The Splintered Truth von Meilenstein ================================================================================ Kapitel 6: Das Erwachen VII --- Die Neugierde --------------------------------------------- [Walerij] Er blickte auf seine Armbanduhr. ‚Noch eine Stunde, dann machen die meisten Feierabend.‘ Der Journalist lief ziellos durch die Stadt. Er versuchte die Zeit bis zum Abend verstreichen zu lassen, aber die letzten Stunden fühlten sich zäh und unangenehm an. Ein wenig nervös war er schon, immerhin durfte bei seinem Plan nichts schief laufen. Am Morgen hatte er Informationen gesammelt und das Rathaus ausgespäht. Sein Ziel war das Büro des Bürgermeisters. Er musste in das Büro kommen und dort nach Unterlagen suchen, die endlich bewiesen was sich auf dieser verdammten Insel abspielte. Eine Alternativmöglichkeit war das Anbringen einer Wanze, um mögliche geheimen Absprachen mitanzuhören und aufzunehmen. Das Verschwinden der Leute musste endlich aufgeklärt werden. Kollegen, mit denen er zu tun hatte, seien das letzte Mal hier gesehen worden und dann für immer verschwunden sind. Niemand suchte nach ihnen. Alle Ermittlungen führten zu dem Ergebnis, dass diese angeblich abgereist waren. ‚Lüge!‘ Zornig verkrampfte er seine Hände, während er hasserfüllt das Rathaus in der Ferne anstarrte. Seine Behauptung stützte er auf ein Telefonat mit einer engvertrauten Kollegin. Vor knapp zwei Jahren erzählte sie ihm, dass es hier auf dieser Insel ein Geheimnis gibt, warum so viele Menschen in einem Zeitraum von ein paar Jahr vermehrt verschwanden. Sie hatte noch nichts genaueres, aber sie würde mit Sicherheit aufdecken, was auch immer dahintersteckte. Schon damals wusste Walerij, dass das böse enden würde. Er wollte diese Gedanken nur nicht wahrhaben. Wochenlang hatte er auf den nächsten Anruf gewartet und auch er selbst hatte es mehrmals probiert. Da sie eine freie Journalistin war, gab es keine Firma die dahinterstand. Walerij machte sich Vorwürfe. Er hätte direkt zu ihr reisen sollen. Walerij wurde zornig bei dem Gedanken, dass die Leute aus dem Rathaus nichts dagegen taten. Er war auch zornig auf die Bewohner, die dies wohl einfach hinnahmen. Mit Sicherheit wusste jeder auf der Insel Bescheid. Diese mafiösen Strukturen kotzten ihn an. ‚Konzentration.‘ Er versuchte sich zu konzentrieren, indem er sich eine Zigarette anmachte. Heute durfte nichts ablenken, sonst würde er mit Sicherheit genauso verschwinden. Er hatte das im Blut. Er befand sich in Feindessterritorium. Walerijs Plan in das Rathaus zu kommen, war der Einstieg durch eines der Fenster. Auf der Nordseite des Rathauses war ein kleiner Garten mit einem großen Baum. Ein verschlossenes eisernes Gittertor bot einen guten Überblick über den Garten. Einer der Äste des Baumes ragte nah zur Wand, zudem erschwerte die dicht bewachsene Baumkrone die Sicht von außen. Die größte Schwierigkeit war in den Garten zu kommen. Eine hohe Mauer sperrte diese vor der Öffentlichkeit ab. Walerij hatte dafür auch schon eine Lösung, denn ein Teil der Mauer war nur durch eine schmale Gasse zwischen zwei Häuser erreichbar. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde dort keiner Walerij zuschauen, wie dieser versuchte darüber zu klettern. Nach Kameras musste er dennoch Ausschau halten, aber es schien nicht zu sein, als wären allzu viele in dieser Stadt installiert. Das Geld wurde mit Sicherheit eher in irgendwelche Taschen gesteckt. „Hach… Kinderspiel.“ Hörte Walerij sagen. Es kam aus der Nähe eines Supermarkts. Er sah zur Seite. Drei Jugendliche saßen vor einem versperrten Tor. Der Platz davor wirkte wie die Einladezone des Supermarkts dahinter. Ein großes drehendes Schild auf dem Gebäude verwies auf den Supermarkt. Einer der drei, ein etwas dickerer junger Mann, überreichte seinem Gegenüber, der kleiner war, einen Riegel. Sein Gegenüber fuchtelte wild mit seiner Faust in die Luft. Er schien sich übermäßig darüber zu freuen. „Ey, du hast die Alte eiskalt über den Tisch gezogen. Klasse Mann.“ Der dritte, der abseits der beiden stand, ein großer schmaler Junge, blickte finster in Richtung Walerij. Der Junge kratzte sich nervös am Hinterkopf. „Und was machen wir jetzt mit den Schulden? Rasgor wird doch sicherlich heute Abend wieder Stress machen?“ Der kleinere der drei fuchtelte dabei wild mit seinem Riegel umher, bevor er in den Riegel biss und große Teile auf einmal verschlang. Der dickliche junge Mann vor ihm griff unter seine Jacke und zog ein paar wenige Scheine hervor: „Der Laden hatte nicht viel, wir müssen uns noch was anderes überlegen, aber ich habe einen krassen Plan. Ihr kennt doch bestimmt diese Gilde nahe unserem Geheimversteck, die…“, sein größerer dürre Kollege stieß den dicklichen Mann leicht an, während er selbst nervös zu Walerij sah. Er sagte dabei kein Wort. „Was soll das, du Depp?“ Der dickliche Mann verstummte jedoch, als er ebenfalls zu Walerij schaute. Auch der kleinste, der inzwischen den Riegel komplett gegessen hatte und Schokolade überall an seinen Finger klebte, hatte den Journalisten bemerkt. Überrascht zeigte er auf Walerij: „Dieser Penner belauscht uns!“ Mit schnellen Schritten entfernte sich Walerij von dem Ort, bis er der Meinung war, dass die drei ihm nicht folgten. ‚Diebe…, die Stadt ist so heruntergekommen.‘ Walerij war ein wenig aus der Puste. Er strich sich den Schweiß von der Stirn. „Der Allmächtige wird euch aus jeder Lebenslage helfen. Er hört euch zu und hat für alle eine Lösung, die nicht mehr weiter wissen. Sein Ohr steht jedem frei zur Verfügung und ihm es egal wer ihr seid. Es zählt nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft, die ihr ab nun bestreiten wollt.“ Walerij kamen die Worte bekannt vor. Er hatte diese Phrasen schon mehrmals gehört. Der junge Mann schaute auf und er erkannte einen größeren Mann in einigen Meter Entfernung, elegant gekleidet in einer weißen Wolljacke und schwarzen Jeans. Er wirkte gepflegt und seine Haltung vornehm. Ein freundliches Lächeln und leicht zusammengekniffene Augen schauten die Bewohner an, die ihn teilweise beim Vorbeigehen ignorierten. Er stand auf dem Gehweg und überreichte den Bewohnern ein Flyer. Egal welche Reaktion ihm entgegengebracht wurde, redete er auf die Leute ein. ‚Ach diese Penner sind das. Versuchen die immer noch Mitglieder für ihren radikalen Vereinigung zu finden?‘ Walerij hatte schon ein paar Artikel über diese selbsternannte Kirchenvereinigung geschrieben. Offiziell sind sie nur ein Club aus Gläubigen, die sich über die alltäglichen Probleme der Menschen kümmern und das kostenlos. Keinerlei Gebühren oder irgendwelche undurchsichtige Spenden von Mitgliedern. Durch ihre hilfsbereite und freundliche Art erhalten sie anderweitig von größeren Gesellschaften größere Summen als Hilfestellung. Diese Gruppe steht aber in Verbindung mit einer radikalen Organisation, die immer wieder für Anschläge und Attentate verantwortlich sind. Ihr Ziel ist eine Revolution in Festa zu starten, um das jetzige System dort zu stürzen, dass angeblich nur noch von Lobbyismus und Bestechung lebt. Zahlreiche Menschen starben bei Anschlägen der letzten zehn Jahren. Die Polizei hatte schon ein paar Terrorzellen ausgehoben, aber Walerij war sich sicher, dass es nicht die letzten gewesen waren, solange diese religiöse Vereinigung nicht verboten wurde. Zudem hatte eine Klage dieser Vereinigung dazu geführt, dass Walerij wegen seinem Artikel kündigen musste. Der Druck von oben war zu stark gewesen. ‚Diese verdammten sind einfach überall. Warum verziehen sich die Leute nicht einfach?‘ Walerij hatte Mühe seinen jetzigen Zorn zu Unterdrücken. Grimmig biss er seine Zähne zusammen. Er konnte sein Verlangen nicht unterdrücken und er ging zu diesem Mann. „Hilfe für jeden, der ein Ohr braucht? Freie Hilfe für jeden?“ Begann Walerij. Er wurde lauter, als der Mann sich zu ihm umdrehte: „Aber ich muss danach nicht unterschreiben und mich verpflichten bei irgendwelchen Terrorakten Einkaufzentren in die Luft zu sprengen?“ Sein Gegenüber drehte sich wieder weg und ging weiter. Er schien Walerij zu ignorieren und wiederholte seine Phrasen bei anderen Personen auf der Straße. ‚Dieser elendige Penner. Er hat auf mich reagiert. Ich habe es in seinem Blick gesehen, dass ich Recht habe.‘ Am Liebsten würde er diesem Typen eine verpassen, aber seine spontanen Wutausbrüche führten bisher nie zu etwas Gutem. Irgendwann würde es ihm aber anders heimzahlen. Langsam gewann Walerij wieder die Überhand über seine Wut und er ließ davon ab sich mit diesem Mann zu beschäftigen. Walerij schaute auf seine Armbanduhr: „Noch eine halbe Stunde.“ Die nächste halbe Stunde verbrachte er auf einer Sitzbank, nahe dem Rathaus und konzentriert versucht er noch einmal alle Schritte zu durchdenken und mögliche Fluchtpläne zu konstruieren. Dabei rauchte er mehr, als sonst. Im Anschluss begab sich Walerij zu dem Mauerabschnitt in der Gasse, die in einem Hinterhof endete. Etwas überrascht, dass die Mauer doch höher war als gedacht, überlegte der Mann wie er diese nun überwinden konnte. Ein paar Mülltonnen in seiner Nähe konnten zur Lösung beitragen. Vorsichtig stellte er diese so auf, dass diese als Stütze dienten. Vorsichtig kletterte er auf diese. Er überschätze ein wenig seine Ausdauer so wie seine Kraft und nur mit großer Mühe zog er sich die zweieinhalb Meter hohe Mauer hoch. Klimmzüge waren nie seine Stärke gewesen. Leise schnaufte er, als Walerij sich auf die Mauer hievte. Ihn ärgerte es, dass er so viel Zeit damit verbrachte. Ihn könnte jemand auf der Mauer sehen. Er ließ sich in die Büsche fallen und geduckt lauschte er auf, ob jemand etwas mitbekommen hatte. Für ein paar Minuten verharrte er in den Büschen. Eine beunruhigendes Stimmung machte sich breit. Er spürte plötzlich einen schweren Druck auf seinen Schultern. Mit diesem Absprung in den Garten machte er sich strafbar. Umso länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde es ihm das. Es war aber nicht sein erstes Mal gewesen. Ein dutzend Mal hatte Walerij schon Hausfriedensbruch begannen. Er rieb sich seine feuchten Finger nervös an der Jacke ab, weil der Staub der Mauer an seinen Finger klebten, während er durch den Garten schlich. Auf der Rückseite des Rathauses waren die meisten Fenster mit Vorhänge zugezogen, so konnte er nicht hineinsehen. Eine Tür, die offen stand, führte in das Gebäude hinein. Er konnte in einen langen Gang hineinsehen, aber das war nicht sein Ziel. Sein Ziel war das Fenster schräg darüber. Es besaß die doppelte Breite, als die anderen Fenster und es war nicht mit Vorhänge zugezogen. Für einen Moment erkannte Walerij Karstoll Lehm, den Bürgermeister, wie dieser am Fenster vorbeilief. Walerij versteckte sich hinter dem einzigen Baum des Gartens. Die Baumkrone überdeckte den halben Garten mit Schatten. Einer seiner Äste reichte zu einem der Fenster im ersten Stockwerk. ‚Er ist also in seinem Büro, dann muss ich wohl auf die Wanze zurückgreifen.‘ Walerij wollte auf den Baum klettern, um das Fenster des Büros des Bürgermeisters zu erreichen. Die umliegenden Gebäude um dem Rathaus waren zum Teil nur zwei Stockwerke hoch oder besaßen nicht einmal ein oberes Stockwerk, so war die Anzahl der Fenster gering, die überhaupt einen Einblick in diesen Garten ermöglichten. Walerij prüfte ob ihn niemand beobachtete. Der Baum hatte ein paar abgeschnittene Äste auf Hüfthöhe, die Walerij als Trittstellen dienten und ihm somit das Heraufklettern erleichterten. Wieder hievte er sich mit letzter Kraft hoch. Einer der größeren Äste, der von seiner jetzigen Position wegführte, führte zu einem kleinen Vorsprung, der schmal um das Haus führte und das Erdgeschoss vom ersten Stockwerk trennte. Mit bedachten Bewegungen lief er diesen entlang. Der letzte Schritt führte über einen Fußbreiten Spalt zwischen Astspitze und Vorsprung. Nun stand er links von dem Fenster, welches einen Einblick in einen Flur ermöglichte. Sein Ziel war ein Fenster weiter. So entschloss sich Walerij einen kurzen Blick in den Flur zu werfen. Niemand schien sich dort zu befinden. Walerij bemerkte, dass das Flurfenster nicht verschlossen war, jemand hatte das Fenster nur zugeschoben, aber nicht verriegelt. Er kletterte am Fenster vorbei und näherte sich seinem Ziel. Schwach konnte er Stimmen aus dem Raum wahrnehmen. Seine Hand war schon unter die Jacke geglitten, um die Wanze herauszuholen, da bemerkte er einen Sicherheitsbeamten, wie dieser in den Garten trat und sich eine Zigarette anzündete. Der Journalist wurde bleich und er begann zu zittern. Nervös blickte der Mann zur Seite, zum Flurfenster. Die einzige Möglichkeit nicht von diesem Sicherheitsbeamten erwischt zu werden. Schnell schob sich Walerij zurück über den Vorsprung zum Flurfenster. Leise drückte er dieses auf und verschwand darin. Vorsichtig lugte er hervor und beobachtete den Beamten im Garten. Dieser blickte sich skeptisch um, als wäre ihm etwas aufgefallen, jedoch schien dieser Mann niemanden konkret bemerkt zu haben. Nachdenklich und mit genervtem Gesichtsausdruck nahm der Beamte einen weiteren Zug von seiner Zigarette und wandte sich dann einem Handy zu, das er aus seiner Jackentasche zog. ‚Hoffentlich ist der nicht zulange dort, sonst ist mein Fluchtweg dahin. Den ganze Zeit war doch keiner dort.‘ Nervös und mit einem starken Unbehagen versuchte Walerij sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er entschied sich zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren und das eventuelle Installieren der Wanze auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Karstoll befand sich in seinem Büro und es waren Stimmen zu hören, womöglich könnte Walerij sie belauschen. Langsam schlich er den Flur entlang. Walerij stellte fest, dass im Flur ebenfalls wie im Garten keine Sicherheitskameras installiert waren. Nervös blickte er diesen entlang. Nicht dass jetzt irgendjemand auftauchte und ihn erwischte. Ihm kam dann der Gedanke auf, ob er sich nicht vielleicht raus reden könnte? Immerhin war das Rathaus ein öffentliches Gebäude. Walerij legte sich ein paar Ausreden parat. Irgendwie schaffte er es bestimmt sich herauszureden. ‚Aber zuerst muss ich das Büro finden.‘ Walerij kam bei seinen nächsten Überlegungen zu dem Entschluss, dass es sich bei der gesuchten Tür um die handelte, die zur seiner rechten war. Langsam näherte er sich dieser. Die Stimmen wurden deutlicher. Es waren wohl mehrere Personen im Raum. Walerij lauschte am Schlüsselloch und versuchte durch dieses etwas zu erkennen. Das Schlüsselloch war wie das Rathaus selbst alt und rustikal. Groß genug zum Hindurchschauen. Es ermöglichte Walerij eine gute Übersicht über den Raum dahinter, auch wenn ihm der rechte Teil des Raumes verborgen blieb. Walerij erkannte drei Personen im Raum. Jemand stand links, nahe der Tür. Von hinten konnte Walerij nur erkennen, dass es sich womöglich um einen Jugendlichen handelte. Etwas auffällig an ihm war das dunkel braune, fast schon purpurfarbene Haar mit den vereinzelten weißen Strähnen darin. Neben dieser Person stand ein größerer Herr, völlig in weiß gekleidet. Das Gesicht konnte er nur von der Seite erkennen. ‚Wer ist das? Er macht einen mächtigen Eindruck.‘ „...heute Zeit gefunden haben vorbeizukommen und das sogar zu einer so frühen Stunde.“ Der Bürgermeister, der vor einem größeren Schreibtisch stand und zu dem älteren Herr redete, schien wie immer mit seinen schleimigen, aber geschmeidigen Worten einen positiven Eindruck zu erzeugen, aber so etwas kotzte Walerij inzwischen an. Er hatte schon oft hinter die Fassaden solcher Menschen geblickt. Alles nur korrupte Politiker. „Verschwendet nicht meine Zeit. Wo sind die Kristalle?“ Die tiefe schallende Stimme, die plötzlich durch den Raum fegte, riss Walerij ein wenig aus dem Konzept. Für einen Moment dachte Walerij, dass dieser ältere Herr kurz zu Walerij geschaut hätte. Er bildete sich ein, dass die Pupillen dieses Mann für einen Moment auf ihn verharrt blieben. Walerijs Herz hätte dadurch fast ausgesetzt. Ein ähnliches Gefühl wie damals, als er im Zoo einen brüllenden Löwe beobachtet hatte, der ihn aus dem Gehege anstarrte. Nur trennten ihn hier nicht sichere Eisenstangen. Die Schweißperlen liefen seine Wangen hinab, während Walerij ein wenig zurückwich. ‚Was ist das für ein Typ? Hat der mich gesehen?‘ Eine Angst machte sich in ihm breit, als müsste er gleich abhauen. Sein Körper wollte so dringend von diesem Ort weg. Ein Räuspern von der Seite gab ihm den Rest. Walerijs verkrampfte seine Hände, um nicht lautstark aufzuschrecken. Die Schweißproduktion vervielfachte sich. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand derselbe Mann im Anzug, der letztes Mal die Stellungnahme leitete. Sein Gesichtsausdruck war derselbe, aber die Handfeuerwaffe in seiner Hand, die er im Moment auf Walerij richtete, zeichnete plötzlich ein anderes Bild vor ihm. Mit gehobenen Händen und einem nervösen Lächeln stand Walerij auf. „Ist das so Sitte? Einen unbewaffneten Mann direkt mit einer Waffe zu bedrohen? Sind Sie etwa ein Mafioso?“ Sein Gegenüber antwortete ihm nicht, stattdessen machte er mit seiner freien Hand klar, dass dieser zu ihm herkommen sollte. „Ist schon gut, ich komme mit Ihnen mit.“ „Sie haben keine andere Wahl.“ „Weil was sonst? Sie wollen mich hier erschießen? Im Rathaus? Auf dem Flur? Wenn doch Gäste da sind? Wir sind ja nicht hier bei der Mafia, oder?“ Mit vorsichtigen Schritten und gehobenen Händen lief Walerij auf den Mann zu, der ihm mit seiner freien Hand zu der Treppe verwies. Die Anspielung auf die Mafia war nur teilweise scherzhaft gemeint. Eigentlich wollte Walerij seinem Gegenüber eine Reaktion entlocken, die etwas verraten konnte, aber der Mann behielt seinen steinernen ernsten Gesichtsausdruck. „Mit dem Rücken zu mir voran die Treppen hinunter und dann rechts. Machen Sie eine falsche Bewegung, dann werde ich schießen.“ Walerij kotzte es an, dass im Ton dieses Mannes eine Arroganz mitschwang, die sonst nur schlechte Gewinner hatten, wenn diese über ihre Verlierer dominierten. Walerij befolgte die Anweisungen und stieg langsam die Treppen hinab. Der Mann im Anzug drückte ihm inzwischen die Pistole in den Rücken. „Die Hände runter und bleiben sie ruhig. Die letzte Tür am Flur, diese öffnen sie mit ihrer rechten Hand.“ ‚Was hat er vor? Der Ausgang ist doch links?‘ Während Walerij die Treppen hinunterstieg, dachte er kurz über die Flucht nach links nach, aber dieser Mann würde wahrscheinlich wirklich schießen. Als Walerij in den Gang trat, erblickte er links in wenigen Meter Entfernung die Tür hinaus zur Straßen. Dort würden sich bestimmt viele Bewohner befinden, die als Zeuge fungieren könnten. Die Pistole in seinem Rücken ließ seinen Körper jedoch dem Befehl gehorchen und er trat in die entgegengesetzte Richtung. Am Ende des Flurs erkannte er die offene Hintertür, die in den Garten hinausführte. Außen im Garten stand der Sicherheitsbeamte immernoch. Dieser rauchte seine Zigarette und das Handy befand sich in der anderen Hand. Dieser blickte die beiden schweigend und mit gleichgültigen Blicken an. Walerij hoffte so sehr, dass dieser irgendwie reagieren würde, der Mann tat jedoch nichts. Er beobachtete die beiden nur. Walerij erreichte die letzte Tür des Flurs, die sich zur seiner rechten befand. „Öffnen!“ Kam der Befehl von hinten. Zittrig öffnete Walerij die Tür. Dahinter erkannte er im Dunklen einige Stufen, die hinabführten. Es war offensichtlich ein Zugang zu einem Kellergewölbe. „Diesen Schalter drücken und dann hinab!“ Der Schalter schaltete das Licht im Keller an. Langsam trat Walerij die steinernen und ungleichmäßigen Stufen hinab. Die Atmosphäre wurde kälter mit jedem Schritt. Es ging einige Meter in die Tiefe. Der Raum, der sich nach den Treppen vor ihm erstreckte, war breit und hoch. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Vereinzelt befanden sich Regale an den Wänden oder gestapelte Kisten im Eck. Sitzbänke waren an die Wand geschoben. Ein paar Sonnenschirme zusammengefaltet auf dem Boden. Als Walerij den ersten Schritt in den Raum machte, wurde er plötzlich nach vorne gestoßen. Mit dem Gesicht voraus fiel er auf den gepflasterten Boden. Für einen Moment sah er nur schwarz. Es hallte in seinem Kopf und der Schmerz zog sich durch seinen Körper. Vor allem seine Nase schmerzte. Ätzend rollte er sich auf den Rücken, weil ihm das Schwindelgefühl im Körper Übelkeit bereitete. Als er wieder klarsehen konnte und das Blut bemerkte, das aus seiner Nase tropfte, starrte er entsetzt auf den Mann im Anzug, der inzwischen einen Aufsatz auf seine Schusswaffe montiert hatte. ‚Ein Schalldämpfer! VERDAMMT! Er meint das wirklich ernst!‘ Panik machte sich in Walerij breit. Es hatte eigentlich schon begonnen, als er die steinernen Treppen betrat, nur hatte er bis dahin noch die Hoffnung gehabt, dass dieser Mann ihn nur hier einsperren wollte. Die jetzige Erkenntnis, dass dieser Mann gleich schießen würde, ließ Walerijs Körper erstarren. Der Mann im Anzug zielte auf ihn und  Walerij erkannte wie dieser den Abzug betätigte. Sein Herz blieb für einen Moment still, bis er bemerkte, dass nichts passierte. Walerij blickte in das zornige Gesicht seines Gegenübers, der seine Handfeuerwaffe untersuchte. Ein Schuss löste sich der knapp vor Walerij in den Boden geschossen wurde. Panisch rollte sich er zur Seite. Sein Herz raste und panisch blickte er sich um. Walerij entdeckte eine Schaufel unter den Sitzbänken vor denen er lag. Walerij versuchte nach dieser zu greifen, da stand der Mann im Anzug auf seinem ausgestreckten Arm. Es schmerzte sehr, als sich die dicke Sohle in die Haut drückte. Walerij verharrte und wartete auf das Ende, aber es kam nichts, stattdessen hörte er eine männliche Stimme, die nicht von dem Schützen stammte. „Angebot an Sie. Ich kümmere mich um ihn, ohne dass ihr etwas hier finden werdet. Keine Spuren, keine Hinweise. Das Übliche halt.“ Jemand Fremdes muss in den Raum getreten sein, denn die Stimme erkannte Walerij nicht. Der Fuß, der sich in seine rechte Hand drückte, erhob sich und der Mann im Anzug entfernte sich. Walerij zischte, als ein kurzer Schmerz durch seine Hand wanderte. Die Stelle an seiner Hand blutete und verfärbte sich leicht, dennoch konnte er seine Hand vorsichtig zur Schaufel bewegen. „Das Übliche. Keine Spur, keine Hinweise, dein Problem.“ Jemand trat die steinernen Stufen hinauf. Walerij fiel auf, dass er die Schritte des Fremden gar nicht bemerkt hatte. Vermutlich war dies der Situation geschuldet gewesen. Seine Fingerspitze berührten inzwischen die Schaufel. Seine rechte Hand fühlte sich ein wenig taub an. Jemand trat zu ihm heran. Sie müsste sich jetzt über ihn befinden. „Kommen wir nun zu…“ Walerij unterbrach die fremde Person, indem er die Schaufel packte und versuchte durch eine Körperdrehung aus seiner jetzigen liegenden Position auf dem Bauch die Schaufel gegen die Person hinter ihm zu schlagen. Sein Schwung wurde aufgehalten, als er die Schaufel 90 Grad um sich schlug. Seinen Kopf hatte er dabei nach rechts gedreht, sodass er nun die Person über sich erkennen konnte. Dunkelfarbenes Haar mit weißen Strähnen darin. Walerij erkannte die Person, nur jetzt konnte er sie von vorn sehen. Seine Pupillenfarbe hatte ein beängstigen dunkelroten Farbton. Die Größe und Statur deuteten auf einen Jugendlichen hin, seine Stimme ließ Walerij jedoch glauben, dass es älter sein musste. Im Gegensatz zum Stadtrat, trug dieser Jugendliche keinen Anzug oder war bewaffnet. Ein lockeres Hemd kombiniert mit einer kurzen Hose. Der Stil passte zu den Bewohnern der Insel. Der hölzerne Griff der Schaufel befand sich im Griff des Jugendlichen. Die Muskeln seiner Hand spannten sich plötzlich an und mit einem lauten Bersten brach dieser die Schaufel entzwei. Erschrocken versuchte Walerij mit dem Holzstiel zu zuschlagen, aber der Jugendliche stieß ihm den Stil mühelos aus der Hand. Walerij Hand schmerzte durch den Treffer. „Steh auf!“ Verwundert starrte Walerij seinen Gegenüber an, der einen Schritt rückwärts machte. Der Jugendliche seufzte und wirkte genervt: „Jetzt bleib mal ruhig!“ Er blickte kurz den Treppenaufgang hinauf, dann wandte er sich wieder Walerij zu und verschränkte seine Arme: „Ich möchte klarstellen, dass ich das Geld haben will, aber dafür lege ich keinen um.“ Er ging wieder auf Walerij zu, der bisher nur den Ausgang im Blick behielt. Er plante seine Flucht und ob er an diesem Jugendlichen vorbeikam. „HEY!“ Wurde der Jugendliche lauter. Walerijs Augen fixierten wieder seinen Gegenüber an. Er schluckte nervös. ‚Er scheint mich noch nicht überlegen zu wollen. Ich sollte wirklich versuchen mich zu beruhigen.‘ Sein Herz raste noch wie wild und sein Körper schrie danach, dass er nun fortrennen sollte. „Du hörst was ich sage, ja? Ich verschaffe dir die Möglichkeit, dass du hier lebendig rauskommst. Ich brauche nur deine Schauspielkunst und dein Versprechen, dass du von dieser Insel fortbleibst!“ ‚O.k…, klingt das glaubwürdig? Wenn ja, dann muss ich wohl erst einmal mitspielen.‘ Langsam richtete sich Walerij auf. „Hast du einen gegen den Kopf bekommen? Du hast mich gehört oder?“ Sein Gegenüber wurde ungeduldig. ‚Aber so ganz kann ich ihm nicht glauben.‘ „Und wie willst du das anstellen? Die wollen doch bestimmt irgendeinen Beweis haben? Oder wenn sie mich das nächste Mal sehen...“ Plötzlich packte ihn eine Hand am Kragen und die beiden dunkelroten Pupillen starrten ihn aus nächster Nähe an, mühelos wurde Walerij nach oben gezogen: „Du wirst dich hier nie wieder blickenlassen! Genau wegen euch Typen schaffe ich es nicht alle von ihm fernzuhalten! Ihr liefert ihm genau das was er will!“ Walerij schluckte und sein Herz machte ein kurzer Aussetzer, als der Jugendliche ihn wieder losgelassen hatte. Er hatte ihn einfach mühelos nach oben gezogen, ohne dass es den Jugendlichen wirklich angestrengte. ‚Er wird wohl die Wahrheit sagen, denn sonst hätte der andere ihm nie zugestimmt. Ich muss ihm wohl vertrauen.‘ Der Jugendliche schien sich wieder beruhigt zu haben, denn er ging wieder ein wenig auf Abstand. Ab und zu schaute er nervös die steinernen Treppen hinauf. ‚Wen hatte er gemeint? Den Bürgermeister etwa oder?‘ Walerij erinnerte sich, dass es noch diesen anderen älteren Herr gab. ‚Nein! Es ist dieser andere Typ, der im Raum war.‘ „Wer ist dieser ältere Herr im Büro im Bürgermeister. Hat der mit der Sache tun? Ist der hier verantwortlich für das Verschwinden der Leute?“ Der Blick des Jugendlichen wurde ernster. Seine Augen sahen strafend den Mann am Boden an, als würde er ihm sagen wollen, dass er jetzt besser schwieg. „Ich habe Recht oder?!“ Walerij setzte sich langsam wieder auf, dann versuche er aufzustehen. Walerij wartete ab, ob sein Gegenüber irgendwie reagierte, aber er starrte Walerij die ganze Zeit nur zornig an, als würde er überlegen. ‚Ich kann nicht anders. Ich muss die Wahrheit wissen!‘ Walerij hoffte, dass ihm seine Neugier nicht alles zu Nichte machte. „Du vergisst am besten alles schnell wieder. Es ist das beste für alle Beteiligte. Du kommst nicht wieder auf diese Insel zurück. Ich kann dir das nächste Mal nicht garantieren, dass du davonkommst. Geht das in deinen Schädel? Du bringst damit noch viel Menschen in Gefahr!“ Es machte Walerij ein wenig wütend. Es schien so, als würde der Jugendliche nicht kapieren, dass hier auf dieser Insel Menschen verschwanden oder es sogar billigen für irgendeine andere Sache. Walerij konnte nicht einfach verschwinden und alles vergessen. „Es verschwinden Menschen auf dieser Insel! Ich kann nicht einfach…“, so schnell wie der Faustschlag seine blutige Nase traf, so schnell konnte Walerij nicht einmal mehr seinen nächsten Gedanken zu Ende zu fassen geschweige irgendwie zu reagieren. Er bekam nur noch mit wie eine kalte Finsternis ihn umfasste und ihn in ein leeres Nichts zog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)