The Splintered Truth von Meilenstein ================================================================================ Kapitel 18: Orange II --- Projekt Zerfall ----------------------------------------- [Walerij] Die Sonne strahlte ihm direkt auf das Gesicht. Er hoffte, dass sie ihm von den Kopfschmerzen befreite. Sein Kopf summte jedoch immer noch. Eine leichte Übelkeit brachte ihn zum Seufzen. Als er seine Augen öffnete, wollte er sie gleich wieder schließen. ‚Ich werde es nie lernen. Aber na ja…‘ Walerij stand von der Parkbank auf und er ließ seine Hände knacken. Für einen Moment verging dabei der Kopfschmerz, jedoch kam er schnell wieder. Plötzlich vibrierte etwas in seiner Tasche. Schnell zog Walerij sein Smartphone hervor. Er schob den digitalen Hörer-Button nach rechts. „Jaaaa? Skrolavsky am Apparat?“ Für einen Moment herrschte Stille, nur der alltägliche Lärm der Stadt Astera war in der näheren Umgebung zu hören. Zurzeit befand nur er sich in diesem Teil des Stadtparks. Gelegentlich fuhr ein Radfahrer an ihm vorbei. „Ah ja… hallo…“ eine ältere männliche Stimme am Telefon erklang. „Hier spricht Professor Kehrstein von der Magic Guild Akademie in Nordzellerstein. Sie hatten meine Sekretärin wegen einer Informationsanfrage in Bezug auf die Sommerinseln kontaktiert. Ich melde mich bezüglich dieses Themas.“ Etwas unbeholfen suchte Walerij in seinen Jackentaschen nach seinem Notizblock. Er tippte auf den Lautsprecher, legte das Smartphone auf einen nahegelegenen einsamen steinernen Pfosten, dann zog Walerij einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche. „Sind sie noch dran, Herr Skroplabskiee?“ „Ja… ja, ich bin am Apparat.“ Walerij pausierte kurz. „Das ist wunderbar, dass Sie sich melden, Herr Professor. Meine Anfrage war bezüglich Ranger Island. Die Thematik war Territoriums Ansprüche bzw. die derzeitigen Besitzerrechte der Insel.“ Mehrere Sekunden wartete Walerij gespannt auf die Antwort des Professors. „Hören Sie Herr Skroblawskieee. Ich bin mir bewusst, dass Sie sicherlich auf die derzeitige Problematik der Zugehörigkeit der Insel ansprechen wollen. Die Stadtverwaltung von Orange kam auch schon auf mich zu. Ich bin zwar befugt gerichtliche Gutachten in Bezug auf Territoriums Ansprüche zu erstellen und entsprechende Stellen zu beraten, aber bei Ranger Island habe ich mich bereits öffentlich eindeutig dazu geäußert dies nicht zu tun. Die Faktenlage zur Insel sind nicht eindeutig für mich. Die Faktenlage spricht m Moment, dass die Insel zu 100% im privaten Besitz befindet von Mister Sozowanik ist. Also sollten Sie…“ „Also doch. Jedoch wird zurzeit öffentlich behauptet, dass die Stadtverwaltung Orange sich weiterhin mit diesem Herrn streitet. Angeblich hätte die Stadt niemals auf der Insel existieren dürfen, ist das korrekt, Herr Kehrstein?“ „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich ausreden lassen, sonst können wir dieses Telefonat gleich beenden.“ Ein kurzes Räuspern des Echauffierens war zu hören, dann erklang die ältere Stimme erneut: „Ja…, dies ist korrekt, Herr Skrovvlappskiee. Zu alle anderen Behauptungen existieren bis jetzt keine stichhaltigen Beweise. Die 100% Theorie ist am wahrscheinlisten. Jedoch um das schnell zu klären wäre eine Aussprache mit Herr Sozowanik notwendig, doch eine Kontaktaufnahme mit den Herren von der Insel ist zäh und sinnlos. Es ist nur eine Zeitverschwendung. Was aber auf jeden Fall feststeht, dass der Anspruch der Stadt Orange nicht rechtens ist und jederzeit geräumt werden darf.“ Walerij wartete ein paar Sekunden ab, bevor er antwortete: „Ich verstehe, aber wieso ist dann dies so stark in der Öffentlichkeit vertreten – so auch hier in Festa, da wird das doch offen behauptet – also, dass die Insel nur zu einem gewissen prozentualen Anteil diesem Mister Sozovanik… Sozorvanik… ähm diesem Mr. S gehört und dass die Einmischungen seitens dieses Mannes in der Stadt Orange nicht zulässig wären?“ „Hören Sie mir eigentlich zu, Herr Skrowlanskiee, denn dann hätten Sie bereits verstanden, dass diese Behauptungen von seitens Orange nicht bewiesen werden. Die meisten Medien senden diese Behauptungen einfach weiter und das wird dann von der Öffentlichkeit nicht einmal hinterfragt. In der Öffentlichkeit hat der Recht, der lauter schreit. Es gelten aber Fakten und diese liegen im Moment nicht auf Seiten von Orange. Ich hoffe Sie arbeiten in ihrem Beruf nicht so schlampig, Herr Skrovvlandskiee.“ Walerij seufzte leise, aber wieder wartete er einen Moment ab, bevor er antwortete. „Herr Professor Kehrstein, ich habe auch eine Frage bezüglich des Verschwindens von Personen auf der Insel. Es scheint der Fall zu sein, dass dies nicht…“ „Das ist nicht mein Fachgebiet, Herr Skromlansskiee. Dies hat nichts mit der Tatsache zu tun, wer den Anspruch auf der Insel hat. Bitte unterlassen Sie solche Fragen zu stellen, diese werde ich Ihnen nicht beantworten.“ ‚So leicht wird der mich nicht los, dieser arrogante Stiefel.‘ „Verstehe, Herr Professor Kehrstein. Dann formuliere ich meine Frage entsprechend um. Ist der Besitzer der Insel – also in diesem Fall wohl dieser Mr. S - in der Verantwortung dieses Mysterium der verschwundenen Leute aufzuklären? Also hat er eine Bringschuld? Meine Frage bezieht sich darauf, dass bisher nichts unternommen wird gegen diese erhöhte Anzahl an verschwindenden Leuten. Finden Sie das nicht auch, dass das näher untersucht werden sollte?“ „Versuchen Sie mich nicht in eine Falle zu locken, Herr Skroolagskie. Diese Fragen sind auch außerhalb meines Fachgebiets, aber ich gebe Ihnen in einem Punkt eine Antwort. Rechtlich gesehen ist das der Fall, zumindest was international vereinbart wurde. Ich sage Ihnen aber auch - wie jedem anderen Journalisten, der mich deswegen belästigt – dieses Mysterium wird bereits von mehreren Seiten untersucht und ich werde Ihnen nicht mehr bekannt geben, was öffentlich bekannt ist. Alles andere was Sie darüber herausfinden wollen, das müssen Sie durch andere Quellen erfahren. Fragen Sie zum Beispiel Historiker unserer Akademie. Wer die Vergangenheit der Insel kennt, der wird sich denken können was womöglich im Spiel ist.“ Der Professor pausierte kurz und er schien sich kurz zu räuspern: „Gehen Sie einfach in irgendeine Bibliothek und schlagen Sie die Geschichte der Sommerinseln nach, dort werden Sie fündig. Rufen Sie mich deswegen nicht noch einmal an. Ich habe keine Zeit Vorlesungen über das Telefon zu halten. Besuchen Sie den Kurs der Akademie oder schreiben Sie sich ein, wenn Sie sich fortbilden möchten. Wäre das dann alles, Herr Skroolamskieem?“ Walerij seufzte erneut. „Ja…, vielen Dank für Ihre Auskunft, Herr…“ Walerij stoppte, weil er bemerkte, dass der Anruf schon längst beendet war. ‚Na ja…, besser als nichts.‘ Walerij betrachtete seinen Notizblock, während er ein paar Stichworte aus dem Gespräch notierte. ‚Ich weiß jetzt nur, dass dieser Mr. S in der Bringschuld ist das Verschwinden aufzuklären und, dass die Stadt Orange vermutlich in irgendeinem Verhältnis zu diesem Typen steht, sonst wäre sie schon längst weg. Dieser juristische Quatsch, der ab und zu von der Stadt behauptet wird, ist also nur Fassade. Das würde auch das Treffen erklären zwischen den beiden Parteien. Ich schätze mal die Stadt bezahlt den Typen und dieser nutzt die Stadt als Einnahmequelle, aber warum dann dieser öffentliche Quatsch mit dem Besitzanspruch? Würden beide Seiten nicht eher davon profitieren, wenn in der Hinsicht Funkstille wäre? Vielleicht bröckelt schon seit ein paar Jahren diese Zusammenarbeit oder ist dieser Rechtstreit genau die Quelle, die Leute wie uns anziehen soll?‘ Walerij dachte mehr über das Gesagte nach, während er weitere Notizen auf seinem Block machte. Bevor er jedoch weiter darüber nachdachte, fing sein Kopf wieder an, stärker zu brummen. ‚So kann ich mich nicht wirklich konzentrieren.‘ Angestrengt blickte er wieder auf seinen Block. ‚Bevor die Gedanken verblassen. Die Geschichte von den Sommerinseln ist mir ein bisschen bekannt, aber das hilft mir jetzt auch nur bedingt. Auf eine Vorlesung von diesem Zausel habe ich aber auch keine große Lust.‘ Walerij ließ genervt sein Nacken knacken, in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen verschwanden. ‚Immer diese arroganten Magier. Fühlen sich was besonders. Besuchen sie den Kurs, ja klar.‘ Nachdenklich tippte er mit dem Kugelschreiber gegen den steinernen Pfosten. ‚Orange war früher ein Lagerdepot eines Handelsmannes, danach wurde es nach dessen Verschwinden zu einer Stadt. Die Stadt hielt sich irgendwie mit Tourismus über Wasser bis jetzt. Aber das glaube ich nicht. Die Stadt muss noch von etwas… anderes am Leben erhalten worden sein. So viel Geld kann nicht durch den Tourismus reinkommen. Die Preise dort waren fast schon normal teuer.‘ Walerij setzte seinen Kugelschreiber neu auf dem Notizblock an. Er fügte neue Sätze hinzu: ‚Ich kann davon ausgehen, dass dieser Mr. S die Insel irgendwann erworben hat bzw. evtl. von einem Vorfahren oder von einer fremden Person. Eine Person hatte es zumindest vom Handelskaufmann irgendwie erworben oder der Handelskaufmann war ein Vorfahre von Mr. S. Dieser Mr. S scheint aber schon etwas länger auf der Insel eine Rolle zu spielen. Sein Alter ist öffentlich nicht bekannt, aber er sah auch nicht besonders alt aus – insofern er das war. Das Verschwinden der Leute hat vor ein paar Jahren erst begonnen, zumindest in dieser leicht auffälligen Höhe. In diesem Fall kann ich davon ausgehen, dass er wahrscheinlich dafür verantwortlich ist und nicht der Bringschuld nachkommen wird.‘ Walerij zog einen dicken Strich unter seinem letzten Satz. ‚Es kann sogar sein, dass die Stadt in der Absprache mit Mr. S etwas für ihn tut und zwar genau das Verschwinden der Leute. Wäre das aber der Fall, dann hätte sicherlich irgendeine Regierung schon reagiert auf diese erhöhte Anzahl von verschwindenden Touristen, aber das wird öffentlich wie ein Gerücht behandelt. Was ist der Grund? Es kann ja nicht sein, dass Mr. S in Ruhe dort leben kann und Leute verschwinden lässt. Was nutzt er, dass der Rest der Welt sich anscheinend nicht um die Sache kümmert? Was hat er in seinem Besitz? Was macht ihn so besonders? Was ist auf dieser verdammten Insel nur los?‘ Ein Schauder ging Walerij über den Rücken. Er drehte sich um, aber niemand war in näherer Umgebung zu sehen. Sein Kopf begann wieder stärker zu pochen. Es wurde langsam Zeit, dass er einer Apotheke einen Besuch abstattete. Walerij verbrachte den Nachmittag in der Bar ‚Zur Wassereule‘. Eine eher schlichte Kaffeebar an der Hauptstraße von Astera. Die Ströme an Touristen, die hierherkamen, um vom größten Hafen in Festa in die ganze Welt zu fahren, ließen etliche Bars, Lounges oder Kneipen wie Pilze aus dem Boden schießen. Eine Zeitlang war das so extrem, dass der Statthalter von Astera ein Gesetz zur Regelung des Marktes erlassen hatte - trotz der Kritiken zur Einschränkungen der Wettbewerbsfreiheit. Bis heute wurde er dafür von den meisten Bewohnern abgestraft. Dennoch stimmte Walerij zu, dass dieses Gesetz die Vielfalt der Geschäfte belebte. Nicht mehr die ewig gleichen ‚einfachen‘ Geschäfte, die im Moment einen Erfolg eines Vorreiters nachahmten. Jetzt standen allerlei Geschäfte am Straßenrand der Hauptstraße und sie verkauften die wundersamsten Dinge. Auch entdeckte Walerij immer wieder ein Restaurant, dessen Essenskultur von weither stammen musste. Trotz der Vielfalt ging Walerij heute in eine stinknormale Kaffeebar. Der Absturz letzte Nacht peinigte ihn immer noch mit leichten Folgen. Er hatte sich an einen freien Vierertisch ans Fenster gesetzt, abseits vom Eingang, jedoch mit einer guten Sicht auf den Eingangsbereich. Auf einem ledrigen Sofa, das schon ein wenig mitgenommen aussah, hatte er sich niedergelassen. Die etwas mürrische Kassiererin forderte ihn auf seinen Kaffee selbst abzuholen. Nachdem Walerij sich zur Kasse schleppte und sich seinen großen Becher Kaffee genommen hatte, setzte er sich wieder hin und er legte seinen Kopf für einen Moment in den Nacken. Wieder strahlte ihm Sonne ins Gesicht. Dieses Mal jedoch durch die großen Fenster, die einen guten Blick auf die Straße ermöglichten. Wenn die Sonne durch den leicht wolkigen Himmel strahlte, dann waren leichte Schlieren am Fenster zu erkennen. Zudem war der Boden ein wenig verdreckt durch die Schuhe der Kunden und das Personal hinter Theke zeigte sich heute nicht von seiner besten Seite. Trotz dieser kleineren Unannehmlichkeiten fand Walerij den Kaffee sehr genussvoll. Er hatte seinen Block vor sich gelegt, den Kugelschreiber daneben und auf einem neuen Blatt Papier die wichtigsten Informationen zu Ranger Island zusammengetragen. Fein säuberlich hatte er die wichtigsten Begriffe oben rechts sortiert. Er nummerierte diese von eins bis zehn. Immer wieder schaute Walerij auf und er blickte die verschiedensten Gäste an, wenn er in seinen Gedanken nicht weiterkam. Nach einigen Minuten hatte er seine Aufschriebe pausiert, denn da war ihm etwas Anderes in der Bar aufgefallen. Er hatte einen Rempler einer blondhaarigen Dame mitbekommen, die in auffälligen schönen Kleidern in dieser schlichten Bar einen normalen Kaffee getrunken hatte. Ihr Augenfang waren die ungewöhnlichen glänzenden dunkelgrünen Strähnen in ihrem Haar gewesen – geschmückt mit goldenen Haarklammern. Zudem hatte sie sich plötzlich in Richtung Ausgang bewegt, als eine weitere elegant gekleidete Dame in Schwarzweiß diese Bar betrat. Beim Hinausgehen hatte die blondhaarige Frau den neuen Gast angerempelt und sich daraufhin mit wenigen Worten entschuldigt. Im Anschluss war sie gegangen. Die angerempelte Dame hatte nur genickt und sie ging anschließend zur Theke. Walerij schmunzelte. ‚Nicht gerade subtil. Die beiden Damen haben sich sicherlich gekannt, wenn sie ihr – schon so – etwas heimlich in die Hand drückt… na ja. Was wohl die Geschichte dazu ist? Ein heimlicher Deal, vielleicht sogar Drogenhandel? Ach… ich darf mich nicht ablenken…‘ „Euch Spanner gibt es jetzt hier auch in der Bar? Habt ihr keine halboffenen Strandumkleiden mehr?“ Erklang plötzlich eine tiefere weibliche Stimme und eine junge Frau setzte sich ungefragt neben Walerij. Sie brachte ihn indirekt dazu weiter zum Fenster zu rücken, als sie sich schnell und brachial neben ihm niedergelassen hatte. Vom Kleidungsstil ähnlich wie er mit T-Shirt und leichter Wolljacke sowie einer Jeans. Sie trug eine Vielzahl Armbänder am linken Handgelenk und als sie sprach, erkannte Walerij ihr Piercing auf der Zunge sowie ihre pechschwarzen Lippen. Sie legte ihre Hände gestreckt auf die Sitzlehnen hinter ihr, sodass ihre Hand sich fast hinter Walerij schob. Ein wenig verdutzt sowie mit eingeschüchterten Blick, beobachtete er die Fremde einen Moment lang. Seine rechte Hand umklammerte fester seinen Kaffee und er lehnte sich ein wenig vor. ‚Sehr mutig von der Dame sich hier einfach herzusetzen. Was ist ihr Ziel? Ein spontanes Date wird das schon nicht sein.‘ Ihr Blick wich von ihm ab und er fiel auf den Notizblick vor ihm. Sie schaute plötzlich erstaunt auf, dann griff sie mit ihrer linken Hand nach dem Block, aber Walerij ließ seine linke Hand auf den Notizblock fallen und er zog ihn an sich. „Das ist nichts für…“ „Ja ja… und dann noch FREIZÜGIGE Zeichnungen hier offen in der Bar machen. Wirklich unverschämt von euch Spannern.“ „Bitte was?“ Walerij schreckte kurz zurück. Ein Teil der Kunden im Raum warfen Walerij einen entsetzten Blick zu, bevor sie sich abwandten und anfingen zu tuscheln. ‚Sie erpresst mich! Was will sie…, die Notizen? Von wem wurde sie geschickt? FNN?‘ „Ach… jetzt sei nicht so verkrampft. Zeig mir einfach, dass du nicht so etwas Schändliches machst.“ Walerij ließ langsam seine Deckung fallen und die Frau zog ihm den Notizblock aus der Hand. Seine Hände verkrampften sich im Anschluss. „Ah doch nichts Unanständiges, sah nur so aus, aber sehr interessant was ich hier so lese. Ranger Guild. Was hast du denn zu tun mit Linda’chen? Ein heimlicher Fan? Ich kann verstehen, wenn ihre Art Feuer im Herzen entfacht.“ Verwirrt blickte Walerij auf seinen Notizblock, den sie wieder auf den Tisch vor sich hingelegt hatte. ‚Was will sie von mir? Sie meint jetzt diese Gildenmeisterin von der Insel? Scheint die sich etwa bewusst hierher gesetzt zu haben?‘ Skeptisch begutachtete die junge Frau. ‚Ich darf mir die Butte nicht so vom Brot schmieren lassen.‘ „Du kennst also…“ seine neue Nachbarin wandte sich von ihm ab und sie winkte einer Person im Raum zu. Es war die elegante Dame von zuvor, die angerempelt wurde. Sie schien die beiden beobachtet zu haben. „Lirana, hier! Ich habe einen Spanner gefunden!“ Noch mehr der Anwesenden – inklusive der Kassiererin – blickten Walerij für einen Moment nur wenig wohlwollend an. Walerij vermied weiter durch den Raum zu schauen. ‚Die bringt mich nur in Schwierigkeiten!‘ Die Frau, die angesprochen wurde, stand auf und näherte sich dem Vierertisch. Im Gegensatz zu der sehr extrovertierten und ausstrahlungsstraken Dame am Tisch, war sie femininer gekleidet. Ein weißer offener Mantel, darunter eine schlichte Bluse. Dies in Kombination mit einem schwarzen Rock, der ihr bis zu den Knien reichte. Sie setzte sich langsam und mit Bedacht an den Tisch. Sie blickte im Anschluss ihr Gegenüber an. Sie wirkte ein wenig unzufrieden und beim Reden erhob sie leicht ihr Haupt. „Sein Blick wirkt eher eingeschüchtert als spannend, meine Liebe. Du solltest ihn nicht so quälen. Mehr als nur Worte erkenne ich dort nicht. Machst du dir wieder einen Spaß? Das wäre heute nicht so praktisch und du solltest dir das dringend abgewöhnen.“ Als sie kurz zu Walerij schaute, erschauderte er kurz. Ihre Worte klangen freundlich, aber ihre Blicke bestraften ihn. ‚Was ist denn das für eine Situation hier? Ich komme hier nicht einmal weg.‘ „Ähm… normalerweise werde ich wegen meinem Beruf häufig von Männern belagert, also was verschafft mir diese Ehre von so schönen Freuen umzingelt zu sein? Habe ich irgendwo ein bisschen zu tief recherchiert?“ Es erschallte kurz Gelächter der extrovertierten Dame neben ihm. Selbstsicher grinsend schaute sie ihn an. „Ja ja… gleich am Flirten- sehr typisch - aber damit entkommst du uns nicht. Also…“ Sie lehnte sich vor und stützte sich nun auf ihren rechten Arm, den sie auf den Tisch gelegt hatte. Sie beobachtete ihn genau. „Warum hast du meine Begleiterin so konzentriert angegafft, mehr angegafft als es die Männer sonst tun und… warum steht da so einiges Interessantes auf dem Block? Und… bist du ein heimlicher Fan von Linda? Würde ich dir nicht einmal übelnehmen.“ Walerij zog für einen Moment seine Augenbrauen nach oben. Sein Herz klopfte ungewöhnlich schneller und er schluckte nervös. Seine rechte Hand umklammerte wieder den inzwischen leicht abgekühlten Kaffeebecher. ‚Wird schwer hier vernünftig voranzukommen. Die scheinen es nicht so mit Männer zu haben.‘ „Nun…, dieser Block…“ „Warum hast du da Linda unterstrichen? Warum ist der Strich so fett und warum steht da eine 8 darüber? Etwa ihre Einordnung in deiner Skala und dann nur eine 8? Eine 10 mindestens… komm schon, meinst du nicht?“ Während Walerij von den Augen seiner Sitznachbarin fast schon hypnotisiert wurde, bemerkte er erst zu spät, dass sein Block bereits unter Beschlag genommen war. Die andere Dame hatte sich inzwischen den Block angeeignet und sie blätterte ihn in einem schnelleren Lesetempo durch die Seiten. Sie verzog dabei keine Miene. ‚Verflucht! Wieso ausgerechnet passiert das mir? Allein schon diese Situation hier wäre eine Story wert, wenn sich das… irgendwie… nicht so absurd anfühlen würde.‘ Seine Nervosität nahm zu. Walerij wandte sich der schweigsamen Frau zu: „Dieser Block…, der ist eigentlich meiner und ich bin jetzt nicht so ein Fan davon, wenn…“ „Hier spielt die Musik! Ich stelle die Fragen, also antwortest du m..i..r!“ Die extrovertierte Frau lehnte sich immer weiter nach vorne, sodass sie den Blick auf ihre Begleiterin behinderte und das Walerij noch weiter zurückrutschen musste. „Scheint gegen unseren guten Bekannten zu arbeiten, Mira.“ Lirana – so wie sie von ihrer scheinbaren Begleitung genannt wurde – ließ den Block auf den Tisch fallen, daraufhin rieb sie ihre Hände am Sitzpolster des Sofas ab. „Mira, du hast ein erstaunliches Talent Zufälle heraufzubeschwören.“ Fügte sie anschließend hinzu. Mira schaute ihre Begleiterin im Anschluss ein wenig enttäuscht an. „Warum klingst du jetzt so negativ, während du so was Positives sagst?“ Ihre Lippen verzogen sich nach unten. „Ich dachte, dass das gut wäre! Ich meine wir haben jetzt hier ein Tisch und wir haben einen dubiosen Typen, der vielleicht mehr über die Insel weiß. Ist doch perfekt geeignet für Rossya. Außerdem… der Typ kommt hier nicht weg, also ein perfektes Opfer für sie.“ ‚Von was zum Teufel reden die? Ist das hier so ein Ding… wo ich nachher erpresst werde?‘ „Wenn sie nachher sagt, dass er o.k ist, dann ist doch gut. Er scheint ja was zu wissen und wenn er das doch nicht ist, dann nun ja… verfahren wir normal wie immer mit solchen Spannern.“ „Warte mal was? Also bitte… wir können ja vernünftig über die Thematik reden. Ihr wollt Informationen von mir - wie ich sehe, aber ganz so gratis mache ich das nicht. Es ist schließlich meine Arbeit und ich brauche auch…“ „Tssss, du darfst gleich reden.“ Unterbrach Mira, während sie ihm ermahnend senkrecht nach oben ausgestreckt den Zeigefinger entgegenstreckte. Walerij stoppte, während er sein Seufzen unterdrückte. ‚Ha… ja… was mache ich hier eigentlich? Als würde ich irgendetwas erreichen wollen. Aber heiß ist sie schon. Das macht es so viel schwerer sich zu widersetzen.‘ „Ist bestimmt nützlich für uns, aber leider nun mal müssen wir darauf achten mit wem wir darüber reden. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich vertraue ihm nicht und du solltest nicht so unvorsichtig sein.“ Wieder warf Lirana Walerij abwertende Blicke zu. ‚Bei ihr läuft mir nur ein Schauder über den Rücken. Sehr unsympathisch.‘ „Ich bin Journalist und mein Name ist Walerij Skrolavsky. Meine Reputationen sind übrigens gut. Ich arbeite nur für seriöse Quellen und ich veröffentliche keinen Schmutz. Gerne tausche ich Informationen auch außerhalb meiner Tätigkeit, aber es muss sich für mich lohnen. Es ist immerhin meine Arbeit und sie kostet etwas, aber sie ist es wert.“ Walerij sprach energischer, als er es sonst tat. Erwartungsvoll blickte er die beiden Damen an, jedoch schaute keiner der beiden Frauen ihn an. „Ah sie ist da!“ Mira fing erneut an zu winken. Sie schien einer Person zuzuwinken, die im Moment die Bar betrat. Walerijs neugierige Blicke fielen auf den Eingangsbereich der Bar. Eine großgewachsene langhaarige junge Frau mit weißen Haar schaute ernst zum Vierertisch. Etwas in ihrem Ausdruck erinnerte Walerij stark an unschöne vergangene Zeiten. Sie trug einen langen weißen Mantel, stark zugezogen, sodass dieser dennoch ihren Körper betonte. Unter ihrem Haar, glänzte etwas an ihren Ohren. Ihre Hände hatte sie in den Manteltaschen versteckt. Zudem schauten unter ihrem Mantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, schwarze Reiterstiefel hervor. ‚Oh je. Die schaut mich so finster an wie meine alte Mathelehrerin.‘ Ein Schauder über seinen Rücken ereilte ihn. Plötzlich wollte sein Körper nur so schnell wie möglich weg von hier. „Rossya! Hier! Wir haben dir Platz gelassen!“ Mira grinste. Langsam näherte sich die Frau dem Tisch. Mit hochgezogener Augenbraue musterte sie Walerij. Sie schwieg. Lirana rutschte zum Rand und saß nun Walerij gegenüber. „Der da hat womöglich Informationen für uns, aber du solltest ihn mal checken. Ich bin zuversichtlich, dass er etwas für uns hat, aber er könnte auch einfach nur ein Spanner sein.“ „Woher kennt ihr ihn?“ Die neuste Sitznachbarin hatte eine relativ tiefe Stimme für eine Frau. Ein Aspekt mehr, der Walerij glauben ließ, dass sie vielleicht die Reinkarnation seiner Mathelehrerin war. Seine Mathelehrerin war vor ein paar Jahren verstorben, mit stolzen 104 Jahren. Die neue Sitznachbarin zog ihre Hände aus dem Manteltaschen und legte diese übereinander auf den Tisch. Ihr Blick wurde dabei noch ernster. „Ich sah den, wie er Lirana angegafft hatte, da dachte ich, dann schnappe ich mir seinen Tisch… und ihn.“ Walerij meinte wahrzunehmen, dass sich Mira dabei kurz auf die Unterlippe gebissen hatte. „Wieder mal sehr nachlässig von dir.“ Wütend schlug Mira mit beiden Händen flach auf den Tisch, sodass für einen Moment viele Kunden im Raum den Vierertisch anstarrte: „Hey! Bevor du dich wieder beschwerst, kannst du ihn ja mal überprüfen. Er weiß was…, da ist sein Block. Da steht ein Haufen interessantes Zeug drauf. Mein Gespür täuscht mich übrigens auch nie!“ Sie deutete auf den Block vor Rossya. Zugleich - und ohne zu Fragen - packte Miras Gegenüber Walerij Arm. Zu seinem Erstaunen griff die Dame mit ihrem langen Arm so schnell über den Tisch, dass er nicht einmal schnell genug realisierte, was sie vorhatte. Plötzlich befand sich sein linker Arm in ihrem Griff. ‚Was zum…?!‘ Ihr Griff war unangenehm, weil sie mit ihren Fingern sein Handgelenk ein wenig eindrückten. Walerij spürte plötzlich das Gefühl in seinem Körper, dass ihn etwas benebelte, als wäre er wieder so betrunken wie gestern Nacht. Er tat sich schwer konzentriert die Augen offen zu halten. „Kein nennenswerter Widerstand… sehr gut. Dann lass uns das mal beschleunigen. In welcher Beziehung stehst du zu Ranger Island.“ Ein wohliges Gefühl durchstreifte ihn und etwas in ihm erzählte ihm, dass er gerne doch darauf antworten sollte. Es wäre auch kein Problem, wenn er einfach alles erzählte, ohne etwas verschweigen zu müssen. „Also… ich bin aus journalistischen Zwecken dorthin gereist, um vor allem Informationen gegen diesen Mister Sozovanik… Sozorwanik… diesen Typen in der Villa zu bekommen. Wegen ihm ist eine gute Freundin von mir spurlos verschwunden und niemand will was dagegen unternehmen. Niemand traut sich, weil der Typ die ganze Insel besitzt. Die Stadtverwaltung von Orange und dieser Typ hängen zusammen und die Leute die dort verschwinden werden absichtlich verschleiert. Der Typ… nein die ganze verdammte Insel muss aufgehalten werden, denn es kann nicht sein, dass Leute verschwinden und niemand kümmert es. Niemand denkt an die, die es schmerzt, dass jemand verschwindet, den man kennt. Das ist furchtbar. Und ich will verdammt nochmal wissen warum sich noch kein Staat offen darüber ausgesprochen hat! Außerdem wollte mich ein Typ aus dem Rathaus sogar töten, weil ich gelauscht habe. Was auch immer, die…“ „Das reicht…, mehr Informationen sind hier nicht notwendig. Also bisher ist der Typ scheinbar... brauchbar.“ Rossya ließ daraufhin sein Handgelenk los und plötzlich durchströmten Walerij ein Haufen negativer Gefühle, die er nicht vermisst hatte. Zusätzlich begann er sich zu fragen, warum er gerade so redselig gewesen war. „Was hast du mit mir gemacht? Wieso habe ich…“ „Tssss, du hast im Moment Funkstille.“ Unterbrach Mira, während sie ihn wieder so hypnotisierend anstarrte. „Nein, ich…, also…!“ „Rossya hat dich als brauchbar bezeichnet. Das zeigt, dass ich wusste, dass du nicht nur ein Spanner bist. Aber entlassen bist du deswegen noch nicht.“ „Aber…“ „Ja genau, also ruhe. Du darfst nachher wieder plaudern.“ Mira drehte sich daraufhin zu Rossya und zufrieden grinste sie Rossya an: „Also? Ich tu auch meinen Teil, siehst du?“ Rossya schwieg für ein paar Sekunden. Sie blickte kurz zu Walerij, dann zu Mira: „Dennoch sehr unüberlegt von dir.“ Mira schien ein wenig zu schmollen. „Erst einmal klären wir hier nur den weiteren Treffpunkt und dann sehen wir weiter. Hier bereden wir gar nichts. Ich gebe euch einen Ort mit, dort treffen wir uns, klar?“ „Immer also so komplex von dir.“ Mira seufzte. Rossya wandte sich wieder Walerij zu. „Du sagtest journalistische Arbeit? Wie sieht deine Vernetzung mit Kontakten aus?“ Walerij horchte interessant auf: ‚Oh… jetzt wird es interessant. Womöglich komme ich doch noch an die Möglichkeit hier etwas zu verdienen.‘ „Ausgezeichnet, aus mehreren Jahren aktiver Arbeit bei allermöglichen Verlagen, Professoren und mehr. Selbst bis in Rektorat der Magic Guild Akademie habe ich die Kontakte und ich pflege diese.“ „Dann können wir ins Geschäft kommen. Ich gebe dir einen Ort, dort hole ich dich ab. Du bist dann alleine dort. Ach… und ich schätze du kannst dir sicherlich denken um was es hier geht, also hältst du dich solange bedeckt.“ „Aber sicher, ich bin eine zuver…“ Rossya packte wieder seinen Arm und wieder begann das eigenartige Gefühl in seinem Körper. „Was sind deine Gedanken zu dem Geschäft mit uns und Ich will wissen, ob du im Auftrag von irgendwem handelst?“ Wieder entstand der Zwang in ihm ihr alles erzählen zu wollen. „Ich bin interessiert an ein Geschäft, weil ich langsam ein wenig knapp bei Kasse bin. Ich will nicht auf der Straße leben müssen, also greife ich nach dem Strohhalm, der mir geboten wird. Ich bin sicherlich nicht dumm genug, diese Chance zu verschenken. Ich werde allein zu dem genannten Ort kommen und ich arbeite für niemanden.“ Ihr Griff wurde fester: „Vertraust du uns?“ „Ich weiß noch nicht was ich von euch halten soll. Aber das potenzielle Geschäft klingt echt genug für mich, aber vor allem würde ich verstehen was du mit mir machst, dass ich dir alles offenbare. Ich mag Magier nicht so besonders, ich finde sie arrogant.“ „Interessant. Hältst du uns für vertrauenswürdige Personen oder hast du ein Problem damit, dass wir Frauen sind?“ „Ich bin verwirrt, woher diese Frage kommt. Was soll das Geschlecht hier einen Unterschied machen? Ihr wirkt nicht wie Lügner auf mich, aber ihr seid harsch, unfreundlich und lasst mich nicht ausreden. Das mag ich nicht besonders und ich finde das uncharmant. Nicht destotrotz hat das nicht mit euch als Frauen zu tun. Ich bin überzeugt, dass sich hier eine gute Story verbirgt und es mir vielleicht persönlich weiterhilft.“ „Was tust du nach diesem Besuch hier, wenn ich dir sage, dass ein Treffen nicht vor 18 Uhr stattfinden wird?“ Für einen Moment war jede Art von Zweifel wie weggefegt. So einen Mut wir jetzt hatte er noch nie gespürt. Es lag ihm auf der Zunge seine Gedanken zu offenbaren, er hielt das für eine gute Idee. „Ich werde meine Zeit weiterhin in solche Bars verbringen und mir meine Gedanken machen. Ich muss noch ein paar Ungereimtheiten lösen. Alles ist in meinem Block notiert.“ „Letzte Frage. Gibt es Geheimnisse, die du uns sagen musst?“ „Bevor ich zu dem genannten Ort gehe, würde ich die charmante Dame neben mir auf ein Rendezvous einladen, sofern sie Zeit für mich hat.“ Rossya ließ seinen Arm wieder los und mit ernsten Blicken lehnte sie sich zurück, währenddessen kicherte Mira. Als würde ein Sog in seinem Körper entstehen, füllte sich sein Körper plötzlich mit vielen negativen Emotionen wie Zweifel und Skepsis. Für einen Moment begann sein Körper an zu zittern und er verlor seine Konzentration. „Ein normaler, aber nützlicher Idiot. Ich denke wir können ihm zu einem gewissen Maß vertrauen, dementsprechend werden wir weiter wie geplant verfahren. Projekt Zerfall beginnt heute Abend.“ Rossya zog daraufhin den Block zu sich, forderte den Kugelschreiber von Walerij – den er ihr langsam und etwas benommen überreichte – und sie fing an etwas auf seinen Block zu schreiben. Währenddessen fühlte sich Walerij so, als hätte man tief in sein Herz geblickt. Aus irgendwelchen Gründen fühlte er sich im Moment so, als wäre er seelisch blankgezogen worden und als würden diese Gefühle die nächsten Minuten nur noch schlimmer werden. So hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er von seiner Mathelehrerin wegen einer Strafarbeit vor der Klasse bloßgestellt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)