Der Glasgarten von Gadreel_Coco ================================================================================ Kapitel 68: Fünf vor zwölf -------------------------- ~ Fünf vor zwölf ~ Schuldig sah sofort die Gestalt am Fenster, wie sie einen Schritt zurück trat, wie ablehnend der Blick war. „Ich bin… wieder da“, fiel Schuldig in diesem Moment nichts Besseres ein und lächelte etwas, denn das geschockte Gesicht Rans, dessen Ausdruck, sah fast so aus, als wäre der Teufel persönlich durch die Tür gestolpert. „Ran?“ Sein Lächeln verblasste, es fiel von ihm wie ein Mantel, den man sich über die Schulter striff und machte den Zweifeln und der Ungewissheit Platz. Gut, er wusste, dass sie dachten, er wäre tot, aber… er schaffte es nicht noch einmal, auf diese Art Ablehnung wie bei Nagi zu stoßen. Er hielt es nicht aus. Nicht von Ran… Brad fuhr sich gerade durch die frisch gewaschenen Haare, als er zur Tür hinausging und wie angewurzelt stehen blieb, den Türgriff noch in der Hand. Er starrte den Mann an, der noch an der verschlossenen Tür stand, er trug keine Waffe in der Hand, sagte ihm sein Auge. Und … …aber… wie… Ayas Blick ruckte nervös zu Crawford. Seine Augen schienen den anderen Mann um Rat zu fragen, um eine Antwort auf die offensichtliche Frage zu bitten. Wieder da… er… war… wieder… da…. Violette Augen kamen wieder auf den anderen Mann zurück, der dort in der Tür stand. Wieder da? Er war… tot. Er konnte nicht… das konnte nicht. Nein. NEIN. Das gab es nicht, es gab keine Wunder. Das Zittern begann in seinen Händen und wanderte innerhalb von Sekundenbruchteilen auf seinen gesamten Körper über. Sein Geist war nicht in der Lage das zu fassen, was er dachte, geschweige denn, was er sah. Brad ging einen Schritt auf den Mann zu, der wie Schuldig aussah, der nun sein Gesicht zu ihm wandte. Noch sagte er nichts, aber die Augen erzählten ihm viel, auch das abgehärmte Gesicht, die zerstrubbelten Haare, der lässig umfunktionierte Anzug und vor allem die Haltung… die Ausstrahlung. Das war Schuldig. Dennoch blieb Brad misstrauisch, unsicher. Und genau dieser Punkt machte ihn wütend. Auf diese Situation, auf die Tatsache… dass sie getrauert hatten, auf die Möglichkeit, dass dies doch nicht Schuldig war, dass er träumte, und das alles bald verschwinden würde. Schuldig fühlte sich als würde er über einem Abgrund stehen und nicht mehr weit davon entfernt um hinunter zu stürzen. Er spürte die Wut neben sich, fast greifbar und die… Ablehnung vor sich, in Rans Augen. Schuldig presste die Lippen zusammen, atmete tief durch die Nase ein, seine Stirn umwölkte sich. Trotzdem… er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren, er musste versuchen, das alles zu regeln. „Ich… war gerade bei Nagi… und ich habe von ihm meine Karte geholt. Ich bin schon seit drei in der Stadt… mit dem Flugzeug angekommen… ich wollte euch nicht wecken“, redete er unsinniges Zeug, aber er wusste nicht wirklich, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er war zu müde, zu kraftlos dazu. Und er war enttäuscht. Er fühlte sich, als hätte er in der Ferne eine wunderschöne Landschaft erblickt und als wäre er auf diese schöne Welt zugelaufen. Nur um gegen eine schmutzige Betonmauer zu prallen, die plötzlich vor ihm hochgeschossen war. Er fühlte sich betrogen. Um das Gefühl des Heimkommens und des Angenommenwerdenseins betrogen. Alles, was er bekam, war Kälte und Ablehnung. Das war… Schuldig. Das war wirklich Schuldig. Er… lebte? Schuldig lebte? Aya blinzelte. Das war ein Traum, er träumte noch. Schuldig war doch tot, er hatte die Bilder gesehen von dessen Leiche. Crawford hatte ihm ebenso bestätigt, dass…Nagi auch. Aya verstand nicht. Er verstand nicht, wie das sein konnte, wie es möglich war, dass so etwas geschah… das war doch absurd! Wie oft in den letzten vierzehn Tagen hatte er sich derartiges gewünscht und wie oft hatte ihn die Realität eingeholt? Sicherlich war das einer dieser Momente und er hatte angefangen zu halluzinieren, wenngleich er alles an diesem Mann erkannte… aber vielleicht gerade deswegen. Sein Geist wurde langsam aber sicher vor Trauer verrückt. Aya öffnete seine Lippen um etwas zu sagen, doch nichts kam heraus. Nichts. Er konnte nichts sagen, es ging nicht. Schuldig dagegen kam sich vor wie in Feindesland, unter Feinden. Keiner bewegte sich, sie starrten ihn nur an. Er hatte sich sein Heimkommen anders vorgestellt. Zu spät erkannte er den Schatten in seinen Augenwinkeln, da hatte ihn Brad schon am Kragen seines Hemdes gepackt und starrte ihm in die Augen, mit finsterem, deutlich wütendem Blick, für einen kurzen Moment, bevor sein Kiefer harten und schmerzhaften Kontakt mit dessen Faust erfuhr. Zunächst nur taumelnd, sackte er auf den Boden, und blieb dort halb sitzen. „Warum bist du nicht schon früher gekommen, verdammt!“, schrie Brad ihn mit heiserer Stimme an. „Du hättest eine Nachricht schicken können, irgendetwas. Warum hast du keinen Kontakt aufgenommen?“ Fragen über Fragen sprudelten über Schuldig ein, der vor sich hinstarrte und keine einzige wirklich aus der Flut erfassen konnte. „Weil ich mich dort köstlich amüsiert habe! Deshalb. Das meint ihr doch, oder?“, erwiderte er zynisch und Tränen stiegen ihm erneut in die Augen. Warum konnte er sie heute nicht zurück halten? Was war so schwer daran, hmm?, blaffte er sich selbst an. Etwas schrie in ihm, so schmerzerfüllt und gepeinigt, dass es in seinen Ohren zu schrill, zu unmenschlich klang. „Crawford.“ Das erste Wort, das ihm über die Lippen kam, war eine Bitte an den Amerikaner, inne zu halten. Er sah sie, die Tränen des Telepathen, die er nicht vergießen konnte. Er hatte keine mehr übrig. Schuldig… es war Schuldig. Ja… er lebte. Aya wusste es und konnte trotzdem nichts machen, er konnte sich keinen Schritt rühren. Sein Körper verweigerte den Dienst, sein Geist das Denken… es geschah nichts, es war Stillstand eingetreten, er stand unter Schock, dem Schock, plötzlich etwas unfassbar Schön-Schreckliches erlebt zu haben. „Du lebst“, sagte er wie zu sich selbst, wie um das Unglaubliche glaubwürdig zu machen und ihm Wahrheit zu geben. Schuldig drehte während er sprach den Kopf zu Ran herum. „Ja, gerade noch so und wenn ihr alle so weitermacht, dann kann sich das schnell ändern“, sagte er langsam, leise, lauernd. Es kotzte ihn an, ihr Verhalten. Er hatte gedacht, dass sie ihn besser kennen würden, dass sie ihn sehen würde und dann würden sie zwar kurz irritiert sein, aber dann würden sie ihn willkommen heißen. Stattdessen erfuhr er Ablehnung, Wut und Angst. Angst vor ihm. Ran hatte sich immer noch nicht bewegt, stand dort und blickte ihn mit diesem undefinierbaren Blick an, diesem hellen, bleichen Gesicht, welches noch Unglauben widerspiegelte. Schuldig brauchte einige Augenblicke, bis er sich ohne Hilfe erheben und in die Küchenzeile gehen konnte. Er fühlte die Blicke auf sich und fühlte aber auch, dass er ihnen jetzt nicht gewachsen war. Er war enttäuscht. Vor allem von Ran. „Der Auftrag war unecht und ebenso war es eine große Lüge, dass ich tot bin. Könnt ihr das nicht akzeptieren?“, fragte er leise, unterschwellig zornig. „Sie… haben mir meine Fähigkeiten genommen, deshalb konnte ich euch nicht kontaktieren. Sie wussten, dass ich ein PSI Talent bin, zumindest die, die uns in diesen Auftrag geschickt haben.“ Das war alles… durchaus logisch. Alles hatte… seine Richtigkeit. Aber Schuldigs Tod hatte für zwei Wochen ebenso seine Richtigkeit gehabt und hatte Aya beinahe in den Abgrund gerissen, weil er es ohne den Telepathen nicht aushielt. Und nun… nachdem er versucht hatte damit zu leben, dass er alles verloren hatte, sollte er mit einem Mal wieder leben können, als wenn ihm nichts genommen worden wäre? Das konnte Aya nicht. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er reagieren sollte. Er wusste nur, dass er nicht in die Küche gehen konnte, seine Beine wollten nicht. Eher im Gegenteil. Weg von hier, hallte es in ihm. Das überlebst du nicht… weg von hier. Du wirst verrückt, du kannst nicht dorthin, das geht nicht. Ran lange mit einem anklagendem Blick messend, wandte sich Schuldig schlussendlich ab und holte sich ein Glas aus dem Schrank, mit fahrigen Händen schenkte er sich Wasser ein. „Verzieht euch. Wenn ihr nicht mehr zu sagen habt als DAS oder gar nichts, dann haut ab. Es scheint, als wäre ich besser dort geblieben“, sagte er leise und starrte in das Glas. Brad konnte darauf gar nichts sagen. Er war wütend, ja, aber so recht wusste er nicht, weshalb. Aber er wusste eins, dass Schuldig jetzt für sich sein musste, nur dass er Ran… Das war etwas, das mehr Bewegung in Aya brachte als vorher. Dies hier war keine Frage, die er sowieso nicht beantworten konnte, weil ihm die mentale und körperliche Stärke dazu fehlte, das hier war ein Befehl und es war gut so. Schuldig hatte Recht… Denn zumindest er musste raus hier, er empfand diese Situation mittlerweile als Bedrohung. Noch einmal und er würde verrückt werden. Aya wandte sich mechanisch um, die Sachen, die er aufgenommen hatte, mit zum Kleiderschrank tragend. Wortlos und wie ferngesteuert nahm er sich seine Reisetasche und packte in ausgewählter Ruhe Sachen ein, die er mitnehmen würde… die Sachen, die er damals aus dem Koneko mit sich genommen hatte. Seine Haare fielen ihm mehrmals über die Schulter nach vorne, doch dieses Mal haschte Banshee nicht nach ihnen wie sie es so oft in den letzten Tagen getan hatte. Sie war bei Schuldig… bei ihrer Mama… Aya strich sich die Haare wieder zurück und packte weiter, effizient, auf das Ziel gerichtet, diese Wohnung zu verlassen… und mit ihr den Mann, der von den Toten auferstanden war. Schuldig sah dies, er hielt sich an der Arbeitsplatte fest, die in Richtung des offenen Wohnraums zeigte, nahm ein Schluck des Wassers und stellte das Glas schwankend wieder ab. Er wollte schreien, wollte Ran davon abhalten, seine Worte in dieser Art umzusetzen. Er hatte doch nie gewollt, dass er ging… er wollte doch nur… nur umarmt werden, ein wenig Wärme, nicht diese ablehnende Miene, diese Wut von Brad, der bereits in seine Schuhe schlüpfte. „Ich will dich morgen sehen“, hörte er von diesem und kurz darauf ging die Wohnungstür. Noch immer stand Schuldig da, innerlich zitternd und wankend wie ein Baum während eines Bebens. Er senkte den Kopf leicht, barg sein Gesicht in einer Hand. Alles war zerbrochen. Alles. Er hätte dort bleiben sollen. Er… Ran… warum...? Auch Aya ging nun, den Blick gesenkt. Es war schon richtig, dass Schuldig ihn herauswarf, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, auf den anderen Mann zu reagieren und sich über dessen Rückkehr zu freuen. Doch wie konnte er sich freuen, wenn er noch gar nicht richtig begriffen hatte, was geschehen war? Die Hand, die seine Tasche hielt, zitterte, die, die seinen Autoschlüssel von der kleinen Kommode nahm, ebenso. Weg… weg hier. Dann konnte er weitersehen. Nur weg hier... Die Tür klickte ein zweites Mal, als Aya dieses Kapitel endgültig hinter sich zugezogen hatte. Der Mann, den er liebte, war gestorben und wieder von den Toten auferstanden und so wollte Aya ihn in Erinnerung behalten. Lebend… wütend… nicht gebrochen. Nicht tot. Nicht wie auf diesen Bildern. Nicht kalt, bleich, der Körper wächsern und nicht mehr lebendig. Beim zweiten Klicken sank Schuldig zu Boden, lehnte an der Anrichte, die Arme über den angezogenen Knien gelegt. Tränen brannten in seinen Augen. Er versuchte sie zurückzuhalten, aber es war schlussendlich sinnlos, bis sich alles in einem verzweifelten Schluchzen löste. Banshee schlich um ihn herum, doch er hatte noch nicht einmal die Kraft um sich ihr zu widmen. Ran war fort und das nur weil er nach Hause gekommen war. Nur weil er existierte. o~ Youji ging es beschissen, die ganzen Tage schon. Er hatte abends mehr als genug getrunken, kam jede Nacht spät nach Hause um dann morgens zu spät zu seinen Schichten zu erscheinen. Omi und Ken tolerierten das noch, aber nicht mehr lange, wie er wusste. Irgendwann würden sie ihn an seine Pflichten erinnern. Pflichten… ja genau. Seine Pflicht war es, seinen Freunden beizustehen, im Speziellen Ran, der jedoch jede Hilfe ablehnte. Das wusste Youji, er hatte Ran schon immer als jemanden gekannt, der sich nur in Notsituationen anderen öffnete. Dass Schuldig tot war, war anscheinend noch keine so große Notsituation, bemerkte er zynisch. Erst, wenn Ran nur noch mit einer Zehenspitze vor dem sicheren Abgrund stand, konnte er zu ihm durchdringen. Youji seufzte leise und vergrub sich im Halbschlaf noch tiefer in sein Kissen. Ihm war übel, während er hier über die Ereignisse der letzten Wochen nachdachte; übel vom Alkoholexzess der gestrigen Nacht. Und anscheinend hatte er schon wieder jemanden mit nach Hause genommen, so zumindest fühlte sich der warme, schwere Körper in seinen Armen an. Nur dass Youji gar keinen Bock auf morgendliche Gesellschaft hatte… so überhaupt nicht. Mühsam öffnete er ein Auge und stellte fest, dass er sich eine Rothaarige geangelt hatte… an die er sich nach seinem Vollrausch natürlich nicht erinnern konnte, so eine Scheiße. Name? Na hoffentlich wusste die Gute, woran sie bei ihm war, andererseits war ihm eine Szene momentan eigentlich scheißegal. Sie ist wach, bemerkte er müßig für sich, als er die Augen sah. Und sie hat die gleiche Augenfarbe wie Ran… Gott. So nötig habe ich es schon… Er lachte, doch es kam nur ein Kratzen aus seinem Hals und richtete sich vorsichtig auf. „Hör zu… das mit letzter Nacht…“, begann er leise zu erklären, bis seinem noch alkoholvernebelten Verstand allmählich bewusst wurde, dass das keine Frau war, die wie Ran aussah… nein, das WAR Ran, der sich hier in seine Arme gestohlen hatte, in Straßenkleidung, wie es sich nach einem schwankenden Blick nach unten herausstellte und dessen Augen ihn verwirrt ansahen. „Hi“, grinste er schräg und ließ sich wieder zurückfallen, eine Hand über seine Augen legend. Es war zu früh, zu hell, zu beschissen. Was tat Ran hier? „Du hast zuviel getrunken, Youji“, sagte Ran ruhig und der blonde Weiß verdrehte seine Augen hinter seinen Fingern. Die alte Leier. Ja was sollte er denn auch tun, wenn er vor Sorgen nicht mehr weiter wusste? Hier in seinem Raum sitzen und darauf warten, dass Ran nun völlig zusammenbrach? Aber zumindest sah Ran schon besser aus… nicht mehr ganz so verzweifelt. „Wie geht es dir?“, fragte er leise und strich dem anderen eine der langen, roten Strähnen aus dem Gesicht. Dieses Mal wehrte sich Ran nicht gegen die Berührung, sondern schloss nur seine Augen. „Ich weiß es nicht…“ Das machte Youji misstrauisch, selbst in seinem vernebelten Kopf. Ran war viel zu gefasst, viel zu gelassen für die letzten Wochen. „Willst du reden, Ran?“ Es dauerte eine Weile, bis der rothaarige Japaner zu Youjis Erstaunen nickte und seine Augen sich auf einen Punkt auf seiner Brust richteten. „Ich wurde aus der Wohnung geworfen“, begann er leise. „Von Crawford?“ Youji schalt sich nachträglich für die Frage. Klar, von wem denn sonst? Schuldig? Der war tot. Für immer… „Nein… von Schuldig.“ Gut…einen Moment lang glaubte Youji an einen blöden Scherz, an Ironie oder Sarkasmus, doch ein Blick in Ayas niedergeschlagene Augen sagte ihm anderes. Doch gleichzeitig fragte er sich auch, was diesen dazu veranlasst hatte, das zu sagen. Halluzinierte Ran? Hatte ihn die Verzweiflung mittlerweile so weit getrieben, dass er dachte, Schuldig würde wieder leben? „Ran… wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig und strich seinem Freund über die eingefallene Wange. Er aß zu wenig… viel zu wenig, doch das war seine Art, mit Trauer und Stress fertig zu werden. „Schuldig ist heute morgen… aus Hongkong wiedergekommen. Er… hat doch überlebt. Er… ich… er stand plötzlich in der Tür und war… einfach wieder da. Einfach so, nach zwei Wochen… ich habe zwei Wochen geglaubt, dass er tot ist, ich bin am Ende, Youji und dann steht er einfach so da… am LEBEN…“ Leise Hysterie tränkte Rans Worte und Youji zog den anderen Mann umsorgend an sich, bevor er die Worte genauer auf sich wirken ließ. Grüne Augen weiteten sich ungläubig, doch dann begriff er langsam, was Ran ihm damit zu sagen versuchte. Schuldig lebte. Schuldig LEBTE! „Oh Gott, Ran! Das ist doch wundervoll!“, platzte er heraus. „Ran, ich freue mich so für dich… verdammt!“ Doch anscheinend schien sich Ran nicht zu freuen, so schmerzlich, wie sich seine Augen schlossen. Youji runzelte die Stirn, drehte seinen Kopf etwas zur Seite, damit er die violett schimmernden Augen sehen konnte. Schuldig lebte, aber Ran war über diese Tatsache nicht so begeistert, wie er es eigentlich sein sollte. Warum? Vor allen Dingen… „Aber da ist etwas anderes, richtig? Warum hat er dich rausgeschmissen“, fragte Youji nach einigen Momenten und sah Rans Gestalt erzittern. „Ich…er hat es nicht ertragen, dass ich nicht auf ihn zugegangen bin, dass ich ihn nicht begrüßt habe. Doch ich konnte das nicht, Youji. Ich habe Angst davor… ich kann nicht zu ihm gehen. Nicht noch einmal… was, wenn er dann wieder weg ist? Wie… kann ich diese Bilder vergessen, von seiner Leiche?“, wisperte Ran verzweifelt und vergrub sein Gesicht an der Brust des anderen und ein trockenes, ersticktes Schluchzen brach sich an Youjis Haut. Er konnte Ran verstehen, dessen Abneigung gegen einen weiteren Verlust. Ran hatte den Tod seiner Eltern bis heute nicht ordentlich verarbeitet, das wusste er und nun hatte er innerhalb von wenigen Monaten erst seine Schwester, dann den Mann, den er liebte, verloren. Konnte es jemand Ran da verdenken, dass er sich vor dem Wunder scheute, das sich Schuldig nannte? „Was hast du jetzt vor, Ran?“, fragte er nach ein paar Minuten stummer Zweisamkeit und Ran zuckte mit den Schultern. „Ich muss weg von hier, ich brauche Abstand von allem. Weg aus Tokyo.“ Das schmeckte Youji überhaupt nicht. Er wollte Ran nicht irgendwo wissen, ganz auf sich alleine und seine Sorgen gestellt, wo er ihn nicht erreichen konnte. Mit dummen Gedanken, die ihn überall hintreiben konnten. „Das halte ich nicht für gut, Ran. Du brauchst erst einmal Zeit um zu dir zu kommen… um nachzudenken. Eine überstürzte Flucht bringt da gar nichts. Wie wäre es, wenn du erst einmal hier in Tokyo bleibst, die ganze Sache überdenkst und dann siehst du weiter, in Ordnung?“ Wie gerne würde er ihm einen Schlafplatz hier im Koneko anbieten oder ihn hier in seinem alten Zimmer einquartieren, doch das würden Kritiker mitnichten tolerieren. Das war eben der Preis für eine Kollaboration mit dem Feind, auch wenn sich Youji sicher war, dass Ran in Bezug auf Schwarz kein Sicherheitsrisiko war. Vermutlich noch viel weniger als sie alle zusammen. Ran schwieg und Youji spielte für eine Weile gedankenverloren mit den Strähnen, die sich ungeordnet über den Rücken des Japaners geschlängelt hatten. Er hielt den anderen Mann gerne in den Armen, hatte er doch so das Gefühl, wenigstens etwas für ihn tun zu können und nicht ganz hilflos zu sein. Ebenso hatte er das Gefühl, dass es Ran gut tat, bei ihm zu sein. Das war…gut. „Ich hab da noch eine Adresse für eine Wohnung; die könntest du dir mal ansehen. Ist nicht mehr als ein Zimmer, aber ruhig gelegen und etwas außerhalb. Dort könntest du in Ruhe nachdenken. Wie wäre es?“ Und er wüsste immer, wo sein Freund sich aufhielt… außerdem kannte er die Vermieter. Das beruhigte Youji zumindest dahingehend schon mal. Es brauchte etwas, bis sich zögernde Zustimmung auf Ayas Gesicht abzeichnete und er langsam nickte. „In Ordnung.“ Youji lächelte. Sehr schön… dann würden sie die Sache doch mal in Angriff nehmen. Doch erst einmal würde er den Mann hier vor sich füttern. Er musste etwas mehr auf den Rippen bekommen! „Wie wäre es mit Frühstück, Ran?“, fragte er und unterband das Kopfschütteln, das sich da anbahnen wollte, mit einem freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. „Doch. Um nachzudenken musst du gestärkt sein. Omi hat sicherlich ein leckeres Frühstück gemacht, er wird sich freuen, wenn du da bist und etwas mitisst. Ansonsten kennst du ja das alte Spiel, nicht wahr? Das Spiel vom Ran, der nicht essen will und von Omi und Youji, die nicht wollen, dass Ran nichts isst.“ Ein schweres Seufzen ertönte und violette, tränenverschleierte Augen sahen hoch zu Youji. Der Anblick schmerzte, doch er lächelte schließlich zuversichtlich. Es würde sich alles regeln…irgendwie würde sich alles finden. „Alles wird gut werden, glaube es mir. Alles wird gut. Du bist nicht allein, Ran. Wir sind jederzeit da um dir zu helfen.“ Alleine war Ran wirklich nicht mehr. Sie waren da, Schuldig war wieder da und wie es Ken und Omi ihm erzählt hatten, hatte sich sogar das große Orakel um Ran gekümmert… ohne ihm etwas zu tun. Ja, alles würde sich wieder einrenken, Youji konnte es quasi schon riechen… es sei denn, es war noch der Alkohol, den er roch. o~ Der Tag hielt Einzug, es wurde heller und das trübe Grau des Himmels drängte weiter in dicken dunklen Wolken gen Erde. Noch immer saß Schuldig auf dem Boden, starrte unsinnigerweise vor sich hin, gelegentlich von Selbstmitleid überwältigt und sich darin ergießend. Es war halb elf, als er aufstand, dem kläglichen Miauen von Banshee nachgab und sich mit ihr auf die Couch setzte, damit sie sich auf seinem Schoß einringeln konnte um zu dösen. Er musste schlafen, aber wie sollte er das, wenn er ständig an Ran denken musste, an die Tatsache, dass er weg war. Durfte das sein? Wie war das geschehen? Sie hatten gedacht, dass er tot war, jetzt kam er wieder zurück… sollten sie sich nicht freuen? So wie er sich freute, dass er wieder da war? Wo war sein altes Leben geblieben, in das er so gerne zurückgewollt hatte? Sich danach gesehnt hatte, nur dafür gekämpft hatte? Nur deshalb… nur weil er geglaubt hatte, dass Takaba Ran war konnte er einen kleinen Rest seiner Fähigkeiten bewahren. Zwar nur, um den Jungen zu beschützen, aber immerhin. Und jetzt war sein altes Leben zerplatzt wie eine Seifenblase, die zu lange gelebt und ihre Spannung verloren hatte. Im Laufe des Tages wanderte er durch die Wohnung, setzte sich auf verschiedene Plätze, auf die Fensterbank, in die Küche, in die Kissenecke, selbst auf die Terrasse ging er. Sonst tat er nichts. Bis er schließlich abends ins Bett fand. Er legte sich zunächst auf seinen Platz, ursupierte das Kissen und der Geruch kam ihm bekannt vor, aber es war nicht Ran. Vermutlich war es Brad gewesen, der hier gelegen hatte. Schuldig deckte sich zu und robbte in die Mitte, grabschte sich das andere Kissen und raffte es an sich, lag auf Brads Kissen und hatte Rans im Arm. Sie hatten hier beide geschlafen, nebeneinander… vielleicht sogar aneinander… Schuldig schloss die Augen, heiße Tränen quollen wieder hervor, obwohl er nicht wusste warum. War er eifersüchtig? Nein. Er wusste es nicht. Es war nur… verletzend, wie sie ihn ausgeschlossen hatten, wie sie ihn behandelt und angesehen hatten. Und sie waren hier beide gelegen und er hatte sie… beide vermisst. Als er so dalag und Banshee beim Mäusejagen zuhörte, ein durchaus vertrautes und anheimelndes Geräusch, kam ihm ein Gedanke. Waren sie deshalb so gewesen? Weil sie beide… etwas begonnen hatten, im Glauben, dass er tot war? In ihrer Trauer um ihn? Hatten sie sich zusammengerauft…? Er glaubte nicht, dass sie schon früher mehr für einander empfunden hatten, dazu war zuviel Antipathie und ehrliche Abneigung vorhanden gewesen. Die Fragen wurden nicht weniger und nur schwer fand er in einen unruhigen, alptraumhaften Schlaf hinüber, aus dem er mindestens drei Mal erwachte und dann wieder in sein Lager hineinsank. Getröstet vom anheimelndem Geruch der Vertrautheit. Er musste gegen morgen in einen tieferen Schlaf gesunken sein, denn irgendwann kitzelte ihn etwas an der Nase und er schreckte auf, was das kitzelnde Flauschknäuel ebenfalls aufschreckte und vom Bett fahren ließ. Er drehte sich auf den Rücken, stöhnend und ächzend und hörte das sanfte Miauen. Da hatte wohl jemand Hunger. „Hast du Hunger, Banshee?“ Er robbte zur Bettkante, koste ihr begrüßend über das Köpfchen und streckte sich während er aufstand. Er hatte es vorgezogen wegen der Wunden einen Kimono zum Schlafen zu tragen, da der Bund einer Hose scheuerte und die Bettwäsche nicht von etwaigem Sekret oder Schorf beschmutzt werden sollte. In die Küche gehend, blickte er auf die Uhr und sah mit einer großen Portion Resignation, dass es erst halb acht Uhr morgens war. Sich durch die Haare raufend und dazu unflätig gähnend richtete er Banshee ihr Essen, sah ihr zu, wie sie hungrig zu essen anfing, bevor er sich ins Bad begab. Er fühlte sich wie gerädert. Die Nacht hatte ihm nicht die erhoffte Stärkung gebracht, ganz im Gegenteil. Er fühlte sich schlimmer denn je. Es dauerte wirklich lange bis er sich gewaschen, die Haare geföhnt, Zähne geputzt, Nägel geschnitten, und rasiert hatte. Er musste dringend einmal wieder zum Friseur, stellte er fest. Wobei… das half auch nichts mehr, so fertig wie er aussah. Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es ihm vorkam, kam er wieder heraus und ging zum Kleiderschrank, suchte sich eine Jeans und ein olivefarbenes Hemd heraus, dazu einen schwarzen Pullover. Weiß konnte er heute nicht anziehen, er würde ohnehin in jeder Farbe nicht unbedingt wie das blühende Leben aussehen. Eher wie Gevatter Tod nach einer durchzechten Nacht, scherzte er in Gedanken und musste trotz seiner trüben Stimmung darüber grinsen. So gegen Mittag verließ er dann die Wohnung in Richtung Nagi, Brad und Jei. Er hatte nur einen Tee getrunken und hoffte er konnte bei den Dreien noch eine Kleinigkeit essen. Zwar hatte er nicht gesagt, wann er kommen würde, aber er war nie ein großer Freund von Terminen gewesen. Er nahm den Jeep, wusste zwar nicht wie er wieder zurückkommen wollte, wenn er den Wagen abgeliefert hatte, aber vielleicht fuhr Nagi ja mit und dieser konnte den Wagen wieder mit nach Hause fahren… o~ Brad war es in dieser Nacht nicht besser gegangen. Er hatte lange nicht schlafen können und war erst gegen morgen eingenickt, bis ihn Nagi zum verspäteten Frühstück geholt hatte. Das war vor einer halben Stunde gewesen. Als er gestern nach Hause gekommen, war hatte er Nagi aufgewühlt vorgefunden, Fragen hervorsprudelnd wie eine heiße Quelle. Sie hatten einige Zeit darüber geredet, waren immer wieder auf dieselben Antworten gekommen und ihnen blieb schließlich nichts anderes übrig, als auf Schuldig zu warten. Nun klingelte es und kurz darauf ging die Haustür. Erst hatten sie sich alle angesehen, dann sofort wohl das Gleiche gedacht. Brad erhob sich und ging in den Wohnraum. Und tatsächlich Schuldig kam ihm entgegen. Brad behielt seine Gefühle für sich, wie stets, aber auch wie Ran fiel es ihm schwer, das Positive zu zeigen. Gern hätte er es getan, aber alles in ihm blockierte. „Du kannst nicht schlafen.“ Schuldig zog sich die Lederjacke sehr bedächtig von den Schultern, was Brad misstrauisch werden ließ. Er bewegte sich, als befürchte er Schmerzen, als wäre seine Bewegung eingeschränkt. Aber… hatten sie wirklich gedacht, dass Fei Long seine Gefangenen auf Rosen bettete? Nein, doch eher nicht. „Kann ich etwas für dich tun?“, brachte er dann doch heraus als Schuldig sich die Schuhe auszog und zu ihm kam. „Frühstück wäre nicht schlecht“, grinste Schuldig in altbekannter Manier. Allerdings sah es etwas abgeschwächt aus, was wohl daran lag, dass er sehr abgekämpft aussah. Brad nickte und machte eine Kopfbewegung in die Küche. „Wir sind noch dabei.“ „Okay. Ich wasch mir nur schnell die Hände“, erwiderte Schuldig und ging in Richtung Bad. Er atmete tief ein. Im Badezimmer angekommen, drehte er das kalte Wasser mit zittrigen Händen auf. Der Anfang war gemacht, und Brad war doch nicht ganz so ablehnend gewesen, nur die übliche ruppige Art. Damit konnte er leben. Das war vertrautes Terrain. Er schöpfte sich mit den Händen kühles Wasser ins Gesicht. Dass er sich ihnen einmal so fremd und fern vorkommen würde… Lag es daran, dass er seine Fähigkeiten nicht mehr benutzen konnte? Machte es ihm zu schaffen? Er registrierte, wie jemand ins kleine Badezimmer gekommen, war und sah auf. Es war Brad, der ihm gerade ein Handtuch reichte und ihn mit forschendem Blick maß. Schuldig wischte sich darüber und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als er in eine harsche Umarmung gezogen wurde, am Nacken und am Rücken gehalten, was ihn zusammenzucken ließ. Sofort ließ Brad seine Umarmung sanfter werden. „Du hast Schmerzen.“ Schuldig schloss für einen Moment die Augen, bevor ihn Brad wieder entließ. Er lächelte etwas und verzog den Mund leicht. „Ja. Aber sag es den anderen nicht. Ich will nicht zu viel Wirbel darum, das würde mich nur nerven.“ Er blickte noch einmal in den Spiegel, hängte dann das Handtuch an die Seite. „Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, ich wusste gar nichts über dich… über euch. Und Fei Longs Drogen haben mir die Telepathie gänzlich bis auf einige Möglichkeiten genommen. Sonst… wäre… das alles nicht passiert.“ Brad lehnte sich an den Türstock, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich habe gesehen, wie Fei Long dich… erschoss… zumindest dachte ich es. Er zielte, schoss und du hast dich nicht mehr gerührt, die Verbindung förmlich aus mir herausgerissen. Das hat verdammt weh getan.“ Seine Worte waren neutral, ohne Anklage, oder spezifische Wertung. Doch Schuldigs Augen wurden größer, sahen schuldbewusst drein und er trat näher. „Fühlst du es noch immer?“ Er wusste… dass so etwas schmerzhaft war, dass es einen seelisch sehr belasten konnte und… „Darf ich…?“, fragte er und er hob seine Hand, wollte an Brads Schläfe fassen, doch dieser fing seine Hand vorsichtig ein und zog sich herunter. „Es ist schon gut, erhol dich erst einmal und wenn deine Kräfte wieder voll da sind, dann siehst du nach…“ Schuldig spürte, dass da noch mehr war, dass Brad vor ihm etwas verbarg, aber es nutzte nichts wenn er jetzt drängte. Er war ja noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt funktionieren würde… Sie sahen sich noch für einen Moment in die Augen, bevor sie sich gleichzeitig auf das gleiche ungehörte Signal abwandten und in die Küche gingen. Nagi begrüßte ihn für seine Verhältnisse überschwänglich und sie frühstückten gemeinsam. Danach unterhielten sie sich über das Erlebte, fügten alle Informationen zusammen und Nagi übertrug alles auf seinen Rechner. Ein kleiner Kriegsrat wurde abgehalten und die nächsten Schritte wurden besprochen. Nagi begann zu recherchieren, woher die Bilder aus dem Leichenschauhaus kamen, wer der Betreiber war, wer Kontakte zu Fei Long hatte. Schuldig fertigte sogar ein Phantombild von „Herrn Kawamori“ an. Ein zarter, unscheinbarer Mann mit kinnlangen, schwarz-braunen Locken und braunen Augen. Nichts, was hervorstach. Nichts, was den anderen bekannt vorkam. Sie arbeiteten lange und Brad und Nagi machten weiter, als Schuldig sich kurz ausruhte, nachdem er seine eigene Leiche gesehen hatte. Hübsch hatten sie ihn hergerichtet, dass musste man ihnen lassen, grimmte er in Gedanken und purer Hass formte sich in seinen Augen und… in seinen Gedanken. Jetzt wusste er auch, woher die hellen Flecken auf einigen Stellen seiner Haut herrührten. Scheinbar hatten sie nicht alles entfernen können bei ihrer kleinen Maskerade. Irgendjemand würde dafür bezahlen, dass er Ran und… den anderen soviel Schmerz und Leid zugefügt hatte. Nur allein mit diesen Bildern. Vom Rest wollte er gar nicht sprechen. Gegen Nachmittag begann er dann mit Jei alte Übungen aus SZ Tagen zu machen und er spürte wie einige Teile seiner Fähigkeiten wieder verfügbar waren. Aber es war, als würde er durch zähflüssigen Honig sehen, greifen und hören. Erst spät am Abend fuhr er mit Brad nach Hause, der den Wagen dann wieder mitnahm. Schuldig hatte ihn nicht danach gefragt, ob er mit Ran etwas am Laufen gehabt hatte. Es schien ihm ungerecht und deplatziert. Außerdem hatte er festgestellt, bei aller Eifersucht… es wäre ihm egal gewesen, wenn ja. Die nächste Nacht verlief nicht besser und er wartete ab vier Uhr morgens nur mehr darauf, dass er aufstehen, sich anziehen und Ran suchen konnte. Er hielt es einfach nicht mehr aus ohne ihn, ohne dass er ihn im Arm halten konnte und durfte. Viel zu sehr sehnte er sich nach diesem Mann, nach der Wärme, der Geborgenheit und dessen Liebe. Er musste mit ihm reden, ihn überzeugen, wieder zu ihm zu kommen. Sie mussten doch eine Lösung finden, für welches Problem auch immer. Aber… wo war Ran? Der einzige Ort an dem er seine Suche beginnen konnte war … o~ „…im Koneko. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Youji und nahm die Bestellung für eine Hochzeit in drei Tagen in Empfang, die sie schon vorher abgesprochen, aber jetzt nur noch extra zusammengestellt hatten. Die Elemente mit den Weidekätzchen, dann die Rosen in gelb und rosé, eine rote Rose, viele Gerberas… das würde eine Heidenarbeit werden. Wie er sich darauf freute. Lautlos gähnen schloss er den Bestellzettel ab und bedankte sich bei dem Kunden, legte auf. Der Laden war um diese Uhrzeit noch nicht so bevölkert, doch Youji war schon recht produktiv gewesen, wie er sich selbst loben musste. Er hatte bei den Vermietern angerufen, sich erkundigt, ob Ran sich bei ihnen eingemietet hatte nach ihrem Gespräch. In der Tat… Ran war tatsächlich da. Sehr schön. Dann hatte er sich erst einmal um sich selbst gekümmert und dann den Laden auf Vordermann gebracht. Er heftete den Zettel an ihre Bestellwand und machte sich mit der Gießkanne daran, die Pflanzen zu gießen, die noch Wurzeln hatten. Die Tür öffnete sich geräuschlos, erst als Schuldig eingetreten war, hörte er den melodischen Ton, der das antike Palimpalim abgelöst hatte. Da seine Fähigkeiten mit Abwesenheit glänzten hatte er sich dafür entschieden auf altbewährte Art hier aufzutauchen. Durch den Vordereingang und gut getarnt, sodass er nicht so schnell erkannt werden konnte. Hoffte er zumindest. Noch immer fraß die Unsicherheit und Angst in ihm an dem Loch, welches stetig größer wurde. Sein Haar war zusammengebunden und unter einer schwarzen Wollmütze versteckt, seine Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Wie gut, dass es Tag war und es Tokyo war. Kein Grund, wegen einem Mann mit Sonnenbrille im Winter misstrauisch zu werden! Dazu hatte er sich für eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover samt schwarzer taillierter Glattlederjacke entschieden, unter der ein Holster samt Halbautomatic ruhte. So stand er nun, seine Hände in Lederhandschuhen versteckt inmitten von Pflanzen und sah sich erst einmal innen, dann sofort mit einem Blick auf die Straße gerichtet dort um. Es war ihm augenscheinlich keiner gefolgt. „Einen schönen guten Tag!“, flirtete Youji und drehte sich um… und blieb im nächsten Moment wie erstarrt stehen. Auch wenn man anhand der Sonnenbrille und der Mütze die Augen und Haare des Telepathen nicht erkennen würde, so wurde ihm spätestens durch den geheimnisvollen Aufzug des Deutschen klar, um wen es sich hier handelte. Das war also der Todgeglaubte. Youji seufzte schwer. Wenn Schuldig noch auf zwei Beinen laufen konnte… „Hallo Schuldig“, grüßte er den anderen ruhig. Dieser nahm die Brille ab und grinste missglückt, ein wenig verlegen. Sein Aufzug war nicht der Beste, schon allein die dunkle Mütze ließ sein Gesicht schmaler und blasser erscheinen. Aber… daran konnte er jetzt auch nichts ändern. Es ging ihm nicht gut, warum sollte er es verbergen? Nur… dass er sich schutzlos und angreifbar ohne seine Telepathie fühlte, brachte ihn fast um… den Verstand. „Hi“, sagte er etwas unbeholfen und holte tief Luft. „Ähm. Hast du… habt ihr… Ran gesehen?“ Er schluckte, war nervös und zog die Brauen zusammen. Er hasste diese Situation. Ran war weg. Wegen ihm. Und er fühlte sich mies deshalb, ihm war zum Heulen zumute. Jetzt sofort, hätte er losplärren können. Oh Himmel…Schuldig war noch fertiger, als er es in Verdacht gehabt hatte. Anders konnte sich Youji das Auftreten des Telepathen nicht erklären, der ihm gleich davon zu laufen schien, wenn er die falsche Bewegung machte. „Er war hier… ja“, bestätigte Youji und nickte dem anderen Mann zu, ihm in die Küche zu folgen. Von dort aus suchte er nach Omi und bat ihn, für ihn eben kurz auf den Laden aufzupassen, weil er ‚wichtigen Besuch’ hatte. Omi war zwar nicht begeistert, steckte seinen Kopf aus dem Wohnzimmer und seine Augen wurden groß, als er Schuldig sah. Doch Youji gab ihm zu verstehen, dass der andere Mann nun keine aufgeregten Fragen gebrauchen konnte und Omi zog sich wieder zurück…wie Youji jedoch vermutete mit großen Ohren zum Lauschen. Er konnte es ihm nicht verdenken. Omi wusste zwar, dass Schuldig lebte, doch ihn zu sehen… Youji selbst kam wieder in die Küche zurück und schloss die Tür hinter sich. „Du siehst scheiße aus“, sagte er dem Telepathen ins Gesicht und holte aus dem Kühlschrank Saft, schenkte Schuldig ein Glas ein. „Willst du was essen? Was Warmes? Siehst aus, als könntest du es vertragen.“ Schuldig folgte dem Wink und fand sich in der Küche wieder. Wo sonst? Wurden nicht alle wichtigen Gespräche in der Küche absolviert oder war nicht der beste Ort auf einer Party… die Küche? „Danke. Ja… ich habe noch nichts gegessen.“ Das war alles was er dazu sagte. Nein, danke ich möchte nichts, oder ja bitte, ich möchte etwas, kam ihm nicht über die Lippen, nur die Information, dass er noch nichts gegessen hatte und eine magere Bedankung für das Getränk. Er setzte sich und zog seine Mütze vom Kopf, knetete sie in seinen Händen. „Er… ich…“ fing er eine Erklärung an aber wirklich voran kam er nicht. „Geht es ihm gut?“, fragte er anstatt dessen und blickte hoffnungsvoll auf, vorsichtig. Youji wandte sich zunächst zum Herd und stellte die Misosuppe, die es heute zum Frühstück gegeben hatte, auf große Flamme. Er holte eine Schale aus dem Schrank und legte Stäbchen hinzu, bevor er sich zu Schuldig umdrehte. „Er ist verstört. War es, als er die Nachricht von deinem angeblichen Tod erhalten hat, ist es jetzt wieder. Es geht ihm nicht gut“, erwiderte er dann wahrheitsgemäß. „Wo warst du diese zwei Wochen, Schuldig?“ Dieser stützte seine Unterarme auf sein Knie und starrte auf den Boden vor sich hin, drehte seine Mütze dankbar für die Beschäftigung, die seine Hände somit hatten. „In Gefangenschaft. China. Unser Auftrag… jemand hat uns gelinkt. Wir sind darauf hereingefallen. Und… wieder…“, er lachte glücklos auf, wischte sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. „…bin ich es der einbehalten wurde. Das sollte mir langsam zu denken geben. Vor allem… haben sie mich wieder mit Drogen ausgeknockt.“ Tja… wie Kritiker nur im größeren Stil. Er war wirklich dumm. Ein dummer Mensch. „…und wieder konntest du nichts dafür, weil der Plan einfach zu gut war, als dass du irgendetwas dagegen hättest du können“, vollendete Youji die Selbstanklage des Deutschen so wie er die Situation sah und schüttelte den Kopf. „Das klingt, als wärest du schuld daran. Schwachsinn.“ Hinter ihm hatte die Suppe angefangen zu kochen und er setzte sie von der Platte, schenkte Schuldig ordentlich ein und stellte die Schale samt Stäbchen vor dem Telepathen auf den Tisch. Das war alles eine große Scheiße, befand Youji. Schuldig tat ihm wirklich Leid, ebenso wie Ran und er wünschte sich nichts sehnlicher für die Beiden, dass sie wieder glücklich miteinander wurden. Doch momentan? Schwierig, das war es. „Weißt du, wer dich gefangen gehalten hat?“ Schuldig blickte auf. „Ja, unser Ziel. Einer der großen Bosse aus Hongkong, wenn nicht gleich DER große Boss“, murmelte Schuldig. „Die hatten gewusst, dass wir kommen und uns dann sauber in die Pfanne gehauen. Es waren einfach zu viele. Als hätten sie gewusst, dass ich mit dieser Masse nicht klar kommen würde. Als wir den Auftrag starteten, war es, wie es sein sollte, die übliche Zahl an Wachpersonal, alles hübsch normal. Als wir dann auf dem Grundstück waren, waren es fünfmal so viele. So schnell kann ich kein Netz errichten, das geht einfach nicht. Und… alles andere hätte Brad gefährdet. Ich entschied mich für Brads Sicherheit in einem Atemzug und dann lag ich auch schon auf dem Rasen mit einer Waffe auf mein Gesicht gerichtet“, erzählte er die Kurzfassung. Er wandte sich an den Tisch um und erhob sich dann doch, zog sich seine Jacke aus, diese, samt Handschuhen und Mütze auf den benachbarten Stuhl ablegend. Erst dann zog er sich die Schale heran. Sie war heiß. Youji ließ Schuldig erst einmal Ruhe essen und überdachte die Worte seines Gegenübers. Schwarz wurde gelinkt. Sehr dumm, das nicht in Verbindung mit Ran zu bringen, der nicht vor allzu langer Zeit von diesen Typen zusammengeschlagen worden war. Schwarz war aufgeflogen… im Privaten wie auch im Beruflichen. Es war eine deutliche Warnung, das konnte Youji sehen und er sah aus der ganzen Misere nur einen Ausweg: dass Schwarz für immer aus Tokyo verschwanden, untertauchten und sich abschotteten. Was natürlich nicht die Ideallösung für Rans und Schuldigs Beziehung war. „Du siehst alles in allem recht unversehrt, aber geschwächt aus. Geht es dir gut oder haben sie dir noch andere Dinge angetan?“, fragte er ruhig und setzte sich auf die andere Seite des Tisches, spielte nun mit seinem Glas. Schuldig trank einen Schluck der wohlschmeckenden wärmenden Suppe, ließ den anderen nicht aus seinem taxierenden Blick dabei. Er wollte nicht, dass jeder wusste, was er auf seiner Rückseite hatte. Aber lügen brachte auch nicht wirklich etwas… „Nichts, was ein Pflaster nicht wieder heil macht“, gab er zurück, doch sein fester Blick in Yohjis Augen sagte mehr, vor allem aber, dass dieser seinen Mund halten sollte, falls er mehr vermutete. Weder wollte er darüber sprechen, noch sollte Yohji Mutmaßungen anstellen. „Darum sollte sich dann Ran kümmern“, lächelte dieser mit Bedacht in der Stimme und nickte. Anscheinend hatte Schuldigs Freizügigkeit gerade eben ihre Grenze erreicht. Nicht, dass Youji es nicht verstehen könnte. Es war in der Tat wirklich etwas, mit dem nur Ran umgehen können würde. Wie sich das allerdings auf ihre zukünftige Beziehung auswirken würde, stand noch in den Sternen. Er saß einige Augenblicke da, trank seine Suppe, fischte die Einlagen heraus und legte nach Beendigung des Mals die Stäbchen beiseite, dabei in die leere Schale starrend. „…ich saß in diesem Drecksloch und ich dachte nur“, fing er aus heiterem Himmel an. „…ich muss zurück zu ihm. Weil er doch sonst durchdreht, weil er doch sonst aufhört zu essen, weil er es nicht ertragen würde. Nur allein deshalb hätte ich sie alle vernichtet. Nur deshalb.“ Er holte tief Luft und blickte dann auf. Seine Augenfarbe hatte ein intensives Grün angenommen. „Und dann komme ich nach Hause und sie starren mich an, der eine bricht mir halb den Kiefer und der andere… weicht vor mir zurück. Ran… ich… ich komme zurück und er entfernt sich von mir…“, fast unverständig blickt er zur Seite, die Augen ins Nichts gerichtet. „Es war, als wäre es besser gewesen dort zu bleiben, sie im Glauben zu lassen ich wäre tot, dann wäre doch alles prima für die beiden oder? Sie könnten sich trösten und…“ Er holte tief Luft und schüttelte einmal den Kopf, sah wieder zu Yohji hin, doch fast durch ihn hindurch mit einem abwesenden Lächeln. „Vergiss es, ich rede einen Mist zusammen, liegt wohl daran, dass ich nicht besonders gut schlafe…“ „Ja… du redest ganz große Scheiße, mein Lieber“, knurrte Youji wütend. Er glaubte nicht richtig zu hören. Es wäre besser gewesen, dass Schuldig dablieb und Ran trauern ließ…verzweifeln ließ? Youji hielt Schuldig zugute, dass dieser noch unter Schock stand, sonst hätte er ihm eine reingehauen. „Während du in dem Drecksloch saßt, saß Ran zusammengekauert bei mir oben im Zimmer in der Ecke, hat sich die Augen ausgeheult und um sich geschlagen, als ich versucht habe, ihn zu trösten. Er konnte noch nicht einmal atmen vor Trauer, vor Tränen und vor Verzweiflung, dass er auch noch das Letzte verlor, was er geliebt hat. Das hat er nämlich immer wieder gesagt… ‚aber ich habe ihn doch geliebt’ …immer und immer wieder. Er IST durchgedreht und er HAT aufgehört zu essen und nur DEIN Anführer hat ihn dazu gebracht, weiter zu machen. Sich jeden Tag wieder hochzuquälen, zu essen, sich um sich zu kümmern… weil er keinen SINN mehr gesehen hat. Und dann… dann kommst du wieder und…“ Youji stockte und raufte sich die Haare, schüttelte fassungslos den Kopf. „Klar ist es SCHEIßE für dich, wenn sie dich beide abweisen… aber was meinst du, was sie in dem Moment gedacht haben… oder ob sie überhaupt dazu in der Lage waren… oder ob sie einfach Angst hatten. Was meinst du, was sie in den zwei Wochen durchgemacht haben?“ Wir alle!, fügte er in Gedanken an, veräußerte es jedoch nicht laut. Schuldig ließ die Worte über sich ergehen, er fühlte sich nicht in der Lage etwas zu erwidern. Es trieb ihm nur wieder die Tränen der Schwäche, der Resignation, der Müdigkeit und der Schmerzen in seiner Seele, in die Augen. Es tat ihm in der Seele weh, so schwach zu sein, dass er wegen jedem lauten Wort schon eine enge Brust bekam. Wo war seine Schwärze, seine Stärke, wenn er sie mal brauchte? Aber er wusste zu gut, dass sie lauerte, dass er sie bewusst unterdrückte, weil er ihr derart harsch sagte, dass er alles unter Kontrolle hatte, sodass sie es auch glaubte. Tränen in Schuldigs Augen zu sehen, war trotz seiner ehrlichen Worte das Letzte, was Youji gebraucht hatte um sich richtig gut zu fühlen, wie er zynisch anmerkte. Er kam sich wie der letzte Sadist vor und der Telepath wie ein getretenes Hündchen - von IHM wohlgemerkt. „Halt dir vor Augen, wo ihr gestartet seid und nimm das, was noch von dir übrig ist zusammen, um zu ihm zu gehen. Ich habe ihm eine Wohnung hier in Tokyo Wohnung vermittelt. Fahr hin und rede mit ihm. Er braucht das, du brauchst das, ich brauche das für meinen Seelenfrieden.“ „Dann sollte ich wohl los, nicht dass ich dir noch einen Psychiater empfehlen muss“, sagte Schuldig leise, aber eigentlich sollte es ironisch gemeint sein, nur kam diese Ironie nicht wirklich durch die waidwunde Stimme hervor. Man hörte, dass tief unter all dem Verletzten der alte Schuldig war. Er nahm einen Schluck von dem Saft und noch einen, bevor er sich erhob. „Danke… für die Suppe“, sagte er und zog sich die Jacke über. Er wollte sich noch für die Adresse bedanken, aber brachte es nicht wirklich raus. „Nichts zu danken, für den zukünftigen Schwager doch immer gern.“ Youji nickte dem anderen Mann lächelnd zu, doch insgeheim schauderte es ihn vor der zusammengesunkenen Gestalt. Schuldig so menschlich, so schwach zu erleben, hatte etwas Verstörendes an sich, das er in der nächsten Zeit nicht noch einmal wiederholen wollte, wenn man ihn fragte. Er hoffte wirklich für die beiden, dass sie es geregelt bekamen, denn dass es dem einen ohne den anderen schlecht ging, war einfach nicht zu übersehen. Schuldig überhörte das Gesagte zumindest reagierte er es äußerlich nicht darauf, sein Gesicht schien wie eingefroren zu sein. Als hätte er den größten Teil seiner Fähigkeit, mit dem Gesicht seine Gefühle auszudrücken, eingebüßt. Trotzdem musste er innerlich doch über Youjis Bemerkung schmunzeln. „Schreibst du mir die Adresse auf?“, bat Schuldig, zog den Reißverschluss der Jacke bis zur Mitte hoch, sodass er immer noch locker seine Waffe ziehen konnte. Er setzte sich die Mütze wieder auf, stopfte seine auffälligen Haare wieder darunter und zog seine Handschuhe wieder an. „Natürlich.“ Youji angelte nach einem Zettel und kritzelte die goldenen Schriftzeichen darauf. Schuldig würde eine Weile unterwegs sein um dorthin zu gelangen. „Vielleicht solltest du etwas zu essen für ihn mitnehmen, er wird sicherlich noch nichts zu sich genommen haben“, schlug er vor und reichte Schuldig den Zettel. Das lockte ein sanftes Lächeln auf Schuldigs Gesichtszüge, als er auf den Zettel blickte und er nickte, bedankte sich nun doch und steckte den Zettel sorgsam ein. „Gute Idee“, wisperte er und überlegte sich bereits Rans Lieblingsspeisen… schade, dass er die Honig -Mandel-Bällchen nicht vorbereitet hatte… aber wenn sie nach Hause kamen, würde er sie machen! Nur für Ran! „Ich hab immer gute Ideen, noch nicht gewusst?“, grinste Youji selbstsicher, aber mit einem Zwinkern. „Und nun raus hier. Du sollst deine Zeit schließlich nicht hier vertrödeln, sondern mit Ran sinnvoll nutzen“, meckerte er väterlich, aber nachsichtig und hob eine Augenbraue. Schuldig nickte nur und machte sich zur Tür hinaus. Er hoffte, dass Kudou Recht behalten würde, dass Ran es brauchte, wenn er mit ihm sprach, dass er es wollte, dass Schuldig zu ihm kam, doch er fürchtete sich zeitgleich auch, dass Ran ihn erneut ablehnte. Was sollte er dann machen? Er verließ diesen Stadtteil gen Westen. o~ Wenn diese möblierte Ein-Zimmer-Wohnung etwas Gutes hatte, dann war das ihre Aussicht. Im vierzigsten Stock eines Wohnbunkers konnte er alles überblicken, was Tokyo darstellte, so er denn gewollt hätte. Doch Aya saß seit anderthalb Tagen am schmutzigen Fenster und starrte blicklos heraus, die Geräusche der anderen Hausbewohner ein stetiges Hintergrundmurmeln…mal leiser, mal lauter, je nach Situation. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren und sich darüber klar zu werden, wie es jetzt weitergehen würde. Zu einem Ergebnis war er nicht gekommen, doch Ausgangspunkt war immer Schuldigs Rauswurf. Zurecht oder nicht zurecht, das war egal… aber Aya wusste, dass er es genauso wollte. Schuldig so in Erinnerung behalten, wie er ihn zuletzt gesehen hatte: abgekämpft, sichtlich gezeichnet, aber lebend… das war das Wichtigste. Lebend, nicht tot. Wenn er jetzt ging und nie wieder kam, konnte er sich für immer einreden, dass Schuldig es überlebt hatte und dass es diesen außergewöhnlichen Menschen doch noch gab. Dann konnte er sich abschotten, weggehen und sich stählen, so wie er es zu Weiß’ Zeiten mal getan hatte. Verlieben würde er sich nie wieder, geschweige denn, dass er jemanden so nah an sich heran lassen würde, dass er ihm emotional gefährlich werden könnte. Sein Team besaß genug seiner freundschaftlichen Gefühle, die er noch aufbrachte… sie würde er nicht hinter sich lassen können, ebenso wenig wie Schuldig. Doch… sie würden eine positive Erinnerung in dem dunklen Chaos bleiben. Alles in allem klang das gut, ein umsetzbarer, realistischer Plan, nachdem er in der nächsten Zeit leben konnte. Dass er dafür aus Tokyo wegmusste… war ein Übel, das unumgänglich war. Denn sonst hätte er immer wieder die Chance und die Gefahr, auf Fragmente seiner Vergangenheit zu treffen. Oder die Chance, dass Fragmente seiner Vergangenheit ihn fanden, so sie denn wollten. Ran bettete seine Schläfe auf die angezogenen Knie und schloss die Augen. Einmal Einzelgänger, immer Einzelgänger, oder wie sagte man so schön? Der Tod seiner Eltern hatte ihn zu einem regelrechten Soziopathen gemacht, jemand, der von anderen Menschen fernhielt, aber auch jemand, der gleichzeitig die Nähe einigerweniger suchte. Doch ein gebranntes Kind scheute Feuer. Sehr sogar. Und wenn dieses Feuer Trauer und Verzweiflung hieß, so wollte er es kein zweites Mal durchleben. Samt zwei Tüten und deren leckeren Inhaltes ging Schuldig nach einer längeren Stop-and-Go-Fahrt durch die Stadt zu dem aparten Hochhaus. Er hatte seinen Wagen weiter weg geparkt und öffnete nun die Eingangstür des Wohnhauses, ging zu den Aufzügen und stieg in einen der Wartenden ein. Er drückte den Knopf, auf dem die 24 stand und wartete ungeduldig, bis er oben angekommen war. Der Flur war leer, dunkel und nicht wirklich anheimelnd. Er sah sich um und blickte auf die Wohnungsnummern, ging dann zügig in den hinteren verwinkelten Teil des Stockwerkes, bis er vor der Nummer stand, die Kudou ihm aufnotiert hatte. Er klopfte einigermaßen selbstsicher, auch wenn er das momentan überhaupt so gar nicht war. Er hatte Angst, dass Ran… Nein, denk nicht daran! Sprich erst mit ihm… Aya konnte dieses Geräusch, das seine Stille durchbrach, erst gar nicht richtig zuordnen, bis er darauf kam, dass es wohl seine Tür sein musste. Wer auch immer das war, er hatte keine Lust aufzumachen und sich irgendwelchen Problemen zu stellen, die dort auf ihn zukommen mochten. Hier war eine... nicht seine Höhle, in der er sich verkriechen konnte und hinter der Tür war draußen, die Welt, die er erst wieder betreten würde, wenn er innerlich genug gestärkt war. Wie er sich allerdings innerlich stärken sollte, wenn er es schon körperlich nicht schaffte, war die andere Frage. Dazu hatte er sich in den letzten Tagen einfach zu oft und zu sehr darauf verlassen, dass Crawford für ihn kochte und er sich ins gemachte Nest setzen konnte... verwöhnt, wie er war. Vorbei, ein für alle Mal. Das musste sich ändern, das wusste Aya nur zu gut und den halbherzigen Entschluss hatte er auch schon gefasst... ein guter Vorsatz. Doch was sagte man zu guten Vorsätzen so schön? Sie waren die Pflastersteine in wärmere Regionen... sprich, der Weg zur Hölle. Nicht, dass er sich nicht noch mehr in der Hölle fühlen konnte wie jetzt. Sein Blick glitt zur Tür, als könne er durch das Metall sehen, wer dort stand. Vielleicht waren es aber auch die Vermieter, die wirklich nett waren... Pflichtgefühl schlich sich in ihn, ebenso wie der Gedanke, dass er sich nicht so dermaßen gehen lassen konnte. Es brauchte seine Zeit, bis Aya mit sich übereingekommen war, dass er doch hinging; um des Hingehen Willens, auch wenn er sich bewusst war, dass er nicht wie das blühende Leben aussah und schon gar nicht so roch. Doch wie war das mit dem Alleinsein? Irgendwann wurden gewisse Dinge bedeutungslos. Er schlich zur Tür und öffnete sie, doch weder der Vermieter noch irgendwelche Nachbarn standen dort... Schuldig war es und es roch nach Essen... das der andere Mann mitgebracht hatte und in der Hand hielt. Der Mann, der es alleine mit seinem Anblick schaffte, seinen Entschluss zum Wanken zu bringen, wenngleich Aya innerlich dagegen anschrie, sich wehrte und am liebsten diese Zweifel ausgelöscht hätte. Wie auch schon zuvor brachte Aya kein einziges Wort heraus, sondern starrte den anderen Mann wortlos an... zu gelähmt um irgendetwas zu sagen, immer noch das Bild des angeblich Toten vor seinen Augen. Reiß dich zusammen, schallte es in Schuldig, als die Tür sich öffnete und tatsächlich – entgegen seiner Ängste – Ran vor ihm stand. Wieder wachsbleich werdend und stumm wie ein Fisch. Er trat keinen Schritt zurück um ihn einzulassen, hielt nur die Tür fest und stand unbeweglich da. Sie starrten sich an wie zwei Fremde und wieder spürte Schuldig diesen Druck in der Brust, diese Enge, die dieses verrückte Chaos in ihm auslöste. In der Linken hielt er die Tüten mit den kleinen Kartons und Schächtelchen, samt Getränken. Mit der anderen Hand zog er sich nun die Mütze vom Schopf. Er kam sich vor wie ein Bettler, der von Haus zu Haus zog. „Ran… warum… sagst du denn nichts?“, wollte er leise wissen und vorsichtig, als könnte er den anderen verschrecken. „Ist… es so schlimm, dass ich wieder da bin?“, versuchte er Ran die Möglichkeit zu geben, wenigstens einen Laut von sich zu geben, ihn auf das notwendige Thema zu lenken. „Es ist schön… es ist das, was ich mir gewünscht habe“, sagte Aya schließlich rau, gepresst. Zwei Wochen lang hatte er es sich gewünscht, hatte davon geträumt, nur um aufzuwachen und festzustellen, dass es eben nicht der Fall war, um festzustellen, dass es immer noch Crawford war, der mit ihm in dieser Wohnung war…einzig und allein aus dem Grund, dass Schuldig ihn darum gebeten hatte, kurz bevor er ‚starb’. Für einen Augenblick erwog Aya, Schuldig nicht hereinzulassen, denn das würde bedeuten, dass er sich aktiv mit diesem Thema auseinander setzen musste… doch im nächsten brachte er es nicht übers Herz. Dafür hatten sie zuviel geteilt…viel zu viel. Dafür las er zuviel Schmerz in diesen bekannten Iriden. Wortlos trat er zur Seite. Schuldig trat ein, blieb auf Höhe von Ran stehen und sah in die violetten Augen, die er so sehr vermisst hatte. „Manchmal, bekommen wir das, was wir uns wünschen, Ran. Ich… ich habe mir sehr gewünscht, dass ich wieder zu dir kommen darf. Es war mein einziger Wunsch.“ Schuldig lächelte und zwinkerte versöhnlich um in den Raum einzutreten. Er wandte sich von Ran ab, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Danach fühlte er sich wieder etwas stärker und er öffnete sie wieder, sah sich jetzt um und fand einen Tisch, auf dem er die beiden Tüten abstellte und sich dann umwandte, die Mütze in den Händen. Nun, wo er hier war, wusste er die Kluft zwischen ihnen nicht zu überbrücken. Er wusste einfach nicht, was er sagen, was er tun konnte um Ran wieder näher zu sich zu holen. Aya schloss die Tür und drehte sich schließlich langsam zu Schuldig um. Es war ein Fehler, dass der andere Mann hier war… ein großer Fehler. Mit hängenden Armen und eingesunkenen Schultern stand er an der Tür und musterte den Telepathen. Schuldig ging es nicht gut, das sah er… aber er war am Leben. „Meiner war es auch. Aber es gab kein Happy End… für zwei Wochen nicht“, sagte er, den Blick in die kaum vergangene Zeit gerichtet. „Das weiß ich, Ran“, erwiderte Schuldig ruhig und langsam. Er schwieg eine Zeit lang, lehnte sich am Tisch an. „Es tut mir leid, dass ich dich weggeschickt hatte. Ich… war sehr müde und brauchte Zeit für mich. Nein, das stimmt so nicht…“, schüttelte er gleich den Kopf über seine Worte, die nichts weiter waren, als eine hohle Phrase. „Ich… es… tat mir weh, wie ich von allen empfangen wurde. Auch von dir“, schloss er an. Er musste es erwähnen, es würde sie nicht weiterbringen, wenn er mit Halbwahrheiten hantierte. „Und wie hast du dir den Empfang vorgestellt? Dass ich dir in die Arme falle, nachdem ich zwei Wochen vorher zu Schwarz gefahren bin und mir die Bilder deiner Leiche angesehen habe?“, fragte Aya mit lebloser Stimme, in der nur ein Quäntchen des Schmerzes durchschien, dem er in den letzten zwei Wochen ausgesetzt gewesen war. „Wie ist es wohl, wenn man den einen Tag überlegt, ob man nicht Schluss machen soll mit allem und am anderen Tag das Wunder geschieht?“ Er wandte sich ab und ging zur kleinen Küchenzeile, nahm zwei Gläser aus dem Schrank. Er füllte sie mit Leitungswasser, weil er nichts anderes hier hatte und kam zu Schuldig zurück, reichte ihm das zweite. Es war Spott, den er nicht verdient hatte und es tat weh, diese Worte zu hören. Schuldig konnte Ran nicht in die Augen sehen, als dieser ihm das Glas reichte und er stellte es auf den Tisch ab. Er entfernte sich langsam von Ran zum Fenster hin, blickte hinaus. Gerade jetzt stellte er fest, dass er noch nicht… „Ich… ich glaube, ich bin noch nicht bereit für dieses Gespräch. Ich glaube… ich hätte nicht hier her kommen sollen“, sagte er leise mit gedrückter Stimme. Es tat sehr weh, was Ran sagte und er wusste, dass er Recht damit hatte, zumindest damit, dass er sich mehr bemühen hätte sollen zurückzukehren, oder zumindest nicht gefangen genommen zu werden. Er presste die Augen zusammen. Natürlich hätte er das nicht erwarten dürfen. Diese Wärme nicht erwarten dürfen. Mühsam schluckend öffnete er die Augen wieder und wandte sich mit einem Lächeln um. „Ich war im Irrtum. Wenn du… es gestattest, dann können wir vielleicht irgendwann noch einmal darüber reden, aber jetzt… ich…“ Er nickte und ging zur Tür. Es war so, dass es einfach nicht ging. Er konnte sich jetzt keine Vorwürfe anhören, keine Schuld… sich nicht noch mehr Schuld aufladen. Aya sah auf das Glas in seiner Hand, stellte es dann langsam auf den Tisch. „Nein“, sagte er mit dem Rücken zu Schuldig. „Es wird kein zweites Mal geben. Diese Wohnung ist nur eine Übergangslösung. Ich werde aus Tokyo weggehen… denn noch einmal überstehe ich es nicht, dich tot zu glauben und dich wiederkommen zu sehen. Dazu liebe ich dich zu sehr.“ Er lächelte bitter. Und manchmal brachte man im Namen eben dieser Liebe eben Opfer, hackte sich selbst das Herz heraus und schickte denjenigen weg, der für eine kurze Zeit im Leben alles für einen bedeutet hatte. Liebe ging seltsame Wege. Schuldig blieb stehen und lächelte grimmig, verächtlich, drehte sich aber noch nicht um. „Du gehst, weil du es nicht erträgst, für diese Liebe zu kämpfen? Ist das nicht doch etwas zu einfach?“, sagte er laut. „Und was ist mit mir? Ist dir scheißegal, was mit mir ist? Wie es mir dabei geht? Ist dir nur wichtig, dass du nicht mehr jemanden verlieren würdest – falls es dazu kommen würde.“ Er verstummte kurz. „Ist es das?“ Sich umwendend blickte er auf die ihm den Rücken zu wendende Gestalt. „Und was ist mit mir? Meinst du nicht, ich habe Todesängste ausgestanden, wenn du raus bist und Kritiker auf dich gelauert haben? Meinst du nicht, ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als sie dich in ihren Händen hatten? Ich würde alles für dich tun. Das Einzige, was mich am Leben gehalten und mich vor den Folterern bewahrt hatte, war der Gedanke an dich, an deine warmen Augen, an dein Lächeln und deine Wärme. Nur das. Und das nimmst du jetzt weg? Glaubst du nicht, dass ich es wert bin, dass du mich ein Stück weit meines Lebens weiter begleitest? Dass wir ein Stück weit gehen können? Woher sollen wir denn wissen was morgen oder übermorgen ist? Aber die Zeit bis dort hin… was ist mit der?“ Seine Stimme war leiser geworden, verbitterter. Er sah hier nicht mehr viel Hoffnung, so wie Ran sich abgewendet hatte. „Willst du sie alleine in Verbitterung verbringen? In Angst vor dem Leben oder vor dem Tod? Oder willst du sie genießen? Mit jedem Atemzug?“ Er verstummte, starrte den Rücken an, blickte dann an Ran herab bis auf den Boden. Das war also das Ende? Der Bruch? Hatte er nicht vor kurzem noch gedacht, sie würden auseinandergehen…und später hieß es dann: sie liebten sich, aber sie konnten nicht miteinander leben… „Oh ja… ich bin ein herzloses, verbittertes Stück… was soll ich genießen, Schuldig, was?“, sagte Aya und drehte sich ruckartig um. Seine Augen loderten vor Wut. „Soll ich genießen, bei JEDEM Auftrag, den du jetzt haben wirst, meinerseits Todesängste auszustehen? Vielleicht kommt er ja nicht wieder und wenn er nicht wiederkommt, lebt er noch? Jedes Mal wieder? JEDES VERDAMMTE MAL?“ Aya war sich nicht bewusst, dass er immer und immer lauter geworden war. „Du warst alles, was ich hatte und von einem auf den anderen Tag wurde mir das hier raus gerissen!“ Er stach sich mit Finger an die Brust. Seine Augen funkelten erbost, waren dunkel vor Verzweiflung und auch Zorn. „Was meinst du, wie oft ich an deine Arme, an deine Augen und Berührungen gedacht habe? Wie oft ich davon geträumt habe nur um aufzuwachen und festzustellen, dass die Wohnung bis auf Banshee und mich leer ist und dass du nur noch als Geist in deinen Sachen existierst… mit dem Wissen, dass ich dich NIE mehr berühren kann… dass du nie mehr mit mir reden wirst? Was denkst du, wie oft ich das noch machen kann? Ja… meine Angst ist, dass ich noch jemanden verliere… ich habe meine Eltern verloren, meine Schwester und dann noch dich. Ich werde verrückt, wenn das noch einmal geschieht…“ Oh ja, das wurde er. Er war es jetzt schon, hatte jetzt schon einen Schaden davon behalten. Nicht noch einmal…das konnte er doch nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)