Vergissmeinnicht von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 9: Schmerzliche Vertrauensbrüche ---------------------------------------- ♥ Taichi ♥ „Er sitzt immer noch dran“, ertönte die besorgte Stimme seiner Schwester. Tai, der sich langestreckt auf seinem Bett niedergelassen hatte, hob lustlos den Kopf an, um besser zu ihr sehen zu können. Sie saß auf seinem Schreibtischstuhl und hatte seine Zimmertür fest im Blick. „Du solltest dir wirklich nicht so viele Sorgen machen. Die Präsentation ist eben sehr wichtig“, zeigte er ihr auf und ließ sich wieder auf sein weiches Kissen sinken. „Aber er hat das Wochenende kaum geschlafen! Hast du seine Augenringe noch nicht bemerkt?“ „Doch natürlich…“ „Wenn er so weitermacht, wird er noch zusammenbrechen“, stellte sie alarmierend fest. „Kari, beruhig‘ dich mal. Er kann gut auf sich selbst aufpassen“, untermauerte er standfest, setzte sich aber auf. Die Besorgnis war aus dem Gesicht seiner Schwester zu lesen. Sie saß zusammengekauert auf seinem Stuhl, knabberte nervös an ihrem Daumennagel und schien ihre wirren Gedanken zu sortieren. Natürlich hatte auch Taichi sich seine Gedanken gemacht. Auch er hatte mitbekommen, dass sein Vater das letzte Wochenende kaum zu Hause war und sogar in der Firma übernachtet hatte, weil sie einfach nicht rund kamen. Am Samstagmorgen kehrte er fast zeitgleich mit Kari zurück, die den Abend zuvor bei Mimi verbracht hatte. Auch seine Mutter hatte sich noch auf der Arbeit befunden als sein Vater schnell zum Duschen heimkehrte und seine Aktentasche erneut packte. Bevor Taichi vom Wochenendeinkauf zurückkam, war er auch wieder verschwunden, was bei den beiden Geschwistern eine Mischung aus Besorgnis und Angst auslöste. Sein Vater war nicht der Typ, der viel über seine Arbeit sprach. Meist erzählte er wirklich nur ganz grob, was er den Tag über getan hatte. Seit die Firma in Schwierigkeiten steckte, traute sich weder Tai noch Kari ihn näher darauf anzusprechen, weil er meist doch sehr wütend wurde. Auch seine Mutter hatte es bereits aufgegeben mit ihm über die Arbeit sprechen zu wollen. Es war das leidige Thema, dass seine Familie auf Schritt und Tritt verfolgte. Es war wie ein dunkler Schatten, der sich über sie legte und ihnen das Licht am Ende des Tunnels verwehrte. Er konnte daher die Besorgnis seiner Schwester gut nachvollziehen, auch wenn er sich um sie am meisten sorgte. Ihm war aufgefallen, dass sie ihm oftmals eine fröhliche Miene präsentierte, obwohl ihr zum Lachen gar nicht zu Mute war. Auch vor ihren Freunden spielte sie dieses gefährliche Spiel perfekt, da er sich nicht vorstellen konnte, dass sie sich jemandem anvertraute. Auch er hielt den Mund, da er sich nicht die Blöße geben wollte. Zuzugeben, dass der eigene Vater die Familie nicht mehr ernähren konnte, erfüllte ihn mit Scham, auch wenn er wusste, dass es nicht die Schuld seines Vaters war. Doch die Gesellschaft legte ihnen Regel auf, die sie klamm und heimlich befolgten, ohne es wirklich wahrzunehmen. Es ging nicht um die Ursache der Schuld. Es ging um die reinen Fakten, die ihm immer öfters bewusst werden ließen, wie aussichtlos seine Situation doch war. Dass sein Vater kurz davor war seinen Job zu verlieren und sie in eine ungewisse Zukunft steuerten. Alles hing an einem seidenen Faden, der zu zerreißen drohte. _ Ende der Woche war es schließlich soweit. Die langersehnte und lebenswichtige Präsentation stand an, was nicht nur bei seinem Vater ein mulmiges Gefühl am Frühstückstisch hinterließ. Auch Taichi hatte Schwierigkeiten sich auf sein Essen zu konzentrieren, da sich die Appetitlosigkeit seines Vaters auf ihn übertrug. Nachdem er sein Tamagoyaki kaum angerührt hatte, machte er sich bereits auf den Weg zur Arbeit, während Taichi ebenfalls pünktlich das Haus verließ, um am morgendlichen Training teilzunehmen. Doch seine Konzentration hielt sich in Grenzen. Er vermasselte die einfachsten Pässe, schoss gegen den Pfosten des Tors und verlor durch seine ständige Anspannung schnell an Kondition. Völlig außer Puste stand er mitten auf dem Platz, ging in die Knie und atmete schwerfällig. Seine Lunge brannte als er versuchte mit seinen Teamkollegen mitzuhalten und all seine Zweifel und Ängste zu verdrängen. Doch auch er hatte diese Nacht kaum ein Auge zu bekommen, wälzte sich unruhig hin und her, starrte ständig auf seine Wecker, der ihm die bereits vergangenen Stunden anzeigte, in denen er wach lag. Seine müden Knochen bewegten sich daher nur sehr langsam über den Platz und zeigten ihm, dass er seinen Schlaf benötigte. Nach einer Stunde intensivem Training, das ihm doppelt so lange vorkam, ließ er sich erschöpft auf einer Bank nieder und griff sofort nach seiner Wasserflasche, um seine Kehle zu erfrischen. „Also wirklich Tai, das war heute ja mal nichts“, kommentierte Herr Ichinose, der seinen Trainingsplan in seine Tasche packte und ihn mit einem strengen Blick strafte. „Ich weiß…es tut mir…“ „Du brauchst dich bei mir nicht zu entschuldigen, aber dir sollte klar sein, dass du so das Stipendium nicht bekommen wirst“, erwiderte er streng und schulterte seine Tasche. „Du solltest dich wirklich mehr anstrengen. Ich habe dir gesagt, dass es kein Zuckerschlecken wird.“ Betroffen senkte Taichi den Kopf und sah nur aus dem Augenwinkel heraus, wie sich sein Trainer langsam von ihm entfernte. Die pure Hilflosigkeit stieg in ihm auf, da er sich in die Ecke gedrängt fühlte und nicht wirklich wusste, wie er all dem nur Stand halten sollte. Er war sehr widerstandsfähig, aber mittlerweile stieß er immer wieder an seine körperlichen Grenzen, die im zeigten, dass er sich auf dem falschen Weg befand. Doch es gab kein Weg zurück. Der steinige Pfad des Erfolgs lag vor ihm, schien unbezwingbar, aber dennoch wollte er nicht einfach so aufgeben. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, sein Ziel zu erreichen. Dieses verdammte Sportstipendium zu bekommen, das all seine Probleme auf einmal lösen könnte. Niedergeschlagen und enttäuscht über sich selbst, ging er langsam zu den Umkleidekabinen. Seine Teammitglieder waren bereits umgezogen und stiegen in ihre Schuluniformen, während er sich das verschwitzte Trikot über den Kopf zog und lässig über seine Schulter warf. Er ging zielstrebig zu seinem Spint, öffnete ihn geschickt und warf das Trikot achtlos in seine Sporttasche, die er darin eingeschlossen hatte. Ausdrucklos kramte er nach seinem Duschgel und schnappte sich das kratzige Handtuch, dass er sich eingepackt hatte. Danach verschwand er direkt unter die Dusche, die er benötigte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er stellte das Wasser an, das natürlich eiskalt war und ihn zusammenfahren ließ. Murrend regulierte er die Temperatur, die sich langsam veränderte. Er hob den Kopf an, ließ das lauwarme Wasser über sich prasseln und fuhr sich mit der flachen Hand über sein müdes Gesicht, bevor er sich zu seinem Duschgel hinunterbeugte und es auf seinen Handflächen großzügig verteilte. Es schäumte stark als er sich damit einrieb und seine schmerzenden Muskeln zu massieren begann. Ein leises Stöhnen überkam ihn als er von seinen Unterschenkeln weiter nach oben wanderte und seine verkrampfte Muskulatur mit flüssigen und kräftigen Bewegungen lockerte. Als er damit fertig war, schnappte er sich sein Duschgel erneut, dass auch als Shampoo diente. Wieder gab er sich einen walnussgroßen Klecks auf die Hand, verrieb es bis es aufschäumte, um es dann auf seine wilde Mähne zu geben. Mit seinen Fingern verteilte er es auf seiner Kopfhaut und massierte das Shampoo wohltuend ein, während der Schaum sich langsam löste und sich in der Dusche ansammelte. Er genoss den Moment der Ruhe in vollen Zügen, entspannte sich, während er mit gleichmäßigen Bewegungen über seine Kopfhaut und nassen Haar strich. Als der Schaum verschwunden war und das Wasser klar wurde, stellte er die Dusche ab und griff nach seinem Handtuch, dass er in der Nähe platzierte hatte, damit es nicht nass wurde. Er rubbelte sich kurz über seine feuchten Haare und Körperstellen als er das kratzige Handtuch um seine Hüften schlang und aus der Dusche stieg. _ Völlig erschöpft von dem langen Schultag kam Taichi zuhause an. Schwerfällig stieg er die Treppen zur Wohnung hinauf, balancierte seine Schul-und Sporttasche geschickt mit den Fingern als an der Tür ankam und nach seinem Schlüssel kramte. Er ertastete den kühlen Gegenstand und zog ihn mit zwei Fingern hervor. Gähnend steckte er ihn ins Schloss und drehte ihn zweimal herum als sich die Tür langsam öffnete. Mit dem Fuß stieß er sie etwas unsanft auf, zog den Schlüssel ab und trat ein. Die Tür schlug augenblicklich zu, da er keine Hand frei hatte, doch das machte ihm reichlich wenig aus. Er schlüpfte nur aus seinen Schuhen, stellte seine Taschen im Flur ab und ging in den großen Wohnraum als er seinen Vater schon vor dem Fernseher sitzen sah. Er hatte eine Bierflasche in der rechten Hand und starrte ausdrucklos in das flimmernde Bild, dass ein Basketballspiel zeigte. Langsam schritt Tai auf ihn zu, vergrub seine Hände in der Hosentasche und spürte wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Er hatte noch nicht mal mitbekommen, dass Taichi wieder da war, doch er erkannte schnell, dass sich die Bierflaschen neben ihm stapelten. Fassungslos entglitten ihm seine Gesichtszüge als er ungläubig auf den kleinen Glastisch starrte und dort ganze fünf leere Flaschen vorfand. Die Sechste immer noch in seiner Hand. Eine unbändige Wut kroch seinen Hals hinauf als er sah wie sein Vater ansetzte und einen großzügigen Schluck zu sich nahm. „Papa?“, ertönte seine bebende Stimme als sein Vater einen halbherzigen Blick zu ihm wagte. „Du bisch jah schun ihr“, lallte er und Tai wurde klar, dass er völlig betrunken war. Wahrscheinlich war Bier nicht das einzige gewesen, dass er getrunken hatte und Taichi konnte sich denken, was dies zu bedeuten hatte. „Die Präsentation ist wohl nicht so gut gelaufen“, murmelte er, nahm seine Hände aus der Hosentasche und ballte sie zu Fäusten. Er hatte doch schon so lange nicht mehr so viel getrunken gehabt…wieso, wieso tat er ihm nur sowas an? Er konnte sich doch denken, dass das all das nur schlimmer machte… „Dat Konzept is‘ durchgefollen. Dieser Arsch…e-er…es war nisch kreativ genuk“, antwortete er mit schwerer Zunge als er voller Elan die Bierflasche in einem Zug leerte. „Aber du hast doch so lange daran gesessen! Wie kann das nur sein?“, hakte Taichi aufgebracht nach, da er sich nicht vorstellen konnte, dass der erneute Rettungsversuch schiefgelaufen war. „Is‘ halt so“, erwiderte er schulterzuckend und wirkte ein wenig gleichgültig auf ihn. „Du kannst das doch nicht so hinnehmen! Dann müsst ihr euch eben einen anderen Partner suchen.“ Ein Grinsen schob sich plötzlich auf das Gesicht seines Vaters, während er sich vorsichtig von der Couch hochdrückte und wankend auf Taichi zukam. „Es is‘ vorbei! Die Firma is‘ am Ende!“, erwiderte er mit rauchiger Stimme, als sein fragwürdiges Lächeln verblasste und durch die schmerzende Gewissheit ersetzt wurde. „Isch hab‘ versogt.“ Schwankend ging er an Taichi vorbei, der völlig perplex stehen blieb. Es war vorbei. Die Firma würde bankrottgehen und weder sein Vater, noch er konnten das verhindern. Wie betäubt drehte er sich seinem Vater wieder zu, der zum Flur geschlichen war und Anstalten machte seine Schuhe anzuziehen als bei Taichi sämtliche Alarmglocken läuteten. Er wollte doch nicht…nein, das konnte doch nicht sein ernst sein?! „Wo willst du hin?“, hinterfragte er mit einem scharfen Unterton und steuerte mit schnellen Schritten auf ihn zu. „Isch will mir nosch ein bissche‘ Biere besorge‘!“, meinte er sorglos als er in seine Schuhe geschlüpft war. „Das ist jetzt nicht dein Ernst! Du hast genug getrunken! Merkst du nicht, dass du lallst und sogar Orientierungsschwierigkeiten hast?“, wollte er ihm vor Augen führen als sich der Gesichtsausdruck seines Vaters verfinsterte. „Isch bin ald genuk, Taischi! Isch brauch‘ keine‘ Aufpasser“, brüllte er in einem aufgebrachten Tonfall, sodass Taichi froh war, das weder seine Schwester noch seine Mutter zuhause waren. Er musste ihn dringend aufhalten, bevor er noch irgendwelche Dummheiten beging, die er hinterher sicher bereuen würde. „Du bleibst hier! Hör‘ gefälligst auf dein Hirn und unser Geld wegzusaufen!“, brachte er hervor als er den Zorn in den Augen seines Vaters sah und plötzlich seine Hände an seinem Kragen spürte. „So redest du nischt noch mal mit mir, hascht du verstanden Taischi?“, er fletschte die Zähne und sein alkoholgetränkter Atem schlug ihm entgegen. Seine Augen waren gefährlich geweitet, so wie er es bei ihm noch nie gesehen hatte. Sein Vater war immer ein sehr ruhiger Mensch gewesen, aber jetzt? Er müsste lügen, wenn er nicht die Angst seinen Rücken hochkriechen spürte. Er durfte ihn nicht weiter provozieren, sonst… „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich!“, versuchte er ihn zu beruhigen, doch er ließ ihn dadurch nicht los, sondern redete sich nur noch mehr in Rage. „Es kann doch nischt wahr sein, dass du mir vorschreibst, was isch zu tun und zu lasse‘ habe! Deine Schwester und du kostet misch genug Geld! Da werde isch mir doch mal ein Sixpack Bier holen könne‘.“ Völlig sprachlos fixierte er ihn und konnte nicht fassen, was er gerade gesagt hatte. Er verglich ihn und Kari mit einem Sixpack Bier?! War das sein ernst? Eine unbändige Wut ersetzte die aufkommende Angst, die er in seinem Rücken bis eben noch gespürt hatte. Er packte die Hände seines Vaters, die immer noch seinen Hemdkragen in Beschlag genommen hatten und drückte dagegen. „Lass‘ mich gefälligst los!“, brüllte er aufgebracht als sich sein ganzer Körper wie unter Hochspannung anfühlte. Er wand sich hin und her, versuchte seinen Vater von sich weg zu drücken, als sich ein unbedachter Satz von seinen Lippen löste. „Du bist ein armseliger, egoistischer Alkoholiker! Kein Wunder, dass zurzeit alles nur schiefläuft“, murmelte er laut genug, damit er es hören konnte. Taichis Augen begannen zu brennen als er diese hässlichen Worte aussprach und in das Gesicht jenes Mannes blickte, zu dem er immer aufgesehen hatte. Unvermittelt spürte er einen starken Druck, verlor das Gleichgewicht und schien alles nur noch in Zeitlupe wahrzunehmen. Ein starker Schmerz fuhr durch seine Schulter, sodass er einen leisen Schrei ausstieß und zu Boden glitt. Das wutverzerrte Gesicht seines Vaters verwandelte sich in blankes Entsetzen als Taichi benommen auf dem Boden lag und regungslos sitzen blieb. Stille kehrte ein als Tai schmerzerfüllt mit der Hand zu seiner Schulter wandern wollte. Schon die kleinste Bewegung ließ ihn erstarren und fest die Lippen aufeinanderpressen, damit er keinen lauten Schrei von sich gab. Er blinzelte zu dem robusten Garderobeschrank, dessen Ecke spitz hervorstach. Er atmete tief ein, hielt jedoch sofort die Luft an als er seine Schulter nur leicht bewegte. Der stechende Schmerz fuhr durch seinen Körper und führte ihm vor Augen, was sein Vater gerade getan hatte. Fassungslos rang er nach Luft, griff schützend nach seiner verletzten Schulter und versuchte das Geschehene zu leugnen. Sich einzureden, es wäre nicht passiert. „Oh mein Gott…“, kam es von seinem Vater, der ebenfalls nicht fassen konnte, was er getan hatte. Sofort ging er auf die Knie, wankte hin und her und wollte sich gerade über Taichi beugen als er ihn reflexartig von sich stieß. „Bleib ja weg“, wimmerte er und spürte wie sich die salzigen Tränen in seinen Augen sammelten und zu brennen begannen. Er blinzelte heftig, da er sich nicht die Blöße geben wollte vor seinem Vater zu weinen. Dieser saß ihm direkt gegenüber, flüsterte wie ein Mantra eine ewige Entschuldigung vor sich hin, die Taichi jedoch gar nicht wahrnahm. Er hatte ihn gegen den Schrank geschubst. Sein eigner Vater hatte gegen ihn die Hand erhoben, nur, weil er etwas sagte, was er nicht hören wollte. Die Wucht dieser Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht und er hatte das Gefühl ohnmächtig zu werden. Eine klare Grenze wurde überschritten und hinterließ bei ihm eine tiefe Wunde, die so schnell nicht mehr heilen würde. Sein Vertrauen war endgültig weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)