Das Teehaus am Ende der Straße: Der Weg zum Epilog von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 4: Schwelbrand ---------------------- 04 – Schwelbrand Der Abend war bereits weit voran geschritten, als Kagome schließlich nach Hause kam. Im Wohnzimmer empfing sie eine unheimliche Stimmung; Hanako, Sota und Cat saßen am Esstisch und starrten stumm ins Nichts. Furcht waberte wie eine Wolke über ihren Köpfen und die Anspannung war zu greifen. „Huch, was ist denn hier los? Ist etwas passiert?“, fragte sie erstaunt in die Runde. Sota war der Erste, der seine Sprache wiederfand: „Sesshoumaru war hier.“ „Das ist doch gut, dass er sich wieder gefangen hat“, entgegnete Kagome unbedarft. „Dann müssen wir uns keine Sorgen mehr machen.“ „Nein, du verstehst nicht!“, platzte nun Hanako aufgebracht dazwischen, „Er hat gehört, wie wir uns unterhalten haben. Was Sota uns erzählt hat über seinen Bruder und ihn.“ „Oh…“ Mehr konnte Kagome dazu nicht sagen. Ihr schwante Fürchterliches. „War er wütend?“ Hanako schauderte bei der Erinnerung an diesen Moment, der höchstens eine Stunde zurück lag. „Ich denke es. Schwer zu sagen… Er war ganz ruhig. Plötzlich stand er einfach da und erzählte, wie er Tessaiga an sich genommen hatte. Er fragte ganz gleichgültig nach dir und ist dann gegangen.“ „Es war so unheimlich“, stöhnte Cat verzweifelt, „Wenn er doch wütend gewesen wäre oder uns wenigstens beschimpft hätte… das wäre einfacher zu ertragen. Aber diese kalte Gleichgültigkeit, die ist viel schlimmer als jeder seiner Wutanfälle.“ Blankes Entsetzen stand der jungen Hanyou ins Gesicht geschrieben, starr sahen ihre Augen auf die Tischplatte und sie hielt sich mit den Händen den Kopf, als würde sonst das bevorstehende Grauen, das in ihrer Vorstellung immer weiter wuchs, entkommen können. Kraftlos setzte sich Kagome auf den letzten freien Stuhl. „So sollte das doch nicht ablaufen“, seufzte sie, „Wer kann denn auch ahnen, dass er ausgerechnet in diesem Moment aus seiner Schmollecke wieder auftaucht. Wenn es euch beruhigt, er ist wahrscheinlich nur wütend auf mich.“ Wieder breitete sich Schweigen im Raum aus. Irgendwann konnte Cat ihre Neugier nicht mehr bändigen. „Warum will Sesshoumaru eigentlich nicht, dass irgendjemand etwas über sein Leben weiß?“ Nachdenklich starrte Kagome mit verschränkten Armen die Decke an. Schließlich versuchte sie ihre verworrenen Gedanken in Worte zu kleiden: „Schwierig zu sagen, ich weiß nicht genau. Er spricht auch mit mir fast nie darüber und auch über seine Gründe nichts zu erzählen schweigt er sich aus. Ich vermute einfach, dass er heute auf einige Dinge nicht mehr wirklich stolz ist und es gibt sicherlich genügend Dinge, die er einfach vergessen möchte. Bevor wir uns wiedergetroffen haben, hat er sogar verdrängt, wer er eigentlich ist und wollte, dass auch die Welt vergisst, wer er ist.“ „Aber warum?“ Cat ließ nicht locker. „Wir kennen ihn doch, wir würden ihn doch nicht einfach hassen, wenn er davon erzählen würde. Hat er etwa so schreckliche Dinge getan?“ Energisch legte Hanako die Hand auf den Unterarm ihrer Freundin und bemühte sich ein möglichst verständnisvolles Gesicht zu machen. „Cat, ich denke für heute ist es genug.“ „Lass gut sein, jetzt ist es auch egal“, winkte Kagome ab. „Ich bin zu müde mich heute mit ihm zu streiten, das mache ich morgen. Da kann ich euch auch noch ein bisschen was erzählen, das macht die Sache jetzt auch nicht schlimmer als sie ohnehin schon ist. Außerdem bin ich sowieso der Meinung, dass er aufhören sollte sich einzumauern.“ Sie stand auf, ging in die Küche und kam mit einem Glas Wein zurück. „Ich denke, er will nicht, dass irgendwer und ganz besonders einer von euch, von seinem Leben erfährt, weil er an der jetzigen Situation der Youkai nicht ganz unschuldig ist.“ Sie nahm einen tiefen Schluck. Wenn sie sich schon ihr eigenes Grab schaufelte, dann durfte sie sich jetzt ihr Henkersglas gönnen. „Hat er alle umgebracht?“, entfuhr es Cat schockiert. „Nein. Ich glaube, ich muss ganz von vorne anfangen, damit du es verstehst“, begann Kagome. „Die Youkai waren damals in vier Länder geteilt, die jeweils von einem Daiyoukai angeführt wurden. Du weißt, was ein Daiyoukai ist?“ „In den Geschichten sind es immer super starke Dämonen, die sowas wie Könige sind“, antwortete das Mädchen nicht ohne einen gewissen Stolz. Endlich wusste sie einmal etwas! „So ungefähr“, lachte Kagome und fuhr fort. „Es gab immer vier, den des Nordens, den des Ostens, den des Südens und den Daiyoukai des Westens. Diese vier Reiche waren ständig im Krieg miteinander und auch die Daiyoukai mochten sich untereinander nicht wirklich. Sesshoumaru ist der Herr der westlichen Länder. Naja, er wäre es, wenn es den Westen noch gäbe.“ Sie nahm einen weiteren Schluck Richtung Abgrund und musterte dabei Cat. „Du bist eine Pantherhanyou, oder?“ „Ja, aber woher weißt du das?“ „Dein Youki, ich spüre es. Das ist die typische Aura der Panther“, dozierte die Miko vergnügt. „Du gehörst damit quasi zum Volk des Herrn des Ostens, der war auch ein Panther. Er und Sesshoumaru haben des Öfteren Krieg gegeneinander geführt.“ „Deswegen macht er immer so komische Kommentare über mich und meinen Clan.“ Cat ging gerade ein Licht auf. „Ich will jetzt wissen, was mit den Youkai passiert ist!“, mischte sich Hanako schließlich wieder ein. Ungeduldig fixierte sie Kagome mit ihrem Blick. „Woher weißt du das eigentlich alles?“, fragte Sota, noch bevor seine Schwester antworten konnte. „Er hat selbst Großvater und mir nie etwas darüber erzählen wollen.“ Die Erinnerung machte sie innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde verlegen. „Tjaaaa…. Er war ziemlich betrunken. Dann gerät er immer ein bisschen in eine nostalgische Erzähllaune.“ Hanakos scharfem Blick und noch schärferem Verstand entging dieses Detail nicht. Wissend grinste sie Kagome an, sie hatte genau verstanden, wann die Priesterin von der Geschichte des letzten Daiyoukai erfahren haben musste. Die Tatsache, dass Kagome im Gegenzug versuchte sie mit Blicken zum Schweigen zu bringen, bestätigte diese Annahme nur. Kagome trat die Flucht nach vorne an. „Die Vier haben eigentlich ständig nach einem Grund gesucht miteinander Streit anzufangen. Das waren sowieso kriegerische Zeiten. Schließlich haben die Menschen die Rivalität und Animositäten zwischen den Youkai ausgenutzt und alle vier Daiyoukai in einen furchtbaren Krieg getrieben. Dabei haben sie sich gegenseitig vernichtet. Nur ganz wenige Youkai haben diesen Krieg vereinzelt überlebt, das waren eure Vorfahren.“ Betroffen schwiegen die drei Zuhörer. Wer hätte gedacht, dass der seltsame Teehauswirt eine solch düstere Vergangenheit hatte? Cat erlag erneut ihrer Neugier und fragte ohne darüber nachzudenken: „Wer hat denn den Krieg gewonnen?“ Kagome konnte es sich nicht verkneifen laut zu lachen. Oh, diese Frage weckte Erinnerungen! „Ich zitiere an dieser Stelle Sesshoumaru: ‚Wer als Letzter tot ist, hat gewonnen‘.“ Kagome wollte diese Geschichte so nicht stehen lassen. Sie verstand beim Erzählen, warum Sesshoumaru nicht wollte, dass alle davon wussten. Er wirkte wie der kaltherzige Totengräber der gesamten Youkai, was er definitiv nicht war. „Vielleicht versteht ihr ja jetzt, warum er darüber schweigt. Es ist alles schwer zu verstehen, besonders wenn man nicht weiß, wie das Leben im Zeitalter der kriegerischen Staaten so war. Ich kann euch aber versichern, dass er alles andere als stolz darauf ist. Ich glaube, er fühlt sich bis heute schuldig für das Schicksal der Youkai und tut unbewusst Buße dafür. Jedenfalls kommt daher sein Wunsch euch zu beschützen und seine Eigenart ausschließlich schwarz zu tragen, das hatte er einmal so angedeutet.“ „Das verstehe ich nicht“, erwiderte Hanako, „Was hat die Farbe seiner Kleidung damit zu tun?“ „Schwarz ist die Farbe der Trauer bei Menschen“, warf Sota ein. „Auf Beerdigungen trägt man deswegen nur schwarz.“ „Ich hatte ihn für eine Feier darum gebeten kein Schwarz zu tragen“, erinnerte sich Kagome. „Er sagte nur, dass solange die Lage so beschissen sei, würde niemand ihn in etwas anderem als Schwarz zu Gesicht bekommen. Ich habe keine Ahnung, was er damit genau meinte oder wie lange er das schon tut, denn er hat kein weiteres Wort mehr darüber verloren. Aber dass er Trauer für die unzähligen toten Youkai trägt, ist die einzige halbwegs plausible Erklärung.“ „Was hat er denn früher getragen?“, fragte Hanako interessiert nach. „Damals vor 500 Jahren als ihr euch zum ersten Mal getroffen habt.“ „Weiß mit rot war sein Haori. Ein Muster aus Chrysanthemen war in das Rot eingearbeitet.“ Diesmal war es Cat, die begann laut zu lachen. „Sesshoumaru und Blumen? Das passt überhaupt nicht!“ „Das passt sehr wohl“, entgegnete Hanako etwas säuerlich. Egal wie die Lage gerade war, aber dass man ihren quasi Urgroßvater auslachte, ließ sie nicht zu. „Die Chrysantheme hat eine Bedeutung. Sie steht für Vollkommenheit und Unsterblichkeit, das passt sehr wohl zu Sesshoumaru.“ Sota war tief beeindruckt von ihrer Kenntnis und wunderte sich, woher sie so viel über Blumen und deren Bedeutung wusste. „Es liegt mir quasi im Blut“, sagte Hanako und zwinkerte Kagome zu. Schließlich löste sich die Runde auf, es war inzwischen fast Mitternacht. Am nächsten Morgen erwachte Kagome aus einem unruhigen Schlaf und brauchte zunächst einen Moment, bis sie wieder die Kontrolle über ihre Glieder gewonnen hatte. Irgendwie fühlte sich alles in ihr heute morgen so unordentlich an. Das Chaos machte sich auch umgehend bemerkbar, ein widerwärtiges Gefühl kroch ihre Kehle hinauf und raubte ihr den Atem. Ihr Magen begann zu pulsieren wie das Herz eines verknallten Teenagers, kalter Schweiß floss wie nach einem Dammbruch über ihre blasse Stirn. Raus aus dem Bett, das war ihr letzter klarer Gedanke. Auf weichen Knien schaffte sie es in knapper Not ins Bad und fiel vor der Toilette demütig auf die Knie. Die kalte Keramik spendete ihr Halt, physisch wie psychisch, während sie sich daran festklammerte. Das Unheil brach sich sofort freie Bahn, ergoss sich Schwall um Schwall. Obwohl sie nichts gegessen oder getrunken hatte, wollte ihr Martyrium nicht enden. Bis auf den letzten Tropfen Magensäure hatte sie ihr Innerstes offenbart und kauerte sich nun ihrem Elend ergeben auf den Boden. In ihrem Mund war in jedem Fall soeben etwas gestorben, der Geschmack der Fäulnis raubte ihr fast die Sinne. Mit letzter Kraft schaffte sie es die Spülung zu betätigen und das Zeugnis ihrer misslichen Lage in die Tiefen der Kanalisation zu verbannen. Warum waren immer Karotten dabei, auch wenn man keine gegessen hatte? Ihr Unglück blieb natürlich nicht unbemerkt. Kaum hatte Kagome sich wieder etwas gefangen, stand ihre Mutter in der Tür. „Kind, alles in Ordnung?“ Dankbar nahm Kagome das angebotene Glas Wasser an und spülte sich den ekelhaften Geschmack aus dem Mund. „Das Restaurant, in dem wir gestern essen waren…. Das kommt auf keinen Fall in die engere Auswahl für Yukas Hochzeit!“, stöhnte Kagome erschöpft. Nachdem sie sich ausgiebig die Zähne geputzt hatte und auch sonst wieder gesellschaftsfähig war, beschloss sie, dass es nichts brachte, wenn sie sich weiter vor dem Unausweichlichen drückte. Es würde nicht besser oder einfacher werden, egal wie lang sie wartete. Kagome öffnete die Tür des Teehauses, schob den Vorhang beiseite und sofort erschien ihr das vertraute Bild. An den alten Tischen saßen versprengt einige Youkai, unterhielten sich oder spielten Karten. Das Licht war gedämpft, wie zu jeder Tageszeit. Die Sonne stand zwar hoch im Zenit, es war Mittag, doch durch die schmalen Fenster unter der Decke kroch nur wenig Licht in den Raum. Die spärliche Beleuchtung verstärkte nur die Tristesse, die dieser Ort ausstrahlte; die manifestierte Trostlosigkeit. Nach wie vor hingen an den vergilbten Wänden unzählige alte Fotos, Plakate bewarben Getränke, die seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt wurden. Die Wand hinter der schweren, dunklen Theke war vollständig mit einem hölzernen Regal verbaut, in dem Flaschen, Geschirr und alle möglichen verstaubten Gegenstände darauf warteten eines Tages wieder gebraucht werden zu können. Auf einem der Regalböden in der Ecke des Raums stand seit kurzer Zeit ein altes Fernsehgerät. Es empfing lediglich eine Handvoll Sender, gerade flimmerte eins der belanglosen mittäglichen Magazine für Hausfrauen über die Mattscheibe. Wenigstens wurde so die erdrückende Stille durch ein unwichtiges Gerede im Hintergrund ersetzt. Ein älterer Mann, der verdächtig nach einem Dachs aussah, verfolgte gebannt die neusten Nachrichten aus der Welt des Klatsch und Tratsch. Das Epizentrum dieser gedrückten Stimmung stand hinter der Theke in einer Wolke aus Tabakrauch und las mit mürrischem Blick eine Zeitung. Zwischen seinen Fingern balancierte er wie fast zu jeder wachen Sekunde eine Zigarette, neben ihm standen ein überbordender Aschenbecher und eine große Kanne Tee. Das bauchige Gefäß fügte sich nahtlos in den Eindruck des übrigen Raumes ein; eine alte, verbeulte Teekanne aus Kupfer, die so sehr dunkel angelaufen war, dass der metallische Glanz des Kupfers nur zu erahnen war. An diesem Ort glänzte einfach nichts mehr. Nicht zum ersten Mal fragte Kagome sich, wie Sesshoumaru den Großteil seiner Zeit hier in dieser Trostlosigkeit verbringen konnte, ohne selbst endgültig des Lebens überdrüssig zu werden. Aber ganz offensichtlich schien er sich hier wohlzufühlen und mochte den nostalgischen Hauch, der durch den Raum wehte und die Patina, die überall klebte. Alles hier war alt, leicht beschädigt, vollkommen aus der Mode und kurz vor dem Verfall. Sesshoumaru war ein Teil des Ganzen. Er würdigte das Erscheinen seiner Gefährtin mit keinem Wort und keiner Geste. In dieser Welt war Kagome quasi nicht existent, kaum jemand wusste, wer sie war. Es war bekannt, dass Sesshoumaru die Gegenwart dieser Miko an diesem Ort duldete, aber keiner der Gäste wusste, dass sie Teil dieses Ortes war und nicht nur ein Schatten in einer der Ecken. Sesshoumaru tat grundsätzlich in der Gegenwart anderer Youkai so, als würde er sie nicht kennen. Jedenfalls, wenn er gezwungen wurde sie nicht mehr zu ignorieren. Kagomes Herz versetzte es jedes Mal einen Stich. Er sollte sie nicht mit Küssen überhäufen oder auf einem der Tische flachlegen, nicht schon wieder. Aber ein nettes Wort und zu zeigen, dass man zusammengehörte, das war doch nicht zu viel verlangt! Er diktierte die Regeln an diesem Ort und ein Sesshoumaru hatte keine menschliche Gefährtin dort. Auch vor keinem anderen Youkai außer Hanako. Es war wohl noch immer unter der offiziellen Würde eines Daiyoukais sich zu ihr zu bekennen, das war wohl eins der wenigen Dinge, die sich in den vergangenen fünfhundert Jahren nicht geändert hatte. Für gewöhnlich verletzte sie diese Tatsache, aber sie nahm sie hin und wartete dann, bis alle anderen Gäste gegangen waren. Auch deshalb mied sie diesen Ort so gut es eben ging. Heute aber hatte sie keine Geduld für diese Spielchen, dafür war die Sache zu wichtig. Sie würde ihm nicht vor versammelter Mannschaft eine Szene machen, aber sie hatte gerade dringenden Redebedarf. „Ich muss mit dir reden“, sagte sie so ruhig, wie es ihr gerade möglich war, als sie sich ihm gegenüber an die Theke stellte. „Schön. Ich aber nicht mit dir“, knurrte er leicht säuerlich und spießte sie mit seinem Blick über den Zeitungsrand hinweg auf. „Ist mir egal“, erklärte sie weiter gelassen. Sie kannte ihn gut genug, seine Antwort war so vorhersehbar gewesen, das brachte sie nicht aus der Fassung. „Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du bist kooperativ oder ich sage einfach gleich hier und jetzt, was ich zu sagen habe. Such es dir aus.“ Einen Moment lang starrte er sie finster an, als wollte er testen, ob ihre Courage seiner Ablehnung standhalten konnte. Doch Kagome ließ sich nicht einschüchtern und erwiderte entschlossen seinen Blick. Schließlich gab er es auf und schloss für einen Atemzug seine Augen. Dann sah er sie noch einmal prüfend an und gab ihr zu verstehen, wie wenig er von ihrer Beharrlichkeit hielt. „Raus, alle miteinander!“, hallte seine Stimme durch die gespannte Atmosphäre in Richtung des interessierten Publikums ihrer Auseinandersetzung. Keiner der anderen Gäste ließ sich das zweimal sagen, zügig verließen alle das Teehaus. Im Gehen warf der alte Mann Kagome einen mitleidigen Blick zu, dann waren sie allein in dem großen Raum. Das war nun nicht mehr nur seine übliche schlechte Laune, die Teil des morbiden Charmes des Teehauses war. Diese schlechte Laune war ihr ganz persönlich gewidmet, er war wirklich wütend auf sie. „So, was kommt als nächstes?“, fragte Sesshoumaru höhnisch und griff nach der verknitterten Schachtel Zigaretten. „Willst du mein Leben jetzt auch noch verfilmen, weil es ja ach so spannend ist und damit sich jeder ein Urteil bilden kann?“ „Das Drehbuch wäre ziemlich bruchstückhaft, du schweigst dich ja die meiste Zeit darüber aus“, entgegnete Kagome dieser Provokation trocken. Für eine Sekunde war er überrascht von ihrer Waghalsigkeit, aber schnell hatte er sich wieder gefangen. „Überlass doch bitte den Sarkasmus den Profis, du tust dir noch weh.“ Er drehte sich kurz zu dem Regal in seinem Rücken und griff zielstrebig nach einer der vielen Flaschen. Dann goss er sich etwas Tee in den Rum und nahm einen tiefen Schluck. „Was sollte das mit dieser verdammten Panthergöre eigentlich werden?“, fragte er schließlich lauernd. „Du meinst das Mädchen, dem du versucht hast den Schädel zu zertrümmern, das bei deinem Erinnerungsausbruch deinen Bruder betreffend Zeuge war und dann völlig verstört an meinem Esstisch gesessen hat?“ „Halbbruder“, knurrte er verstimmt, „Wenn ich es tatsächlich versucht hätte, wäre mir dieser ganze Zirkus erspart geblieben.“ „Hast du außerdem gedacht, dass es Hanako kalt lassen würde, wenn du sie unvermittelt mit Inuyasha vergleichst? Über den sie so gut wie nichts wusste?“ Da Sesshoumaru es vorzog zu schweigen, machte Kagome weiter. Plötzlich waren da so viele Dinge in ihrem Kopf, die sie ihrem starrsinnigen Gefährten schon immer einmal sagen wollte. „Sie hätte dich ja fragen können, dann hättest du weiter bestimmen können darüber, wer was aus deinem Leben weiß. Aber du warst ja nicht da, bist einfach spurlos verschwunden. Also ist sie zu mir gekommen, auch um mir zu sagen, dass du weg bist. Ich schicke ganz sicher nicht zwei verstörte Mädchen ohne Antwort nach Hause. Gib mir also nicht die Schuld dafür, dass du dich nicht im Griff hattest.“ „Das rechtfertigt trotzdem nicht, dass du einen Themenabend zusammen mit deinem Bruder über mein Leben veranstaltest! Es haben nur noch Dias gefehlt!“ Seine Stimme war nun nicht mehr so ruhig wie zu Beginn, kaum verhohlener Zorn schwang darin mit. „Oh, da kann ich dich beruhigen“, giftete Kagome zurück, „Sota hat den beiden ein Foto von Inuyasha gezeigt.“ „Du hast ein Foto von meinem räudigen Bastardbruder?“ Sesshoumaru schnappte erschrocken nach Luft, seine Augen offenbarten weit aufgerissen sein Entsetzen. „Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?“ „Warum hätte ich? Du machst dir nichts aus ihm, außerdem dachte ich, das Thema sei für dich mit ihm gestorben“, entgegnete Kagome ruhig. „Warum geht es jetzt eigentlich um deinen Bruder, ich dachte, du willst nicht über deine Vergangenheit sprechen?“ Klammheimlich genoss sie die Freude darüber, ihn so vorzuführen. Das Wort Bruder hatte sie in voller Absicht benutzt und betont. Ihr Manöver blieb nicht ohne Wirkung. Sein Youki entflammte mit jedem ihrer Worte weiter, es tobte im ganzen Raum und in seinen Augen zuckten die ersten roten Flammen. „Es geht hier ausnahmsweise einmal nicht um meinen verdammten Halbbruder! Nicht er ist das Problem, sondern du!“, entfuhr es Sesshoumaru. „Ich weiß nicht, was du damit bezwecken willst ungefragt jedem Anekdoten aus meinem Leben zu erzählen. Was versprichst du dir davon? Ich habe dir schon einmal erklärt, dass ich keine einsame, gequälte Seele bin, die nur jemanden zum Reden braucht, damit alles wieder gut ist. Nichts ist gut und nichts wird besser dadurch, dass alle davon wissen. Ich muss nicht gerettet werden. Was erwartest du eigentlich? Dass ich ein sonnigeres Wesen entwickele, wenn ich mich nur mal richtig ausheule?“ Er wurde etwas ruhiger, jetzt wo er seinem Ärger so wortreich Luft gemacht hatte. Das Gold seiner Augen schien nun wieder klar und kalt. Der Einschlag hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Kagome musste darum kämpfen ihre Tränen herunterzuschlucken. Für einen Moment sah sie ihn einfach nur aus großen, traurigen Augen erwartungsvoll an; in Erwartung von Irgendetwas. Sein Schweigen nun war unerträglich und verletzte sie noch mehr als die Worte davor. Als schließlich klar war, dass er dem Gesagten nichts mehr hinzuzufügen hatte, begann sie leise mit brechender Stimme zu sprechen: „Ich will dich doch gar nicht retten. Ich will auch nicht, dass du ein sonnigeres Gemüt hast, ich will doch einfach nur verstehen wer du bist und was in dir vorgeht… bei dir sein einfach. Du schließt mich aus dem Großteil deines Lebens aus, ich will doch nur ein Teil davon sein.“ Sesshoumaru hielt den Kopf gesenkt und stütze ihn mit einer Hand. Er schien seine nächsten Worte abzuwägen. „Was hoffst du, in meinen Gedanken zu sehen? Da ist Nichts, außer Geister der Vergangenheit, Verbitterung und hässliche Erinnerungen. Ich bin selbst schon froh, wenn ich das nicht sehen muss. Kannst du nicht endlich begreifen, dass ich nicht ständig daran erinnert werden will, was ich alles verloren habe?“ „Aber vielleicht…“, begann Kagome zaghaft, doch sie kam nicht dazu ihre Gedanken auszusprechen. „Nein! Meine Erinnerungen sind kein schöner Ort, du hast da nichts drin verloren! Niemand hat das!“ In einem letzten Akt des Aufbäumens sah Kagome ihm in die Augen und sah dort alles, nur keinen Verhandlungsspielraum. Schweigend saßen sie beieinander, sie auf einem abgewetzten Barhocker, er auf seinem noch Kaputterem hinter der Theke. Sesshoumaru hielt noch immer den Kopf gestützt, nun aber auf seinem Handballen. Kagome hatte sich auf ihre Unterarme gekuschelt und suchte verzweifelt etwas Trost. Da war noch etwas, das ihr auf der Seele brannte. Es war sowieso gerade alles ein Scherbenhaufen, da konnte sie die Frage nun auch getrost stellen. „Warum willst du eigentlich nicht, dass irgendjemand weiß, dass wir zusammen sind? Und warum weigerst du dich auch nur eine Nacht bei mir zu schlafen? Immer wenn du bei mir bist, bin ich am nächsten Morgen allein.“ „Gewohnheit“, brummte er beiläufig. Er schien zu hoffen, dass das Thema damit erledigt sei. „Tolle Gewohnheit“, murmelte sie enttäuscht. „Dir scheint ja egal zu sein, wie es mir mit deinen Gewohnheiten geht.“ Sie bettete ihren Kopf auf ihren Armen etwas anders und drehte ihn zur Seite. Wenn er schon ihrem Herz den Gnadenstoß versetzen würde, wollte sie ihn dabei nicht anschauen müssen. Doch nun gelangte etwas in ihr Blickfeld, das sie in die hinterste Ecke ihres Geistes geräumt hatte. An der Wand hing ein altes schwarz-weiß Foto, das eine Frau und ein kleines Mädchen zeigte. Plötzlich überschwemmten unzählige Gefühle ihr Inneres, sie kam gar nicht hinterher diese überhaupt auseinander zu halten und zu ordnen. Wie von selbst übernahmen sie die Kontrolle und ließen sie sagen: „Aber es war einmal anders gewesen. Da war dir jemand wichtiger als deine Gewohnheit. Da hast du unter Menschen gelebt, dich nicht versteckt und hast nicht wie ein Diktator die Regeln bestimmt.“ Verwirrt sah Sesshoumaru seine Gefährtin an. Kagome wandte sich ihm wieder zu und stellte mit fester Stimme die für sie alles entscheidende Frage: „Warum durfte Kazuko ein Teil von deinem Leben sein und ich nicht?“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand Sesshoumaru auf und verschwand hinter dem Bambusvorhang, der seine Wohnung vom Gastraum trennte. Jetzt, da sie so vollkommen allein war, ließ Kagome ihren Tränen endlich freien Lauf. Es schien ihr Schicksal zu sein, dass jedes Mal eine bereits tote Frau ihrem Glück im Wege stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)