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Fragt man einen Fan nach einer Aufzählung beliebiger Manga-Serien, wird man verschiedenste Titel zu hören bekommen, denen eines gemein sein wird: es wird sich im allgemeinen ausschließlich um Manga handeln, die sich an Jugendliche richten. Dies ist natürlich nicht verwunderlich, sind dies doch auch diejenigen Serien, die sich am besten verkaufen und damit die breiteste Leserschaft haben. Deswegen hängt Manga aber gerade bei Erwachsenen der Ruf an, eine reine Jugendlichen-Domäne zu sein - fälschlicherweise, denn auch für Interessierte jenseits der Zwanzig existieren mehrere Serien auf dem deutschen Markt, die jedoch um einiges unscheinbarer sind. Im Folgenden möchten wir drei dieser Manga-Serien vorstellen, die unserer Meinung nach sehr empfehlenswert sind und besonderes Augenmerk auf eine anspruchsvolle Handlung und glaubwürdige Charaktere legen.
Hinweis: Auch wenn durch dieses Special das Genre der Erwachsenen-Manga herausgestellt wird, soll dies gleichwohl keine Abwertung anderer Genres sein. Gerade Anhänger dieser Manga sollten Weitblick beweisen und Manga für Jüngere nicht pauschal als "schlechter" bezeichnen - es ist natürlich alles eine Frage des Zielpublikums.


Monster

Verlag: EMA
Preis: 6,50 EUR
Bisher erschienen: 2
Bände insgesamt: 18
Autor: Naoki Urasawa

Dr. Tenma auf der Flucht

1986, BRD: Dr. Kenzo Tenma von der Eisler-Klinik in Düsseldorf ist ein Chirurg wie man ihn sich nur wünschen kann: idealistisch, talentiert und charmant. Einer glänzenden Karriere stand nichts im Weg. Doch dann sieht er sich eines Tages vor die Wahl gestellt, durch eine Operation entweder dem Jungen Johann oder einem höheren Politiker das Leben zu retten, und entscheidet sich entgegen den Anweisungen von Oben für ersteren. Nicht nur, dass er damit seine Vorgesetzten gegen sich aufbringt, sondern Johann und seine Schwester Anna umgeben auch ein schreckliches Geheimnis: Ihre Eltern wurden unmittelbar nach der Flucht aus der DDR unter rätselhaften Umständen getötet. Kurz darauf werden auch Dr. Tenmas Vorgesetzte ermordet und die Kinder verschwinden spurlos. Die Morde an den Ärzten und an den Eltern der Kinder bleiben ungeklärt.

1995, Wiedervereinigtes Deutschland: Es geschehen wieder Morde, ähnlich denen an Johanns Eltern und Dr. Tenmas Kollegen. Durch Zufall gerät Dr. Tenma in die Ermittlungen und erkennt, wer hinter all den Morden steht: Johann selbst, dem er einst das Leben rettete, war bereits im Kindesalter ein Serienmörder. Offensichtlich nur aus Dank für die operative Rettung wurde Dr. Tenma damals verschont. Aus Schuldgefühlen und in der Hoffnung, weitere Morde verhindern zu können, stellt Dr. Tenma eigenmächtig Nachforschungen an. Aber bald wird er Zeuge weiterer Morde und gerät schließlich selbst in Mordverdacht beim BKA und der Polizei. Er flieht und beginnt eine Jagd auf Johann quer durch Deutschland. Er trifft Anna wieder, die nach den traumatischen Erlebnissen ihr Gedächtnis verloren hat und nun unter dem Namen Nina bei einer Adoptivfamilie lebt. Aber nach einem Zusammentreffen mit Johann erinnert sie sich wieder an damals und will ihrerseits Rache für den Mord an ihren Eltern nehmen.

Je mehr Dr. Tenma von Johann erfährt, desto rätselhafter wird ihm diese Person: es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen geisteskranken Massenmörder, sondern um ein Monster, das in seiner Systematik, alle ihm nahe stehenden Personen zu ermorden eine fast schon höhere Stufe erreicht hat. Aber was treibt ihn, was geht in Johann vor, und wie wurde er zu dem, was er ist? Die Nachforschungen verschaffen Dr. Tenma das eine Mal in Berlin Einblick in geheime Experimente der ehemaligen DDR, führen ihn das andere Mal in Frankfurt in die Neo-Nazi-Szene, deren Anführer sich in Johann die Leitfigur einer neuen Herrenrasse erhoffen und das hiesige Türkenviertel in Brand stecken wollen...

"Monster" ist ein nahezu genialer Thriller, der neben der spannenden Handlung besonders durch unglaublich sorgfältige Recherche besticht. Seien es die medizinischen Darstellungen sowie das durch Intrigen, Hackordnungen und Karrieregeilheit bestimmte Betriebsklima in den Krankenhäusern, oder sei es die zeichnerische Ausgestaltung der hauptsächlich deutschen Städte - Urasawa zeigt eine beeindruckende Liebe zum Detail und weiß genau, von war er erzählt. In zahlreichen Seitenhandlungen werden Haupt- und Nebencharaktere genauer vorgestellt: Beispielsweise Dr. Tenmas ehemalige Verlobte Eva, die sich immer genau an denjenigen schmiegt, dessen Chancen auf ein gutes Einkommen gerade am höchsten sind, letztlich aber doch einsam ist. Oder Inspektor Runge vom BKA, der im weiteren Verlauf besonders darauf fixiert ist, Dr. Tenma die Schuld an den Mordfällen anzuhängen. Oder auch eher beiläufige Episoden, in denen Dr. Tenma verschiedenen Menschen begegnet und mit seinen chirurgischen Fähigkeiten und seinem Idealismus meist Gutes bewirkt.

"Monster" schafft es, durch die spannende Geschichte, die glaubwürdige Umgebung und die ansprechenden Charaktere, den Leser schnell in seinen Bann zu ziehen. Durchhaltevermögen wird man aber dennoch benötigen: Die Manga-Reihe umfasst insgesamt 18 Bände, es wird also noch eine ganze Weile dauern, bis sie komplett auf deutsch vorliegt.



20th Century Boys

Verlag: Planet Manga
Preis: 7,95 EUR
Bisher erschienen: 4
Bände insgesamt: 11
Autor: Naoki Urasawa

"20th Century Boys" ist ein Mystery-Thriller um die Welteroberungspläne eines Unbekannten namens "Der Freund". Die Handlung der Serie erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und bedient sich einer in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Erzähltechnik.
Nicht nur, dass der Manga zeitlich keiner linearen Abfolge folgt, auch ist es schwer, einen klaren Hauptcharakter auszumachen. Am ehesten Kenji, um 1970 herum ein kleiner Bengel mit blühender Fantasie, 1997 der Filialleiter eines Convenience Stores in der Midlife-Crisis. Daneben sein Klassenkamerad Otcho, in ihrer Kindheit Anführer der gemeinsamen Clique, bis zum Jahr 2000 aber in Bankok verschollen. Und noch das anfangs unbekannte Mädchen, das in einer ganz anderen Zeit wohnt und dessen Identität und Rolle in der Geschichte lange Zeit ungeklärt bleibt.

Der rote Faden, der sich durch die verschiedenen Zeitebenen zieht, ist der groß angelegte Plan des "Freundes". Dieser wurzelt in den Fantasien von Kenji und Otcho als Kinder, geht also bis 1969 zurück, entfaltet sich aber erst ab 1997 und gipfelt scheinbar zum Ende des Jahrtausends, also Dezember 2000: zum Jahrtausendwechsel ist offenbar die Auslöschung der Menschheit geplant. Bereits auf den ersten Seiten des Manga wird allerdings klargestellt, dass diese Bedrohung abgewendet werden kann. Der Kampf von Kenji gegen den "Freund" zu Silvester samt dem Weg zu diesem Showdown nimmt also eine zentrale, aber nicht die zentrale Stellung des Manga ein - die Schatten des Plans, der 1969 entstand, reichen bis weit ins 21. Jahrhundert hinein. Der Manga spielt also grob gesagt in drei Zeitebenen: das "Heute", das Jahr 1997 und 2000, das anfangs die Zeit des eigentlichen Geschehens ist, später jedoch in Form von Rückblenden erlebt wird, das "Morgen", die Zeit nach der großen Konfrontation, und das "Gestern" - die frühen 70er-Jahre, auf die immer wieder Bezug genommen wird, da dort die Grundzüge des großen Plans entstanden.
Die vielen Rückblenden existieren aber nicht nur der unmittelbaren Handlung willen. Naoki Urasawa beschreibt beinahe schon verträumt das Lebensgefühl dieser Generation. Natürlich sind dabei viele Ereignisse sehr Japan-spezifisch, beispielsweise die Begeisterung um die Expo 1970 in Osaka. Andere Ereignisse wie die Mondlandung oder Woodstock hat man hier ähnlich verfolgt, und viele der Träumereien der Kinder und der Probleme untereinander dürften jedem Leser nur allzu bekannt vorkommen. Urasawa, ähnlicher Jahrgang wie die Protagonisten von "20th Century Boys", erzählt ganz offensichtlich viel aus seiner eigenen Erfahrungswelt. Manga kommen darin auffällig häufig vor, eine Eigenart, die darin gipfelt, dass ein Hauptcharakter, der erst später eingeführt wird, selbst Manga-Zeichner ist und einen Manga über den Plan des "Freundes" zeichnen will - hier hat sich Naoki Urasawa wohl selbst in Szene gesetzt.

Mit der gleichen Präzision, mit der die Welt der 70er Jahre aus Sicht der Kinder beschrieben wird, wird aber auch eine Zukunftswelt portraitiert, einige Jahre nach den Ereignissen zum Ende des 2. Jahrtausends, in der sich die sozialen Probleme und die Korruption enorm verschärft haben. Wieder gilt hier Urasawas Hinwendung besonders dem Untergrund, der Welt von zwielichtigen Banden, ähnlich in "Monster" der Unterwelt im gegenwärtigen Deutschland. Eine weitere Parallele ist die Person des "Freundes", der Johan in seinem mysteriösen charismatischen Wesen sehr ähnelt. Ansonsten unterscheiden sich die beiden Reihen Urasawas deutlich, schon alleine in der Art der Erzählung.

"20th Century Boys" ist ein Meisterwerk für sich. Seine Atmosphäre und die Spannung entwickelt es aber sehr gemächlich - der erste und der Großteil des zweiten Bandes sind eine reine Einführung, erst dann geht es wirklich los mit der Handlung - und einen Überblick über alle Zeitebenen bekommt man erst noch einige Bände später. Aber es ist es definitiv wert, sich darauf einzulassen.



Eagle

Verlag: EMA
Preis: 6,50 EUR
Bisher erschienen: 4
Bände insgesamt: 8
Autor: Kaiji Kawaguchi

In "Eagle" geht es um ein für Manga sehr ausgefallenes Thema: amerikanische Realpolitik, im besonderen die Präsidentschaftswahlen. Der demokratische Senator Kenneth Yamaoka hat es sich zum Ziel gesetzt, das höchste Amt zu erreichen - trotz seiner asiatischen Abstammung. Kein leichtes Unterfangen, Konkurrenz gibt es ja nicht nur seitens der republikanischen Partei, auch seinen Konkurrenten bei den Demokraten Albert Nore, Vizepräsident der aktuellen "Clyton"-Regierung, gilt es auszustechen, um überhaupt erst einmal als Spitzenkandidat ins Rennen zu gehen. Doch den ehemaligen Vietnam-Veteranen umgibt eine einzigartige Aura, die jeden in den Bann zieht.

Der japanische Reporter Takashi Jo wird von Yamaoka damit beauftragt, den Wahlkampf zu verfolgen und anschließend einen Bericht darüber zu schreiben. Der Grund für diesen ungewöhnlichen Auftrag klärt sich schnell: Takashi ist Kenneth Yamaokas unehelicher Sohn - eine Tatsache, die ob Yamaokas Ansehen willen tunlichst geheim bleiben sollte. Doch warum hat Yamaoka Takashi dann überhaupt erst zu sich geholt, unmittelbar nach dem Tod Takashis Mutter, wenn er doch eine solche Bedrohung für den Wahlkampf darstellt?

Takashi recherchiert für seinen Bericht und aus persönlichem Interesse über Yamaokas familiären Hintergrund und seine Vergangenheit. Er versucht, ihn, seine Motivation und seine Ziele nachzuvollziehen, doch wann immer er glaubt, ihn auch nur ansatzweise zu verstehen, zeigt Yamaoka sich wieder von einer ganz anderen Seite - Takashi verzweifelt geradezu an seinem Wesen, das in keine Muster und Klischees passt.

Gleichzeitig schreitet der Wahlkampf voran. Hier beweist der Zeichner Kaiji Kawaguchi enormes Insiderwissen. Sorgfältig wird der Wahlkampf mitverfolgt, angefangen bei der Suche nach fähigen Wahlkampfberatern. Das Entwickeln der richtigen Strategie, sich der Öffentlichkeit vorteilhaft darzustellen, und das Buhlen um Unterstützung von einflussreichen Politikern bekommt eine zentrale Stellung. Das geht hin zur Erläuterung der Wetterabhängigkeit des Wahlergebnisses oder der Darstellung der Probleme, die sich durch Einladungen zu zwei Festessen hintereinander ergeben - bei beiden gehört es zum guten Ton, ordentlich mitzuspeisen. "Eagle" lässt sich viel Zeit für solche Details, will gar nicht schnell voranschreiten - in Band 4 sind gerade erst einmal die Vorwahlen in vollem Gang.

"Eagle" stellt eine recht gelungene Mischung aus einer Analyse des amerikanischen politischen Wahlsystems und einer Charakterstudie dar, wird dank der Romanze zwischen Takashi und Yamaokas Adoptivtochter Rachel aber immer wieder durch Soap-Elemente aufgelockert.