Vergissmeinnicht von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 18: Schubladendenken ---------------------------- ♥ Mimi ♥ „Warum bin ich nochmal hier?“, jammerte Yolei und begann frustriert das Besteck durchzuzählen. „Es ist Freitagnachmittag!“ „Na und? Frau Ito hat doch gestern extra gefragt, wer ihr bei der Inventur helfen möchte“, erwiderte Mimi nur verständnislos. „Aber du hast einfach für mich mitbestimmt“, grummelte Yolei erbost und richtete einen Löffel auf sie. Mimi grinste nur und schüttelte beiläufig den Kopf als sie die Anzahl der Gabeln notierte. „Ach komm‘ das geht sicher schnell rum. Frau Ito kommt ja auch gleich noch, um uns zu helfen. Und außerdem muss ich dann nicht mehr so lange auf Makoto warten. Du weißt doch, dass er noch Bandprobe hat“, erklärte Mimi ihrer Freundin ausführlich. „Also bin ich nur hier, weil du auf deinen Freund wartest? Was macht ihr heute denn schon wieder? Irgendwie hängt ihr voll oft aufeinander“, stellte Yolei nüchtern fest, auch wenn ein leichter vorwurfsvoller Unterton in ihrer Stimme mitschwang. „Naja, wir wollten heute ins Kino. Und meine Eltern quetschen mich die ganze Zeit wegen ihm so aus, da sie ihn wohl jetzt schon am liebsten kennen lernen wollen. Aber das ist mir zu früh, weshalb wir uns einfach in der Stadt treffen“, antwortete Mimi selbstsicher. Yolei hingegen runzelte nur die Stirn und schenkte ihr einen fragwürdigen Blick. Sie musterte ihre Schuluniform und den unordentlich hochgesteckten Dutt, den sie sich schnell gemacht hatte, damit ihr die Haare nicht ins Gesicht fielen. „Also, dafür, dass ihr noch nicht lange zusammen seid, lässt du dich aber schon früh ziemlich gehen, findest du nicht?“, antwortete sie grinsend, während Mimi nur die Augen verdrehte, aber ebenfalls ein Lächeln nicht verbergen konnte. „Ich werde mich gleich noch umziehen gehen. In meinem Spint habe ich ein paar Sachen untergebracht. Ich muss sie nachher nur noch holen und anziehen.“ „Du denkst ja wahrhaftig an alles“, meinte Yolei erstaunt und schnappte sich den Zettel, um die Anzahl der Löffel einzutragen. „So bin ich eben“, flötete Mimi gut gelaunt und holte die Töpfe hervor, um sie mit samt den Deckeln durchzählen zu können. Für einen kurzen Moment kehrte eine angenehme Stille ein, sodass sich Mimi schon gedanklich auf ihr Date mit Makoto vorbereitete. Yolei hatte Recht, dass sie zurzeit wirklich viel mit ihm unternahm und möglicherweise sogar ihre Freundinnen ein bisschen vernachlässigte. Aber er tat ihr einfach gut. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, spürte eine deutliche Verbindung zu ihm und musste das erst Mal seit längerem nicht an T… „Tai scheint die Beziehung allerdings gar nicht zu gefallen“, eröffnete Yolei unbedacht und Mimis Gesichtszüge entgleisten prompt. Wieso konnte niemand das Thema Taichi auf sich beruhen lassen? Auch Sora wollte ihr insgeheim schon einreden, dass sie nur mit Makoto ausging, um sich von Taichi abzulenken. Natürlich war das purer Unsinn, aber wieso fing jetzt auch schon Yolei damit an? „Wie kommst du denn jetzt auf Taichi?“, hakte sie nach und versuchte sich möglichst überrascht und ruhig zu geben. „Naja, er ist ganz schön geknickt und vor wenigen Wochen habt ihr noch wie wild rumgeknutscht. Was ich übrigens niemandem erzählt habe, aber trotzdem verstehe ich das nicht so ganz“, teilte Yolei ihr offen mit und ließ die Schultern fragend hängen. „Also, Tai…naja…ich…“ „Jaaa…“, erwiderte sie langgezogen und beäugte sie neugierig. „Ich…“, sie druckste herum und war sich nicht sicher, ob sie der besten Freundin von Tais kleiner Schwester überhaupt so viel verraten sollte. Nicht, dass sie sich am Ende noch verplapperte… „Es gab mal eine Zeit, in der wir uns sehr nahe standen“, klärte sie Yolei bedacht auf. Doch sie schien sofort zu verstehen, was sie damit eigentlich meinte. „WAS? Oh Gott, habt ihr zwei etwa?“ „Hä? Was? Um Gottes Willen, nein! Das war völlig harmlos gewesen“, antwortete sie mit schriller Stimme. Sofort wanderte ihr Blick zu Boden als ein rötlicher Schimmer ihre Wangen zierte. Okay gut, vielleicht war es doch nicht so harmlos gewesen, wie sie Yolei vormachen wollte. Wären einige Dinge anderes verlaufen, wäre sie sicherlich keine Jungfrau mehr… Sie schluckte bei dem Gedanken als ihr Herz wild und fordernd gegen ihre Brust schlug und ihren Puls beschleunigte. „Okay, aber war es etwas Ernstes gewesen?“ Mimi befeuchtete ihre trockenen Lippen und ging augenblicklich auf die Knie, um die restlichen Töpfe hervorzuholen als sie sich zu einem kurzen Kopfschütteln durchrang. „Wir waren noch Kinder gewesen“, gab sie knapp zurück. Kinder, die damals schon genau wussten, wie sie sich die Liebe vorstellten, auch wenn es eine sehr naive Vorstellung davon war. „Also, gibt es zwischen euch keine Chance mehr?“ Am liebsten hätte sie diese Frage mit einem klaren „Ja“ beantwortet, da es in ihrem Leben jemanden gab, der vielleicht ihr Herz erobern konnte. Aber war es dann normal, immer noch Herzklopfen zu bekommen, wenn sie an den sinnlichen Kuss im Pool zurückdachte? Auch ihr war nicht entgangen, dass Taichi in letzter Zeit sehr niedergeschlagen auf sie sie wirkte, was in ihr seltsame Gefühle auslöste. Einerseits hasste sie es, ihn so zu sehen. Mutlos, traurig, ein Schatten seiner selbst. Andererseits erfüllte es sie auch mit Genugtuung. Er hatte ihr wehgetan und sie wollte, dass er ebenfalls litt und durch die Hölle ging. Mimi atmete leise aus als sie ihre Lippen kräuselte und ihre Finger in dem massiven Holz der Theke vergrub. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu, während sie resigniert den Kopf senkte und am liebsten diesem Gespräch entfliehen wollte. _ Freudig eilte sie zum Kino, vor dem Makoto bereits auf sie wartete. Sie trug ein royalblaues Sommerkleid, dass in Kontrast zu ihrer blassen Haut stand. Ihre Haare hatte sie zu seinem hohen Zopf zusammengebunden, der bei jeder Bewegung mitschwang, während ihre vordere Haarpartie ihr Gesicht schmeichelnd umrahmte. Mit schnellen Schritten steuerte sie auf Makoto zu, der am Eingang wartete und sie noch nicht bemerkt hatte. Grinsend schlich sie sich an, ging auf die Zehenspitzen und hielt ihm die Augen zu. „Na, wer bin wohl?“, fragte sie keck als sie seine warmen Hände auf ihren spürte. Zärtlich fuhr er mit den Fingern über ihren Handrücken und machte Anstalten sich zu ihr herumzudrehen, ohne auf ihr Spiel einzugehen. „Du musst erst erraten, wer ich bin. Vorher lasse ich dich nicht los“, flötete sie fröhlich als er lachend ihren Namen sagte und sich zu ihr drehte. Er beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen, um sie zu begrüßen. „Da hat sich aber jemand hübsch gemacht“, raunte er in ihr Ohr und machte sie augenblicklich ganz verlegen. „Danke…“, murmelte sie ihm entgehen und ergriff seine Hand. Er zog sie in Richtung Eingang, öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. Mimi lächelte verhalten und betrat das großgeschnittene Foyer des Kinos. Es roch nach süßem Popcorn und eine riesige Menschenmenge tummelte sich an der Kinokasse und den Snackständen. „Wow, heute ist aber ganz schön viel los“, stellte Mimi erstaunt fest, obwohl es für Freitagabend nichts Ungewöhnliches war. „Kein Wunder, heute ist die Vorpremiere zu Fluch der Karibik 2“, antwortete Makoto begeistert. „Fluch der Karibik?“, hinterfragte Mimi skeptisch. „Dieser Piratenfilm?“ „Nein, der beste Piratenfilm überhaupt und es gibt sogar noch Karten“, erwiderte er erstaunt und sah sie mit einem vielsagenden Hundeblick an, der nur eins bedeuten konnte. Doch Mimi hatte auf so einen dämlichen Piratenfilm überhaupt keine Lust. „Aber es läuft auch ‚Der Teufel trägt Prada‘. Der ist sicher voll witzig und mit Anne Hathaway“, argumentierte sie dagegen und schenkte ihm einen herausfordernden Augenaufschlag. Argwöhnisch runzelte Makoto die Stirn. „Aber das ist doch ein Frauenfilm. Da schlaf‘ ich ganz sicher ein. Fluch der Karibik wird dir sicher gefallen.“ „Ich kenne aber den ersten Teil noch nicht mal“, murrte sie genervt, da Makoto nicht den Anschein machte, locker lassen zu wollen. „Ach, den verstehst du auch so. Der ist nicht so anspruchsvoll.“ Mimis Augen weiteten sich entsetzt. Was sollte das denn bedeuten? Nicht so anspruchsvoll? Hielt er sie etwa für bescheuert? „Ähm...du weißt wie ich das meine. Man blickt auch durch, wenn man den ersten Teil nicht gesehen hat und notgedrungen hast du ja auch noch mich“, ruderte er zurück und zog sie etwas näher an sich heran, während Mimi beleidigt das Gesicht verzog. „Ich werde sowieso nicht so sehr auf den Film achten können, dafür ist meine hübsche Begleiterin einfach zu ablenkend“, raunte er und gab ihr einen sinnlichen Kuss auf den Hals, der Mimi erschaudern ließ. Verstohlen sah sie zu ihm und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Irgendwie war Makoto schon sehr süß zu ihr, auch wenn er versuchte seinen Kopf durchzusetzen. Jedoch machte vielleicht gerade das eine erfolgreiche Beziehung aus. Kompromisse schließen, Gemeinsamkeiten entdecken, Unterschiedlichkeiten akzeptieren lernen. „Okay“, gab sie sich geschlagen. „Aber den nächsten Film darf ich dann aussuchen!“ „Klar, von mir auch können wir auch morgen den anderen Film schauen, wenn du magst“, erwiderte er versöhnlich und stellte sich an der Kasse an. „Ich glaube, morgen werde ich keine Zeit haben. Kaori will sich wegen dem Projekt treffen und so langsam müssen wir wirklich mal loslegen. Das Herbstfest ist schon in zwei Monaten!“, seufzte sie theatralisch und fasste sich an die Stirn. Eigentlich würde sie ihr Wochenende viel lieber anders verbringen, aber wie Kaori ihr gestern bereits mitgeteilt hatte, stand der Termin für ihre Vorbesprechung bereits fest. Sie kannte tatsächlich eine Dozentin der Musikhochschule, die ihr Projekt absegnen wollte. Mimi war immer noch nicht ganz wohl dabei, besonders, weil Kaori meist den Ton angab und Mimi sie einfach machen ließ. Sie wäre sicherlich schon längst fertig, wenn es ein Einzelprojekt gewesen wäre. Doch daran wollte Mimi heute Abend noch nicht denken. Sie kuschelte sich etwas näher an Makoto, der ihr einen liebvollen Blick schenkte und in ihr ein leichtes Kribbeln auslöste. Sie mochte es die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu erhalten, auch wenn das Gespräch mit Yolei immer noch in ihrem Hinterkopf spukte. Sie senkte leicht den Kopf, verdrängte die aufkommenden Gedanken und stellte sich auf einen romantischen Abend mit ihrem Freund ein, auch wenn es noch ungewohnt war ihn so zu nennen. Doch sie war bereit, sich fallen zu lassen und den Abend zu zweit zu genießen. _ Am nächsten Tag saß sie tatsächlich mit Kaori im Büro von Frau Misa, einer Dozentin für Musikgeschichte. Doch noch immer hing sie ihren Gedanken nach und dachte an den wunderschönen Abend, den sie mit Makoto verbringen durfte. Auch wenn sie den Film nicht sonderlich spannend fand, verlief der Abend einfach nur perfekt. Sie hatten sich oft geküsst und bei Mimi stellte sich allmählich dieses verrückte Kribbeln ein, dass ihr bewusst machte, dass sie tatsächlich zarte Gefühle für Makoto entwickelte. Er hatte sie sogar noch nach Hause gebracht und am liebsten hätte Mimi ihn sogar mit nach oben genommen, aber sie wollte nicht Gefahr laufen, dass er von ihrem Vater ausgefragt wurde. Ihre Eltern hatten die peinliche Angewohnheit ihrer überfürsorglichen Ader Ausdruck zu verleihen, indem sie ihre Freunde der Reihe nach ausquetschen. Mimi war das immer schon sehr unangenehm gewesen, besonders, weil ihr Vater nicht auf den Mund gefallen war und fast jedem Jungen klarmachte, dass er seine Prinzessin nicht verletzten durfte. Doch für Mimi war diese Art von Gespräch viel zu verfrüht, weshalb sie sich immer noch davor drückte, ihren Eltern Makoto vorzustellen. Lieber wartete sie noch ein bisschen, schließlich waren sie noch gar nicht lange zusammen und sie hatte ganz sicher nicht vor ihn gleich wieder zu vergraulen. „Was sagst du denn dazu, Mimi?“, hakte Kaori plötzlich nach und gab die Frage von Frau Misa an sie weiter. Völlig verwirrt, starrte Mimi zu Kaori und hatte überhaupt keinen Plan, was Frau Misa von ihr wissen wollte. Schon wieder hatte sie sich ablenken lassen. „Ähm…ich…“, druckste sie herum und sah hilfesuchend zu Kaori, die sie skeptisch beäugte. „Also…“ „Wir würden uns gerne die Universität angucken. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr hier“, antwortete Kaori lächelnd, während sie Mimi einen bösen Blick zuwarf, den sie entschuldigend erwiderte. „Ja, das wäre sicher klasse“, ergänzte Mimi kleinlaut und konnte nicht fassen, dass sie die gesamte Besprechung wohl nur vor sich hingeträumt hatte. „Super, ich zeige euch dann ein paar Räumlichkeiten und werde euch später noch in unsere Aula entführen. Weißt du noch Kaori? Als Kind hast du dich immer auf die Bühne geschlichen und ein Solokonzert gegeben“, erinnerte sich Frau Misa lachend und stand auf. „Ach wirklich? Habe ich ganz verdrängt“, antwortete Kaori monoton und richtete sich auf. „Ist ja auch schon eine halbe Ewigkeit her, Hibiko.“ Verblüfft sah Mimi zu Kaori und musterte sie nachdenklich. Hibiko? Sie kannte also ihren Vornamen? Woher kannten sich die beiden denn nur? War sie etwa eine Freundin von Kaoris Familie? „Auf was wartest du denn?“, fragte Kaori verwirrt, nachdem sich Mimi immer noch nicht in Bewegung gesetzt hatte. Hektisch sprang sie auf und eilte Frau Misa und Kaori nach, die bereits das Büro verlassen hatten. „Heute bist du aber echt neben der Spur“, stellte Kaori nüchtern fest und passte sich Mimis Gehtempo an. „Tut mir leid, irgendwie bin ich gestern zu spät ins Bett gekommen“, murmelte sie verlegen, da Makoto und sie noch wild miteinander rumgeknutscht hatten, bevor sie sich tatsächlich von ihm loseisen konnte. „Aso, liegt wohl an deinem neuen Freund. Wie heißt der nochmal? Dieser Typ mit dem Piercing“, fragte sie und deutete auf ihre eigene Lippe. Überrascht weiteten sich Mimis Augen, da sie nicht wusste, dass die Beziehung zwischen Makoto und ihr in der Schule schon die Runde gemacht hatte. Gerade Kaori war jemand, der nicht sonderlich viel aus dem Haus ging und sich ins Partyleben stützte… „Woher weißt du das denn?“, hakte sie misstrauisch nach. „Naja, ich lebe jetzt nicht hinter den Mond, falls du das denkst“, erwiderte sie verdattert. „Außerdem habt ihr einmal direkt vor der Schule rumgeknutscht und ich glaube, sowas sollte man dann eher lassen, wenn man die Beziehung geheim halten will.“ Ihre eigene Überheblichkeit schwang in ihrer Stimme mit und ein herablassender Blick streifte Mimi kurz, sodass sie am liebsten Kaori die Meinung gegeigt hätte. Was bildete sie sich überhaupt ein? Es war doch ihre Sache, wie sie die Beziehung zu Makoto in der Öffentlichkeit gestaltete und sie schämte sich nicht, Zuneigung für einen Jungen zu zeigen, den sie mochte. „Woher kennst du eigentlich Frau Misa?“, fragte Mimi mit bebender Stimme, um auf ein anderes Thema zu lenken. Frau Misa ging ein Stückchen vor ihnen und erzählte irgendwas über die Universität, wer sie errichtet hatte, welche Berühmtheiten sie hervorbrachte und welche Fächer sie am liebsten unterrichte. Doch Mimi hörte ihr nur halbherzig zu, während Kaori angestrengt ihre Stirn in Falten legte. „Ist das etwa so wichtig? Sei doch froh, dass ich sie für unser Projekt begeistern konnte“, erwiderte sie abweisend und Mimi bereute es überhaupt gefragt zu haben. Wieso interessierte sie sich überhaupt noch für das Leben ihrer Mitmenschen, wenn sie solche Antworten bekam? Diese Kaori war wirklich mit Vorsicht zu genießen. _ Frau Misa hatte sich über eine Stunde Zeit genommen, ihnen alles zu zeigen. Da Samstagnachmittag war, war dementsprechend wenig los, weshalb sie sich die Zeit auch nehmen konnte. Sie erkundeten einige Hörsäle und Seminarräume, die ganz unspektakulär mit Sitz-und Schreibmöglichkeiten ausgestattet waren. Am besten gefielen Mimi die Probenräume, die sehr geräumig und schalldicht waren, um in Ruhe üben zu können. Danach steuerte Frau Misa direkt die Musikkammer an, in denen sie die Streich-und Blasinstrumente aufbewahrten. Der kleine längliche Raum befand sich direkt neben der Aula, die sie als letztes aufsuchten. Mimi war fasziniert von der Atmosphäre, die sie sofort einnahm, wenn sie sich auf die Bühne stellte. Vor ihr erstreckte sich ein Meer leerer Plätze, aber die Anspannung, die durch ihren Körper fuhr, fühlte sich unbeschreiblich an. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich die Studenten fühlten, wenn sie vor mehreren hundert Menschen auftraten. Straub lag in der Luft und eine unbändige Energie erfüllte den Raum, die nur nach einer Gelegenheit suchte, um sich zu entladen. Spannung durchzog ihren Körper und ließ erst nach als sie gemeinsam die Bühne verlassen hatten. Kaori war während der Führung verhältnismäßig ruhig gewesen und schien in ihre eigene Welt abgetaucht zu sein, was Mimi auch nicht weiter störte. Interessiert lauschte sie Frau Misas Stimme, die sie mit farbenfrohen Bezeichnungen in die Welt der Musik entführte, die Mimi schon immer angezogen hatte. Sie liebte es zu Singen, auch wenn es für sie mehr ein Hobby war. Dennoch fühlte sie sich dadurch befreit und glücklich, selbst wenn es niemand hören konnte. Meistens sang sie nur unter der Dusche, oder summte fröhliche Melodien vor sich hin, wenn sie von ihren eigenen Glückgefühlen übermannt wurde. Gemeinsam schlenderten sie wieder auf den Gang als Frau Misa kurz ihr Handy checkte. „Oh, entschuldigt mich bitte kurz. Ich muss mal schnell telefonieren“, informierte sie die beiden freundlich, während Mimi nur ein knappes Nicken zustande brachte. Danach ließ sie die Mädchen alleine, was in Mimi ein gewisses Unwohlsein auslöste. Noch immer wusste sie nicht wirklich, über was sie mit Kaori reden sollte. Sie waren einfach grundverschieden. Wie Feuer und Eis. Wie süß und salzig. Wie dunkel und hell. Langsam wandte sich Mimi ihr zu und sah, dass sie sich genervt gegen die Wand gelehnt hatte und ihre Laune scheinbar noch schlechter geworden war, wenn dies überhaupt möglich sein konnte. „Ich geh‘ mal aufs Klo“, murmelte sie halblaut und schritt, ohne eine Antwort von Mimi abzuwarten, an ihr vorbei. Etwas beleidigt sah Mimi ihr hinterher, da sie sie tatsächlich alleine gelassen hatte. Doch sie wollte sich lieber nicht beklagen. Wahrscheinlich war es besser, so wenig Zeit wie möglich miteinander zu verbringen und das Projekt einfach schnell abzuschließen, um endlich wieder getrennte Wege gehen zu können. Manche Menschen waren wohl nicht dazu bestimmt, Freunde oder ähnliches zu werden. Kaori war ein Eisblock, den noch nicht mal die Sonne der Sahara zum Schmelzen bringen konnte. Dabei hatte Mimi alles versucht, um die Zeit mit ihr erträglich zu gestalten. Manchmal hatte sie sogar kurzzeitig das Gefühl zu ihr durchzudringen, aber anscheinend war das wohl ein großer Irrtum gewesen. Sie seufzte resigniert und hoffte, dass Kaori und sie bald von hier verschwinden konnten. Mimi lehnte sich gegen die Wand als plötzlich ein zarter Ton zu hören war. Überrascht blickte sie sich um, da das Spiel immer gleichmäßiger wurde und eine eingehende Melodie bildete. Ihr wurde bewusst, dass das zarte Spiel nur von einer Violine stammen konnte, die gefühlvoll die hohen Töne anschlug und auf Mimi sehr melancholisch wirkte. Neugierig verfolgte sie den Klang der Violine, die sie augenblicklich in ihren Bann gezogen hatte. Sie ließ sich einfach von ihren Ohren führen und landete wieder in der Aula, die sie vor wenigen Minuten verlassen hatte. Ihren Blick richtete sie zur Bühne und schritt gleichzeitig wie hypnotisiert die Sitzreihen entlang, um etwas weiter nach vorne zu kommen. Plötzlich blieb Mimi stehen. Ihre Augen waren immer noch auf die Bühne gerichtet, auf der sie stand und voller Hingabe spielte. Sie strich mit dem Bogen kraftvoll über die Saiten, ließ die Töne umherspringen, die wie ein Regenbogen nach einem seichten Regenschauer während eines lauwarmen Sommertags den Himmel mit Farbe umhüllten. Völlig berauscht von dem unverkennbaren Klang der Violine, bemerkte Mimi erst gar nicht, wie sich jemand neben sie stellte. „Ich habe gewusst, dass sie dieser Versuchung nicht wiederstehen kann. Sie hat eben Musik im Blut“, ertönte die freudige Stimme von Frau Misa, während Mimi etwas zusammenschrak. „Es ist knapp zwei Jahre her, wo ich sie das letzte Mal spielen gesehen habe. Die Leidenschaft ist immer noch dieselbe“, murmelte sie gerührt und Mimi hätte schwören können, aufkommende Tränen in ihren Augen gesehen zu haben, doch Frau Misa hatte schneller den Kopf zur Seite dreht. Immer noch sprachlos beobachtete sie Kaori, wie sie mit der Violine eins zu werden schien. Emotionsgeladen lehnte sie ihr Kinn gegen die Violine, schloss die Augen und ließ sich von ihrem eigenen Spiel in eine andere Welt entführen. „Sie scheinen Kaori ja gut zu kennen“, stellte Mimi fest, nachdem sie ihre Sprache wiedererlangt hatte. Frau Misa lächelte nur vage und fuhr sich durch ihre langen gelockten Haare. „Ich war ihre Lehrerin und eine enge Freundin ihrer Mutter. Sie hat schon mit sechs Jahren angefangen zu spielen“, erzählte sie als ihr Lächeln unvermittelt verschwand und einer ernsten Miene wich. „Ein Jahr später war das mit ihrer Mutter passiert…“ Mimi presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf. Ach so war das also. Sie hatte sich schon gedacht, dass das Foto in Kaoris Zimmer ihre Mutter zeigte, aber dennoch hatte sie sich gefragt, warum sie kein Aktuelles ausgesucht hatte. Ihre Frage wurde hiermit beantwortet. Weil es nicht ging. Ihre Mutter lebte nicht mehr, auch wenn sie sich nicht traute genauer nachzufragen. Das Gesicht von Frau Misa sprach Bände. „Hat sie danach schon aufgehört? Zu mir meinte sie, dass sie erst seit zwei Jahren nicht mehr spielt“, erinnerte sich Mimi dunkel zurück. „Oh, sie hat danach noch weitergespielt. Irgendwie sah sie es als Verbindung zu ihrer Mutter.“ „Okay…aber warum hat sie dann aufgehört?“, hinterfragte sie verblüfft. Frau Misa kniff die Augen zusammen und betrachtete Kaori auf der Bühne, die ihren letzten Ton anstimmte. „Ich denke, dass lag an ihrer Schwester. Die beiden waren einfach unzertrennlich gewesen, die besten Freundinnen. Aber dann gibt es Momente im Leben, wo man sich entscheiden muss. Welchen Weg man gehen will und was man bereit ist für seinen eigenen Traum zurückzulassen. Und Emi hat sich gegen sie entschieden und das konnte Kaori nie überwinden, auch wenn sie das Gegenteil behauptet“, antwortete sie ausführlich. In Mimis Hals bildete sich ein dicker Kloß, der ihr das Schlucken erschwerte. Sie war wohl sehr einsam, jedenfalls hörte Mimi genau das heraus. Ihr Blick richtete sich wieder zur Bühne als Kaori die Violine sinken ließ und mit zitternden Fingern den Bogen in ihren Händen hielt. Sie schniefte herzzerreißend, nahm den Bogen in die andere Hand und fuhr sich mit den Fingern über ihre Augenpartie, indem sie ihre Brille etwas nach oben schob. Sie sah in diesem Moment so zerbrechlich aus. Das Mädchen, dass in der Schule immer so überheblich rüberkam und auf jeden sehr distanziert wirkte, erschien plötzlich in einem völlig anderen Licht. Jeder hatte seine eigene Geschichte, sein eigenes Päckchen, dass er zu tragen hatte. Mimi hätte niemals gedacht, dass sich hinter Kaoris makelloser Fassade, so viele Risse verbargen. Risse, die Mimi nicht sehen wollte, da sie sie abgestempelt hatte und in eine Schublade steckte. Eine Schublade, in die sie nicht hineingehörte… Hosted by Animexx e.V. 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