Der Glasgarten von Gadreel_Coco ================================================================================ Kapitel 158: Der Tod von Naoe Nagi ---------------------------------- Der Tod von Nagi Naoe o Sano schickte Koji um seiner Herrin auszurichten, dass der Junge langsam zu Bewusstsein kam. Sakura wirkte in Sanos Augen etwas blass und müde als sie eintrat. Wie stets bestand ihre Kleidung aus traditionellen Stücken, wie sie in früheren Zeiten getragen wurden. Alle anderen hatten moderne Kleidung gewählt. Sie sah aus wie ein herrenloser Samurai aus einem sehr alten Film, befand Sano. Ihre Kleidung war schon in die Jahre gekommen, sauber geflickt, aber eben geflickt. Selten sah man sie ohne ihre Klinge und wenn sie unterwegs war trug sie stets zusätzlich ihr Kurzschwert mit. Er hatte sie jedoch auch anders kennen gelernt. Sano erinnerte sich mit einem wehmütigen Gefühl an die Sakura die einen maßgeschneiderten Anzug getragen hatte. Modern und tödlich. Jetzt kam sie ihm eher wie jemand vor der seiner Vergangenheit nachhing. Sie schien müde geworden zu sein. Er hätte alles gegeben damit sie wieder nach vorne sehen konnte. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor das Bett, ihr Schwert über ihre Beine gelegt. Sano blieb an der Tür zurück. Nach einer Weile in der sie gewartet hatten schlug der Junge die Augen auf. Er blinzelte und sah an die Zimmerdecke. Dann runzelte er die Stirn und tat einen tiefen zittrigen Atemzug. Er schloss die Augen wieder, seine Hände schlossen sich verkrampft zu Fäusten. „Du träumst nicht“, sagte Sakura leise. Er riss die Augen auf und wandte den Kopf. „Nein?“ Sakura musste über diese Frage schmunzeln. „Nein. Setz dich auf, wenn du möchtest.“ Er tat es vorsichtig und sah sich um. „Wo bin ich jetzt?“ „Du wurdest von dem Ort an dem du bisher warst zu uns gebracht, damit wir dich schützen.“ Er schlug die Hände vor die Augen und begann zu weinen. Es dauerte seine Zeit bis er sich beruhigt hatte, Sakura hatte ihm ein Taschentuch gereicht. Sie warteten. „Wer seid Ihr Herrin?“ Seine Stimme klang kraftlos und war noch immer voll von Kummer. Sakura sah ihn an. „Mein Name ist Kawamori Sakura.“ Er bekam große Augen. Seine Lippen zitterten und er senkte den Blick. „Wie heißt du?“ „Firan, Herrin.“ „Ein schöner Name.“ „Wie komme ich hier... her? Bin ich ein Pfand?“ Sakura sah Sano kurz an, der erwiderte ihren Blick mit der gleichen Intensität. Sie beide ahnten, dass der Junge sehr viel mitgemacht haben musste. „Nein, das bist du nicht, Firan“, sagte sie bedächtig. „Eine große schlanke Frau hat dich unserem Sano hier übergeben um dich aus einer Gefahr herauszuholen. Wir haben die Aufgabe übernommen dich zu schützen, wie wir es in vergangener Zeit stets getan haben.“ Er lugte zwischen den langen Strähnen vorsichtig hindurch und traute sich den Kopf zu heben. „Ich... ich bin nicht geeignet, Herrin. Ich entstamme dem Orden der Raben. Wir sind konvertiert worden. Guards beschützten Nicht-konvertierte keine Konvertierten.“ „Das hört sich an als wüsstest du um unsere Aufgabe?“ Er nickte. „Ja ich habe viel gelesen... in der Historie unseres Archivs.“ „Von wo stammst du?“ „Aus Ägypten.“ „Bist du gezeichnet?“ „Ja, Herrin.“ „Wo ist deine Zeichnung?“ „Auf dem Rücken, Herrin.“ „Erzähl mir von ihr“, forderte sie ihn auf und Firan wurde unsicher. Nach seiner Zeichnung zu fragen war als würde sie fragen ob er onanierte. Es war beim Orden des Raben ein sakrales Ritual die Zeichnung zu erhalten. „Sie umfasst den ganzen Rücken, Herrin und die Flügel des Raben umschlingen mich. Federn verteilen sich über meinen Körper“, er neigte den Kopf und seine Stimme wurde leise, aber er lächelte. Sakura erwiderte dieses sanfte Lächeln. Er war also noch Stolz auf seine Herkunft, das ließ hoffen. „Die Flügel des Raben sind weit ausgebreitet, ihre Spitzen so fein und detailliert, dass mein Ziehvater sie als lebendig beschrieben hat. Der Schnabel des Raben ist geöffnet und sein Auge blickt einem direkt ins Herz.“ „Eine passende Zeichnung für dich, Firan.“ „Meint Ihr, Herrin?“, fragte er unsicher und sah hoffnungsvoll auf. „Ja, das meine ich.“ Eine dunkle unschuldige Schönheit, ein schwarzer Diamant. Rosenkreuz musste den Orden feindlich übernommen haben, denn keiner der Raben wäre so tief gesunken um freiwillig eines anderen Diener zu werden. Nicht – wie Straud es umgesetzt hat. Der Orden war mit nur schwachen PSI-Genen gesegnet und hatte sich konvertieren lassen um nicht zerstört zu werden, vermutete Sakura. Sie nahmen generell nur niedere PSI Klassen auf, waren daher verwundbar. „Was passierte mit deinem Sentinel?“ „Ich weiß es nicht, Herrin. Wir wurden getrennt.“ „Kennst du den Aufenthalt deiner leiblichen Eltern?“ Sie sah wie ängstlich er plötzlich wurde, er begann seine Hände ineinander zu verschränken und presste die Daumen aufeinander. „Sie...sie wurden getötet.“ „Bei einem Angriff?“, fragte sie harmlos nach, denn sie wusste, dass diese Frage vielleicht der Neugierde zugesprochen werden konnte, aber sie wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. Er schüttelte zaghaft den Kopf. „Du bist nicht in Ägypten geboren, Firan?“ „Nein, Herrin.“ „Kennst du dein Geburtsland?“ „Ja, Herrin. Ich wurde in Großbritannien geboren.“ „Wann kamst du nach Ägypten?“ „Ich war noch jung, Herrin. Acht Jahre alt. Ich wurde in die Obhut des dortigen Sentinels übergeben.“ „Wie kam es dazu? Wurdest du entführt?“ Er schwieg und da sie keine anderen Fragen stellte wurde er wieder unsicher. Er sah zu Sano und dann wieder zu ihr. Nein, sie würde keine andere Frage stellen bevor diese nicht beantwortet war. Geduldig saß sie da und er blickte wieder auf seine Hände hinunter. „Nein. Mein... mein Bruder tötete unsere Eltern.“ Sie hörte wie brüchig seine Stimme wurde. „Was geschah dann?“ „Wir wurden vom dortigen Sentinel getrennt. Er übergab meinen Bruder in die Obhut eines katholischen Waisenhauses in... in Ireland. Ich wurde von ihm fortgebracht. Sie sagten, dass es ein Fehler gewesen wäre uns beide solange bei unseren Eltern zu lassen. Und dass wir früher zu Zieheltern gegeben hätten werden müssen. Sie sagten es wäre nicht sein Fehler gewesen, dennoch trennten sie uns.“ Er schwieg wieder. „Ich... ich bin doch ein Pfand, Herrin?“, fragte er dann schüchtern nach. Trotz seines unterwürfigen Verhaltens ließ er Intelligenz erkennen, die Straud nicht mehr unterdrücken konnte, denn er ahnte worauf sie hinaus wollte und äußerte dies auch. Er hatte trotz der langen Zeit in Gefangenschaft nicht aufgehört sich Gedanken zu machen. „Warst du im Orden eine Geisel?“ „Sie zerstörten den Orden des Raben und suchten mich gezielt. Mein Ziehvater wurde davon überrascht aber wusste um ihre Suche. Sie versteckten mich, aber trotzdem waren sie zu stark, sie fanden mich.“ „Weißt du wo dein Bruder jetzt ist?“, fragte sie neutral nach, sie wusste nicht wie gut der Junge informiert war. „Hier in diesem Land.“ Sie sah Sano an. „Herrin, darf ich etwas fragen?“ Sie sah wieder zu ihm hin. „Das darfst du. Hab keine Scheu.“ „Kritiker jagen Schwarz, sie jagen PSI. Ihr verfolgt meinen Bruder seit Jahren. Er ist sehr mächtig. Ich verstehe nicht warum ihr mich schützen wollt. Vor ihm?“ Ah eine sehr gute Frage. „Brauchst du Schutz vor ihm?“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nicht ich.“ Er wiegelte vehement ab und hob beide Hände um dies zu unterstreichen. „Ich bin der Einzige, der ohne Schutz je neben ihm existieren kann. Ich bin ein Teil von ihm.“ „Zwillinge?“, fragte sie um dem Jungen nicht zu zeigen, dass sie Berserk kannte. Sie musste dem Jungen nur ins Gesicht sehen und bis auf die Narben und die fehlende Augenverletzung waren sie Spiegelbilder des anderen. Er war wesentlich schlanker, kaum Muskeln, sein Gesicht zarter, die Glieder feiner modelliert, dennoch unverkennbar Berserks Zwilling. Berserk musste seine Fähigkeiten so stark in kurzer Zeit gesteigert und verbraucht haben dass seine Haare in der Zwischenzeit weiß geworden waren. Wie alt waren die Zwillinge? Firan sah jünger als Berserk aus. Wie dumm musste man sein um PSI Zwillinge zu trennen? Nun gut, Asugawa hatte auch nicht wirklich darüber nachgedacht als er Lilli und Gabriel auseinandergerissen hatte. Das war brandgefährlich, denn oft waren sie Gegenstücke des anderen, passgenau in die Fähigkeiten des anderen greifend. Sie schwieg ein Weilchen und überdachte ihre nächsten Fragen um den Jungen nicht zu überfordern. „Welche Fähigkeiten hast du genau, Firan?“ „Taktile Empathie, Herrin. Ich berühre einen Menschen und empfange dann dessen Gefühle. Ich bin zu schwach um sie in ihm zu generieren.“ „Du weißt, dass dein Bruder für viele Verbrechen verantwortlich ist?“ „Ja, Herrin.“ „Hattest du Kontakt im Orden zu ihm?“ „Nur am Anfang. Sie sperrten ihn ein und...“ Er brach ab und Tränen traten erneut aus seinen Augen. „Lass dir Zeit.“ Er wischte sich mit dem völlig überforderten Taschentuch über die rot geweinten Augen. „Ich sah ihn dort sitzen, eingesperrt und gefangen in seinem Wahn. Ich durfte ihn später nicht mehr berühren, aber ich spürte wie sehr ich ihm fehlte. Ich fühlte seine Sehnsucht, seine Wut über diese Entzweiung. Dann brachten sie mich weg und ich sah ihn nicht mehr.“ „Was geschah dann?“ „Mein Herr sagte, dass ich mich fügen müsse damit sie mich guten Gewissens zu ihm lassen könnten. Ich fügte mich, Herrin. Aber sie ließen mich nicht. Und dann ging er in dieses Land und irgendwann hörte ich wie sie über ihn als Abtrünnigen sprachen. Sie sagten er hätte schreckliche Dinge getan und ich müsse dafür sühnen. Dann geriet alles in Unordnung im Orden.“ „Wir jagen Schwarz nicht mehr, Firan“, sagte Sakura dann. „Nicht, Herrin?“ „Nein, nicht mehr. Wir arbeiten mit ihnen zusammen.“ Firan sah sie mich großen Augen an, als schien er zu glauben sie spielte ein perfides Spiel mit ihm. Sie sah die aufkeimende Hoffnung in diesem Blick. „Glaube mir.“ Firan nickte. „Aber dein Bruder hat sich sehr verändert, Firan.“ „Ich weiß, ich fehlte ihm schrecklich. Er braucht mich. Er weiß nicht was er fühlt. Ich bin sein Spiegel.“ Er nickte und wischte sich über die Augen. „Er braucht mich doch“, flüsterte er die Stimme voll von Tränen. Sakura ließ es dabei bewenden. SZ hatten diese beiden Menschen zerstört, den einen wie den anderen. Aim hatte einen guten Dienst getan um Firan dem Orden zu entziehen. Sie würde jetzt noch mehr als zuvor versuchen dem Gesuch stattzugeben. Ihr Gehirn brütete bereits über das geeignete Gegenstück, aber sie würde den Jungen noch einige Zeit studieren müssen. Er brauchte die Sonne, das Licht um strahlen zu können. Doch der Mangel in der jetzigen Situation machte es schwierig ein geeignetes Pendant zu finden. Sie würde ihren Fundus überprüfen müssen um einen geeigneten Kandidaten finden zu können. Das würde dauern. Und wenn Berserk hier aufschlug wurden die Karten ohnehin neu gemischt werden. „Weißt du um deine Verletzungen?“, begann sie ein anderes Thema. „Ja, Herrin. Der verehrte Judge De la Croix hat mich darauf hingewiesen, dass meine Rippen gebrochen sind, dass ich Prellungen, Schürfungen und eine Gehirnerschütterung habe.“ Judge De la Croix? Er war ein Judge? Was war nur passiert? „Ich möchte, dass du dich hier einfügst. Sano wird sich deiner annehmen, ich möchte, dass du auf ihn hörst. Zu geeigneter Zeit werde ich einen Guardian für dich erwählen.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und stellte den Stuhl wieder zur Seite. „Aber... Herrin...“, er wandte sich zu ihr um und sein Gesicht sah flehend zu ihr auf. Seine Fäuste stützten ihn auf dem Bett ab als er die Beine aus dem Bett hob. „Ja?“ „Ich... ich fürchte hier liegt eine Verwechslung vor.“ „Was bringt dich zu dieser Annahme?“ „Ihr müsst verstehen... ich bin konvertiert. Und ich sollte eigentlich eine Strafe beginnen. Ich bin exkommuniziert worden, für den Verrat an meinem Herrn.“ „Hast du ihn denn verraten?“ „Nein, Herrin. Ich... ich weiß nicht wie ich das getan haben sollte. Aber Judge Mia hat mich dessen beschuldigt und sie liegt nie falsch. Also muss ich es getan haben, irgendwie. Ich bin schwach, ich kann keine großen Fähigkeiten aufweisen, es ist nicht nötig einen Guardian zu erwählen. Ich benötige keinen.“ Sakura wandte sich ihm zu. „Firan. Deine Bedenken sind verständlich. So wie es sich mir darstellt, hat Judge Mia dich zu uns gebracht, weil sie in ihrer Funktion als Judge nicht anders handeln konnte – aus politischen Gründen – aber nicht aus Gründen der Gerechtigkeit. Sie hat mich dazu aufgefordert dir einen Guardian zu erwählen. Ihre Gründe werde ich erst verstehen wenn ich das Material aus dem du bestehst näher in Augenschein nehme. Erst dann kann ich meine Arbeit aufnehmen. Es ist unerheblich wie stark oder wie schwach du bist, wenn du Schutz benötigst. Die Starken brauchen ebenso Schutz wie die Schwachen. Die Frage ist wovor sie Schutz benötigen? Vor sich selbst oder vor anderen?“ Firan sah sie mit großen Augen an und fiel dann leicht in sich zusammen. Sakura betrachtete sich seine Körperhaltung. „Sano sagt dir, was du tun sollst.“ Er nickte. „Jawohl Herrin.“ „Was war deine Aufgabe bei deinem Herrn?“ „Ich habe ihm gedient.“ „In welcher Form?“ „In jedweder Form, Herrin.“ Er sah auf den Boden. „Wie kam es zu diesen Verletzungen?“ Er zögerte. „Bitte antworte mir, Firan.“ Stockend erzählte er von den Ereignissen und endete mit seinem Einschlafen. Straud war schlimmer als sie es sich ausgemalt hatte. „Du bist ein Taktiler Empath. Welche Stufe?“ „Stufe 1, Herrin.“ „Deine Primärfähigkeit?“ Er nickte. „Erzähl mir bitte von deinen Sekundärfähigkeiten.“ Er sah auf. „Ich... ich habe keine.“ Sakura spürte ein Lächeln in sich aufkommen. „Firan, jeder hat Sekundärfähigkeiten, sie entwickeln sich nur bei manchen später oder verschmelzen mit der Primärfähigkeit zu etwas Komplizierterem und verstärken damit die Primärfähigkeit. Sie machen dich fähiger darin. Er nickte ohne sie wirklich verstanden zu haben. Sakura sah ihn lange an und fragte sich was im Orden so dermaßen schief gelaufen war nach dem Fall der Trias. Fand überhaupt noch Unterricht statt? Gab es noch Lehrer? Oder war der Orden nur auf Expansion aus? „Du wirst mein persönlicher Begleiter für die nächste Zeit sein, Firan. Bis ich dir etwas anderes sage. Sano wird dich bis morgen einweisen.“ „So schnell, Herrin? Ich... ich weiß nicht ob ich bis morgen alles lernen kann um euch angemessen dienen zu können.“ Er sah sie ängstlich an. „Du dienst mir nicht, du begleitest mich um mir zu helfen, wenn ich Hilfe benötige. Und ich helfe dir wenn du Hilfe benötigst.“ Er schluckte und runzelte die Stirn. Er verstand es nicht. Sie schmunzelte und nickte Sano zu als sie den Raum verließ. Sie wartete vor der Tür bis Sano herauskam. „Sasuke soll ihn untersuchen. Er muss Schmerzen haben.“ „Sensei, das ist eine schwierige Aufgabe. Der Junge ist traumatisiert.“ „Ich kann nicht alles reparieren. Das kann keiner mehr.“ Sie sah ihn an und er wusste augenblicklich was sie dachte. „Ich muss jemanden finden der ihn halten kann, das ist alles. Der mit dem was zerstört ist umgehen kann und ihn lässt wie er ist.“ „Ihn lassen wie er ist?“, fragte er betroffen. Sakura ging an ihm vorbei. Sie stoppte und drehte den Kopf leicht zur Seite. „Er wird einen Herrn bekommen dem er dienen kann.“ Sie lächelte und ihr Blick verschränkte sich mit seinem. „Das muss ein weiser Mensch sein.“ Sie schnaubte. „Er muss jung und weise sein. Das macht es schwierig.“ „Weshalb jung, Sensei?“ „Er braucht einen Partner, keinen Herrn.“ „Aber Ihr sagtet doch etwas anderes...“ „Das was er braucht, wirklich braucht ist etwas anderes als dass was er glaubt zu brauchen. Zunächst braucht er Sicherheit, gewohntes Fahrwasser, dann... muss er sich mit sich selbst auseinandersetzen und sein Verhalten in Frage stellen...“ Sie lachte leise und ging davon. Sano sah ihr nach und er machte ein schnalzendes Geräusch. Das war das perfide Lachen, das sie alle fürchteten. Sakura schien aus ihrer Starre zu erwachen und fand wieder Spaß daran sich an die Arbeit zu machen. Der Junge würde eine harte Zeit vor sich haben, sie würde ihn aufbrechen. Das Feuer des Schmieds dass dieser in seiner Esse schürte war heiß, es brannte in den Seelen und schmerzte. Er spürte es immer noch jeden Tag. o Irgendwo zwischen Tokyo und Morioka... Kaum ein Auto war unterwegs als sie über die Bergstraße fuhren. Sie waren von der Direktroute abgewichen und fuhren nun eine wenig befahrene Straße, die jedoch einen kleinen Umweg bedeutete. Sie hatten beide keine Lust auf Überraschungen jedweder Art. Ran hatte es sich in dem Sportflitzer gemütlich gemacht. Zumindest sollte es für Schuldig so aussehen, denn dieser hatte ihm nahe gelegt er solle schlafen. Ran hatte nur ein entrüstetes Schnauben von sich gegeben. Zum einen nervten ihn grüblerische Gedanken hartnäckig und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen zum anderen... bei dieser wahnwitzigen Geschwindigkeit mit der Schuldig über die kurvigen Straßen heizte konnte und wollte er kein Auge zu tun. „Wenn du dich noch mehr entspannst brichst du dir noch einen deiner Kiefer“, sagte Schuldig und Ran hörte das unverschämte Grinsen heraus. „Ich bin mir nicht sicher, wessen Kiefer brechen wird... wenn du weiterhin so rast“, erwiderte Ran scheinbar Gedankenversunken. Schuldig zog ein betrübtes Gesicht und nahm die nächste Kurve etwas weniger halsbrecherisch. Ran war sich sicher, dass dieser schmollende Gesichtsausdruck nur gespielt war. Schuldig schaltete um auf die Musikanlage um. Rans Gedanken drifteten wieder zu dem bevorstehenden Treffen während die Landschaft langsam wechselte. Der durch die Wolken blitzende Mond erhellte die Baumspitzen der Bergwelt um sie herum. Er hörte die ersten Klänge von Stand by me und Ran musste schmunzeln. „Hast du diesen Song mit Absicht ausgesucht?“, fragte er und ließ seinen Blick über die kühle Nachtkulisse schweifen. „Purer Zufall.“ Ran hörte das Lächeln aus der sanften Erwiderung heraus. „Ich liebe diesen Song“, sagte Schuldig dann und fischte nach Rans Hand. „Hand ans Steuer“, knurrte Ran, ließ aber seine Hand in der von Schuldig liegen. „Hey... ich will etwas romantisch werden und du zeigst mir die kalte Schulter“, gab sich Schuldig zutiefst enttäuscht. Ihre Blicke trafen sich und Ran hatte für Schuldigs tiefes Bedauern nur ein schmales Lächeln übrig. „Todesangst und Romantik passen nicht wirklich zusammen.“ Schuldig sah kurz zu ihm hinüber. „So sieht dein Todesangst-Gesicht aus?“ Ran sah zu wie der Schmollmund zu einem Grinsen auswuchs und das wolfsähnliche Lächeln Schuldigs blitzweiße Zähne sichtbar wurden. Ran ließ sich von dem Song einlullen und beobachtete Schuldigs wechselnde Gesichtsausdrücke. Wie lebendig und ausdrucksstark sein Gesicht war. Ran musste darüber lächeln. In all den Lügen fand er in dem König der Lügen die einzige Wahrheit die für ihn wichtig schien. Was für eine Ironie. Und für eine große Scheiße in die sie da hinein geraten waren. Ran lehnte den Kopf an die Stütze und sah blicklos nach draußen in die Dunkelheit. Dann schärfte er seinen Blick als die Bäume einen Blick auf die nächtliche Szenerie eines Tals freigaben. Er lebte in diesem Lügenkonstrukt, es war nicht gerade jetzt über ihm entstanden, das ahnte er. Er rollte seinen Kopf auf die andere Seite und betrachtete sich wieder Schuldigs Profil. Und war es denn ein Zufall, dass er den König der Lügen an seiner Seite wusste um einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden? „Versprichst du mir etwas?“, fragte er leise. Schuldig ging etwas vom Gas – wohl um ihn milde zu stimmen „Ja, tue ich“, kam die ernste Erwiderung. „Hältst du dich an... den Song?“, fragte Ran dann nach einigen Augenblicken in denen er dem Lied gelauscht hatte. Schuldig nahm Rans Hand und küsste seinen Handrücken. „Bis zur letzten Textzeile. Das verspreche ich dir.“ Ran schloss die Augen und genoss dieses Gefühl der Verbundenheit. Als das Lied verklang begann es von neuem. „Du weißt, dass das ein gegenseitiges Versprechen beinhaltet?“, kam es dann mit einiger Verzögerung und Ran wandte das Gesicht wieder zu ihm. „Ja. Ich verspreche es dir. Bis zur letzten Textzeile.“ Er setzte sich etwas auf, besiegelte dieses Versprechen mit einem Kuss auf Schuldigs Handrücken und gab ihn dann frei. Er lehnte sich wieder zurück und spürte wie er etwas ruhiger geworden war. Er behielt die Landschaft im Blick und seine Lider wurden schwerer. Er wusste, ja er war sich zu Hundertprozent sicher, dass Schuldig ihm beistehen würde, bis zum letzten Atemzug. Schuldig würde da sein. Er würde durch die Hölle gehen und das nur für ihn. Ran lächelte. Und er würde dem Teufel in den Arsch treten. Ran verdrängte den Gedanken daran, ob er selbst dies auch tun würde. Er wusste nicht ob seine Gefühle für Schuldig so tief gehen würden, dass er Menschen töten würde nur um Schuldig beizustehen. Würde er soweit gehen und Unschuldige verletzen? Schuldig würde es. Er selbst war zu sehr in moralischen Netzen verwickelt um dies sofort bejahen zu können. Hieße dass dann, dass Schuldig ihn mehr liebte als er Schuldig? Sein schwer zu hütender Sack voller Flöhe schien wie er selbst über irgendetwas nachzugrübeln. Der Blick war nach vorne gerichtet und augenscheinlich war er entspannt, das Grinsen war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen, denn Schuldig sah wieder konzentriert nach vorne. Ran hatte sich nicht von Lilli verabschieden können. Der Aufbruch war ihm etwas zu schnell vorgekommen. Zwar hatte er nichts gesagt, aber doch insgeheim darauf gehofft etwas mehr Zeit mit dem Mädchen verbringen zu können. Sie waren bereits knapp über eine Stunde unterwegs und Schuldigs Hang zur Raserei gefiel ihm zwar nicht aber momentan war es zweckmäßig schnell voran zu kommen. „Yohji und Jei sind in Kyoto angekommen und auf ihren Posten.“ Dann hatte Schuldig während dieser wahnwitzigen Geschwindigkeit noch die nötige Konzentration um telepathischen Kontakt mit Jei aufzunehmen? Er liebte einen Wahnsinnigen! Ran seufzte innerlich. „Scheint wie ausgestorben zu sein. Der alte Mann ist dort. Er ist zwar gut bewacht, aber es sind sonst kaum Männer dort.“ Ran ließ seinen Blick über die vorbeiziehende Landschaft schweifen. „Sie sehen sich etwas um. In zwei Stunden haben wir wieder Kontakt.“ Ran nickte. „Gut.“ Alles lief nach Plan. Kein Grund für Sorgen. Warum nur hatte er dann ein schlechtes Gefühl? Waren das seine eigenen Ängste, die er vor der Begegnung mit Chiyo hatte? „Du hättest leicht die Überwachung übernehmen können“, sagte er nach einer Weile. „Stimmt. Brad will wohl, dass ich mich auf unseren bevorstehenden Kontakt mit Chiyo konzentriere. Meine Aufmerksamkeit zu teilen hat noch nie Gutes hervorgebracht. Unter bestimmten Umständen krieg ich es ganz gut hin.“ „Und was unterscheidet unseren kleinen Ausflug von anderen Umständen?“, hakte Ran grüblerisch nach. Vielleicht lebendig in Morioka anzukommen? Es wäre wirklich dämlich aufgrund eines Unfalls zu sterben. „Das fragst du noch?“ Schuldig lachte leise. „Du natürlich.“ Er lenkte Schuldig also ab? Ran verzog das Gesicht skeptisch. „Ich will dich nicht ablenken. Was wenn sich China wiederholen sollte?“ Schuldig biss sich auf die Unterlippe, zwar nur kurz aber Ran hatte dieses Verhalten bemerkt. Er sagte jedoch nichts. „Ran, das haben wir zig Mal durchgekaut. Ich musste Brad im Auge behalten und hab mich verkalkuliert.“ „Das kann dir jetzt wieder passieren“, blieb Ran dabei. „Nein, das sind ganz andere Umstände. Du bist bei diesen PSI Arschlöchern sogar im Vorteil. Vergiss das nicht.“ „Stimmt“, musste Ran zugeben. Die einvernehmliche Stille die daraufhin eintrat beruhigte den Teil in Ran der sich mit dieser Art Sorge herumschlug und er schloss erneut die Augen. „Was denkst du?“, fragte Schuldig irgendwann. Ran brauchte etwas um seine Antwort zu formulieren. „Ich weiß nicht, mir kam dieser Aufbruch von Eve, Lilli und Ken etwas plötzlich vor. Sie haben sich nicht verabschiedet. Nicht richtig, jedenfalls.“ „Gestern Abend war doch so etwas wie ihr Abschied. Zumindest sind sie nicht heimlich abgehauen.“ „Hmm, stimmt“, pflichtete Ran bei und schwieg wieder. Schuldig sah kurz zu Ran hinüber. Die wortkarge Antwort veranlasste ihn dazu Ran noch mehr mögliche Erklärungen zu liefern um ihn zu beruhigen. „Das Mädchen ist bei uns nicht in Sicherheit auch wenn Asugawa in seinen ursprünglichen Plänen genau das gehofft hatte. Wenn ich zurückdenke... vor ein paar Monaten wäre das vielleicht so gewesen, aber jetzt... wir haben nicht einmal Kontakt zu Kritiker. Manx ist wie vom Erdboden verschluckt.“ Ran seufzte und stimmte erneut zu. o Kyoto Yohji hatte sich einen Spitzenplatz ausgesucht. Nun, nicht ganz. Eigentlich war es Asugawa gewesen, der ihnen die besten Überwachungsposten gesteckt hatte. Und tatsächlich – hier angekommen – waren es wirklich die besten Möglichkeiten um unentdeckt einen groben Überblick zu bekommen. Jei war gerade dabei einen besseren Einblick zu gewinnen und hatte sich angenähert, während Yohji auf seinem Posten geblieben war. Tatsächlich war nicht viel Bewegung auszumachen. Er hatte ja nicht viel auf diesen Tipp gegeben, denn er traute dem Halbjapaner nicht. Was kein Geheimnis war. „Tote Hose“, murmelte Yohji und hielt das Fernglas kurz zur Seite als er aus seinem Ohrstöpsel von Jei eine Rückmeldung bekam. Oh Wunder. Seit einer halben Stunde hatte er nichts mehr von dem Iren gehört. Zu sehen war er ohnehin nicht, auch wenn Yohji wusste welche Route er genommen hatte, selbst mit dem Fernglas hatte er ihn nicht verfolgen können als er im Dickicht verschwunden war. Yohji wartete und beobachtete das Areal bis Jei sich dazu imstande fühlte ihm einen Zwischenstand zu melden. „Etwas stimmt nicht.“ Nicht gerade das was Yohji hören wollte, was er aber durchaus selbst gedacht hatte. „Viel zu ruhig, ist mir auch schon aufgefallen.“ Wieder war nur Stille um Yohji herum. Er beließ es dabei. Der Empath würde schon klar kommen, er hatte Vertrauen in den Mann. Bei all dem was sie die letzten Wochen erlebt hatten... warum auch nicht? Yohji wartete geduldig während es erneut anfing zu regnen. Unter dem Blätterdach am Hang war er etwas geschützt und es hatte sogar etwas Tröstliches an sich die dicken Regentropfen auf die Blätter über sich tropfen zu hören. „Ich komme zurück“, hörte er dann nach einer guten halben Stunde. „Wa...“, murmelte Yohji erstaunt über diese Planänderung des Iren. Da raschelte es schon hinter ihm. Das konnte nicht Jei sein, viel zu laut, vermeldete sein Gehirn und Yohji versteinerte. Falle!, schrie alles in ihm und Asugawas grinsendes Konterfei erschien vor seinem geistigen Auge. Noch bevor Yohji jedoch reagieren konnte hörte er Jeis Stimme. „Bin da“, kam leise. Jei winkte ihm und Yohji entspannte sich wieder, er zog sich von seinem Posten zurück. „Es wäre sinnvoller gewesen, du hättest mir deine Rückkehr früher gemeldet und nicht wenn du schon hinter mir stehst“, merkte Yohji an. Jei enthob sich einer Antwort. Sie verließen die unmittelbare Umgebung und Yohji fragte sich unwillkürlich was den Iren geritten hatte. „Was ist los?“, fragte er etwas ungehalten als sie bei ihren Bikes ankamen. Jei nahm seinen Helm und hielt ihn in den Händen, zögerte einen Augenblick und sah ihn dann an. „Ich muss zurück.“ Yohji legte den Kopf schief und musterte den anderen. „Du bist... beunruhigt“, stellte er leicht erstaunt fest. Und wieder faszinierte und erschreckte Yohji diese lauernde Intelligenz die hinter dem ausdruckslosen Gesicht des Mannes durchblickte und nur durch dessen Blick in Erscheinung trat. Ein angedeutetes Lächeln erschien in der sonst eher unleserlichen Mimik. Er griff den Helm fester, sah hinunter und dann wieder zurück zu Yohji. War er unsicher? War es Anerkennung, die er in diesem Blick lesen konnte? „Sagst du mir warum?“ „Ich muss zurück“, wiederholte Jei. Yohji ließ den Kopf in den Nacken fallen und sah in den Nieselregen hinauf. Er leckte das Nass von seinen Lippen. Etwas stimmte nicht. Hier war alles in Ordnung. Nur wo anders war es das gar nicht. Zurück in Tokyo. Er sah wieder Jei an. Dieser stand immer noch dort als müsse er ihm die Erlaubnis dafür geben. Unübliche Reaktion des Iren, resümierte Yohji. Nur nicht ungeduldig werden oder schon wieder falsche Schlüsse ziehen. Das hatte sie beide schon einmal in eine blöde Situation gebracht. Er erinnerte sich an Leichensäcke, gruselige nächtliche Gestalten mit Masken – Ergo Asugawa - und Zombies auf Abwegen. Nein, das brauchte er nicht noch einmal. Er wollte Jei nicht noch einmal in eine schwarze Plastikhülle gehüllt sehen. „Gut. Von vorne. Was ist los?“ Yohjis Stimme war ruhiger als er sich fühlte und das wusste der Ire. Sie sollte ihm klarmachen, dass er sich nicht einfach so mit einem „Ich muss zurück“ abspeisen lassen würde. „Ich hör dir zu“, schob er nach. Jei drehte den Helm etwas als müsse er Zeit für seine Antwort gewinnen. Oder sich vielleicht eine Lüge oder eine Ausrede zurecht basteln. „Ich halte Kontakt mit Crawford wenn ich unterwegs bin“, begann der Ire. Yohji hob eine Augenbraue. Die Worte kamen wie immer etwas stockend heraus, waren deshalb auch klar formuliert, weil wohl überlegt. „Weiß er das?“ Jei schüttelte einmal den Kopf und sah ihn an. Das auf ihn gerichtete Auge schimmerte leicht. Ausübung seiner PSI Fähigkeiten, resultierte Yohji aufgrund der Beobachtung und dem was er bisher gelernt hatte. „Er wähnt sich immer allein. Ich bin gut.“ Jei grinste verschlagen und Yohji fühlte sich an Schuldig zu seinen besten Zeiten erinnert. Das Grinsen verblasste jedoch sofort wieder als hätte es jemand ausgeschaltet. Was den Gruselfaktor um ein Vielfaches ansteigen ließ. Yohji zog die Brauen zusammen. „Und jetzt wähnt er sich auch allein.“ „Er ist nicht mehr allein.“ „Ist er nicht? Nun, klar...“, Yohji runzelte die Stirn. Hä? „Asugawa ist bei ihm“, hielt er Jei und sich selbst noch einmal vor Augen. „Nein nicht mehr. Asugawa ist weg.“ „Ich dachte die beiden... würden die Gelegenheit nutzen...“, Yohjis Stimme erstarb. Er hatte den Faden verloren. Er sah Jei an, doch dieser starrte wieder auf seinen Helm. „Was hast du gefühlt?“ Yohji versuchte eine andere Taktik: Jei-Sprache. „Wehmut, Verlust, Zufriedenheit, Schmerz und Wut, dann alten Hass.“ „Wie fühlt sich alter Hass an?“, drängte sich eine Zwischenfrage in ihm auf. „Dumpf, zäh und schwer. So schwer... dass er erdrückend wird. Es drückt als hätte man eine alte Last sich erneut aufgeladen. Es drückt dir das Herz zusammen, würdest du sagen. Es drückt sein Herz zusammen. Zäh ist er, er verklebt alles, kontaminiert alles...“ Das war eher bildlich gesprochen. Aber vermutlich war es schwer für Jei es Yohji besser zu erklären. Aber es war ein gutes Bild. Ran war von dieser Schwere ebenfalls lange belastet gewesen. Und er selbst hatte sich vom Gefühl dieser Last noch nicht befreien können. Wenn er ehrlich zu sich selbst war fühlte er sich damit ganz wohl. „Hat unser kleiner Sonnenschein Asugawa wieder die Seiten gewechselt und Brad hatte die Schnauze voll?“ „Nein. Ich hatte Asugawa unter Beobachtung. Er war glücklich gleichzeitig... Sie hatten... Sex. Dann war da nichts mehr. Brad ging es gut. Er war noch da. Asugawa nicht mehr.“ Yohji dachte nach. „Das Serum?“ Jei nickte. „Könnte sein. Entweder das oder er ist tot.“ „Kann ich mir nicht vorstellen, dass Brad ihn umbringt.“ Vielleicht war der Hellseher zur Vernunft gekommen? „Nein. Wahrscheinlicher ist, dass er ihm das Serum gegeben hat. Oder er es sich selbst genommen hat.“ „Und warum jetzt?“ „Ein Angriff oder ein Vorhaben von Brad, das einen näheren Kontakt zu feindlich gesinnten PSI im Sinn hat.“ „Absicht?“ Yohji lehnte sich an sein Motorrad, holte sich seine Schachtel Zigaretten hervor, nahm sich einen der Glimmstängel heraus und tastete seine Hosentaschen nach dem Feuerzeug ab. Er fluchte leise bis er es endlich gefunden hatte, dann zündete er sich die Zigarette an. Das tat er überlegt und mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Er hielt die Zigarette in seiner hohlen Hand um sie vor der Nässe zu schützen. „Er hat uns weggeschickt.“ Yohji blies den Rauch aus und sah zu Jei zurück. Mit der Linken wischte er sich die feuchten Strähnen aus der linken Gesichtshälfte und klemmte sich die blonden Wellen hinters Ohr. „Er wollte Nagi zuerst aus der Klink holen, dann ließ er ihn doch dort“, fasste Yohji nachdenklich zusammen. „Schuldig und Ran sind nach Morioka geschickt worden. Der hastige Aufbruch von Eve, der Kleinen und Ken war zwar nachvollziehbar, dennoch schnell, da muss ich dir rechtgeben. Omi ist sicher bei Nagi in der Klinik. Es ist eine denkbare Möglichkeit, dass Brad sein eigenes Ding dreht.“ „Ich muss zurück.“ „Das sagtest du bereits.“ Da Jei bisher keine Anstalten machte einfach loszufahren rauchte Yohji in Ruhe. „Kann es sein, dass Brad nicht möchte, dass wir zurückfahren? Wenn es seine Absicht war uns von dort fernzuhalten, sollten wir dem nicht folgen? Ich denke nicht, dass er unsere Einmischung in seine Pläne miteinbezogen hat – sofern er tatsächlich einen Plan verfolgt wie wir es vermuten.“ Jei schwieg. „Vielleicht sollten wir uns mit Ran und Schuldig in Morioka treffen.“ Jei wandte sich ab. „Ich kann nicht nach Morioka.“ Yohji nahm einen Zug und sah zu Jei hinüber. „Warum nicht?“ Jei schwieg sich zunächst aus. Dann jedoch antwortete er. Leise, sehr leise. „Ich kann nicht.“ Yohji wurde hellhörig. Wenn er einen normalen Menschen vor sich gehabt hätte dann hätte er jetzt behauptet Jei war traurig. Aber Jei wusste nicht wie er reagierte wenn er traurig war, oder? Bei den Fakten bleiben, Kudou, mahnte er sich selbst an. „Was ist dort in Morioka. Warum kannst du nicht dorthin?“ Er konnte sehen wie Jei mit sich rang, obwohl der Körper still wie eine Statue war. Jei war wie erstarrt. Sein sonst so in sich ruhender Körper war angespannt. „Darf ich es nicht verstehen?“, fragte Yohji einfühlsam. „Oder glaubst du ich werde es nicht verstehen?“ Yohji schnippte seine Zigarette auf die Straße. „Oder ist es weil du deine Entscheidung ohnehin schon getroffen hast? Macht es einen Unterschied wenn du es mir sagst?“ „Nein, nicht mehr. Es macht keinen Unterschied mehr.“ Das klang verdammt endgültig. Diese Sorte Endgültigkeit, die meist vor einer wirklichen dummen Aktion stand. Yohji wartete, der Regen wurde stärker, der Himmel finster. Das Grün der Bäume um sie herum hob sich umso leuchtender vom dunkelgrauen Himmel über ihnen ab. „Also warum kannst du nicht nach Morioka?“ „Weil mein Bruder dort ist.“ Yohji schluckte und räusperte sich dann. „Dein Bruder? Du hast einen Bruder, Jei?“ Dieser nickte, sah ihn jedoch noch immer nicht an. „Er... er ist ein anderes Leben. Mein anderes Leben. Er ist rein geblieben, unschuldig erhalten, vollkommen. Noch ist er ganz geblieben.“ Yohji starrte Jeis Gestalt an, die in sich gekehrt schien. „Weiß außer mir irgendjemand davon?“ „Nein. Niemand...“, er zögerte. „Niemand von Schwarz, niemand von Weiß.“ Jei verstummte, sein Blick auf den Helm gerichtet. Yohji gab ihm Zeit, er wusste ohnehin nicht was er auf diese Hiobsbotschaft erwidern sollte oder konnte. „Rosenkreuz haben ihn... hatten ihn. Jetzt ist er frei. Ich kann es fühlen. Ich... ich fühle ihn.“ „War er dort freiwillig?“ „Nein. Man nennt es... Geiselhaft. Damit ich ihnen gehorche, damit ich tue was sie von mir wollen, damit ich wütend bleibe. Keine Ruhe, nur Wahnsinn. Für ihn und für mich.“ Yohji wandte leicht den Kopf zur Seite behielt den anderen dabei aber im Blick. „Sie haben dich mit ihm erpresst“, stellte er mit Bitterkeit in der Stimme fest. „Ich habe ihm den Schmerz, die Erniedrigung, das Schlechte, die Wut und den Hass genommen, er ist rein geblieben. Kein Hass auf seiner Seele, kein Schmerz in seinem Herzen.“ Yohji schüttelte den Kopf, er hatte das Gefühl gegen eine Wand gelaufen zu sein und nichts zu verstehen. Er spürte Wut in sich und sie war logisch anhand dieser paar Sätze. Er hatte so viele Fragen und er ahnte er würde nur wenige Antworten bekommen. Diese Wut kam nicht von Jei. Sie kam von ihm. „Ist das der Grund dafür, dass du Omis Halbschwester getötet hast?“ Er wartete darauf, dass nach dieser wirklich ketzerischen Frage eine entsprechende Antwort folgen würde, aber Jei blieb still. Yohji griff zur nächsten Zigarette, zündete sie an, nahm einen Zug und inhalierte tief. Er wartete. „Ja. Ich glaube schon. Ich...“ Jei zögerte. „... kann mich nicht gut daran erinnern. Damals habe ich es nicht verstanden. Keiner hat verstanden warum ich es tat. Es war unnötig. Heute weiß ich, dass ich zu viel mit ihnen gefühlt habe und ich... fühlte meinen Bruder... gleichzeitig, wie er litt. Es passte nicht zusammen. Ich war gefangen dazwischen. Ich weiß nicht...“ Er sah unsicher zu Yohji und dieser nickte. Dann ließ Jei den Kopf wieder sinken. „Als das Mädchen...“ „Lilli?“, half Yohji nach. „Als Lilli bei uns war habe ich nach langer Zeit erfahren wie es ist nur meine eigenen Gefühle nachzuspüren. Es war seltsam ungewohnt und so klar.“ „Wäre es da nicht angebracht sofort zu ihm zu fahren? Ich meine... wer weiß was noch alles geschieht? Willst du ihn nicht sehen? Endlich wiedersehen?“ Jei wandte sich wieder zu ihm und hob den Kopf. Ein Blick aus diesem goldenen Auge war stets ein Blick in eine Seele. Und dieser Blick konnte Angst machen. Yohji konnte ihn in der Zwischenzeit erwidern. „Sieh mich an“, sagte Jei leise. „Er sieht aus wie ich. Ich bin sein zerstörtes Abbild. Ich trage all seine Last der letzten Jahre, sichtbar für ihn. Es würde ihn zerstören mich zu sehen. Sich daran erinnert zu fühlen was mit ihm gemacht wurde. Er soll sich nicht daran erinnern. Er soll es vergessen.“ Das war... „Bullshit“, fuhr Yohji auf und schüttelte heftig den Kopf. „Er wird froh sein dich zu sehen. Seid ihr Zwillinge?“ „Ja. Ich bin nur... sehr verändert in der Zwischenzeit. Sein Schmerz, seine Qual, sein Hass haben mich verändert. Innen wie außen. Es gibt kein zurück. Es muss so bleiben. Er ist heil, ich bin zerstört. Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich stark bin und er ist es nicht. Nicht auf diese Weise. Er brauchte Schutz. Ich muss diese Hälfte von dem Ganzen bewahren, denn sie war es die schön war, die verletzlich war. Sie galt es zu bewahren. Er war ein Teil von mir. Ich wurde an seiner Seite geboren um ihn zu schützen.“ Yohji griff sich an die Stirn und wandte sich ab. Er schluckte und wischte sich den Regen vom Gesicht. Als würde diese Geste helfen. Weder hielt sie den Regen auf sein Gesicht weiter zu nässen noch würde sie Jei zur Vernunft bringen. Verzweiflung brandete in ihm auf. Er musste doch etwas tun können! „Jei... das ist...“ Ihm fehlten die Worte. „Wir müssen dorthin! Scheiß auf den Hellseher!“, fuhr er auf. „Wir fahren dort hin. Sofort. Danach können wir immer noch nach Crawford sehen, wenn du unbedingt willst. Es wäre ohnehin sinnvoller die beiden Roten mitzunehmen.“ Yohji schnippte die Zigarette weg und griff nach seinem Helm. „Das ist zu weit“, wandte Jei ruhig ein. „Schuldig und Fujimiya sind auf halber Strecke. Brad braucht mich jetzt. Es würde zu lange dauern.“ „Dein Bruder ist wichtiger.“ „Das war er die letzten Jahre für mich immer gewesen. Alles andere war unwichtig gewesen. Jetzt ist Brad wichtiger, denn meinem Bruder geht es jetzt gut.“ „Du musst zu ihm“, versuchte Yohji erneut in den Iren zu dringen. Yohji verstand es nicht. Wollte es nicht verstehen. Jei musste doch begreifen wie wichtig das war. „Nein.“ Jei blieb ruhig, aber in seinem Gesicht irrlichterte etwas, das Yohji noch nie gesehen hatte. Pure Verzweiflung. Das war so berührend und gleichzeitig so erschreckend, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Er sah ihn lange an. Jei würde sich nicht von ihm überreden lassen. Yohji öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder. „Wie heißt er?“ „Firi. Ich habe ihn Firi genannt.“ „Ein schöner Name. Dann ist Jei nicht dein richtiger Name?“ Jei schüttelte den Kopf. „Ich weiß ihn nicht mehr.“ Yohji spürte wie der Mann ihm entglitt. Er wusste nicht was er sagen sollte, er wollte ihn berühren, aber Jei wandte sich ab und seine Körpersprache sagte klar, dass er wegbleiben sollte. Er war zu aufgewühlt und Yohji konnte sich glücklich schätzen, dass Jei nicht seine Fähigkeiten bei ihm einsetzen wollte. Jei hatte nicht nur seinen Namen vergessen, er hatte sich selbst vergessen. „Wie lange?“ „Neun Jahre.“ Neun verdammte Jahre? Er konnte sich nicht vorstellen wie sich Jei in den letzten Jahren verändert hatte, wie war er zuvor gewesen? Als Teil dieses reinen Ganzen? Er wollte ihm helfen, aber hatte keinen blassen Schimmer wie. „Er ist die zweite Hälfte meines Schildes“, flüsterte er leise und Yohji verstand es nicht ganz. „Ich verstehe“, sagte er stattdessen nach Minuten des Schweigens. Nein, er verstand es nicht, aber es war wohl für Jei eine Art Metapher um die Liebe die er für seinen Bruder empfand auszudrücken. Der Regen hatte sie durchnässt. Er trat einen Schritt auf den Mann zu, legte von hinten den Arm um den Kleineren, seine Hand auf dessen Brust und zog ihn an sich. Jeis Kopf hing nach unten. Er war still. Fernes Donnergrollen und das stete Prasseln des Regens passten perfekt in ihre Gemütslage. Minutenlang standen sie so da und keiner rührte sich. „Dann fahren wir zurück“, sagte Yohji resigniert. „Ich alleine... fahre. Du fährst zu Firi. Beschütze ihn. An meiner Stelle. Ich kann es nicht mehr.“ Yohji neigte den Kopf und seine Lippen trafen die nasse Ohrmuschel des Iren. „Dafür bin ich der Falsche, Jei. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich stehe an deiner Seite.“ „Warum?“ „Guard?“, schlug Yohji vor. Jei schnaubte. „Unsinn. Wenn es PSI sind dann bist du ohne Chance.“ „Schütze mich.“ Jei drehte sich halb seitlich und sah zu ihm auf. Er schien nachzudenken. „Das geht“, sagte er selbst verwundert über diese Feststellung. „Gut, dann sehen wir uns das Ganze einfach an. Was wir tun können wir dann immer noch entscheiden.“ Jei nickte. Yohji dachte nach. Wenn Ran und Schuldig sich ihnen anschließen würden hätten sie zwar bessere Chancen, aber... „Wenn du vorhattest alleine zu fahren dann rechnest du mit großen Schwierigkeiten.“ Jei blieb stumm. „Irre ich mich?“ Er schüttelte einmal den Kopf. „Welcher Art?“ „Die von der miesen Sorte.“ „Verstehe.“ Falls der Hellseher einen Alleingang geplant hatte, dann war es größer als alles was sie bewältigen konnten. Auch wenn er ein Arschloch war – Brad Crawfords gesamtes Denken galt stets seinen Leuten. Und wenn er jemanden aus der Sache – was auch immer das war – heraushalten wollte dann die beiden Roten. „Wir müssen die zwei neugierigen Rotschöpfe da raus halten. Kannst du das bewerkstelligen?“, fragte Yohji dann. Wenn sie Schwierigkeiten bekommen würden dann wollte er vermeiden, dass Ran sich Hals über Kopf in die Gefahr warf. Er würde sich nicht davon abhalten lassen – egal was Yohji ihm sagte. Jei nickte abermals. „Kein Problem solange Schuldig nicht aktiv Kontakt aufnehmen möchte. Wenn ich Schilde ziehe sperrt ihn das aus. Es ist... als würde er gegen eine unsichtbare Wand laufen wo zuvor keine war und das mit vollem Anlauf. Er wird merken, dass etwas nicht stimmt und ich ihn bewusst ausschließe. Das tue ich sonst nicht. Er bemüht sich nie wirklich mich zu lesen, ich bin ihm zu verschlungen.“ Jei verstummte. „Das lag daran, dass ich immer Kontakt zu Firi hatte. Schuldig konnte das nicht wissen. Er ist zu... faul um komplizierte Stränge zu verfolgen. Aber ausgesperrt habe ich ihn nie bewusst.“ „Gut, trotzdem weiß er nicht was los ist. Sie sind dann vielleicht schon in Morioka. Kannst du ihm nicht gleich eine Nachricht schicken, die ihn nicht misstrauisch werden lässt?“ Jei nickte und zog sein Mobiltelefon heraus. Yohji ließ Jei los. Sie hatten so falsch gelegen in allem was diesen Mann betraf. Er verstand es noch nicht ganz, aber das was er verstand zeichnete ein erschreckendes Bild. Es ließ ihn das vernarbte Gesicht anders anblicken. „Okay, dann zählen wir auf die Faulheit unseres Telepathen.“ „Das können wir, aber seine Neugierde ist um ein Vielfaches stärker. Wenn er neugierig wird dann...“ „Einen Versuch ist es wert.“ o Der Himmel schien entzwei zu brechen. Grelle Blitze zuckten in den tief hängenden Wolken, es goss in Strömen und wütende Sturmböen fegten durch die tiefen Schluchten der Hochhäuser. Sie trieben Wasser in Wellen vor sich her. Nicht befestigte Gegenstände flogen über die Straße. Bäume knickten wie Streichhölzer. Die Wolken bewegten sich rascher als ihre dunkle Schwere es erahnen ließ. Ein schier betäubender Krach entlud sich über ihren Köpfen als sie aus den Wagen stiegen und über die Straße gingen. Wenig Menschen waren unterwegs, Sirenen drangen gedämpft an ihre Ohren als sie den Eingang erreichten. Sie wateten knöcheltief durchs Wasser und Alex spürte bereits wie Wind und Nässe ihm selbst auf dieser kurzen Strecke zusetzen wollten. Er hob sein Gesicht dem Himmel empor. Das Wetter schien wie bestellt. Er war sich nur nicht sicher von wem. Mia, Bolder, Viper, Kimera und Blade begleiteten Alexandré De la Croix zu diesem Standort. Er war ihnen von Straud übermittelt worden, der sich offenbar an das Protokoll hielt. Alex ahnte jedoch, dass dies nur vorgeschoben war um ihn vor dem Rat zu diskreditieren und zu übervorteilen, nur in welcher Form war ihm noch nicht klar. Sie standen am Eingang der Tiefgarage und starrten hinunter. Strauds Leute sicherten den Eingang. Erneut krachte ein Donnern über sie zusammen. Regen klatschte in ihre Gesichter. „Ich rieche eine Falle“, knurrte Bolder. Kimera trat einen Schritt nach vorne. „Was sonst?“ Alex sah in die beleuchtete Abfahrt hinunter. Ein hübsches Grab, eine hübsche Falle, aufgestellt vom großen Somi. Er war sich nicht sicher was sie dort unten erwarten würde. Sie gingen hinunter. Alex gab einen von Somis Leuten einen Wink der die Plattform nach unten fahren würde. Unten angekommen säumten in regelmäßigen Abständen Strauds Getreue den Weg. „Keine übliche Einrichtung für ein Parkhaus“, sprach Blade seine eigenen Gedanken aus. Sie kamen in einen Empfangsbereich. Noch bevor sie sich umsehen konnten eilte ihnen Beltrami entgegen. Sein Waffenrock starrte vor Metall und schrie förmlich nach Aufmerksamkeit. Die enervierende Energie die er ausstrahlte ließ Mia knurren. Alex wandte leicht den Kopf in ihre Richtung, da es ihn irritierte, richtete dann seine Aufmerksamkeit aber wieder auf den gleichgroßen Mann. Er war massiger als er selbst wobei Alex sich sicher war, dass er diese Masse nicht mit Muskeln erreichte. Beltrami war aufgrund seiner Vorlieben für obskure Experimente und okkulte Hobbys ein Schandfleck für den Orden. Doch er konnte es dem Mann nicht sagen. Wirklich nicht. Auch wenn er es gerne getan hätte. „Wir haben diesen Aufenthaltsort von der Gefangenen erhalten“, fing er sogleich mit einem Bericht an. Seine Stimme hatte einen ruhigen Tonfall, was nicht zu seiner aufgekratzten und energetisch geladenen Gestalt passte. Er stand ruhig da und sein Gesicht drückte ebenfalls Ruhe aus, aber sein Schild flackerte unruhig als hätte er definitiv zu viel Energie an Bord. Seltsam. „Seid ihr fündig geworden?“, fragte Alex um sein Misstrauen zu kaschieren. „Das sind wir“, gab Beltrami mit Befriedigung in der Stimme an. „Folgt mir in den hinteren Teil.“ Schon allein dessen emsige Beflissenheit reizte Alex dazu Mia auf ihn loszulassen. Alex wandte den Blick zu Viper um und dieser blieb im Empfangsraum zurück. „Das ist eine Klinik, die der Unterwelt in dieser verkommenen Stadt dient. Wir haben herausgefunden, dass Schwarz hier gelegentlich um Hilfe ersuchen. Der Leiter ist ein Kawamori, wir haben ihn in Gewahrsam genommen. Wir vermuten eine Art Informationsnetz, da es sich hier um neutralen Boden handelt.“ „Ein Kawamori, also. Ich hätte nicht gedacht, dass...“ „...sie noch existieren?“, unterbrach Beltrami ihn und schwadronierte augenblicklich weiter. Alex seufzte innerlich geplagt. Wie er diesen Mann verabscheute. Er verbat sich jeden Gedanken an den jungen Firan, dessen Verletzungen körperlicher und seelischer Natur dieses Schwein zu verantworten hatte. „Ja, stellen Sie sich vor wie überrascht wir waren, dieses uralte Relikt im Hier und Jetzt und vor allem noch so aktiv vorzufinden!“ Sprachen sie noch über Menschen oder über Fossilien? Alex war sich nicht ganz sicher. „Die Kawamoris sind noch voll aktiv. Somi vermutet eine Verbindung zwischen Kritiker und den Kawamoris.“ Auch das war kein Geheimnis. Alex blieb stehen und Beltrami drehte sich nach einigen Schritten sichtlich überrascht um. „Was ist mit den Clans?“, fragte Alex, einfach weil er es konnte und nicht weil es ihn interessierte. „27 Organisationen. Vor Jahren, Anfang der zwanziger Jahre als Kritiker hier aufzuräumen begann fielen einige davon den örtlichen Behörden zum Opfer. Der Rest wurde in drei große Clans aufgeteilt, die die Geschäfte unter sich aufteilten. Einen Sonderfall bildet da ein Mann Namens Ryuichi Asami. Er mischt überall gerne mit und hinter vorgehaltener Hand wird behauptet er würde mit den Behörden zusammenarbeiten. Alex nickte über diesen kleinen unnötigen Diskurs über die Unterwelt Tokyos. Aber er mimte gerne den unbedarften Bürohengst, der keine Ahnung von praktischem Vorgehen hatte und hörte den Ausführungen geduldig zu. Er sah Bolder an, der nur sparsam lächelte. „Wo ist Somi?“ Alex unterband mit dieser Frage weitere Ausführungen. Er würde lieber danach fragen was Straud genau tat und nicht wo er war. „Ich bringe Sie zu ihm. Er leitet die Befragung der Gefangenen persönlich. Wir haben bereits herausgefunden wo sich der Hellseher befindet. Leider gibt es auch weniger positive Meldungen, aber ich möchte nicht vorgreifen“, gab sich Beltrami bescheiden. Nichts an diesem Mann war bescheiden. Weder sein Auftreten, noch sein Gehabe und ganz bestimmt nicht seine Begehrlichkeiten. Beltrami führte sie durch die Klinik in einen offenen großen Raum der im hinteren Teil einige Fahrzeuge beheimatete. Wasser war hier eingedrungen. Er hörte ein Platschen und Keuchen, gurgelnde Laute und schlussendlich ein Wimmern. Sie bogen um eine Ecke und Alex konnte Somi erkennen. Er hatte den Fuß in den Nacken eines schmalen Mannes gedrückt und hielt ihn mit dem Kopf in einer der tieferen Pfützen gedrückt. Die Arme des... Mannes - es schien eher ein Jugendlicher zu sein - waren auf seinem Rücken gefesselt worden. Fünf von Somis Männern hielten sich im Hintergrund. Zwei von ihnen bewachten drei kniende Männer. Sie betrachteten die Szene mit versteinerten Mienen. Weiter Abseits lagen mehrere Männer, bewegungslos und Alex konnte unter zu Hilfenahme seiner Fähigkeiten kein Lebenszeichen mehr feststellen. Der Junge zappelte hektisch. „Somi“, machte Alex ruhig auf sich aufmerksam. Straud reagierte nicht gleich und Mia wurde unruhig, doch Alex fing ihren dunklen Blick ein, hielt ihn für die Dauer von Augenblicken fest und sie entspannte sich äußerlich. „Straud“, sagte Alex noch einmal und richtete sein Augenmerk wieder auf die Zeitbombe im Raum. Erst da ließ dieser von dem Jungen ab, hob mit der Stiefelspitze dessen Kinn, sodass er seinen Kopf mehr in den Nacken bewegen musste und drückte ihn soweit nach hinten, dass er außerhalb des Wassers lag. „Was tust du hier?“, fragte Alex. „Eine Befragung durchführen“, kam die gut gelaunte aber verwundert klingende Erwiderung. Straud schob den Jungen mit dem Fuß weiter aus dem Wasser in dem er ihn einen Stoß in den Bauch gab. Er hatte sichtlich Spaß daran. Seine Augen leuchteten vor Erregung. Ein heiseres Stöhnen entrang sich dem nackten, mageren Körper. Alex sah die Freude und auch die Gier in den blauen Augen des Mannes als er das tat. „Wer ist das?“, fragte Alex und seine Stimme drückte nach wie vor Ruhe und Besonnenheit aus. „Das hier?“, fragte Straud nun seinerseits fast schon verwundert und sah seine Männer an. Er ging um die Wasserlache herum, griff nach unten und hob den jungen Mann am Hals hoch. Der Junge versuchte die Augen zu öffnen und verzog den Mund vor Schmerz. Sie hatten ihn halb zu Tode geprügelt. Wieder einmal machte sich Strauds Hang zum Sadismus bemerkbar und in Alex keimte die Frage auf warum er sich dieses Mal dazu hinreißen ließ es so öffentlich anzugehen. Sein Saubermannimage war somit wohl dahin. „Das hier, verehrter Alex ist der Sohn des Klinikleiters und der Freund unsers dahingeschiedenen Prodigy. Die kleine Hure hier hat ihren Arsch für einen PSI hingehalten. Wunderbar nicht wahr? Er ist bei Schwarz ein und ausgegangen und wie es eine glückliche Fügung will nun in unsere Hände gefallen. Wir kennen durch ihn den Aufenthaltsort von Crawford.“ Der Junge hatte Probleme damit ein- und auszuatmen, stellte Alex fest, er hatte die Augen weit aufgerissen und Tränen liefen über die zerschrammten Wangen. Er hatte sich zur Seite gedreht und sein magerer Brustkorb arbeitete hektisch bekam jedoch viel zu wenig Luft in die Lungen. Er sah auch wie eine nasse Ratte. Alex hatte nicht viel für menschliche Belange übrig, dennoch spürte er so etwas wie Mitgefühl in sich als er den Jungen betrachtete. „Woher weißt du, dass Prodigy tot ist?“, wählte Alex die dringlichste Frage, noch während er dem Schauspiel zusah. Somi machte eine Handbewegung und warf den Jungen mit wenig Kraftanstrengung seinerseits Alex vor die Stiefel. Dieser zog erstaunt über so viel Grausamkeit die Brauen nach oben. Straud schien sich zu destabilisieren. Dieses unzivilisierte Verhalten hatte er noch nie an ihm gesehen. „Du kannst ihn haben, er ist wertlos und irreparabel. Aber du kriegst ihn sicher wieder flott. Genau deine Kragenweite: jung, schmal, zart, etwas lädiert vielleicht, aber was solls. Der Zweck heiligt die Mittel, nicht wahr alter Freund?“ Alex beachtete den schwer amtenden Körper unter sich nicht. Die pfeifenden, rasselnden Geräusche, die aus einer verletzten Kehle herrührten klangen hoch und quälend. „Wir waren nie und werden nie Freunde sein, Straud.“ Er schob die Beine des Jungen mit seinem rechten Stiefel vorsichtig zur Seite um auf Somi zuzugehen. „Woher weißt du dass Prodigy tot ist?“ „Sein Vater“, Straud deutete nachlässig zu den Gefangenen. „Im übrigen müssen wir los“, verkündete er dann geschäftig und irgendwie überdreht. Somi kam auf Alex zu, auf gleicher Höhe stoppte er und sah ihn an. „Sobald Crawford in Gewahrsam ist werde ich den Rat darüber informieren. Selbstverständlich wirst du einen Bericht darüber erhalten.“ Alex sagte nichts dazu. Straud und seine Männer zogen ab und überließen Alex und den Judges das aufräumen. Wie eine Mahnung zogen die Geräusche in seinem Rücken seine Aufmerksamkeit wieder zurück. Er sah zu dem Jungen der japsend und gekrümmt unter Atemnot litt. Er wandte sich ab und den knienden Männern zu, vor dem Ältesten, der um die Fünfzig schien hielt er. „Sie sind wessen Vater?“ „Von dem Jungen, der gerade erstickt. Lassen Sie mich zu ihm, ich kann ihm helfen, ich bin Arzt. Dieses Ungeheuer hat ihm den Kehlkopf halb zerquetscht. Das war völlig unnötig“, sagte er mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, den Alex nachempfinden konnte. „Das war es“, pflichtete Alex aufgeräumt bei. „Was ist mit Naoe Nagi passiert?“ „Lasst doch diesen Jungen endlich zufrieden. Er ist tot. Dieser dort lebt. Helfen Sie ihm, oder lassen Sie mich ihm helfen!“ Mia war lautlos neben ihn getreten, streckte ihre Hand nach dem Mann aus und dieser brach halb in sich zusammen. Unter Stöhnen brachen auch die anderen beiden Männer zusammen. „Alex, Naoe ist tot. Er starb vor zwei Tagen“, gab sie das Ergebnis ihrer eigenen kleinen Befragungsmaßnahme preis. „Wie ist er gestorben?“ „Er hat sich verausgabt, er starb an Multiorganversagen. Es war als hätten sich Organstrukturen in seinem Inneren aufgelöst. Er war nicht mehr zu retten. Das war nach dem Angriff über den wir Kenntnis erlangt haben. Sie haben ihn hier in die Klinik gebracht, es war bereits zu spät.“ Mia zog sich zurück und der Mann sah sie erschrocken an. Verwirrung war auf den Gesichtern der Männer zu erkennen. „Sie kennen Crawford?“, fragte Alex daher. Der Mann nickte. „Sie haben was sie wollen, lassen Sie uns ihm helfen.“ Alex starrte dem Mann lange an bis Mias Stimme ihn aus seiner Beobachtung riss. „Das ist nicht mehr möglich. Er hat mich um Hilfe gebeten. Ein Judge kann dies nicht verwehren. Er wird sich meinem Urteil unterziehen müssen, sobald er genesen ist.“ Alex wandte sich ihr mit fragendem Blick zu. Wann war das denn passiert? Er sah wie der Junge mit flehenden Augen Mias Gestalt suchte, sein Gesicht eine starre Maske der Verzweiflung. Alex seufzte. Er hätte wohl jeden um Hilfe angefleht. „Bolder, Blade, ihr nehmt diese drei in Gewahrsam. Bringt sie ins Hauptquartier.“ „Ich nehme den Jungen“, sagte Mia und Alex nickte resignierend. Seine Hoffnung war erloschen. Als Mia ihn auf die Arme nahm klammerte sich der Junge an die Judge und Alex sah diesem Verhalten irritiert zu. Keiner suchte die Nähe der Judge. Er verfolgte den Abgang bis Viper hereingestürzt kam. „Wir müssen raus, Straud hat etwas vor und ich bezweifle, dass er auf uns Rücksicht nehmen wird.“ Sie eilten hinaus, der Sturm lud weiter Massen an Wasser über der Stadt ab. Er riss an ihnen und es kostete sie einiges an Mühe zu den Wagen zu gelangen. Sie waren kaum an den Autos angekommen als eine Erschütterung den Boden erzittern ließ, ein ohrenbetäubender Krach entstand und Alex wurde gegen den Wagen geschleudert. Schutt und Betonteile krachten an ihnen vorbei. Dass dies der Fall war verdankten sie der schnellen Reaktion von Bolder und Viper, die einen Schutzwall aus verdichteten Molekülen um sie herum errichteten. Es krachte und knirschte, Schreie waren zu hören, selbst durch das Dröhnen des Sturms hinweg. Eine weitere Explosion hielt sie vom Aufstehen ab und eine Staubwolke blähte sich um sie herum auf und verdrängte für kurze Zeit sogar den Regen. „In die ...gen“, hörte Mia nur verzerrt. Mia schirmte den Jungen vor der zweiten Druckwelle ab und drehte ihren Rücken in Richtung Detonation. Mia sah in ihre Arme, der Junge lag japsend und schwer Luft einziehend an sie gebettet und sah sie völlig verstört an. Seine Lippen waren bläulich, die Augen aufgerissen, seine Finger krallten sich in ihre Seiten. Mia stand auf, hob ihn hoch und kletterte in den Van. Er war viel zu leicht. „Alex“, rief sie nach ihm und Alex ging zu ihr, sah in das Wageninnere. „Er erstickt.“ Er zögerte. Dann nickte er und sie machte ihm Platz. Viper stieg vorne ein und ließ augenblicklich den Wagen an. Bolder kümmerte sich um den zweiten Wagen und Alex überließ es den Beiden sie hier heil wieder herauszubekommen. Offenbar hatte Straud es in Kauf genommen, dass die Judges bei dieser Explosion umkommen würden. Er übernahm den Oberkörper des Jungen auch wenn dieser unruhig zappelte. Mia holte einen ihrer Dolche hervor und zerschnitt die Fesseln des Jungen. Währenddessen zog Alex seine Handschuhe aus und legte eine Hand auf die nasse Stirn, die andere drückte er auf den Kehlkopf des Jungen. Er sagte nichts und der Junge wollte seine Hände entfernen, als Mia ihn festhielt. „Bleib ruhig.“ Alex Augen fanden endlich die des jungen Mannes. Graublaue wässrige Seen, die ihn um Hilfe anflehten, ihn nicht mehr aus ihrem Fokus ließen. Alex verschränkte seinen Blick mit diesen Augen und begann zunächst mit einer Diagnose, er musste sich nicht sonderlich anstrengen um den Jungen hier an Ort und Stelle zu halten, auch wenn es sich noch so wehrte. Es war pure Panik, die das Gesicht des Jungen zeichnete. „Ich helfe dir“, bot Mia an. „Nicht sofort, erst wenn es an Intensität zunimmt. Ich brauche ein Gefühl für die Strukturen.“ „Gut.“ Alex musste einiges reparieren. Der Kehlkopf war stark mitgenommen. Andere Diagnosen mussten warten. Der Junge hatte viele Verletzungen, zumal sein körperlicher Zustand ohnehin sehr schlecht war. Er kam ihm vor wie ein nasses, verhungertes Kätzchen, das er aus einer Mülltonne gefischt hatte. Den Vergleich mit einem Kätzchen zog er dem mit einer Ratte definitiv vor. Auch wenn er Ratten mochte. Er konzentrierte sich zunächst darauf dem Jungen die Schmerzen zu nehmen in dem er die endogene Ausschüttung von Endorphinen erhöhte. Dann versenkte er sich mental mehr und mehr in den strukturellen Aufbau des Körpers und alsbald spürte er wie Schmerzen ihn selbst heimsuchten. Kalter Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Unter anderem fand er eine körperfremde Substanz in dem Organismus, aber er vernachlässigte sie, da es dringenderes zu erledigen galt. Er hatte Erfolg, denn der Junge wurde ruhiger. Alex begann damit den Abtransport von zerstörtem Gewebe zu beschleunigen. Unter seiner Hand wurde es heiß und das Gezappel des Jungen nahm wieder zu. Seine eigenen Schmerzen auch. Er biss die Zähne zusammen und vertiefte sich weiter in seiner Arbeit. Und dann spürte er wie er ins Dunkel fiel. Doch er ließ nicht los, er arbeitete weiter, während er nichts mehr weiter wahrnahm als Zellen, Zellverbände, Gewebe, Hormone, Neuronen...Lymphozyten... Nagis Herz schlug etwas ruhiger als die Hand an seiner Stirn langsam von dieser rutschte und der Mann mit den zweifarbigen Augen zur Seite glitt und schlussendlich weggetreten an der Kopfstützte ruhte. Der Atem des Mannes war schnell, er schwitzte und sein Gesicht drückte Schmerz aus. Seine Hand an seinem Hals lag aber immer noch ruhig da und Nagi war sich nicht sicher ob es gut war sie zu entfernen. Er konnte normal atmen und sah die Frau, die ihn so sehr an Schuldig erinnerte in Augenschein. Er fühlte sich ausgeliefert und gedemütigt, so schwer in seinen Grundfesten erschüttert, dass er für jede einzelne kleine Handlung die ihm etwas Gutes tat unglaublich dankbar war. Er starrte die Frau an, die seinen Blick bemerkt zu haben schien und ihn ruhig erwiderte. „Lässt du mich deine Gedanken lesen?“ Automatisch schüttelte er einmal den Kopf. Unsicher dennoch. „Du solltest noch nicht sprechen, das Gewebe, das er erneuert hat ist noch sehr jung und verletzlich. Alexandre wird dir sagen, wann du das Gewebe belasten kannst. Ich weiß nicht ob er alles wieder herstellen konnte, aber atmen kannst du wieder ohne Probleme?“ Nagi nickte langsam. Plötzlich war sie in seinen Gedanken, es war der gleiche Druck wie bei Schuldig, etwas ungehobelt wie bei ihm. Es fühlte sich auch genauso an wie wenn er es war. Das irritierte Nagi, er konnte nichts dagegen tun. ‚Das ist richtig.’ ‚Was wollen Sie?’ ‚Du siehst weit weniger forsch aus, als dass es deine Worte vermuten ließen.’ ‚Ich bin Ihnen ausgeliefert, nackt und wehrlos im Augenblick.’ ‚Ich weiß wer du bist. Ich empfehle, dass du es noch für dich behältst. Weiß es Somi auch?’ ‚Ja. Somi heißt er jetzt?’ ‚Unter welchem Namen kennst du ihn?’ ‚Thomas Straud’ ‚Nun, das ist auch sein Name.’ ‚Warum hat er dich laufen lassen? Und vor allem warum hat er dich so zugerichtet?’ ‚Ich habe keine Fähigkeiten mehr. Meine Telekinese ist im Augenblick oder für immer fort. Ich kann nicht mal einen Strohhalm verbiegen. Aktuell weder körperlich noch geistig. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, er gibt mir wohl die Schuld für Vieles was damals anders gelaufen ist als er es gerne gehabt hätte. Er hat das Monster aus mir gemacht, das ich heute bin.’ ‚Ich verstehe.’ Sie sagte eine Weile nichts mehr und er lag immer noch nackt auf den beiden und rührte keinen Finger. Die Hand an seiner Kehle spendete immer noch diese angenehme Wärme, in der er sich gerne ganz gehüllt hätte. Er sah wieder zu dem Mann hoch. Er schien starke Schmerzen zu haben. Er hatte nicht das Gefühl irgendetwas planen oder dahingehend denken zu können, er reagierte nur auf dass was ihm widerfuhr. Vermutlich war er noch im Schock. Nagi blinzelte und versuchte zu erfassen wo er überhaupt war. Er sah über sich eine niedrige Decke. Ein Wagen. ‚Du siehst aus wie ein unbescholtener Junge, der gerade einmal dem Kindesalter entwachsen ist.’ Sie schien nach Worten zu suchen. ‚Ein jugendlicher Mensch. Behalte das zunächst bei’, wiederholte sie. ‚Warum? Spielt es eine Rolle falls andere erfahren wer ich bin? Ist es nicht schon einerlei? Sie haben mich, wollen sie mich nicht wegsperren oder mich Ihrer ach so erhabenen Gerichtsbarkeit unterwerfen?’ ‚Vieles ist in Bewegung. Momentan sieht es danach aus als würde jemand die ganze Stadt vernichten wollen. Hörst du die Funksprüche nicht?’ ‚Nein, ich ... ich höre gar nichts... es... ist viel zu still.’ Er versuchte sich zu konzentrieren. ‚Es dröhnt und es sind... hohe Geräusche... die Explosion’, vermutete er. ‚Du hast mehr abbekommen als zunächst vermutet. Alex wird dich untersuchen und dir helfen wenn nötig.’ ‚Er will es nicht.’ ‚Nein, er hat für Menschen nicht viel übrig.’ ‚Ich bin keiner.’ ‚In seinen Augen schon.’ ‚Warum soll ich so bleiben?’ ‚Schütze dich damit. Er wird dir nichts tun. Er ist nur... er ist wütend und enttäuscht.’ ‚Warum? Wenn wir ihn nicht kümmern, warum sollte er enttäuscht sein? Er steckt doch mit...mit...’ ‚Straud.’ ‚Mit... Straud unter einer Decke.’ ‚Nein, das tun wir nicht.’ Nagi schwieg und sah in diese schwarzen Augen, die ihm keine Angst machten, sie wirkten auf ihn eher tröstlich. ‚Du hast dich an den Reaper gewöhnt. Und er an dich. Du bist wie ein Teil von ihm, denn er hat dich aufgenommen’, sagte sie mit einem winzigen warmen Lächeln nach einer Weile. ‚Wie meinen Sie das?’ ‚Du trägst einen Teil von ihm in dir. Ich kann ihn fühlen. Dadurch fühle ich mich für dich verantwortlich. Ein Reaper hinterlässt immer Spuren. Untilgbare Spuren, die dich für jeden anderen Reaper kennzeichnen.’ Nagi verstand sehr wenig von dem was sie sagte. Er runzelte die Stirn. ‚Gibt es viele Reaper?’ ‚Nein.’ Sie zögerte. ‚Du bist müde. Wir sprechen später. Nimm den Ratschlag an und verhalte dich wie ein sechzehnjähriger Junge, dem gerade Gewalt angetan wurde, der allein und schutzlos ist.’ ‚Bin ich das nicht?’ Seine Augen fielen zu. ‚Du bist neunzehn.’ ‚Nicht mehr lange...’ Er schlief ein. Mia wandte ihren Blick nach vorne. Sie zog eine der Lederjacken aus dem Fußraum nach oben und bedeckte damit die Blöße des Jungen, bevor sie sich an Viper wandte. „Wie weit noch?“ „Zwölf Kilometer, wenn wir heil ankommen.“ „Pass auf!“ Viper zog das Lenkrad abrupt zur Seite als ein Trümmerteil auf die Straße krachte. „Gesehen“, erwiderte Viper ruhig und Mia behielt ihren Blick auf die Umgebung gerichtet. „Die Stadt brennt“, flüsterte sie. „Wenn Straud dafür verantwortlich ist, kommt hier etwas auf uns zu, das wir nicht vorausgesehen haben.“ o Fortsetzung folgt... Danke fürs Lesen! Gadreel Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)