Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 2: Ein mysteriöser Fremder ---------------------------------- Viel geredet hatte Chandra mit dem Unbekannten namens Zayn nicht mehr auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Die meiste Zeit über beobachtete sie ihn heimlich von der Seite und fragte sich, was sie eigentlich gerade im Begriff war, zu tun. Sie hatte keine Angst davor, einen Fremden mit zu sich zu nehmen, das war schon oft genug vorgekommen, und da sich ihr zu Hause die Möglichkeit bot, herauszufinden, ob sie ihm über den Weg trauen konnte, blieb sie entspannt. Aber was erhoffte sie sich davon, ihn überhaupt mitzunehmen? Im Moment war ihr Plan, ihn ein wenig auszuquetschen und herauszufinden, wer er war und was er hier wollte. Er schien offenbar keinen Schimmer davon zu haben, wer in Pyritus die Fäden in der Hand hatte. Erst ließ er sich von zwei zwielichtigen Typen bei irgendetwas erwischen, das wohl wichtig gewesen sein musste – zumindest reimte Chandra sich dies zusammen, denn wäre es ein normaler Überfall gewesen, hätten sie ihn auch gleich ausrauben und sich das Drumherum sparen können –, und dann verzog er nicht einmal eine Miene, als der Name ihres Bruders fiel und dieser auch noch am Telefon war. Daraus zu schlussfolgern war nur, dass er entweder ein guter Schauspieler war oder schlichtweg überhaupt keine Ahnung hatte, wer Ray war. Nicht zuletzt wusste er ebenso wenig, wer sie war, sonst würde er wahrscheinlich nicht so bereitwillig mit ihr mitgehen. Natürlich sollte das Ganze so bleiben. Es war besser für jedermanns Gesundheit, nicht zu viel über diese versiffte Stadt zu wissen. Er war ahnungslos und das war gut so. Sie erhoffte sich, ihn schnell wieder loswerden zu können, nachdem sie erfahren haben würde, was er hier gewollt hatte. Leider war ihr bis hierhin noch nicht klar, dass Zayn nicht einmal annähernd so ahnungslos war, wie es den Anschein erweckte. Mittlerweile waren sie in der Straße, in der ihre Wohnung lag. Chandra wohnte in einer recht ruhigen Gegend, ein wenig abgelegen vom Trubel der Stadtmitte. Schön war es hier aber auch nicht unbedingt. Die meisten Wohnblöcke konnten einen neuen Anstrich gebrauchen, da die Farben entweder verblasst oder völlig verschmutzt waren, an vielen Hausecken reihten sich überaus charmante Graffitis aneinander. Wer Angst vor Schimpfwörtern hatte, war in der gesamten Stadt schlecht aufgehoben. Hatte man in Pyritus ein Auto und stellte es an die Straße, war die Gefahr stets hoch, dass es geklaut wurde. Autos waren ein teurer Luxus, den sich der Durchschnittskriminelle natürlich nicht leisten konnte. Die Zahl der Arbeitslosen war in Pyritus so hoch wie in keiner anderen Stadt Orres, aber das verwunderte nicht sonderlich. Doch trotz aller Hässlichkeit war Chandras Viertel sogar ein wenig grün, den an den Straßen waren kleine Bäume gepflanzt und zwischen den einzelnen Wohnblöcken Grünflächen angelegt worden. Häufig hörte man abends und nachts Leute herumschreien, die sich gegenseitig beleidigten oder einem unbestimmten Publikum ihr Leid klagen wollten. Anfangs hatte dies Chandra verschreckt, doch mittlerweile blendete sie es komplett aus. Es war normal und solange die Leute nur von ihren Balkonen schrien, ließen sie einen in Ruhe. Ansonsten war es in dieser Gegend möglich, als junge Frau abends unterwegs zu sein, ohne von zig Seiten dumm angemacht zu werden – obwohl Chandra das meistens ein wenig provozierte mit ihrem Kleidungsstil, das wusste sie –, und das machte dieses Viertel schon tausendmal besser als alle anderen. Endlich kamen sie vor dem Haus an, in welchem ihre Wohnung war. Sie ging zur Eingangstür, kramte ihren Schlüssel aus der Tasche und schloss sie auf. Die Häuser sahen von innen nicht unbedingt besser aus als von außen. Ein neuer Anstrich an der orange-modrigen Wand war notwendig, würde aber wohl niemals erfolgen. Als sie in den Hausflur trat, bemerkte sie, dass ihre Begleitung zögernd vor der Tür stehen blieb. „Was ist? Hast du deine Meinung geändert?“, fragte sie Zayn. „Nein. Aber ich wollte dich noch mal fragen, ob du dir sicher bist, dass du das tun willst?“, fragte er mit unsicherem Gesichtsausdruck. „Klar, wieso denn auch nicht?“ „Na ja, ich finde, ein Mädchen sollte nicht einfach jeden Typen mit zu sich in die Wohnung nehmen. Du kennst mich ja gar nicht, ich könnte in Wahrheit ein Psychopath sein. Ich will nur nicht, dass du es hinterher bereust.“ Zayn sah sie ernst an, seine lockerte Art von vorhin schien für den Moment verflogen. Chandra musste grinsen und schlug kurz die Augen nieder. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Doch tatsächlich stand Zayn entschlossen vor der Türschwelle, als verbiete seine Höflichkeit es ihm, einzutreten, wenn er nicht ganz sicher war, dass es in Ordnung ging. „Gerade eben hattest du noch kein Problem damit, mitzukommen, und jetzt willst du doch nicht mehr?“ „Gerade eben wollte ich weg von dieser muffigen Gasse. Jetzt möchte ich ein schönes Mädchen nicht in Bedrängnis bringen. Wenn du sagst, dass ich gehen soll, gehe ich.“ Kann er vielleicht mal diese dezenten Anmachen lassen?, fluchte sie innerlich und hoffte, ihr Makeup würde verdecken, dass sie errötete. Idiotin, hör auf damit. Andere Kerle fragten nie nach, ob es okay war, die Wohnung einer relativ unbekannten Frau zu betreten. Sie ließen sich einfach von Chandra einladen und die meisten waren auch nett und, nun ja, keine Psychopathen, aber bislang war ihr noch niemand so Anständiges wie der junge Mann vor ihr begegnet. Er musste wohl aus gutem Hause kommen, dachte sie. Nun straffte sie ihre Schultern, um wieder selbstbewusst zu wirken, und trat näher an ihn heran „Wenn du Angst hast, dass du ein Psychopath sein könntest, dann warte kurz hier. Wir können das gleich herausfinden“, sagte sie geheimnisvoll und lief anschließend schnurstracks die Treppe hoch und schloss die rechtsgelegene Tür auf – sie wohnte im Erdgeschoss. In ihrer kleinen Wohnung angekommen schaltete sie Licht ein und stieß links die erste Tür im Flur auf, sodass sie im Schlafzimmer stand. „Hey, ihr zwei Süßen, es gibt Arbeit.“ Auf Kommando erhoben sich die beiden vierbeinigen, mittelgroßen Wesen, die zuvor noch schlummernd und entspannt auf dem Bett gelegen hatten. Das eine der beiden hatte hellviolettes Fell, das seinen schlanken, feingliedrigen Körper überzog. Besonders auffallend waren seine großen Ohren, deren Innenseiten dunkelblau schimmerten und unter denen violette Fellbüschel wuchsen, die gepflegt nach unten fielen. Es hatte einen dünnen, langen Schwanz, der sich zum Ende hin aufspaltete. Besonders auffällig war jedoch das, was auf seinem runden Kopf mittig über seinen blauen Augen thronte. Eine rubinrote Perle verlieh dem Pokémon ein geheimnisvolles, mystisches Aussehen. Das war Sunny, ihr Psiana. Neben ihr saß ihr Bruder, Lunel. Sein Fell war tiefschwarz, auch sein Körper war von eleganter Statur, er war jedoch ein klein wenig muskulöser und größer als seine Schwester. Seine Ohren waren groß, zu den Seiten hin abgerundet und liefen, nachdem sie in der Mitte, welche von einem breiten gelben Streifen geschmückt wurde, breiter waren, spitz zu. Auch den buschigen, ebenso spitz endenden Schwanz des Wesens zierte solch ein Streifen. Die Außenseiten seiner vier Beine wurden von je einem ovalen Kreis geschmückte, der im gleichen geheimnisvollen Gelb leuchtete. Dieser Kreis fand sich auch auf seiner Stirn wieder. Ein unheilvolles Erscheinungsbild bekam das Wesen aber erst durch seine Augen, die tiefrot leuchteten und in dessen Mitte eine längliche, schwarze Pupille hauste. Lunel war ein Nachtara und dementsprechend der perfekte Gegenpart zu Psiana. Nun, da Chandra sie aufgefordert hatte, dem nachzukommen, was sie am besten konnten, sprangen sowohl Sunny als auch Lunel vom Bett und folgten ihr nach draußen in den Hausgang. Zayn stand noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er wirkte fast ein wenig verloren vor der Tür, da er einfach nicht in diese Gegend passte. Sie beobachtete ihn kurz, während Psiana unten auf dem Treppenabsatz stehenblieb und Nachtara direkt zu Zayn stolzierte. Eigentlich sah er recht normal aus, war relativ groß, schien eine sportliche Statur zu haben. Wenn man einmal von der merkwürdigen Haarfarbe absah, wäre er in Pyritus kaum weiter aufgefallen. Aber er sah nun mal nicht aus wie jemand, der von hier kam. Seine Kleidung bestand aus einer dunkelblauen Jeans, einem schwarzen Hemd, über dem er eine schlichte, dünne, ebenfalls schwarze Jacke trug, und dunklen Sneakers. Gar nichts Besonderes, aber er machte einen gepflegten Eindruck und das war schon mehr als bei den meisten anderen. „Wow, sind das deine?“, stellte Zayn die mehr als überflüssige Frage, als Chandras Nachtara vor ihm stand und zu ihm hochsah. „Ja.“ Zu mehr war Chandra nicht fähig, zu sehr war sie auf das Verhalten ihrer Pokémon konzentriert. Sunny und Lunel waren als Psycho- und Unlichtpokémon ohnehin schon besonders, doch sie hatten beide eine Gabe, die sie von anderen Pokémon ihrer Art unterschied. Seit sie sich von Evolis weiterentwickelt hatten, spürten sie, ob ein Mensch gute oder böse Absichten hegte, ob man jemandem vertrauen konnte oder sich besser von ihm fernhalten sollte. Es war eine Art übernatürlicher Sinn, den sich Chandra zwar nicht erklären konnte, der aber bis jetzt noch nie danebengelegen hatte. Jedes Mal, wenn sie Besuch hatte, ließ sie diesen kurz von ihren beiden Gefährten überprüfen. In den allermeisten Fällen geschah gar nichts. Psiana und Nachtara nutzten ihren übernatürlichen Sinn und spürten die Aura der Person – nahmen sie an dieser nichts wahr, das auffällig böse war, gab es sozusagen Entwarnung. Doch wenn sie an ihr etwas Unheilvolles spürten, wenn sie Dunkelheit und boshafte Absichten wahrnahmen, dann stellten sich ihnen alle Haare zu Berge und sie verwandelten sich in wahre Ungeheuer. Sie fauchten und knurrten, gingen in Angriffshaltung über, während Lunels Streifen im Fell grellgelb zu leuchten begangen und Sunnys rubinrote Perle warnend aufleuchtete. Bislang war es ihnen gelungen, jeden dieser nicht erwünschten Gäste wieder aus der Wohnung zu befördern. Sunny besaß die Macht der Gedankenmanipulation. Ein Blick in ihre Augen, wenn ihre Perle aufleuchtete, versetzte die meisten Menschen in einen Trancezustand. Lunel hingegen besaß die Macht der Illusionen, mit denen er seine Gegner täuschen und hinters Licht führen konnte. Ein Blick in seine blutroten Augen versetzte einen in Angst und Schrecken. Die Kombination aus diesen beiden Pokémon sorgte dafür, dass der gewöhnliche Durchschnittsstörenfried freiwillig floh und nicht mehr wiederkam. Dementsprechend sicher fühlte sich Chandra in ihrer Wohnung. Doch es gab auch Menschen, die immun schienen gegen die Kräfte ihrer Pokémon. Die Male, wo ihr Bruder in ihrer Wohnung war, hatten sich immer als besonders nervenaufreibend herausgestellt. Sunny und Lunel waren in regelrechte Raserei verfallen und gar nicht mehr losgekommen von ihrem Zorn und ihrer Angst – ja, selbst ihre Pokémon waren schlau genug, um Furcht zu empfinden. Lunel war sogar einmal so weit gegangen, dass er Ray angegriffen hatte, welcher – leider nur – mit ein paar blauen Flecken davongekommen war. Chandra hatte ihn damals anflehen müssen, ihr die beiden Pokémon nicht wegzunehmen. Sie waren die einzigen beiden Geschöpfe auf der Welt, bei denen sie sich wohl und beschützt fühlte, ohne sie würde sie an der Grausamkeit ihrer Familie und der Stadt zerbrechen. Ray war sehr wütend gewesen und hätte ihren Freunden am liebsten persönlich den Hals umgedreht, doch er hatte tatsächlich Gnade walten lassen. Sie sollte ab sofort „diese Biester“, wie er sie nannte, in ihre Pokébälle sperren, wenn er zugegen war, dann durfte sie sie behalten. Das war vermutlich das Netteste, was er je für seine Schwester getan hatte. Chandra kehrte wieder in das Hier und Jetzt zurück. Sie sah, dass Lunels gelbe Streifen immer wieder in kurzen Abständen für wenige Sekunden aufleuchteten, was sie immer taten, wenn er das Wesen eines Menschen erspürte, dasselbe geschah auch mit der roten Perle auf Sunnys Stirn. Waren die Absichten eines Menschen rein, hörten sie auf zu leuchten, doch spürten sie etwas Unheilvolles, so wurde das kurze Leuchten zu einem dauerhaften. Während Sunny Zayn nur ausdruckslos beobachtete, lief Lunel um ihn herum und schnupperte sogar an seinen Beinen. Für einen kurzen Moment sahen sich das Psiana und das Nachtara eingehend in die Augen, dann schmiegte Letzteres plötzlich seinen Kopf an Zayn. Nun sprang auch Sunny auf und tat dasselbe. Als hätte er erst jetzt die Erlaubnis dazu erhalten, ging Zayn in die Hocke und kraulte den beiden Wesen ihre Köpfe, strich ihnen über das glänzende Fell. „Die sind echt toll. Und so selten!“, meinte er und lächelte begeistert, was zugegeben ziemlich gut aussah. „Aber was war das gerade? Was haben sie gemacht?“ Er sah hoch zu Chandra. „Sie haben dich getestet. Herzlichen Glückwunsch, du bist kein Psychopath“, entgegnete sie und verschwand in ihrer Wohnung. „Klasse, endlich habe ich da mal ‘ne Bestätigung“, vernahm sie seine belustigte Antwort. Kurz darauf kamen erst ihre Pokémon und anschließend Zayn in die Wohnung. Chandra hatte so oder so vorgehabt, ihn zu testen, nur wollte sie es eigentlich nicht derart auffällig machen. Nun jedenfalls fühlte sie sich sicher. Zayn mochte vielleicht ein wenig mysteriös erscheinen, aber wenn ihre Pokémon der Ansicht waren, dass er kein böser Mensch war, dann vertraute sie ihnen. Sie entledigte sich ihrer Schuhe, dann steuerte sie das Wohnzimmer hinten links im Flur an, welches rechts neben dem Schlafzimmer war. „Setz dich. Aber fühl dich bloß nicht wie zu Hause“, sagte sie zu Zayn und warf sich anschließend selbst in den Sessel links vom gläsernen Couchtisch. Er selbst setzte sich in den rechten Sessel. „Schöne Wohnung“, meinte er und warf seinen Blick einmal nach allen Seiten. „Danke.“ Eigentlich war hieran nichts besonders. Direkt gegenüber der Wohnzimmertüre lagen zwei große Fenster, die den Raum tagsüber mit Licht durchfluteten. Links fand sich eine Regal-Schrank-Wand, in deren Mitte ein Flachbildfernseher hauste. Auf der anderen Seite, hinter dem Couchtisch, stand noch ein breites Sofa, welches einen gemütlichen Charme verströmte. Links von diesem, in der Ecke, die der Fensterseite nahe war, stand ein Bücherregal. Chandra las recht gerne, um sich in die Welt ihrer Fantasie zu flüchten, daher reihten sich im Regal recht viele Bücher aneinander. An der letzten Wand, rechts von der Zimmertüre, stand schließlich noch eine schmale, längliche Kommode. Gehalten waren die Möbel in einem satten, dunklen Braunton, während die Sessel und das Sofa schwarz waren. Die Wände hingegen zierte die Farbe Weiß und auf dem Boden war, wie im Flur und Schlafzimmer auch, dunkles Parkett ausgelegt. Eine schlichte, runde Hängelampe spendete dem Wohnzimmer im Moment Licht. Chandra konnte sich hier durchaus wohlfühlen, auch wenn sie eine Wohnung vorziehen würde, die in einer anderen Stadt lag. Ein paar kleine Dekoartikel versuchten, dem Raum etwas Persönliches zu geben, doch die Wände waren allesamt leer. Was sollte Chandra auch hinhängen? Fotos? Die wenigen, die sie besaß, wollte sie nicht aufhängen, denn zu schmerzvoll war es, an vergangene, bessere Zeiten zu denken. Nun kam Sunny ins Zimmer geschlendert und legte sich vor Chandras Sessel auf den Boden, die Augen zwar geschlossen, doch die Ohren gespitzt. Dieses Pokémon war zu neugierig. Lunel hatte sich vermutlich wieder ins Schlafzimmer verzogen. „Woher hast du das Geld für die Wohnung und deine Ausgaben?“, fragte Zayn sie plötzlich. „Familienkontakte.“ „Ah. Ray also?“ Innerlich nervte es Chandra, wie selbstverständlich er ständig diesen Namen sagte, als wäre nichts dabei. Wenn er wüsste. Doch statt sich ihren Unmut anmerken zu lassen, sagte sie: „Unter anderem, ja. Sag mal … Du bist nicht aus Pyritus, oder?“ „So offensichtlich?“ Nun schmückte wieder ein Grinsen Zayns Lippen. „Nun ja, du weißt nichts über diese Stadt, das ist auffällig.“ „Na deswegen bin ich ja jetzt bei dir gelandet! Du wirst mir helfen, diese Stadt zu verstehen, stimmt’s? Immerhin bist du das Mädchen, vor dessen Bruder alle Schurken das Weite suchen.“ Er lächelte und lehnte sich nach vorne, um seine Ellenbogen auf seinen Beinen abzustützen. Neugierde funkelte in seinen Augen. Erst jetzt, im richtigen Licht, erkannte Chandra, dass sie in einem hellen, eisigen Blau leuchteten. „Es gibt hier nicht viel zu verstehen. Pyritus ist eine Stadt der Kriminellen. Die Person mit der meisten Macht hat das Sagen und alle anderen ordnen sich unter. Ein wenig wie im Reich der Pokémon. Das Stärkste gibt den Ton an. Wenn du schwach und klein bist, gehst du einer Konfrontation mit einem stärkeren Wesen aus dem Weg, es sei denn, du bist dämlich und lebensmüde. So ist das hier auch. Die Kerle von vorhin waren nur kleine Fische, es ist nur normal, dass sie vor meinem Bruder gekuscht haben. Das erklärt aber noch nicht, was sie von dir wollten. Also?“ Nun war es an Chandra, ihren linken Ellbogen auf der Lehne des Sessels abzustützen und mit ihrer Hand wiederum ihren Kopf. Höchst interessiert sah sie ihren Gast an. „Ich war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Da haben die Typen mich aufgegriffen und wollten wissen, was ich da tue. Das ist alles.“ Zayn sagte dies, als wäre es eine Normalität – vielleicht wäre es das auch gewesen, wäre Chandra sich nicht sicher, dass er den entscheidenden Punkt dieser Geschichte vor ihr geheim hielt. „Ach, und dann haben sie dich einfach mit einem Messer bedroht?“ „Klar, immerhin ist das doch Pyritus. Da soll so was Gang und Gäbe sein, erzählt man sich“, erwiderte Zayn schulterzuckend. „Das mag schon sein, aber normalerweise geht es um Geld, um Wertgegenstände, auch um Drogen. Nichts davon schien aber in der Situation eine Rolle gespielt zu haben. Stattdessen wollten sie, dass du ihnen etwas sagst. Und was wäre das? Die Antwort darauf, was du dort gemacht hast?“ „Ich konnte ihnen nichts sagen, da ich ja gar nichts weiß“, erwiderte Zayn, ohne mit der Wimper zu zucken. „Denn ich bin ein ahnungsloser Fremder in Pyritus, wie du ja gemerkt hast.“ Abermals ging es Chandra gewaltig gegen den Strich, wie er sich ihre Aussagen ständig so zurechtschob, wie es ihm passte, um sie dann indirekt gegen sie zu verwenden. Wenn das so weiterging, würde sie gar nicht aus ihm herausbekommen. „Wieso tust du so, als wärst du ohne Grund in diese Stadt gekommen?“ „Vermutlich aus demselben Grund, aus dem du so tust, als wüsstest du nichts Besonderes über diese Stadt.“ Nach dieser Antwort lehnte Zayn sich im Sessel wieder nach hinten und legte seine Arme in wissender Manier auf dessen Lehnen. Ein Hauch von Überlegenheit zierte sein Gesicht, als er sie ansah. „Woher willst du wissen, dass ich –“ Sie wurde unterbrochen, da er ihr einfach mitten ins Wort fuhr. „Wie schon gesagt, du bist keine gute Lügnerin. Deine gespielte Ahnungslosigkeit kauf ich dir nicht ab.“ Eventuell war es ja etwas naiv von Chandra gewesen, anzunehmen, sie könnte ihn hierherbringen, ihn ein bisschen ausfragen und erwarten, selbst nichts preisgeben zu müssen. Ihr war bewusst, dass er misstrauisch war. Wer wäre das auch nicht nach der Aktion mit dem Anruf. Aber genauso gut hätte es sein können, dass sie einfach nur ein Mädchen in einer viel zu gefährlichen Stadt war, das einen Bruder hatte, der es beschützte. Aber nein. Dafür hatte sie schon zu viel gesagt. Zayn wusste bereits genug, um davon ausgehen zu können, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie wirklich so eine schlechte Lügnerin war, also ja, das musste es sein. Trotzdem erfüllte es sie mit Ärger, dass er wie eine Wand war, durch die sie nicht hindurch kam. „Hast du ernsthaft gedacht, ich würde dir hier lang und breit alles erzählen, was meine Person wichtig macht?“, giftete sie ihn an Sie rechnete nicht damit, doch vom einen auf den anderen Augenblick brach er in Lachen aus und warf den Kopf nach hinten. Irritiert sah sie ihn an. „Was ist denn daran jetzt bitte so lustig?“ „Diese ganze Situation. Sie ist absurd“, grinste er und schüttelte fassungslos den Kopf. „Nein, wenn ich ehrlich bin, davon ging ich nicht aus. Und ich hatte auch nicht vor, dir irgendetwas zu sagen. Ich wollte bloß schauen, was du mir sagen kannst, und das war’s.“ Statt erneut aufbrausend zu werden, fühlte Chandra sich nun ein wenig ertappt. „Geht mir ähnlich …“ „Das ist ja das Absurde. Jetzt sitzen wir hier und keiner will dem anderen etwas erzählen.“ Er sah schmunzelnd nach oben an die Decke. Wie konnte er das Ganze so gelassen nehmen? Chandra war die ganze Lage mehr als unangenehm. Zwar hatten ihr ihre Pokémon bestätigt, dass von Zayn keine offene Gefahr ausging, doch er schien Dinge zu wissen, die er ihr nicht sagen wollte. Womöglich wusste er ja sogar Dinge über sie. Wobei … nein, so wichtig war sie dann auch wieder nicht. „Hm … tja.“ Zu mehr war sie im Moment nicht fähig. Sie wusste nichts mit der Situation anzufangen. Dieser merkwürdige Zayn wusste nun schon mehr als jeder, mit dem sie sonst verkehrte. Mit Devin hatte sie zwar den meisten und engsten Kontakt, doch eigentlich hatte er keinen blassen Schimmer, wer sie war und das war gut so. Die meisten anderen Männer, mit denen sie mehr tauschte als nur ein paar anzügliche Blicke, erfuhren auch nicht mehr über sie als ihren Namen und verschwanden nach ein wenig Spaß wieder aus ihrem Leben. Tatsächlich erschien es ihr nun gar nicht mehr so einfach, ihn loszuwerden, doch sie konnte sich nicht erklären, wieso dies so war. Er ist nett, flüsterte ein Gedanke in ihrem Kopf. Alle anderen Kerle sind auch immer nett, antwortete ein zweiter Gedanke. Ja, aber nur, weil sie dich ins Bett kriegen wollen. Zayn ist einfach so nett zu dir. Stimmte dies? War er einfach so nett zu ihr? Wahrscheinlich nicht. Er hatte sie genauso benutzen wollen, wie sie ihn eigentlich benutzen wollte. Doch sie beide waren damit in eine Sackgasse gelaufen. Wann war schon mal einfach so jemand nett zu Chandra? Devin einmal ausgeschlossen. In ihren Gedanken versunken beugte sie sich nach unten, wo immer noch ihr Psiana lag und vor sich hindöste. Sie strich ihm langsam über sein seidiges Fell, was das Pokémon mit einem Schnurren quittierte. Die meisten Kerle sahen in ihr nicht mehr als sie in ihnen, wenn sie ehrlich war. Ein wenig unverbindlicher Sex war oft schon genug, um sich für einen kurzen Moment zumindest einreden zu können, jemandem etwas zu bedeuten. Natürlich war dies eine dumme Illusion, doch Chandra hatte sie schon etliche Male genutzt, um sich besser und bestätigt zu fühlen. Wusste dann doch mal jemand etwas mehr über sie, wollte diese Person auch nicht länger als nötig Kontakt mit ihr haben, was wohl für die Gesundheit desjenigen auch besser war. Chandra wirkte in neun von zehn Fällen abschreckend, lediglich ihr Körper ermöglichte es ihr, jemanden zumindest für ein paar Stunden an sich zu „binden“. „Du siehst süß aus.“ Zayns Stimme riss sie völlig unvermittelt aus ihren Gedanken und beschämt schreckte sie hoch. Ihre Gedanken waren ihr peinlich; er saß ja immer noch vor ihr. Sie konnte die Röte nicht zurückhalten, die in ihre Wangen schoss. „Süß? Wieso süß?“, stammelte sie und sah wieder nach unten. „Na ja, wie du so dein Psiana streichelst. Das sieht halt süß aus, wie liebevoll du mit ihm umgehst.“ Er beobachtete ihre Bewegungen mit einem Lächeln. Das machte es ihr nun auch nicht einfacher, ihn wieder loszuwerden. Doch wollte sie das überhaupt noch? Sie konnte doch nicht so leicht aufgeben. Sie brennte immer noch viel zu sehr darauf, zu erfahren, wer er war. „Sie heißt übrigens Sunny. Und Nachtara ist ihr Bruder Lunel“, sagte sie, um die komische Anspannung loszuwerden, die im Raum hing. Sie sah ihn an und stellte fest, dass er nur weiterhin lächelte und sie ebenfalls beobachtete. Es wurde ihr ein wenig unangenehm, sie saß ja schließlich immer noch in Rock und Overknees da und er war halt trotz aller Freundlichkeit immer noch ein Typ. Normalerweise war es ihr gleichgültig, was diese von ihr dachten, doch nun fühlte sie sich unbehaglich. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie zur Ablenkung. „Zwanzig.“ Das Ablenkungsmanöver half auch nicht wirklich. Chandra sah ihn genervt, aber nervös an. „Hör auf, mich so anzugaffen.“ Zayn wirkte, als schreckte er aus seinen Gedanken auf. Nun machte er seinerseits einen beschämten Eindruck, als er fort sah. „Entschuldige bitte.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich sollte allmählich gehen.“ Eine Seite in Chandra wusste, dass dies so das Beste sein würde. Sie wollte sagen: ‚Ja, geh! Geh und komm bloß nicht wieder. Komm nie wieder in diese Stadt!‘, aber zugleich konnte sie es nicht. Es ging nicht einmal in erster Linie darum, unbedingt das zu erfahren, was sie wissen wollte. Sie hatte das Gefühl, ihn jetzt nicht einfach gehen lassen zu können, nachdem sie ihm vorhin erst geholfen hatte. Es war schließlich fast Mitternacht und die Gefahr, erneut zwielichtigen Leuten über den Weg zu laufen, war bei jemandem wie Zayn wahrscheinlich recht groß. „Wo willst du denn hin?“, fragte sie ihn. „Ins Pokémon-Center. Oder kennst du was Besseres? Gibt’s ein 5-Sterne-Hotel in Pyritus?“ „Ich, ähm …“ Unsicher stammelte Chandra nur vor sich hin. Ach nein, das kannst du jetzt nicht tun! Aber wieso nicht, sonst gibt es ja auch kein ominöses Gewissen, das dich davon abholt, halbfremde Kerle bei dir schlafen zu lassen. Du denkst zu viel nach … „Nein. Aber das Center ist zu weit weg und jetzt wieder rauszugehen, ist zu gefährlich.“ Sie setzte sich wieder aufrechter hin, um nicht länger derart unsicher zu wirken. „Ich kann ja nicht immer in der Nähe sein, um dir deinen Arsch zu retten. Also schlage ich vor, dass du hier schläfst.“ So, nun war es ausgesprochen. Überraschenderweise schien Zayn nicht mit dieser Wende gerechnet zu haben. „Wow, du kennst mich noch nicht einmal zwei Stunden und gestattest mir, hier zu schlafen. Machst du das öfters?“, versuchte er, sie zu ärgern. „Wer weiß“, stichelte sie und grinste fies. „Ist dein Bett denn groß genug für zwei?“, konterte er mühelos. „Stell dir vor, es ist sogar groß genug für drei. Für mich und für meine beiden Pokémon. Aber für dich ist da zum Glück kein Platz mehr.“ Nach dieser schlagfertigen Aussage fühlte Chandra sich wieder ein wenig mutiger. „Ach Mist“, seufze Zayn. „Da muss ich mich wohl noch gedulden, bis ich im Bett des wichtigsten Mädchens der ganzen Stadt schlafen kann.“ „Pass auf, was du sagst – ich könnte meine Meinung jederzeit ändern und dich draußen den Wölfen zum Fraß vorwerfen“, warnte sie ihn, doch eigentlich gefiel ihr diese lockere, offene Art, die im völligen Gegensatz zu seiner Geheimnistuerei stand. „Oh, natürlich – niemals würde ich meine charmante Gastgeberin verärgern wollen. Was ich eigentlich hatte sagen wollen: Ich würde sehr gerne hier schlafen. Wenn das für dich okay ist.“ Ob das okay war? Chandra wusste keine Antwort darauf. Wenn sie an ihren Bruder dachte, dann war es mit Sicherheit mehr als falsch. Sie hatte sich einen mysteriösen, jungen Mann in ihre Wohnung geholt, von dem sie eigentlich nicht mehr wusste als seinen Namen und sein Alter. Gefühlt stand Chandra nur noch einen Schritt davon entfernt, viel zu viel von dem zu offenbaren, das sie geheim zuhalten geschworen hatte. Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, ihn wieder wegzuschicken und zu hoffen, ihn nie wiederzusehen. Doch ihre Neugier war bereits zu groß; solange Zayn ihr keine Antworten auf ihre Fragen gegeben hatte, konnte sie ihn nicht einfach wieder ziehen lassen. Zumal sie es leid war, immer das zu tun, was ihr Mistkerl von Bruder von ihr verlangte. Tu dies nicht, tu das nicht, halt deine Klappe, misch dich nicht in die Angelegenheiten von Erwachsenen ein … Und noch vieles mehr. Was sollte schon dabei sein? Schließlich wusste er ja nicht, dass Zayn hier war und ansonsten interessierte ihn der Männerbesuch seiner Schwester auch nicht. Zu guter Letzt konnte Chandra auch nicht leugnen, ein wenig angetan zu sein von ihrem Besuch, wenngleich sie das in diesem Moment niemals laut ausgesprochen hätte. „Hätte ich es dir sonst angeboten?“, entgegnete sie nun auf seine Worte. Anschließend erhob sie sich, verließ das Wohnzimmer für einen Moment, um ins Schlafzimmer zu gehen. Aus ihrem Kleiderschrank holte sie ein Kopfkissen, mit welchem sie wieder in den anderen Raum schritt. Sie warf Zayn das Kissen in die Arme. „Hier, für dich. Dort“, sie deutete auf das Sofa, „liegt eine Decke, die kannst du nehmen.“ Nach kurzer Pause fügte sie noch hinzu: „Ich hoffe, dass du, als Gegenleistung dafür, dass du hier schlafen kannst, morgen etwas kooperativer bist.“ Hoffentlich hatte sie ihn nun ein wenig mehr dort, wo sie ihn haben wollte. Bereit, zu reden. Er funkelte sie nur zögerlich an. Dann erhob er sich plötzlich und als er nun mit diesen hellen, kühlen Augen auf sie herabsah, fühlte sie sich auf einmal ganz klein. „Danke. Du bist sehr nett“, lächelte er. „Die netteste Person, die mir bislang hier begegnet ist.“ Wie lange ist er denn schon hier?, fragte sie sich. Er wurde ihr immer mysteriöser, doch sie ließ die Fragerei für heute sein. Im Anschluss zeigte sie ihm noch, wo Bad und Küche waren, ehe sie sich gemeinsam mit Sunny ins Schlafzimmer verzog und die Tür abschloss – sicher war sicher. Als sie nachdenklich an dieser lehnte, wurden ihre Beine plötzlich ganz weich. Das merkwürdige Gefühl, das sie begleitet hatte, als sie vor wenigen Stunden noch mit Devin im Club gewesen war, hatte sich bestätigt. Doch sie hätte nie erwartet, dass es solch eine Richtung annehmen würde. Nun stand sie hier, mit einem Fremden in ihrer Wohnung, und konnte nicht sagen, ob das, was sie tat, richtig war. Aber falsch konnte es nicht sein. Es hatte sich verdammt gut angefühlt, Zayn zu helfen, und etwas, das sich so gut anfühlte, konnte doch schlicht und ergreifend nicht falsch sein. Zumindest hoffte sie das inständig. 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