Spaceapes von Gamesh ================================================================================ Kapitel 5: Flashback III: lost//found. -------------------------------------- Radditz beobachtete, wie sich sein Atem in der Herbstluft kringelte. Er stand auf dem Balkon in der oberen Etage seiner Holzfällerhütte, die sich seiner Meinung nach eher Luxusimmobilie schimpfen sollte. Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und starrte hinunter auf den von Nadelwald umgebenen Lake Paozu. Es herrschten laut Außenthermometer ein Grad Celsius, aber Radditz empfand es nicht als sonderlich kalt. Der Himmel war bedeckt und Nebel hing zwischen den Bäumen fest. Das sich so ergebende Bild war ganz hübsch. Der Musiker merkte, wie sein Kaffee langsam auskühlte. Das ärgerte ihn. Nach einem letzten Schluck kippte er die zweite Hälfte der Tasse mit einem Schwung über die Brüstung. Vermutlich war es keine gute Idee barfuß, nur in Slip und offenem Bademantel auf dem Balkon rumzustehen, wenn der Kaffee aufgrund der Temperatur so schnell ungenießbar wurde. Wieder drinnen sah Radditz von der oberen Ebene, auf der sein Bett stand, hinunter in den offenen Wohnbereich. Wie schon so oft fragte er sich, wer das Haus wohl eingerichtet haben mochte. Generischer Kackdreck, nur Katalogscheiße. Irgendwie hatte es nicht geholfen, dass er gleich am ersten Tag einen Riesenhaufen Dekokram in Müllsäcken runter ins Dorf gebracht hatte. Arale hatte ihm alles abgenommen und ein paar Scheine im Austausch dafür angeboten. Aber das Letzte was Radditz brauchte, war Geld. Davon gammelte genug auf der Bank rum. Irgendwann hatte sie ihm ein Bild im Format 2x DIN A0 vorbeigebracht, das sie selbst gemalt hatte. Er war Sommer gewesen. Er hatte nur mit Cargoshorts und Flipflops angetan dagestanden, einen Schluck aus seiner Limoflasche genommen und das Bild eine Weile angestarrt. Sie - knackige siebenundzwanzig Jahre, in einem Tank, Jeansshorts und mit violett gefärbten Haaren - hatte ihm stolz lächelnd das Bild präsentiert. „Warum 2x DIN A0?“ „Du kennst ja das Format!“ „Ja, und?“ „Du bist der Erste, der es erkannt hat!“ „Ich bin der Formatflüsterer“, hatte er nur sarkastisch gemeint. „Warum also?“ „Ich mag genormte Maße lieber als zufällig geschnittene Längen und Breiten.“ „Klingt autistisch.“ Sie hatte geschmollt, ihr Cap entrüstet zurechtgerückt, die Brille höher auf ihre Nase geschoben, mit den Wimpern geplinkert: „Was ist falsch an festgelegten Größen? In Industrie und Wissenschaft läuft alles über festgelegte Werte und Größen! Das ist sexy!“ Radditz hatte die Augen verengt. Mit dem Boden seiner halbvollen Flasche hatte er auf Arale gedeutet: „ Festgelegte Größen in Industrie und Wissenschaft? Bist du sicher, dass du Logopädin bist?“ „Mein Vater erfindet Dinge. Hat wohl abgefärbt.“ Ihr spitzubübisches Lächeln war entwaffnend gewesen. Der Einblick in ihr Dekolleté auch. „Ich hab 'nen Sechser alkoholfreies Heinecken mit.“ „Der Tag wird immer besser.“ Radditz schüttelte den Kopf und damit die Erinnerung ab. Er ging die Treppe runter an seinem Schlagzeug vorbei zur Küchenzeile, wo heißer Kaffee auf ihn wartete. Dann setzte er sich auf die Couch und legte die Beine auf den Tisch. Eigentlich war das Haus ganz nett. Er hatte das Möbel so ausgerichtet, dass er durch die Fensterfront ebenfalls zum See schauen konnte. An der Wand im Rücken der Couch hing nun Arales Werk, die Vergrößerung eines knorpeligen Stückes Baumstamm. Wenn es dunkler wurde, ging die Aussicht in die Spiegelung des Bildes über. Der Musiker mochte das. Der Wälzer neben Radditz lockte. Er schob seine Mähne über die Couchlehne, zog sich den Haargummi vom Handgelenk und band die störrische Masse vom Oberkopf zu einem Knoten. Erst dann schlug er das Buch an der mit dem Lesezeichen markierten Stelle auf. Er hatte es per Onlineversandhandel ins Dorf bestellt und bei seinem letzten Wocheneinkauf von der Poststelle abgeholt, darum war er noch nicht damit durch. „Wie lange sitzt du schon?“ Eiskalte Fingerspitzen gruben sich durch seine Haare zu seinem Nacken. Radditz zuckte nach vorn, um der Berührung zu entgehen. Auf einmal war es draußen dunkel. Er rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“ „Sieben.“ Sie nahm ihr Cap mit den Flügelchen ab und setzte es einem Rehkopf an der Wand auf. „Zwei Stunden.“ Nachlässig die Ärmel ihres Holzfällerhemdes hochkrempelnd stellte sie fest: „Es flasht mich immernoch, dass du liest. Dicke Bücher. Die Metamorphosen. Von Ovid. Auf Latein. Und das wie ein Assi: halbnackt im Bademantel. Dazu haarige Waden, Man-bun, schwarzer Nagellack passend zum Slip...Was ist das für'n Fleck auf deinem Zensurbalken?“ Arale deutete mit der Nasenspitze gen Radditz' knapp sitzendem Slip. Es war nur Kaffeesahne, aber die Augenbrauen des Drummers zuckten, untermalt von einem Grinsen, suggestiv in die Höhe. „Wohooo!“, antwortete sie in aufgesetzter Laune. „Wo sind eigentlich deine Hunde?“, fragte er im Gegenzug. „Bei Pop.“ „Wohooo!“, immitierte er ihren Ton. Wenn Gat und Chan nicht dabei waren, bedeutete das immer das Gleiche. ______________ Als Arale am nächsten Morgen aufwachte, war das Bett neben ihr kalt. Nach einigem Tasten fand sie ihre Brille auf dem Nachttisch. Sie schlüpfte in Radditz' Bademantel, schnallte ihre Carbonfaserbeinprothese an und ging zum Glasgeländer, um im Wohnbereich nach ihm Ausschau zu halten. Er saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Drehhocker seines Schlagzeugs, die Drumsticks in der einen Hand, eine Tasse in der anderen. Da er einen Pulli und eine lange Hose trug, war er heute schon am See gewesen. Dem verrückten Kerl war nie kalt, aber er war vernünftig genug, zu akzeptieren, dass man nach dem Schwimmen in einem Bergsee warme Kleidung anziehen sollte. Seine Körpersprache sagte alles. Er stand schon wieder kurz vor der Frustrationsgrenze, warum auch immer. Arale schüttelte den Kopf. Dieser Mann war ein wandelndes Paradox. Er hatte per Stipendium ein Elitecollege besucht, aber keinen Schulabschluss. Radditz hörte kleinste Rhythmikfehler, aber ein anständiges Kälteempfinden hatte er nicht. Er beherrschte fließend Latein, war aber nicht in der Lage seine Bedürfnisse vernünftig zu formulieren. Seine Koordination war so hochentwickelt, dass er bei den extremsten Schlagzeugsoli noch Kunststückchen auf seinem Hocker machen konnte, aber eine Packung Kaffee öffnen, ohne alles zu verteilen, war nicht drin. Er hatte jahrelang ohne Bedenken exzessiv getrunken, aber jetzt Angst davor Alkoholiker zu werden. Trotzdem tat er immernoch so, als würde er reichlich Hochprozentiges in sich hineinschütten. Sie besaß einen Schlüssel zu seinem Heim, aber eine richtige Beziehung schien ihm unmöglich. Manchmal hatte sie das Bedürfnis, ihn an ihre Freunde weiter zu vermitteln: Eine Ergotherapeutin, eine Psychotherapeutin und eine Universitätsdozentin. Aber das würde sein Leben auch nicht ordnen, sondern nur für Streit sorgen. Obendrauf würden alle mit ihm flirten. Das draufgängerische Grinsen, die Mähne und sein mangelndes Bedürfnis für Komplettsätze Kleidung hatten schon was. Arale lächelte. Ein offenes Arrangement hatte Vorzüge und sie schätzte ihre Freiheit sehr. „N'Cha!“, grüßte sie von der oberen Ebene herab. Radditz wandte sich um. Es brauchte einige Sekunden, aber dann entspannten seine Züge und die Mundwinkel schoben sich nach oben. „Hey! Eier und Speck?“ „Sowas von!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)