Ratlos versuchte sich Braja einen Überblick über ihren Standort zu verschaffen. Schnell wurde der Jägerin klar, dass sie, ganz wie ihre Freunde zuvor, in eine Falle getappt waren, ausgelegt, um lästige Anhängsel wie ein Schwadron spionierender Dunkelelfen abzuschütteln. „Sie wussten, dass sie verfolgt werden“, flüsterte Braja gerade laut genug, ihre Kameraden zu alarmieren. „Aber woher nur?“, fragte Leiria entsetzt. „Sie haben nur getan, als würden sie nichts ahnen und konnten uns so an jeden Ort führen, der ihnen vorschwebte.“ Braja ging nicht weiter auf die Frage der blutjungen Elfe ein. Beinahe fasziniert erklärte sie, wie es der Beute wohl gelungen war, mit den Jägern die Rollen zu tauschen. „Selbst mussten sie das Tal dabei gar nicht durchqueren, ich meine, schaut euch doch nur mal um: Es ist der ideale Ort, um unbemerkt Verfolgung aufzunehmen. Sie wussten ganz genau, dass unsere Leute diesen Weg einschlagen würden. Allerdings ...“ „Was?“ „Ich kann mir noch immer nicht erklären, was ihnen zugestoßen ist. Welches Wesen, welches Tier in Adessa vermag es, so etwas zu tun?“ Das Wesen, dessen gnadenlose Brutalität die Elfen in blankes Entsetzen versetzte, fiel Braja mit einem unmenschlichen Aufschrei ins Wort, der ihr nur zu gut bekannt war. Aus der Ferne drangen Laute an die Gruppe heran, die sie an diesem Ort – auf dem ganzen Kontinent – nie und nimmer erwartet hätten. „Gamms!?“ Ein nervöses Zucken durchfuhr das Mienenspiel Leirias, die genauso ungläubig ihre Kumpanin anstarrte, wie diese das Dickicht, aus dem sich in nicht allzu großer Distanz das turmhohe Monster ins spärlich durch die Wipfel dringende Sonnenlicht drückte. Es entwurzelte dabei mit Leichtigkeit einige der uralten Pflanzen, die dem beleibten Allesfresser den Weg zu seinem Festmahl versperrten. „Unmöglich!“, zischte Sang. „Die dürfte es hier doch gar nicht geben!?“ In der Tat waren diese abstrakten Ausgeburten der Natur lediglich in Caims und Umgebung heimisch, der Inseln, derer sich die Dunkelelfen vor Dekaden bemächtigt hatten. Dort war es ihnen sogar gelungen, die gefährlichen Tiere zu domestizieren und sich Untertan zu machen. In freier Wildbahn jedoch, waren Dunkelelfen einer solchen Urgewalt hoffnungslos unterlegen, was das tragische Schicksal des zweiten Jagd-Schwadrons nur unterstrich. „Lauft!“, rief die Anführerin der kleinen Gruppe. „Bra!“, hallte es umgehend aus der Kehle der Jüngsten zurück. „Nun macht schon!“, befahl die Jägerin ihren Kameraden und machte dabei selbst keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten. „Es wird nicht allein unterwegs sein. Noch haben wir eine Chance, wenn ich es ablenken kann.“ „Ablenken?“ Leiria wurde hysterisch. „Bist du wahnsinnig! Das überlebst du nicht!“ Fordernd umklammerte sie die Schulter ihrer besten Freundin, keinesfalls wollte sie ohne sie fliehen. „Wir verschwinden hier alle zusammen, kapiert?“ „Die Befehle hier gebe ich!“, wies Braja die Forderung entschieden zurück. „Ich schaff' das schon“, säuselte sie noch. Doch wem wollte sie etwas vormachen? Es war ein Himmelfahrtskommando. Sie wusste das genauso gut, wie ihre beste Freundin. Womöglich waren es die Schuldgefühle, die sie zu jenem Wagemut trieben. Das Gefühl als Anführerin versagt und ihre Leute in den Tod geschickt zu haben. Womöglich war es auch einfach Heldenmut, sich für das geringere Übel zu entscheiden und zwei Leben für ein einzelnes einzutauschen. Als der graue, schuppige Fleischkoloss die Witterung aufgenommen hatte und daraufhin einen weiteren siegessicheren Kampfesschrei herausposaunte, gab es schlussendlich kein Zurück mehr für Braja. „Sang ...“ Ihr Blick war so eindringlich, dass der Dunkelelf glatt erstarrte. „Schaff sie hier weg!“ Braja wusste, dass sich das Großmaul kein zweites Mal bitten lassen würde. Vielleicht scherte er sich ja wirklich nicht um das Schicksal seiner Kameradinnen!? Ein trauriger Gedanke. Nun, da all ihre großen Pläne in Trümmern lagen, bedauerte sie es sogar ein wenig, sich nie um das Vertrauen des Jungen bemüht zu haben. „Komm schon, wir verschwinden!“ Sogar Leiria – den Tränen nahe – konnte den Forderungen Sangs nicht länger absprechen, da die Furcht vor dem Bevorstehenden sie übermannt hatte und allem Edelmut überwog. Die beiden jungen Dunkelelfen rannten um ihr Leben, rannten, ohne einen Blick zurück zu wagen. Erst als Leiria, die mit dem Tempo Sangs kaum Schritt halten konnte, zu der steilen Felswand gelangte, die zur Straße und somit zur ersehnten Sicherheit führte, wagte sie es, sich ihrer geliebten Kameradin zuzuwenden. Ein letztes Mal. Als sich das Tier unaufhaltsam näherte, verließ Braja jeder letzte Funke Mut. Es war gewaltig – selbst für ein Gamm. Diesen ungleichen Kampf konnte sie niemals gewinnen und so entschied die Dunkelelfe, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Sie schloss ihre Augen, denn alles was jetzt noch wichtig, noch von Bedeutung war, lag jenseits des Augenscheins. „Bra!“, drang es aus Leirias staubtrockener Kehle, als sie aus der Ferne mit ansehen musste, wie das gewaltige Wesen, vor dem sie Reißaus genommen hatte, sich unaufhaltsam auf ihre geliebte Freundin stürzte. Im letzten Moment meinte Leiria noch erkennen zu können, wie ihre Anführerin ihren Bogen senkte. Sie wusste, dass es keinen Unterschied mehr gemacht hätte, und dass ihre Waffe gegen das dickhäutige Untier rein gar nichts hätte ausrichten können. Leiria schloss die Augen, als das Gamm mit seinem gewaltigen Arm ausholte, um das Leben seines neuesten Opfers auszulöschen. Als sie den Mut fand, sie wieder zu öffnen, war von Braja weit und breit keine Spur mehr. Allein der Blut getränkte Unterarm des Monsters ließ das Schicksal der Elfe erahnen. Es hatte sie im Bruchteil einer Sekunde kaltblütig ermordet. Mit einem einzigen Hieb von barbarischer Kraft buchstäblich von der Erde getilgt. „Was tust du?“ Schreiend versuchte Sang das Mädchen der Apathie zu entreißen. „Es wird auch dich töten, verdammt nochmal!“ Er hatte recht. Das Wesen kannte keine Gnade und hatte, nachdem es in seiner Rage kurzen Prozess mit einer der Elfen gemacht hatte, längst sein nächstes Opfer ausfindig gemacht. Das ohrenbetäubende Brüllen des Gamdschas alarmierte schließlich auch Leiria, die in der Ohnmacht der Trauer jeden Halt zu verlieren drohte. Wieder flüchtete die Jägerin in Todesangst. Sie erreichte schnell den Abhang, der das einzige Hindernis zwischen ihr und der Sicherheit der Hochstraße darstellte. Dem schwergewichtigen Vieh würde es niemals gelingen, den Steilhang zu erklimmen, nur stand ebenso in den Sternen, ob Leiria es ihrerseits schnell genug gelingen konnte. Zentimeter für Zentimeter kämpfte sich das Mädchen die Felswand empor. So geschickt sie auch immer war, so konnte sie ihre überlegenden Fähigkeiten mit der Angst im Nacken doch nicht annähernd abrufen. Ihre Konzentration schwand, je näher sie ihrem Kameraden kam, der auf einer schmalen Plattform unweit des Gipfels halt gemacht hatte und hilflos mit ansehen musste, wie auch seine zweite Artgenossin den Kampf gegen das Untier, das sich ihr bedrohlich näherte, zu verlieren drohte. Nur wenige Meter trennten sie noch vom sicheren Hafen, doch spürte sie ihren Verfolger nun auch mit jeder Faser ihres Körpers. Der beißende Geruch des Monsters, vermischt mit der metallischen Note frischen Blutes, trieb Panik in die Glieder des Mädchens. „So ... nahe ...“ Gerade, als sie ihren Aufstieg aufgeben wollte, schnellte ihr eine dürre Hand entgegen. Schlanke Finger, mit Ringen verziert, sorgfältig geschliffene, lange Fingernägel. Sie wusste ganz genau, wessen Hand es war, konnte im ersten Moment jedoch nicht glauben, dass sie ihr tatsächlich Hilfe anbot. Nur ihr Instinkt veranlasste Leiria, diesen letzten Strohhalm der Hoffnung zu ergreifen, noch bevor das Ding sie erreichen konnte. Lauthals schrie das Gamm auf, als es den zarten Körper der Dunkelelfe nur um Haaresbreite verfehlte und sich dem Duo mickriger, blauer Zweibeiner letzten Endes doch noch geschlagen geben musste. Einige Sekunden noch, vielleicht sogar Minuten, schlug das Biest schnaubend vor Wut auf das Geröll ein, das ihm den Weg versperrte, bevor es sich wieder anderen Aspekten seines banalen Daseins widmete und schwerfällig den Rückzug antrat. „Komm!“ Sang hatte nicht vor, noch weiter seine Zeit nahe dieses Höllenschlundes zu verbringen, der sich hinter dem idyllischen Gewand blühender Natur versteckt hielt. Alles endete hier. „Wir können nicht gehen!“ Das war nicht die Jägerin, die aus Leiria sprach, so kindlich, wie ihre Worte klangen, so naiv in ihrer Hoffnung „Wir müssen Bra holen!“ „Mach dich nicht lächerlich“ Etwas seltsames geschah in jenem Augenblick mit Sang. Als er an sich hinunter schaute und das Mädchen in seinen Armen liegen sah, tat sie ihm leid. Sie tat ihm aufrichtig leid und mehr noch, fühlte er sich schuldig, ganz so, als wäre er verantwortlich für sie. „Wir sollten jetzt einfach gehen, hörst du?“ „Nein!“ Sie konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. „Nein, Nein, Nein!“ Die Elfe schabte wild mit den Beinen, versuchte sich aus der Umarmung zu befreien, konnte dabei aber keinerlei Kraft aufbringen. So sehr sie sich auch sträubte, die Hilfe ihres Kameraden verwehrte sie nicht mehr, als der ihr Order gab, sich an ihm festzuhalten, um auch die letzten Meter bis zur Straße zu erklimmen. Für Sang allein wäre der Aufstieg keine große Anstrengung gewesen, mit der Elfe als Gepäck auf dem Rücken war es hingegen beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Was die beiden Dunkelelfen dort erwartete, wusste Sang einzig mit dem Gelächter eines Verzweifelten zu kommentieren, als er sich erschöpft fallen ließ und sich seinem Schicksal ergab. Leiria nahm kaum wahr, dass sie – just aus den Fängen eines Monsters entkommen – nun einer ganzen Horde bewaffneter Menschen in die Arme gelaufen war. „Gott im Himmel!“, meldete sich einer der Reiter zu Wort. „Scheint so, als wäre das heute unser Glückstag.“ „Die Kinder werden sich freuen, wenn sie endlich mal ein paar Blaue zu Gesicht bekommen!“ meinte ein anderer triumphierend. „Wozu gefangen nehmen? Ich sage: Wir machen hier und jetzt kurzen Prozess mit ihnen!“ „Ruhe!“ Erneut sprach der Mann, der als erster das Wort ergriffen hatte. „Stellt eure Rachegelüste zurück!“ Sein Befehl war unmissverständlich. Der Ritter stieg von seinem Ross hinab, kniete sich neben den spitzohrigen Mann und packte ihn am Kragen. „Wir töten schließlich keine Unbewaffneten.“ Sang konnte sich noch immer keine angemessene Reaktion abringen, die es wohl ohnehin nicht gab. Zu sehr frustrierte den jungen Elf das unsagbare Pech, das ihm immer mehr wie sein ganz persönliches Steckenpferd erschien, da es ihm überall hin treu zu folgen schien. „Du findest das witzig, ja? Ich kann auch witzig sein!“ Ob es dieses Mal aber vielleicht doch Glück war, nicht die Klinge sondern nur den Griff des Schwertes zu spüren zu bekommen? Sang würde in seinen Träumen darüber philosophieren können. ___________________________________________________________ Der Rosengarten erblühte unter dem majestätischen Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht. Das Gewächshaus war einst allein für jene Pflanzen geschaffen worden. Bezeichnend, dass selbst dieser Anblick der Magierin keinerlei Reaktion abgewinnen konnte; dabei wurde das Schimmern, das die Schneerosen, die vom Licht der Sterne erhellt wurden, immerwährend ausstrahlten, durch die gläserne Fassade noch um ein Vielfaches verstärkt. Fast wirkte das Biotop wie von einem gleißenden Nebelschleier verhangen. Auch Gardif scherte sich nur wenig um dieses wohl größte seiner noch vorhandenen Vergnügen, als er die Dunkelelfe eilig zur Ruhestätte Pranas führte. Er wies ihr den Weg, wohl wissend, dass es Uriah nie zuvor gestattet gewesen war, das Gemach der mächtigen Hexe zu betreten – nicht, dass sie es jemals in Erwägung gezogen hätte. Sogar in dem Wissen, sich ihrer größten Furcht endgültig entledigt zu haben, beängstigte sie der Gedanke, der grauen Hexe gegenüberzustehen. Nach so vielen Jahren. Sie wirkte kaum verändert, als ihr Herr und Meister die leblosen, sterblichen Überreste der Hohepriesterin offenbarte. Kaum anders als die Frau, die Uriah als Kind kennengelernt hatte, die Frau, die mitschuldig am Untergang Ballymenas war, auch wenn Lug und Trug es ihr ermöglicht hatten, zur Erlöserin aufzusteigen. Während sie eingekerkert dicht unter dem Himmelsdach in ewigem Schlaf dahin vegetierte, um ihr verfluchtes Leben zu verlängern, und das unvermeidliche Ende hinauszuzögern, ruhte alle Hoffnung der heimatlosen Dunkelelfen auf ihr. Wie dumm sie alle waren! Hätten sie nur gewusst, welch Warnung ihre geliebte Königin ausgesprochen hatte, als sie in den Armen der eigenen Tochter das Leben verließ. Alles wäre anders gekommen! Uriah wahrte stets die Geduld. Einzig mit ihren Gefühlen hatte die Hohepriesterin in diesem lang herbeigesehnten Moment zu kämpfen, so skeptisch und kühl nahm sie die Nachricht auf. Nie hätte sie gedacht, dass es sich so anfühlen würde. Es dauerte, bis die Prinzessin die Herkunft ihrer Zweifel ausmachen konnte. Es geschah, als sie voller Abscheu das Antlitz Pranas analysierte. Wenn es die magische Anziehungskraft der grauen Hexe war, die Uriah so in ihren Bann zu ziehen vermochte, hätte sich die stolze Dunkelelfe dies niemals eingestanden. Dennoch war selbst dem leblosen Leib der groß gewachsenen, gertenschlanken Magierin ihre fesselnde Aura nicht abzusprechen. Wie sie dort lag, gebettet in prächtigem Samt, das weise, blasse Gesicht in eine bedeutungsschwangere Zufriedenheit gelegt. Auch ihre Schönheit würde sehr bald vergehen, sie verlassen, wie das erbärmliche Leben, das sie gewählt hatte, um sich dem Richterspruch der Frau zu entziehen, die sie einst meuchelte. „Mutter ...“ Dann endlich, dämmerte Uriah was vor sich ging. Es traf sie wie der Schlag. Der Rosengarten! Er war eine Illusion, ein romantischer Zauber, so überflüssig, so banal, dass es Prana möglich war, diesen sogar in ihrer ewigen Trance aufrecht zu erhalten. Der Sternenhimmel, der am helllichten Tage das Gewächshaus in finstere Nacht tauchte, war der brachliegende Beweis für die Hinterlist des Burgherren und die Unachtsamkeit Uriahs. Von einem Moment auf den anderen tauschten Prana und sie die Rollen im vermeintlich letzten Akt eines Dramas, dessen tragische Hauptfigur viel zu spät Erkenntnis erlangte. Die Magie der Hexe lähmte zunächst Uriahs Glieder. Wie versteinert – ohne die geringste Chance sich der Kraft Pranas zu entziehen – stand sie am Bett der heuchlerischen Verräterin. Gefangen in einem nun nutzlosen und schwachen Körper, versuchte die stolze Dunkelelfe zumindest ihre Gedanken und ihre Seele den Fängen der schwarzen Magie zu entziehen. Sie hoffte auf ein Wunder, das ihr jedoch verwehrt bleiben sollte. „Wenn du nichts zu verbergen hast, brauchst du das nun Folgende auch nicht zu fürchten, Uriah.“ Gardif bemerkte selbst aus einiger Ferne welch panische Angst das Gesicht der Elfe zeichnete. Es war das letzte Gefühl, das sie auszudrücken imstande war, bis sie die Kontrolle über ihr eigenes Fleisch verlor. „Glaube mir, es fällt mir schwer dir das anzutun, aber nur so ist es mir möglich, alle Zweifel aus der Welt zu schaffen. Sollte ich mein Misstrauen allerdings bestätigt sehen,“ Es schmerzte den Lord diesen Satz zu beenden, „dann war das hier unser letztes Gespräch, Prinzessin! Ich werde euch beide nun allein lassen.“ Nur deswegen zögerte die graue Hexe, sich durch die Vergangenheit ihres hoffnungslos unterlegenen Opfers zu wühlen – des Anstandes wegen. Sie wollte das erniedrigende Ritual nicht im Beisein eines Dritten vollziehen. Als würde sie etwas wie Anstand besitzen ... Ein durchweg abstrakter Gedanke für Uriah. Als Gardif die Gemächer seines Schutzengels hinter sich gelassen hatte, begann die eigentliche Prozedur, die Uriah über alle Maßen fürchtete. Sehr schnell wurde die mächtigere Magierin in der Vergangenheit der Prinzessin fündig. Es schien beinahe so, als wusste sie schon vorher ganz genau, wonach es Ausschau zu halten galt. Die Erinnerung, die sich ihr wie ein Bilderbuch zu präsentieren bevorstand, war das hellste Licht in den dunkelsten Abgründen der Seele Uriahs. ... ... ... ... ... ... Vyers. Fünfundzwanzig Jahre früher (Minewood-Zeit) Eingehüllt in eine schwarze Robe streifte der Teufel durch die Nacht. Die Stadt schlief. Kaum ein Licht erhellte in jener Stunde noch den Asphalt. Wie ausgestorben war die Festung. Wachen wurden innerhalb der gigantischen Mauern nur am Turm und dem Arsenal aufgestellt. Die sporadische Sicherung der Stadt begründete sich in der Gewissheit, dass ihre Tore undurchdringlich waren. Niemand würde es je wagen, die Dunkelelfen hier anzugreifen. Auch gab es auf der Insel keine Feinde, vor denen es sich zu fürchten galt. So war es ein Leichtes für die mysteriöse Gestalt, sich unbemerkt im Schatten der Häuser zu bewegen und sich ihrem Ziel zu nähern. „Ich sehe es! Es ist fast da!“ Die alte Frau versuchte krampfhaft ihre Stimme im Zaum zu halten. Schweißperlen hüllten das in Falten gelegene Gesicht in den Glanz der Anstrengung. Nur einige Kerzen erhellten die Scheune, in der sich das Wunder der Geburt entfaltete. „Gleich ist es überstanden, Lady Sindrel.“ „Das ist es noch lange nicht“, keuchte die werdende Mutter, als sie die Schemen der vermummten Gestalt erkannte, die sich in all dem Aufruhr unbemerkt in die Scheune geschlichen hatte. „Oh nein ...“ Auch der Hebamme verschlug es die Sprache, als sie sich zur Tür umdrehte. Das neugeborene Kind in den zitternden Händen. Scheinbar hatten die beiden Frauen dem Erscheinen jener Person gerechnet. „Du kommst spät, Uriah.“ Sindrel unterdrückte die schmerzenden Nachwehen der Geburt. Zwar war sie längst in Decken gehüllt, dennoch demütigte sie die Situation. Handlungsunfähig, im Käfig ihres eigenen, geschundenen Körpers gefangen, war sie der Prinzessin ausgeliefert. „Es war nicht leicht, dich zu finden.“ „Was? Hast du gedacht, du könntest deine Gefühle vor mir verbergen?“ In Sindrel loderte ein Feuer. Sie sehnte sich nach der Nähe ihrer Tochter, hatte jedoch keinerlei Macht mehr über die Situation. „Du konntest dich nie mit mir messen, Uriah, und das weißt du! Deswegen bist du schließlich hier ...“ „Wovon sprichst du?“, fragte die Magierin irritiert und lüftete dabei das Geheimnis ihrer Identität, das längst keines mehr war. „Wieso hast du mich nicht verraten, wenn du Bescheid wusstest?“ „Weil ich es nicht wahrhaben wollte, und weil niemand mir geglaubt hätte.“ Nun erfüllten Tränen die Augen der jungen Mutter. „Wieso fürchtest du uns?“ Uriah beantwortete die Frage nicht. „Gib ihr das Baby!“, wies sie die alte Frau an, die ihr gänzlich unbekannt war. Ihre Gedanken lagen einer Hohepriesterin wie Uriah brach, doch fand sie keinerlei Sinn darin. Einzig Angst und Verwirrung rumorten in ihrem Geist. Als sie die zierliche Gestalt ihrer Mutter in die schwachen Arme lag, verließ sie von einem Moment auf den anderen jegliches Leben. Sie fiel buchstäblich tot um, ohne überhaupt zu wissen, wie ihr geschah. „Du bist wahnsinnig!“, prangerte Sindrel sie an. „Ich konnte sie wohl kaum am Leben lassen“, rechtfertigte Uriah ihre Tat ohne Reue. „Warum nicht ihre Erinnerung auslöschen? Macht es dir solchen Spaß, über Leichen zu gehen?“ „Nein, Sindrel, versuche nicht, mir die Folgen deines Verrats aufzubürden!“ „Verrat?“ Verzweifelt umklammerte die Magierin ihre Tochter, die keinen Laut von sich gab, nur lächelte und sich in den Armen ihrer Mutter vergrub. „Wann habe ich dich verraten? Sag es mir!“ „In dem Augenblick, in dem du dich entschieden hast, eine Familie zu gründen, um mich zu hintergehen!“ „Das also ist es, was du glaubst?“ Sindrel konnte kaum fassen, wie engstirnig die Prinzessin dachte; dass die Paranoia jener Frau das Ende ihrer unschuldigen Tochter bedeuten sollte, ließ sie für die letzten Momente ihres Lebens bittere Tränen vergießen. „Wie? Sag mir: wie wirst du damit leben können, Uriah?“ „Du kennst den Brauch! Scheidet die Mutter bei der Geburt, so ist der Dämon im trügerischen Gewand des Kindes zu richten wie ...“ „Ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten!“ „Aus guten Zeiten, erstrebenswerten Zeiten“, wies Uriah ihre Artgenossin zurecht. „Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass jenem Brauch hier und heute Genüge getan wird.“ „Ich bitte dich ... als Freundin: Tu ihr nichts!“ Auch wenn Sindrel wusste, dass ihr Flehen kein Gehör finden würde, so fühlte sie sich doch in der Verantwortung ihres Kindes gegenüber, auch jenen letzten Strohhalm zu ergreifen, auch wenn es sie schmerzte, die Hexe derart zu adressieren. „Rührend.“ Uriah entriss Sindrel ihrer Tochter. Die simple Telekinese, die sie dabei anwandte, wäre für eine andere Magierin leicht zu unterdrücken gewesen, doch war die erschöpfte Dunkelelfe in ihrem Zustand nicht dazu in der Lage, dem Paroli zu bieten. Eingewickelt in ein samtenes Tuch, bettete das Baby nun in den Armen der hasserfüllten Fremden, die schon bald über das weitere Schicksal des Mädchens entscheiden würde. „Du wirst nichts spüren, Sindrel.“ „Ich weiß über die Todesflüche so gut Bescheid, wie du.“ „Mmh ...besser womöglich“ Uriah bemerkte, dass Sindrel es aufgegeben hatte, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen, und obschon es vielleicht die weiseste Entscheidung war, so war es doch keineswegs das, was die Prinzessin von ihr erwartet hatte. „Es ist ein Jammer, dass es so enden muss.“ Wie eine Waffe richtete Uriah die rechte Hand auf die junge Mutter, die ihr Glück als solche nie genießen durfte. „Mögen die Geister der Nachwelt sich deiner Seele gnädig erweisen.“ „Ich werde dort auf dich warten, Hexe!“ ... ... ... ... ... ... Die Bilder verfälschten sich vor dem inneren Auge Uriahs. Die Vergangenheit wich der Gegenwart, welche sich in den abstraktesten Formen materialisierte, bis sie gänzlich die Oberhand gewann. Völlig entkräftet rang Uriah um Halt. Ihr Verstand schien sie im Stich zu lassen. Ganz so, wie ihre Magie es zuvor getan hatte. Wie ein offenes Buch hatte sich der schlafenden Hexe Prana ihr Leben eröffnet. Nach all der Furcht und all den Gedanken an jenes Szenario, musste sich die gereifte Prinzessin nun eingestehen, dass Prana tatsächlich so mächtig war, wie sie es vermutet hatte. Doch war der erste Gedanke der Dunkelelfe ein ganz anderer: Warum errettete sie Prana aus ihrem Martyrium? Warum ausgerechnet in jenem Moment, da sie fündig geworden war? Die Antwort auf diese Frage war gar schrecklicher, als die Qual zuvor. Prana erwachte aus ihrem Schlaf! Aufrecht saß sie in der glänzend weißen Seide ihres Bettes, ihres Sarges. Entsetzen stand ihr in das schmale Gesicht geschrieben, Schrecken erfüllte ihre Augen; die Augen, die nun nicht mehr nur träumten, sondern die fassbare Realität erblickten. Es war kein Zufall, dass die Verbindung zwischen den Frauen abgebrochen war; die Absicht der nun erwachten Hohepriesterin war es jedoch genauso wenig gewesen. Alsbald sie aus ihrer Starre erwacht und wieder Herrin ihrer Sinne war, flüchtete sich die jüngere Dunkelelfe in den finstersten Verschlag der Gemäuer, weit weg von der Hexe. Zu ihrem Erstaunen schenkte Prana ihr dabei nicht die geringste Beachtung. Wie ein Geist mutete sie an, als sie versuchte, ihren schwachen Körper aufzurichten; kaum tragen, konnten sie die gebrechlichen, schlanken Beine, und wäre es nicht um ihre Magie bestellt gewesen, hätten sie das wohl auch nicht. So schlich sie zitternd zu dem in Schatten gehüllten Torbogen, bis sie nur noch ein weinrotes Banner vom Thronsaal ihres Gönners trennte. Was auch immer es war, das die graue Hexe aus ihrem ewigen Schlaf gerissen hatte, es lag jenseits ihrer Gemächer und jenseits der Verräterin, die just in diesem Moment Schutz darin suchte. Einige Augenblicke lang – vielleicht eine Minute – verließ kein Atemhauch die Kehle Uriahs, so sehr war sie darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. So sehr fürchtete sie sich. Dann zogen die bohrende Neugier und Ungewissheit sie aus ihrem Versteck hervor und ließen sie die Spuren ihrer Feindin verfolgen. Schritt für Schritt, bis einzig die noch unruhig wehende Wand aus Stoff sie von der Antwort trennte. Prana kniete auf dem kalten Boden im Zentrum des Saals, ihr wallendes, glattes Haar verbarg den größten Teil ihres Körpers. Als Uriahs Blick ihren Rücken entlang empor stieg, bemerkte sie, dass noch jemand anwesend war, ein Gast, mit dem sie in jenem Augenblick niemals gerechnet hätte. Es war Vash! Uriah erkannte sich in der Fassungslosigkeit, die der junge General ausstrahlte, wieder. Auch ihn schienen die mysteriösen Vorgänge zu schockieren, zumindest glaubte die Prinzessin das für einen Moment. Es dauerte nicht lange bis sich ihr die Situation erschloss, als sie den Blick auf die blutverschmierten Hände des Soldaten fallen ließ. Das Mordinstrument hielt er fest umklammert. Den Dolch, den ihm sein Herr einst selbst als Teil der edlen Offiziersausrüstung überreicht hatte. Vash hatte Gardif ermordet! „Lady Uriah!? Was geht hier vor?“, stammelte er um Erklärung bittend. „Schweig!“, zischte die Prinzessin noch immer panisch. Sie fürchtete sich davor, die Aufmerksamkeit Pranas zu erregen. Er leistete der Order zunächst folge, auch wagte er nicht, sich nur einen Schritt zu bewegen. Uriah rechnete fest damit, dass Prana den jungen Heißsporn für seine Tat richten würde, doch nichts dergleichen geschah. Schließlich wagte sie sich zu ihrer Artgenossin. Der Leichnam ihres Herren war im Schoß Pranas gebettet, den Kopf des alten Mannes umsorgte sie liebevoll mit ihren dürren Händen. „Was ist mit ihr?“, hauchte Vash, der mindestens so blass erschien, wie die Hexe. Als Uriah den schier aberwitzigen Mut aufbrachte, die beinahe wieder erstarrt scheinende Prana leicht zu berühren, zerfiel die einst so mächtige Magierin vor ihren und den Augen des Mörders zu Staub. Mit ihr verschwand auch die leblose Hülle Gardifs. Ein Schauspiel von unsagbarer, surrealer Schönheit. Ein Anblick, der Uriah nur deshalb nicht den Verstand raubte, da ihr jene Magie durchaus ein Begriff war. „Das kann nicht sein! Nein!“ Vash verlor die Fassung. „Ich dachte, sie wäre ... Was habe ich getan?“ „Das Richtige“, antwortete Uriah kaltblütig, noch bevor die Frage des Generals zur Gänze gestellt war und ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „I-ich musste Gardif töten! Er hat unser Volk verraten, hat Schwäche gezeigt! Es war doch ...“ „Ruhig Blut Vash.“ Uriah näherte sich dem völlig verlorenem Krieger bis auf wenige Zentimeter. Es war nicht mehr viel übrig von dem stolzen General, der das Banner seiner Rasse stets mit Ehrfurcht vor sich her getragen hatte. Konfrontiert mit dem, was er angerichtet hatte, wirkte er fast wie ein Kind – hilflos. „Verzage nicht, mein Freund, dies ist ein glorreicher Tag für unser Volk.“ Sie schmiegte den Kopf des Elfs an ihre Brust, umarmte ihn mütterlich. „Du hast ja keine Vorstellung, wie viel ich dir zu verdanken habe“, flüsterte die Hohepriesterin. Er nahm es nicht wahr. „Ich dachte, sie würde auf ewig schlafen“, wimmerte Vash. „Er hat uns belogen! Aber warum nur?“ „Es spielt keine Rolle mehr. Du musst jetzt tapfer sein.“ Die Aura der Magierin begann sich zu materialisieren. Uriah schimmerte in einem seidigen Weiß und so tat es alsbald auch der Soldat in ihren Armen. Vash bemerkte gar nicht, wie das Leben aus seinem Körper wich. „Ich bin müde ... so müde“ „Dann schließ die Augen, mein Kind.“ Zu glauben, die Tränen in den Augen der Prinzessin begründeten sich in der Trauer um den Mann, den sie meuchelte, wäre naiv gewesen. Ihr Lächeln verriet das Glück, das Uriah Seele in jenem finalen Akt des Dramas, das sie selbst kaum besser hätte inszenieren können, in Wahrheit erfüllte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)