Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 3: Ein Herz aus Finsternis ---------------------------------- Als Chandra am nächsten Morgen aufwachte, war eine ganz bestimmte Sache grundlegend falsch, und dies sorgte dafür, dass sie kerzengerade in ihrem Bett saß. Normalerweise schliefen ihre beiden Pokémon immer mit in ihrem Bett – zumindest dann, wenn sie keinen Besuch in diesem hatte – und dementsprechend waren sie immer das Erste, was sie morgens sah, wenn sie erwachte. Doch heute Morgen war dem nicht so. Weder auf dem Kopfkissen neben sich noch auf der Decke oder unten am Bettende lagen Sunny und Lunel. Chandras Blick schweifte durch den Raum, doch nirgends war eine Spur der beiden. Ihr fiel auf, dass die Zimmertüre, links an der gegenüberliegenden Wand, einen Spalt offenstand. Dieser Dreckskerl, er hat doch nicht …!, schoss es durch ihren Kopf, doch sie bremste sich wieder. Sie hatte ihre Türe am Abend abgeschlossen, es wäre kaum möglich gewesen, geräuschlos von außen ins Zimmer zu kommen und auch noch ihre Pokémon mitgehen zu lassen. Aber für ein Pokémon, das telekinetische Kräfte hatte, war es ein Leichtes, ein Türschloss aufzubekommen. Nichtsdestotrotz sprang sie alarmiert aus dem Bett und stürmte in Schlafkleidung hinüber ins Wohnzimmer. Das Bild, welches sich ihr dort bot, war unerwartet, erleichternd und schockierend zugleich. Weniger schockierend, eher erleichternd: Zayn hatte über Nacht nicht das Weite gesucht, sondern lag tatsächlich auf dem Sofa und die Wolldecke auf ihm, hochgezogen bis zur Brust. Den rechten Arm nach oben über den Kopf gestreckt und das Gesicht zur Wand gedreht, schlief er offenbar noch. Deutlich unerwarteter und schockierender war hingegen, dass ihre Pokémon ebenfalls hier waren. Sunny lag zusammengerollt auf dem rechten Sessel und döste vor sich hin. Lunel hingegen hatte es sich oben auf der Lehne des Sofas bequem gemacht, auf Höhe von Zayns Oberkörper, und war zwar wach, schien sich aber nicht daran zu stören, dass Chandra gerade besorgt ins Zimmer gestürzt war. Ganz im Gegenteil hatte das Pokémon den Kopf auf seinen Vorderpfoten abgestützt und blickte ihr mit forschem Blick entgegen. Irritiert trat sie näher an Sessel und Sofa heran. Sie gestikulierte mit ihren Händen, deutete erst auf Sunny, dann auf Lunel und schließlich auf Zayn, ehe sie sie fragend in die Luft warf. „Ihr kleinen Verräter, könnt ihr mir mal verraten, was ihr hier macht?“, flüsterte sie. Natürlich bekam sie keine Antwort, Psiana sah nur gespielt ahnungslos auf und Nachtara fuhr sich mit der Zunge über seine Pfoten. Schön, dass ihr das lustig findet, dachte Chandra daraufhin und griff sich entnervt in den blonden Haarschopf. Es stand noch aus, ob sie Zayn wirklich vertrauen konnte – ihre Pokémon hatten ihn für sie abgecheckt, aber das klärte nicht sämtliche Punkte, die von Belang waren. Dass Sunny und Lunel nun offenbar über ihren Kopf hinweg entschieden hatten, gefiel ihr nicht wirklich. Normalerweise hielten die beiden sich von jedem fern, den sie nicht näher kannten. Dass sie nun nach so kurzer Zeit Zayns Nähe suchten, war seltsam und bedenklich. Ach ja, Zayn. Chandra stand nun fast direkt vor dem Sofa und sah auf ihn hinab. Von außen war das wahrscheinlich ein seltsames Bild, wie sie hier stand und ihn beobachtete und dabei feststellte, dass er wirklich noch schlief, denn er atmete ruhig und gleichmäßig. Ihr fiel auf, dass er obenrum nur ein schwarzes T-Shirt trug und dann sah sie auf dem linken Sessel sein Hemd und seine Jeans liegen. Ein wenig erleichtert war sie nun darüber, dass er die Decke über sich liegen hatte. Peinlich berührt sah sie ihn nicht länger an, sondern fasste stattdessen das ins Auge, was auf dem Tisch lag. Auf den ersten Blich sah das flache Gerät fast aus wie ein Smartphone, doch es war viel mehr. Ähnlich wie ein handelsübliches Smartphone trug es ein recht großes Display zur Schau, unter welchem sich eine große Taste und zwei kleine nebeneinanderreihten. Chandra kannte sich nicht allzu gut mit den Funktionen dieser Gerätschaft aus – sie wusste, dass es sich um einen PDA handelte, das stand für Pokémon Digital Assistant. Er vereinte die Funktionen eines Gerätes, das fähig war, Daten zu allen Pokémon zu sammeln und zu verarbeiten, und die eines normalen Mobiltelefons beziehungsweise Smartphones in sich und wies darüber hinaus noch jede Menge andere Fähigkeiten auf. Zumindest hatte sie davon gelesen. Einerseits ließ er sich ganz normal dafür verwenden, um ins Internet zu gehen, zu telefonieren oder zu schreiben, andererseits besaß er zum Beispiel eine spezielle Kamera, die jedes Pokémon scannen und analysieren konnte. Viel mehr wusste Chandra aber auch nicht über die zig Funktionen. PDAs waren für Menschen aus Pyritus ein kleines Vermögen wert. Sie selbst hätte sich bestimmt einen leisten können, hätte sie Ray nur lieb genug darum gebeten – allein der Gedanke sorgte bei ihr für einen Würgereiz –, allerdings waren PDAs eher für Pokémontrainer gedacht und als so einen betrachtete sie sich nicht wirklich. In Pyritus jedenfalls hatte sie bislang vielleicht höchstens zwei, drei Leute mit so einem Teil gesehen. Dass Zayn allerdings einen besaß – und dann auch noch ein Modell, das recht hoch- und neuwertig aussah mit dem schwarzmatten Design – warf einmal mehr ein besonders interessantes Licht auf ihn. Er musste aus mehr als gutem Hause stammen, Geld jedenfalls schien keine allzu große Rolle zu spielen. Erneut verwunderte es sie, was er dann in dieser Stadt wollte. Chandra erschrak, als der PDA plötzlich vibrierte und einen kurzen Klingelton von sich gab. Mit einem Blick auf Zayn vergewisserte sie sich, dass er nicht aufgewacht war. Sie beugte sich nach unten und sah auf das aufleuchtende Display. Ein kleines Fenster war auf dem Display, das vom Nachrichtenprogramm des Gerätes sein musste. Im Fenster selbst stand Neue Nachrichten: 1 und darunter wiederum ein Name: Alyssa. Unter dem Fenster gab es die Optionen Schließen und Öffnen. Vor Nervosität schoss Chandra das Blut ins Gesicht. Wer war Alyssa und warum schrieb sie Zayn eine Nachricht? Viel wichtiger: Wieso interessierte Chandra das überhaupt? Ihr Blick huschte erneut zu Zayn, dann zum PDA und wieder zurück. Die Option Öffnen lachte ihr förmlich entgegen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie es wagen konnte. Eigentlich war das ja nicht ihre Art – herumzuschnüffeln. Aber vielleicht brachte sie diese Nachricht der Frage nach Zayns Identität ein wenig näher – oder aber es war nur eine einfache Nachricht und Chandra würde ein sinnloses Risiko eingehen. Ach, scheiß drauf, dachte sie und tippte auf Öffnen – nur um im nächsten Moment enttäuscht zu werden. Natürlich, das Gerät war mit einem vierstelligen PIN vor genau solchen Leuten wie ihr geschützt. Es wäre auch merkwürdig gewesen, hätte Zayn ihn hier offen liegen lassen. Sie trat wieder zwei Schritte nach hinten, als sich ihr Gast plötzlich regte. Zayn wandte den Kopf in ihre Richtung und dann sah er sie aus müden Augen an. Ein Hauch von Irritation stand in seinem Gesicht. „Träume ich etwa?“, fragte er. „Ähm, nein.“ Er fuhr sich über die Augen, dann sah er abermals zu ihr. Er musterte sie von oben bis unten, als könnte er nicht glauben, dass der Moment echt war. „Wow, das kann man nicht träumen“, schlussfolgerte er, nachdem er wieder weggesehen hatte. „Wie bitte?“ Chandra war nicht weniger irritiert, als er ausgesehen hatte. Dann begriff sie, sah an sich runter und … ups. Sie war ja in ihren Schlafklamotten, bestehend aus Shorts und recht freizügigem Top, ins Zimmer gestürmt. „Ich dachte, ich hätte einen Schlag auf den Kopf bekommen und würde träumen. Aber nein, du stehst tatsächlich vor mir“, sprach Zayn weiter. „Was soll das denn bitte heißen?“ Eigentlich hatte Chandra tough klingen wollen, aber in der Gegenwart dieses Typens gelang ihr das einfach nicht. Zayn setzte sich auf und fuhr sich durch die schwarzen Haare – die eindeutig lila schimmerten! –, welche ihm vereinzelt in Strähnen ins Gesicht fielen. „Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, morgens so aufzuwachen.“ Er deutete auf sie. „Allerdings solltest du dir beim nächsten Mal noch etwas mehr Mühe geben, wenn du mich aufweckst, und nicht nur dastehen. Wobei das natürlich auch schon was hat.“ Er grinste sie frech an und verdammt, das sah zu gut aus. Chandra spürte die Hitze in ihrem Gesicht und hatte sich noch die derart entblößt vor jemandem gefühlt. Dieses Gefühl kannte sie nicht. Nervös werden, weil jemand sie attraktiv fand. Normalerweise fühlte sie sich dadurch bestätigt und selbstbewusst, doch jetzt schrie alles in ihr danach, nervös mit ihren Fingern zu spielen. „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, was für ein ekliger Perversling du bist?“, fuhr sie ihn an. „Meine Pokémon magst du für dich gewonnen haben, aber bei mir klappt das nicht.“ Ihrem Gefühl nach zu urteilen wie der letzte Tollpatsch, stampfte sie aus dem Raum und rief noch, ehe im Nebenzimmer die Tür zuflog: „Mach dich fertig, du hast mir noch einige Fragen zu beantworten!“ ****** Eine halbe Stunde später stand Chandra wieder im Wohnzimmer. Sie hatte sich frisch gemacht, ein wenig Make-up aufgelegt und trug nun eine schwarze Röhrenjeans und ein dunkelrotes, schulterfreies Oberteil, dessen Stoff an den Armen und um den Körper herum locker nach unten fiel. So fühlte sie sich gleich wieder viel besser. Zayn hatte sich mittlerweile auch wieder vollständig angezogen, saß auf dem Sofa und hielt seinen PDA in der Hand. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sich am ehesten als genervt bezeichnen – doch wieso? Es brannte ihr auf der Zunge, ihn nach der Nachricht zu fragen, doch sie unterließ es. „So, dann erzähl mal. Und versuch gar nicht erst, dich wieder rauszureden“, forderte Chandra ihn auf und setzte sich in den rechten Sessel. Ihre beiden Pokémon spielten derweil auf dem Boden miteinander, indem sie sich gegenseitig in die Ohren bissen. „Wieso bist du nach Pyritus gekommen?“ „Ich habe nach ein paar Informationen gesucht“, antwortete Zayn. „Über diese Stadt und ihre Bewohner. Dort, wo ich herkomme, hört man über Pyritus ausschließlich Schlechtes. Allerdings ist kaum jemand bereit, wirklich über die Stadt zu reden. Die meisten flüchten sich in Ausreden, jeder scheint zu viel Angst zu haben, etwas zu sagen. Was aber keiner leugnen kann: Die Pokémon in dieser Stadt sind deutlich stärker als andere Pokémon der gleichen Art, die einen ähnlichen Entwicklungsstand haben. Doch nicht nur das. Sie sind rücksichtslos, brutal und kämpfen bis zur absoluten Zerstörung. Im Grunde hört man schon seit über zehn Jahren immer wieder von solchen Fällen. Doch meist waren es Einzelfälle, sodass man annehmen konnte, dass nur vereinzelt Pokémon krank und derart wahnsinnig wurden. Und meistens legten sich derartige Phänomene immer wieder nach einiger Zeit, sodass es für eine Weile ruhig blieb. Aber seit gut zwei Jahren werden die Berichte von solch aggressiven Pokémon zunehmend häufiger. Und nicht nur das. Seit einigen Monaten vergrößert sich der Bereich, in dem diese Pokémon auftauchen. Während sie die Jahre zuvor nur in Pyritus gesehen wurden, scheint nun bereits der ganze Südosten der Region von ihnen bedeckt zu sein. Bislang handelte es sich bei ihnen aber immer nur um die Pokémon von Trainern, in freier Wildbahn hat man noch nie solche aggressiven Pokémon gesehen. Das und auch die Tatsache, dass Untersuchungen des Lebensraumes dieser Pokémon nichts Auffälliges ergeben haben, lässt ausschließen, dass dieses Phänomen in der Natur begründet ist. Viel naheliegender ist es, dass die Quelle dieser Pokémon hier in Pyritus liegt.“ Chandra übte sich nach seinen Ausführungen an einem neutralen Gesichtsausdruck. Mit so viel Information hatte sie nicht gerechnet – vor allem, da Zayn einiges wusste und näher an der Quelle saß, als ihm wahrscheinlich bewusst war. „Woher weißt du das alles?“, fragte sie. „Nachforschungen. Und die richtigen Kontakte“, erwiderte er monoton. „Du weißt ja sicher, wovon ich rede.“ „Vielleicht. Oder vielleicht bist du auch einfach nur ein armer Irrer, der sich das alles ausgedacht hat.“ Er grinste: „Ja, vielleicht. Lass es uns doch herausfinden?“ „Wie meinst du das?“, fragte Chandra. „Lass uns rausgehen. Entweder habe ich mir das alles ausgedacht und hier findet man keine derartigen Pokémon – oder aber ich habe recht und du bist mir ein paar Antworten schuldig.“ Mist. In diese Richtung hatte das Gespräch eigentlich nicht laufen sollen. Zayn wollte sie testen und sehen, ob sie ihm immer noch ins Gesicht log, wenn sie vor der Wahrheit stand, die er ihr gerade offenbart hatte. Ablehnen wäre auffällig, noch auffälliger wäre es jedoch, mit ihm nach draußen zu gehen. „Was sollte ich dir für Antworten schuldig sein?“ „Du hast mir gestern gesagt, dass dein Bruder der gefährlichste Mann dieser Stadt ist. Nehmen wir einmal an, dass ich kein armer Irrer bin und das, was ich sage, wahr ist. Was verleiht dir bitte mehr Macht und Respekt als Pokémon, die grausam und ohne Rücksicht auf Verluste im Kampf sogar den eigenen Tod billigend in Kauf nehmen? Du hast mir ja gestern gezeigt, wie viel Einfluss dein Bruder hat.“ Er sah sie direkt an und schien sich seiner Worte sehr sicher. Dafür, dass er der Wahrheit so dicht auf den Fersen war, sah er allerdings recht entspannt aus. „Dir ist aber bewusst, dass du, falls das stimmen sollte, gerade ziemlich leichtsinnig handelst, wenn du mir das alles so offen erzählst?“ Chandra funkelte ihn ebenfalls an. Irgendetwas gefiel ihr ausgesprochen gut an dieser riskanten Art – nichtsdestotrotz wanderte er auf gefährlichem Terrain. „Ich müsste nur mit den Fingern schnippen, um dich auffliegen zu lassen.“ „Das Risiko muss ich eingehen.“ Daraufhin erhob er sich. „Also los, lass uns nach draußen gehen.“ Am liebsten hätte Chandra Nein gesagt, denn sie wollte nicht mit der Realität konfrontiert werden. Es war schmerzhaft und allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Panik. Allerdings war sie auch neugierig, was Zayn vorhatte und zu fürchten brauchte sie sich in der Stadt ihres Bruders nicht, was ihn anging. ****** Pyritus war bekannt für seinen großen Marktplatz, der im Zentrum der Stadt lag. Nur fanden hier schon lange keine gewöhnlichen Märkte mehr statt, sondern hauptsächlich Pokémonkämpfe sowie der Handel mit illegaler, teils auch geschmuggelter Ware und mit Pokémon. Der Mittag war für solche Geschäfte aber selbst in Pyritus die falsche Tageszeit – jetzt sah man hier tatsächlich nur Kämpfe mit eben jenen besonderen Pokémon, die dann verkauft wurden, wenn der Mond statt der Sonne am Himmel stand. Chandra war schon klar, was Zayn hier wollte. Natürlich war er kein Narr, der sich eine Geschichte ausgedacht hatte. Auf dem Marktplatz musste man keineswegs lange suchen, um eines jener Pokémon zu finden, die schon seit Längerem Angst und Schrecken unter denjenigen verbreiteten, die ihre Herkunft nicht kannten. Allerdings versuchte Chandra zu vermeiden, solchen Pokémon zu begegnen, und nun war sie gewissermaßen dazu gezwungen. Wie der Rest der Stadt war natürlich auch das Zentrum heruntergekommen und schmutzig. Überall ragte einem Werbung entgegen, die zur einvernehmlichen Abzocke verführen wollte, die meisten Gebäude waren schon lange nicht mehr saniert worden, sondern verströmten eine unfreundliche Atmosphäre. Die Fenster waren dreckig, die Hausfassaden beschmiert und an jeder Ecke bröckelte der Putz ab. Gefühlt jeden zweiten Block kam eine Baustelle, die niemals würde fertig werden. Hinter den Eisenzäunen sammelte sich stets der typische Baustellenschrott, freiliegende Rohre verliehen der Stadt einen rundum hässlichen Look. Als Chandra und Zayn auf dem Markplatz angekommen waren, blickte sich Erstere verstohlen in alle Richtungen um. Hoffentlich begegneten sie niemandem, den sie kannte. Sie war heute nicht so auffällig gekleidet, also eventuell würde sie nicht auffallen. Es sei denn, sie begegneten Devin, dann würde Chandra in Erklärungsnot kommen und sie hatte keine Ahnung, wie sie Zayn erklären konnte. Mysteriöser Typ, hab ihm das Leben gerettet, nun kleben wir uns gegenseitig an den Fersen war in Pyritus wohl die falsche Erklärung. „Pyritus ist widerlich“, sagte sie, als ihr Blick missmutig in eine Ecke schweifte, wo sich zwei Männer gerade für einen Pokémonkampf bereitmachten. „Wieso lebst du dann hier, wenn es widerlich ist?“, fragte Zayn sie verwundert. „Ich habe keine andere Wahl.“ Wieso hatte sie das gerade laut ausgesprochen? Es ging ihn nichts an. Aber ein Teil in ihr trieb sie ständig dazu, mehr zu sagen, als sie eigentlich sollte. Zayn kam zum Glück zu keiner Antwort mehr, da ihrer beider Aufmerksamkeit auf den Pokémonkampf in ihrer Nähe gelenkt wurde. Der eine der beiden Männer sah unscheinbar und etwas älter aus. Das Pokémon, das er aus seinem Ball rief, schien einerseits zu ihm zu passen und dann auch wieder nicht. Es war ein kleines, braunes Bärchen mit runden Ohren und einem vollen, runden Schwanz. Sein Kopf war fast so groß wie der Rest des Körpers, seine Stirn wurde komplett vom einem abnehmenden Sichelmond bedeckt, der ihm ein süßes, aber auch geheimnisvolles Erscheinungsbild verlieh. Das kurze Fell war im Bereich des Mundes heller gefärbt, darüber saßen auf fast gleicher Höhe eine kleine Stupsnase und zwei schwarze Knopfaugen. Die kurzen Arme und Beine waren an den Enden mit scharfen Krallen geschmückt. Das Teddiursa machte einen unsicheren Eindruck, als es sich langsam auf dem großen Platz umsah. Nun holte der zweite Trainer – ein jüngerer Kerl mit falsch aufgesetzter Kappe und einigen Tattoos auf den dünnen Armen – sein Pokémon aus dessen Ball. Ein kleines, vierbeiniges Pokémon mit rotbraunem Fell materialisierte sich. Es besaß sechs voluminöse, orangefarbene Schweife, die sich kampfbereit aufstellten. Das orangefarbene Fell fand sich auch in dichten Locken auf dem kleinen Kopf des Pokémon wieder, zwischen seinen recht großen Ohren. Brust und Bauch des Pokémon waren von weißer Farbe. Eigentlich sah das Vulpix ganz gewöhnlich aus – süß eben. Doch von seinem ruhigen, niedlichen Wesen war nichts mehr geblieben, dessen wurde Chandra sich bewusst, als sie das Pokémon mit traurigem Blick ansah. Es knurrte und fletschte seine scharfen Zähne, als es seine Pfoten in den Boden hieb, jederzeit bereit, sich auf seinen Gegner zu stürzen. Seine braunen Augen hatte es vor Zorn verengt, in ihnen stand nichts außer Hass und pure Kampfeslust und … mehr war da nicht. Bis auf den Drang, alles zu zerstören, waren die Spiegel seiner Seele mit Leere erfüllt. „Eigentlich erkennt man diese Pokémon gar nicht, sie sehen ja rein äußerlich aus wie eine normale Version ihrer selbst“, sprach Zayn, als der Kampf begonnen hatte. „Aber gibt man sich die Mühe und sieht einmal genauer hin, merkt man, dass alle Emotionen, die Pokémon zu einzigartigen, fühlenden Wesen machen, aus ihnen verschwunden sind. Sie leben nur noch für den Kampf, sind rücksichtslos und aggressiv und kämpfen bis zum blutigen Ende, wenn notwendig. Sie sind sich selbst nichts mehr wert und würden jeden noch so grausigen Befehl ihrer Trainer erfüllen. Alle positiven Gefühle, alle Zuneigung und alle Hoffnung wurden aus ihren Herzen getilgt, Angst empfinden sie keine mehr und Moral existiert nicht länger. Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du ebenfalls siehst, was ich meine.“ Getilgt nicht. Nur mit dunkler Energie verschlüsselt und unerreichbar gemacht, entgegnete Chandra in Gedanken. Sie wusste, von was er sprach, sah es mit eigenen Augen und das gewiss nicht zum ersten Mal. Doch sie sah noch viel mehr als Zayn. Teddiursas Kampf war vergebens. Bislang hatte nur eine einzige Kratzfurie des Teddypokémon getroffen. Diese hatte zwar dünne Furchen, aus denen Rinnsale Blut flossen, in das rötliche Fell von Vulpix geschlagen, doch es störte sich nicht daran. Bereits mehrmals war es blitzschnell in Teddiursas Reichweite gelangt, um dieses mit einem Ruckzuckhieb über das Kampffeld zu stoßen. Das Fell des Bärchens wies an mehreren Stellen Schrammen auf, doch noch hielt es sich wacker auf den Beinen. Es versuchte immer wieder, den Angriffen von Vulpix auszuweichen, gegen dessen Schnelligkeit kam es jedoch nicht an. Chandra wollte am liebsten den Blick abwenden, denn in ihrer Brust regte sich ein grauenvolles Gefühl, das sie zu gut kannte. Doch wie gebannt sah sie dabei zu, wie das vierbeinige Pokémon aus seinem kleinen Maul einen Wirbel voll Flammen schoss, der sich zu einem Kreis um Teddiursa herum formte. Panik erfüllte dessen Bewegungen, seine Augen huschten zu allen Seiten, aber einen Ausweg gab es nicht. Die Flammen tänzelten über den Boden, kontrolliert durch Vulpix‘ reine Willenskraft, und hätten dem Bären schlimme Brandwunden zugezogen, wäre er hindurchgerannt. Der Trainer des Vulpix rief einen Angriff, dessen Ausführung Chandra nicht sehen wollte. Bereits seit das Vulpix auf dem Kampffeld war, sah und spürte sie etwas, das Zayn mit Sicherheit nicht wahrnehmen konnte. Dunkle, schwach violett schimmernde Waben aus Schatten zogen sich um den Körper des Vulpix‘, in seinen Augen leuchtete ein ebenso violettes Glimmen. Nun verdichtete sich dieser Schatten, als das Pokémon seine Muskeln anspannte, jederzeit bereit, nach vorne zu stürmen. Der Anblick dieser manifestierten Finsternis war aber nicht einmal das Schlimmste für Chandra. Denn sie sah diese nicht nur, sie spürte sie auch. Spürte die Dunkelheit, die das Herz des Pokémon mit Schmerz und Leere erfüllte, es zu einer willenlosen Kampfmaschine formte und sein Wesen in die hinterste Ecke seiner Existenz sperrte. Sie spürte, wie sich ein kleiner Teil in Vulpix wehren wollte gegen diese selbstzerstörerische Macht, doch es blieb ein verzweifelter Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. Das Vulpix verlor den Kampf gegen die düstere Macht, stieß nach einem Spurt frontal gegen Teddiursa, welches mehrere Meter nach hinten geschleudert wurde. Regungslos lag der kleine Körper nun auf dem Boden. Als Chandra sah, wie er von der dunklen Energie gepeinigt wurde, die Vulpix nun noch stärker einhüllte, ging sie in die Knie. Ihre Brust war erfüllt von Schmerz. Ein Gefühl von Angst schnürte ihr die Kehle zu und brachte sie zum Zittern. Fast fühlte es sich an, als würde die Dunkelheit des Pokémon in ihr eigenes Herz kriechen und sie lähmen. Sie wollte das nicht fühlen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Der Schmerz, den das Wesen tief in sich fühlte, fuhr ihr durch alle Glieder. „Was ist los?“, fuhr Zayn an ihrer Seite auf, der auf einmal neben ihr kniete und sie festhielt, damit sie nicht vornüberkippte. Völlige Verwirrung stand in seinem Gesicht. „Es tut so weh“, hauchte Chandra. Sie blickte hinab auf ihre Hände, die nun unkontrolliert zitterten. „Ich muss hier weg.“ Mit wackeligen Beinen riss sie sich von Zayn los, stand auf und flüchtete in irgendeine Richtung, Hauptsache, weg von diesem fürchterlichen Ort. „Hey, was zur Hölle!“, fluchte Zayn hinter ihr. „Warte doch!“ Sie beachtete ihn jedoch kaum, sondern rannte einfach geradeaus und wich entgegenkommenden Leuten nur knapp aus. Zayn war ihr zwar auf den Fersen, doch er kannte sich nicht so gut aus wie sie. Sie war flink und nahm immer wieder Abkürzungen durch kleine Seitenstraßen, schlüpfte geschwind in Gassen, um so aus seinem Sichtfeld zu verschwinden. Hinterher war ihr klar geworden, wie dämlich diese Flucht war, aber im Moment wollte sie in keinerlei unmittelbare Erklärungsnot kommen. Vom Marktplatz musste sie sich mittlerweile schon ein gutes Stück entfernt haben, denn sie war in einer unbelebten Einbahnstraße gelandet, in der ihr nichts begegnete außer ein Rattfratz, welches aufgeschreckt unter eine große Mülltonne floh. Völlig außer Puste lehnte Chandra sich gegen die nächstgelegene Hauswand. Ihr Puls raste in ihrem Körper und Übelkeit erfasste sie. Noch immer verspürte sie das Zittern und diese furchteinflößende Schwärze in sich. Der Blick vor ihren Augen verschwamm, ein schwarzes Flimmern trat vor ihre Sicht. Mit aller Macht hielt sie sich auf den Beinen, als ein Würgereiz ihren Körper schüttelte. Warum reagierte sie nur so stark auf diese Pokémon? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich schreckte sie auf durch eine Hand auf ihrer linken Schulter. „Chandra?!“ In der Erwartung, Zayn gegenüber zu stehen, sah sie auf, um festzustellen, dass sie sich einem hellbraunen Haarschopf gegenübersah, der zu niemand anderem als ihrem besten Freund gehörte. Entgeistert betrachtete dieser sie. „Alles okay? Wieso bist du gerannt? Du siehst furchtbar aus!“ Das stimmte wohl. Kalkweiß war ihr Gesicht und ihre Augen rot umrandet. Dann noch die bis eben gekrümmte Körperhaltung und das Zittern ihrer Hände. Es missfiel ihr, sich diese Blöße geben zu müssen; Devin hatte sie noch nie so schwach gesehen. Was tat er überhaupt hier? Sie hatte nicht sonderlich auf den Weg geachtet, womöglich waren sie ja ganz in der Nähe seiner Wohnung. „Ich, äh …“, stammelte sie, zu mehr kam sie nicht. Eine zweite Person kam um die Ecke gehastet. Diesmal war es wirklich Zayn, in dessen Gesicht Verwunderung und ein Hauch Sorge standen. „Wieso bist du abgehauen?“ Als er auf sie zu ging, stellte Devin sich ihm in den Weg. „Wer bist du denn?“ Seine Stimme hatte diesen Ton, den sie immer dann hatte, wenn er Chandra beschützen wollte. Nicht, dass das jemals wirklich nötig gewesen wäre und Chandra bezweifelte, dass es dies jetzt war. Zayn maß ihn mit einem Blick, der nicht aussagte, was in ihm vorging. Tatsächlich ignorierte er Devins Frage und sah abermals zu Chandra. Sie selbst war immer noch unfähig, sich zu artikulieren, so starrte sie nur hilflos zu den beiden. Allmählich realisierte ihr Körper, dass sie nicht mehr in der Nähe dieses unheimlichen Pokémon war und beruhigte sich zunehmend. „Hat der Kerl dir wehgetan?“, fragte Devin sie. „Nein …“ Devin wirkte höchst skeptisch. Eine schwache, unsichere Chandra war ihm unbekannt. Vor ihm war sie immer selbstbewusst und wusste genau, was sie wollte. Verunsichert hatte er sie vielleicht ein, zweimal erlebt. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Diesmal kam die Frage von Zayn. Ähnlich wie Devin sah auch er verwirrt aus, da er die Situation nicht einzuschätzen vermochte. Chandra ihrerseits verstand nicht, wieso er sich überhaupt Sorgen darum machte. Sie wollte ihm mitteilen, dass alles gut war, doch vor Devin zu viel auszuplaudern, konnte sie nicht riskieren. Niemand sollte erahnen, was zwischen ihr und Zayn lief – wenn man das so nennen konnte. „Bleib bloß weg von ihr“, ermahnte Devin ihn abermals, als er einen Schritt an ihm hatte vorbei machen wollen. Chandra wollte ihm sagen, dass Zayn in Ordnung war – nun ja, so in Ordnung wie man eben sein konnte, wenn man in Pyritus viel zu viel wusste –, doch kein Wort entkam ihrem Mund. Die Luft war vor Anspannung fast bis zum Zerreißen gespannt. Zayn wagte zwar keinen weiteren Schritt mehr in ihre Richtung, aber er betrachtete Devin mit einem abschätzigen Blick. „Vielleicht solltest du dich besser um deine Freundin kümmern, wenn es ihr schlecht geht“, sagte er und seine Stimme war mit einem Mal sehr ruhig und so scharf, dass man sich fast an ihr hätte schneiden können. „Und du solltest dich jetzt besser verpissen, sonst kriegst du richtige Probleme in dieser Stadt“, zischte Devin. Einen Moment lang stierte Zayn sein Gegenüber an und Chandra hoffte inständig, dass er ging. Devin schien nicht gewillt, sich eine Erklärung der Situation anhören zu wollen, und eine Auseinandersetzung zwischen den beiden war das Letzte, was Chandra nun brauchte. Zayn sah noch einmal zu ihr. Als ihre Blicke sich trafen, erklomm ein unbekanntes, wohliges Gefühl ihre Brust. Dann drehte Zayn sich um, lief um die Straßenecke und war verschwunden. Als für Devin die Gefahr verschwunden war, wandte er sich wieder Chandra zu. Besorgt umfasste er ihre Schultern. „Alles in Ordnung bei dir?“ „Ja, geht schon“, antwortete sie, nun wieder fester. „Du … Du hättest nicht so ernst sein müssen. Zayn hat nichts gemacht.“ „Zayn also, ja?“, schnaubte er. „Ihr scheint euch ja schon sehr gut zu kennen.“ „Ich kenne ihn nicht. Und du auch nicht. Also tu nicht so, als wüsstest du, was Sache ist“, fuhr Chandra ihn an. Sie hatte keine Lust auf dieses Eifersuchtsding, zu dem sich die Szene gerade entwickelte. „Was ist dann passiert? Sag es mir doch bitte.“ Nun wurde ihr Freund wieder versöhnlicher. „Gestern sagtest du, es gehe dir nicht gut, und jetzt treffe ich dich hier völlig aufgelöst und dann ist da dieser Typ. Wenn es dir wegen irgendetwas schlecht, möchte ich das wissen.“ Gerne hätte Chandra ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen musste. Doch es wäre eine Lüge – wie immer. Sie war dabei, sich in eine verhängnisvolle Sache zu verstricken und sie schien nicht gewillt, damit aufzuhören. Sie hätte Zayn am vorherigen Abend gar nicht mitnehmen dürfen. Sie hätte sich um Himmels willen nicht darauf einlassen sollen, mit ihm nach draußen zu gehen. Er war nicht dumm und nun wusste er, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Irgendetwas, das damit zu tun hatte, wieso er in diese Stadt gekommen war. Zayn wusste schon jetzt viel mehr über die Machenschaften in dieser Stadt als ihr bester Freund. Devin war kein Krimineller, er interessierte sich wenig für die finsteren Geschäfte, die in Pyritus abgeschlossen wurden. Er lebte nur hier, um die Freiheiten der Gesetzlosigkeit zu genießen, aber das beschränkte sich auf Kleinigkeiten wie den unkomplizierten Kauf von Gras oder Alkohol. Von den Geschäften, die ihr Bruder hier abschloss, hatte er kaum eine Ahnung. Er wusste ja nicht einmal, wer ihr Bruder war. Chandra hatte es immer tunlichst vermieden, zu viel von ihm zu sprechen. So wenig Wissen wie möglich bedeutete, so sicher wie möglich zu sein. Er wusste lediglich, dass sie einen gewissen Schutz genoss, aber nicht dessen Hintergründe. Chandra tat gut daran, diesen Zustand so beizubehalten. Nicht zuletzt deshalb, um Zayn zu schützen – irgendwie sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass dies das Richtige war. „Es ist alles okay, wirklich. Gestern ging es mir nur nicht so gut. Und er ist nur irgendein Typ – na ja, du weißt schon.“ Sie grinste ihn an, in der Hoffnung, er würde den Wink verstehen. Er strich ihr über die Arme. „Ich mache mir Sorgen um dich.“ „Musst du nicht.“ Sie überlegte, wie sie sich aus der Situation winden konnte. „Wir sehen uns heute Abend, ja? Dann können wir reden. Jetzt muss ich noch etwas erledigen.“ Nach kurzen Überlegen nickte er. „Na gut.“ Chandra umarmte ihn einmal kurz. „Ich freue mich darauf. Bis später.“ Unglaublich froh, dass das Ganze so glimpflich ausgegangen war, lief sie los und machte sich auf den Rückweg. Sie konnte zum jetzigen Zeitenpunkt ja noch nicht ahnen, dass sie Devin nun für einen längeren Zeitraum nicht mehr wiedersehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)