Yu-Gi-Oh! The Last Asylum von -Aska- ================================================================================ Kapitel 2: Turn 02 - Wicked Games --------------------------------- Turn 02 – Wicked Games     Sohn von William Ford - Noch immer vermisst Weiterhin gibt es keine Hinweise um den Verbleib von Benjamin Ford, dem jüngsten Sohn des Vorsitzenden der Abraham Ford Company, William Ford. Ein Sprecher der Abraham Ford Company, die für den Vertrieb der Duel Monsters-Karten in den Vereinigten Staaten verantwortlich ist, hat am gestrigen Nachmittag bei einer Pressemitteilung verlauten lassen, dass alle bisherigen Ermittlungen rund um den mittlerweile seit über einem Monat vermissten Benjamin Ford ergebnislos waren. Experten gehen nun davon aus, dass der junge Mann nicht mehr am Leben ist. Eine Entführung ist unwahrscheinlich, da sich seit seinem Verschwinden kein Erpresser bei der Familie gemeldet hat. Ferner …   „Was für 'ne Scheiße“, schnaubte Anya und warf die Zeitung auf den Tisch. Demonstrativ biss sie in ihr Toastbrot und runzelte die Stirn. Wen zur Hölle interessierte es, wenn irgendeine reiche Rotzgöre verschwunden war? Deshalb las sie sonst nie Zeitung.   „Stimmt etwas nicht, Liebes?“, fragte ihre Mutter mit einem Hauch von Sorge. Sie hatte ihre Tochter bis vor ein paar Tagen noch nie dabei beobachtet, wie sich aus freien Stücken für das Weltgeschehen interessierte. Seit Tagen verhielt das Mädchen sich nun schon äußerst ungewöhnlich. Wer Anya nicht gut kannte, würde es nie bemerken, doch als Mutter wusste Sheryl, dass etwas vorgefallen sein musste. Anya hatte sich noch weiter zurückgezogen als sonst und schien krampfhaft nach etwas zu suchen. Sie hing dauernd vor dem Computer und las regelmäßig Zeitung. Ob das mit dem Vorfall an ihrer Schule in Verbindung stand? Sheryl seufzte. Eine Antwort ihrer Tochter blieb aus. Stattdessen wischte die sich mit dem Handrücken über den Mund und schulterte ihren Rucksack, der an einem der Beine des runden Esstisches lehnte. „Ich gehe jetzt. Bis später, Mum“, grunzte sie schlecht gelaunt. „Bis später.“ Sie sah dem blonden Mädchen hinterher, als es durch die Küche schritt. Nachdem die Tür lautstark ins Schloss gefallen war, wusste Sheryl, dass Anyas Suche weiterhin keine Erfolge vorzuweisen hatte.   Anya indes stampfte wütend über den Rasen ihres Grundstücks, öffnete das Gartentor und pfefferte es mit einem gezielten Tritt ihrer Schuhsohle im Weggehen wieder zu. Sie passierte viele solcher beschaulichen Grundstücke. Kitschig, das waren sie. Der typische amerikanische Vorort, perfekt, gepflegt, grässlich anzusehen. Wo waren der Schmutz, die Ecken, die Kanten? Hier standen gelbe, grüne, rote und rosafarbene Gebäude, die eher an Puppenhäuser denn echte Häuser mit lebenden Menschen erinnerten. Anya hasste Livington, sein Spießertum. Und sie hasste es, wenn ihre Anstrengungen vergebens waren. In der beknackten Stadtzeitung verloren sie kein Wort über gewisse unheimliche Vorfälle. Die Massenprügelei in der Eissporthalle war zwar am Folgetag die Schlagzeile schlechthin gewesen, doch über irgendwelche Geisterwesen, die Schwachsinn laberten, verloren die Medien kein Wort. Im Grunde war das nicht weiter verwunderlich, aber Anya wollte sich nicht so recht damit anfreunden. Natürlich war es ein Indiz dafür, dass sie alles nur geträumt hatte, was mit Levrier zusammenhing. Doch andererseits würde es auch bedeuten, dass in ihrem Oberstübchen ein paar Zahnräder nicht geölt waren. DAS war noch viel schlimmer. Und das Internet war auch keine Hilfe gewesen, es gab keine hilfreichen Einträge unter „Levrier“ bei allen gängigen Suchmaschinen. Alles war scheiße!   Sie hielt schließlich frustriert vor einem zweistöckigen, gelben Haus. Am Briefkasten stand der Name Harper – Nicks Familienname. Wie üblich war von ihrem Freund weit und breit keine Spur. Als ob er jemals schon fertig gewesen wäre, wenn sie ihn abholen kam. Wahrscheinlich schlief er noch, wie immer. Anya schritt über das zaunlose Grundstück und klingelte an der Tür. Keine zwei Sekunden später öffnete Nicks schrullige Mutter die Tür, als hätte sie bereits sehnsüchtig auf das Mädchen gewartet. „Anya“, strahlte sie mit schiefem Grinsen. „Guten Morgen. Komm doch rein. Nick schläft noch.“ Sie machte eine einladende Geste. „Morgen, Mrs. H“, antwortete Anya und trat in den Flur ein. Sie wollte bloß schnell weg von dieser Frau, die sich seither in den Kopf gesetzt hatte, ihren Sohn Nick um jeden Preis unter die Haube zu bringen. Und Anya hatte sie als Braut – sprich: Opfer – auserkoren.   So begleitete Mrs. Harper Anya, als sie die Treppen hinauf stieg und hielt sich dabei so dicht hinter dem Mädchen, dass dieses ihren Atem im Nacken spürte. „Sie … können ruhig gehen, Mrs. H. Ich finde den Weg zu Nicks Zimmer schon … seit Jahren“, kommentierte Anya das in einer Mischung aus Trotz und Misstrauen. „Oh? Natürlich“, antwortete die kleine, hagere Frau mit den kurzen, braunen Locken enttäuscht. Ihr Gesicht erinnerte mit der spitzen Nase entfernt an einen Adler und Anya wusste, dass sich hinter der netten Fassade ein Raubtier schlimmster Sorte versteckte. „Möchtest du vielleicht einen Muffin? Ich habe vorhin welche gebacken. Du könntest sie mit Nick essen.“ „Nein danke, ich habe schon gefrühstückt.“ Auch wenn es sicherlich interessant gewesen wäre zu sehen, wie viele Muffins man auf einmal in Nicks Mund gezwängt werden konnten. „Schade. Na dann, wecke doch bitte Nick. Und sei sanft.“ Sie zwinkerte verschwörerisch und machte auf den Stufen Kehrt.   Anya schüttelte den Kopf. Die alte Krähe wollte sie doch nur mit Nick zusammenbringen, damit der endlich auszog. Mrs. Harper wollte aus seinem Zimmer nämlich eine Nähstube machen. Obwohl man sie nie nähen sah! Nicks Familie war einfach verrückt, denn irgendwoher musste er seine Macken schließlich haben. Die einzige normale Person in diesem Haushalt war sein Vater, der Allgemeinmediziner war. Aber den bekam man selten zu Gesicht. Auch egal, sagte sie sich. Wenn die Alte es übertreiben sollte, würde sie Anya von ihrer Schokoladenseite kennenlernen. Und die hieß nicht umsonst Mord und Totschlag.   Die Blondine nahm die letzten Stufen und trat vor Nicks Schlafzimmertür. Sie sollte sanft sein? Kein Problem! Mit einem Tritt stand die Tür offen. „Nick“, brüllte Anya, dass man sie noch bis draußen hören konnte. Ihr Freund, welcher in seinem Bett mit Bugs Bunny-Bettwäsche auf dem Bauch lag und schnarche, rührte sich nicht. „Aufstehen! Wir müssen los!“ „W-was?“, murmelte Nick verschlafen und hob den Kopf an. „Oh? Xena kommt mich in meinem Traum besuchen …“ „Nix mit Xena“, erwiderte Anya aufgebracht und bahnte sich ihren Weg durch die Klamottenberge, die überall im Zimmer verteilt lagen. Bei Nick angelangt, packte sie ihm am Schopf und riss seinen Kopf hoch, damit er ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Hi Anya“, grinste er. „Du Schwachkopf, wir kommen zu spät! Mach dich fertig, damit wir los können!“ „Noch fünf Minuten, Mutti …“ Er sackte weg. Schon drückte eine erzürnte Anya seinen Kopf so tief ins Kissen, dass er zu zappeln begann. „Ich krieg' keine Luft mehr!“, kam es dumpf unter dem Kissen hervor. „Ich will nicht durch ersticken sterben, das tut doch weh!“ Anya verzog mürrisch das Gesicht. „Mir doch egal. Als ob bei dir viel kaputt gehen kann.“ Schließlich ließ sie ihn los, da ihr die Lust vergangen war, Nick zu quälen. Selbst das konnte ihre Laune nicht heben.   ~-~-~   Abby und Nick unterhielten sich, während Anya lustlos hinter ihnen her schlenderte. Sie hatten den großen Campus ihrer Schule erreicht und steuerten direkt auf ein mehrstöckiges Gebäude aus Backstein zu. Gleich würde der Horror beginnen, wenn Mr. Stantler sie wieder mit seinen Vorträgen über den Ersten Weltkrieg nervte. Wen interessierte schon Geschichte? „Ich bin ja schon so gespannt, wie es weitergeht. Die Lage in Deutschland ist ja nun aussichtslos und der Versailler Vertrag klingt nicht gerade aufbauend …“ Anya stöhnte genervt. Abby interessierte es. „Deutschland? Ist das nicht einer unserer Bundesstaaten?“, fragte Nick glucksend. Und Nick war zu doof, um den Unterricht folgen zu können. Anya biss sich auf die Lippe. Warum hatte ausgerechnet sie solche uncoolen Langweiler als Freunde? Eine fiese Stimme namens Gewissen flüsterte leise zu ihr: weil sie die einzigen Leute sind, die sich freiwillig mit dir abgeben. Anya verzog das Gesicht. Deshalb dachte sie nie über irgendetwas nach. Es war einfach nur frustrierend!   Ihr Blick streifte über den Schulhof. Rechts von ihr ragte das vierstöckige, weiße Gebäude der Unterstufe aus dem Boden. Vor dem großen Haupteingang tummelten sich verschiedene Cliquen, die ausgelassen miteinander tratschten und lachten. Anya rümpfte die Nase. Sie hatte nie bei irgendwelchen Leuten gestanden und über alles Mögliche palavert. So etwas hatte sie nie nötig gehabt! Trotzig schweifte sie nach links ab, wo die Turnhalle stand. Dahinter lag die Eissporthalle, die seit dem schrecklichen Vorfall geschlossen war. „Unheimlich, oder?“ Abby hatte sich neben sie gesellt und spielte nervös mit einer Strähne ihres braunen Haares. Heute trug sie ein rotes Stirnband und ein graues Kleid – vom Nahen sah es noch schrecklicher aus als sowieso schon, besonders weil es an einigen Stellen geflickt war. „Weiß nicht, was du meinst“, brummte Anya. „Sie sagen, dass Coach Bergmann im Koma liegt, schweres SHT.“ „Red gefälligst in einer Sprache, die ich auch verstehe!“ Abby entschuldigte sich, denn sie hätte wissen müssen, dass Anya selbst mit den gängigsten Abkürzungen nicht zurecht kam. „Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Aber niemand weiß etwas Genaues. Fast alle, die aktiv an der Schlägerei beteiligt waren, sind von den jeweiligen Schulen vorübergehend suspendiert worden und werden womöglich bald vor Gericht stehen. Einige von denen sind allerdings in der Irrenanstalt, weil sie Dinge sehen.“ „Irrenanstalt?“, fragte Anya verwirrt und drehte sich zu Abby. „Doch nicht etwa Victim's Sanctuary?“ Das war der Name, den die Bewohner von Livington der psychiatrischen Anstalt auf dem Hügel am Waldrand gegeben hatten. Viele fanden diesen Ort sehr unheimlich, doch nicht so Anya. Sie hatte schon zweimal vor dem hohen Stacheldrahtzaun gecampt und nie war etwas Aufregendes geschehen. „Genau dort. Erinnerst du dich an Jonathan?“ „Dieser Depp aus dem Englisch-Kurs?“   Anya hatte ihn nie leiden können – gut, sie konnte 99,9% der Weltbevölkerung nicht leiden – doch Jonathan war ein besonders fieses Ekelpakt. Er verprügelte die Unterstufler ohne Grund. Anya hingegen tat das nur, sobald sie frech wurden oder ihre Kohle nicht herausrücken wollten, wenn sie selbst wieder einmal pleite war. Als Jonathan eines Tages aber Abby gegenüber einen Tick zu aufdringlich geworden war, war es bei Anya vorbei gewesen. Sie wäre damals fast der Schule verwiesen worden, weil sie ihn krankenhausreif geprügelt hatte. Dabei hatte er noch Freunde um sich gehabt, die sie erst aus dem Weg räumen musste! Alles Memmen waren das gewesen, sagte sie sich mit grimmiger Zufriedenheit, während sie deren wohlklingende Schmerzensschreie noch genau im Ohr hatte.   „Was ist mit dem?“, fragte die Blondine scharf. „Ist er krepiert? Hab ich'n Grund zum Feiern?“ „Nein. Red' nicht so schlecht über andere Menschen. Man wünscht niemandem den Tod.“ Abby verzog schmollend den Mund. „Es gehen Gerüchte um, in denen er behauptet, immer wieder Stimmen zu hören, die ihm sagen, dass er irgendjemand Bestimmtes töten soll. Wer das sein soll sagt er niemandem. Aber Jonathan ist nicht der Einzige, der solche Dinge hört. Allein aus unserer Stufe sind acht Leute in Victim's Sanctuary untergebracht. Und es werden mehr. Auch Leute, die neulich nicht einmal in der Halle waren, hören oder sehen plötzlich etwas, was nicht da ist.“ „Hehe, ich sehe auch manchmal Dinge, die nicht da sind. Wenn ich Fernsehen gucke zum Beispiel.“ Nick grinste die beiden Mädchen schief an. „Pfff, was auch immer. Mir doch egal, was mit diesen Napfsülzen ist.“ Anya verschränkte demonstrativ die Arme. „Geht mich gar nix an.“ „Was Nick wohl sagen möchte ist, dass es dafür bestimmt eine logische Erklärung gibt.“ „Möchte ich das sagen?“, fragte Nick aufrichtig verwirrt und kratzte sich an seinem strubbeligen Kopf. „Trotzdem ist es unheimlich“, meinte Abby und legte ihre Hände auf die Oberarme, als würde sie frieren. „Fast so, als wären Dämonen unter uns. Ich hab viel über sie gele-“ „Wenn du meinst …“, erwiderte Anya gelangweilt und wandte sich von den Sporthallen wieder dem Backsteingebäude zu. Und vor dessen Türen entdeckte sie kurz darauf genau die zwei Personen, die sie niemals im Leben in einem Abstand von unter hundert Metern zusammen sehen wollte. Valerie und Marc. Die redeten. Lachten. Sich in die Augen sahen. Und umarmten.   „Oh oh.“ Abby ahnte, dass eine Katastrophe im Anmarsch war. Anya blies Luft durch ihre Nase wie ein wütender Stier. Dann stampfte sie auf die beiden zu. Abby hatte Probleme, ihrer Freundin bei dem immer schneller werdenden Tempo zu folgen und musste ausweichen, als Anya eine Mitschülerin in ihren Weg schubste, weil die nicht rechtzeitig ausgewichen war. „Muss … töten …“, brachte sie dabei mit unmenschlicher Stimme hervor. „Anya, wir leben in Zeiten von Verständnis und Fürsorge. Alles kann mit einem guten Gespräch gelöst werden“, rief Abby ihr unbeholfen hinterher.   Doch bevor Anya die beiden erreicht hatte, verabschiedeten sich Marc und Valerie und gingen getrennte Wege. Marc hatte nämlich Football-Training, eines der Privilegien der Spieler, die dadurch den ach so wichtigen Geschichtsunterricht verpassten. Valerie hingegen nahm ebenfalls am Geschichtskurs teil und wollte gerade ins Gebäude eintreten, als sie Anya, Nick und Abby entdeckte. Strahlend winkte sie die Drei zu sich herüber. „Hey!“, trällerte sie mit langgezogener Stimme. „Schnauze, Redfield!“, herrschte Anya das Mädchen an, als sie ihm schließlich gegenüber stand.   Valerie war eine ausgemachte Schönheit. Ihr seidiges, schwarzes Haar hing ihr bis zur Hüfte hinab. Braune Rehaugen schmückten das zierliche, kantenlose Gesicht. Unnötig zu erwähnen, dass ihre Figur jedem Mann feuchte Träume bescherte, denn alles saß genau da, wo es hingehörte. In den richtigen Mengen selbstverständlich. Dazu trug sie noch sündhaft teure Markenkleidung, heute zum Beispiel eine weiße Bluse und Hose, alles finanziert von ihrem Vater, dem Bürgermeister von Livington. Kurz: sie war Anyas Version des Teufels. „Sei doch nicht immer so unfreundlich“, beschwerte sich Valerie, „ich habe dir doch gar nichts getan.“ „Sie ist heute etwas schlecht gelaunt“, entschuldigte Abby ein sich wenig heiser sich im Vorbeigehen. Es war kein Geheimnis, dass sie Valerie bewunderte – was nur noch ein Grund für Anya war, dieses Mädchen abgrundtief zu hassen. „Aber sie ist immer schlecht gelaunt“, klang Valerie aufrichtig besorgt. „Vielleicht sollte sie mal eine Stresstherapie anfangen? Nicht, dass sie unter dem ganzen Druck noch zusammenbricht. Die Schule ist hart geworden, wir sind schließlich der Abschlussjahrgang.“ Anya wirbelte herum. „Du brauchst gleich 'ne Therapie, Redfield! Ne Schmerztherapie!“ Die zuckte verwirrt mit den Schultern. „Ich meine es doch nur gut. Du bist manchmal wirklich unausstehlich, weißt du das?“ Mit diesen Worten stolzierte sie an den Dreien vorbei und war kurz darauf in einem der Gänge des Schulgebäudes verschwunden. Insgeheim dachte Abby, dass Anya vermutlich gar nicht mitbekam, wie sie auf die Menschen um sie herum wirkte. Sie seufzte und folgte ihren Freunden schließlich, als diese zum Klassenraum wollten.   ~-~-~   Anyas Laune hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil, sie war eine tickende Zeitbombe die nur darauf wartete, hochgehen zu dürfen. Sie, Nick und Abby saßen an ihrem Stammtisch draußen vor der Kantine und aßen ihr Mittagessen unter dem klaren, blauen Himmel. Nur hatte Anya keine Augen für die Schönheit des Spätsommers, sondern für die zwei Personen, die zusammen derart gemischte Gefühle in ihr verursachten, dass sie davon Magenkrämpfe bekam. Valerie und Marc aßen zusammen am selben Tisch, keine zehn Meter von ihnen entfernt. „Das hat er noch nie gemacht“, wiederholte Anya sich zum vermutlich fünfzigsten Mal. „Der hat noch nie mit ihr zu Mittag gegessen. Und wie er sie ansieht! Er ist so umwerfend …“ Marc war ein hochgewachsener, junger Mann mit kurzem, dunklem Haar und einem Kinnbart. Sein Gesicht hatte etwas natürlich Freundliches, was teilweise am noch leicht vorhandenen Babyspeck lag. Dennoch war er sehr durchtrainiert, wenn auch nicht so breit gebaut wie die anderen Footballspieler seines Teams. Zudem hatte er wunderschöne braune Augen und ein Lächeln, für das Anya im wahrsten Sinne des Wortes töten würde.   „Das ist nicht fair! Wieso die und nicht ich!?“ Abby seufzte. Seit Marc vor etwa einem Jahr nach Livington gezogen war, kannte Anya kaum noch ein anderes Thema. Vor ihm hatte sie vermutlich nicht einmal um Valeries Existenz gewusst und nun tat sie so, als wäre sie der Ursprung alles Bösen. Aber dass Anya sich in Marc verguckt hatte, stimmte Abby zumindest positiv in der Hinsicht, dass ihre Freundin tatsächlich zu Emotionen imstande war, die nicht Wut, Hass oder Neid hießen. Das brünette Mädchen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil du noch nie mit ihm geredet hast?“ „Doch, einmal. Am 8. März diesen Jahres gegen elf, da hat er mich gefragt, ob er bei mir Mathe abschreiben kann.“ „Kein Wunder, dass er seitdem nicht mehr mit dir redet“, gluckste Nick. Anya musste nur die Faust hochheben, da schreckte der junge Mann so zurück, dass er samt seinem Stuhl umkippte. Doch keiner der Schüler um sie herum lachte, denn sie wussten, dass sie auch dort liegen würden, wenn sie Anyas Freunde verspotteten. „Ha-da-haaa-da da da da!“ Anya zeigte plötzlich mit zitterndem Arm auf Marc und Valerie. Letztere beugte sich plötzlich in eindeutiger Pose über den Tisch und kam mit ihrem Gesicht dem von Marc näher. Anya schrie: „Die will ihn küssen! Was soll ich tun, was soll ich tun!?“ Hilflos wandte sie sich an ihre Freunde. „Mach mit“, riet Nick ihr und zwinkerte mit beiden Augenbrauen, dreckig grinsend. „Tu, was du immer tust“, meinte Abby mit resignierendem Tonfall. Das Unglück war ja doch nicht aufzuhalten. Aber es war schon zu spät. Valerie hatte … Marc einen Krümel aus dem Bart gezogen. „Das wird sie mir büßen!“, fauchte Anya aufgebracht und sprang von ihrem Stuhl auf.   Mit angespannten Oberkörper stampfte sie in bester Rambo-Manier auf den Tisch der beiden zu und baute sich bedrohlich vor Valerie auf. Die bemerkte Anya erst, als Marc sie mit einer Handbewegung auf die Blondine hinwies. Neugierig drehte Valerie sich um und lächelte erfreut. „Oh, Anya, schön dich zu sehen. Wir haben gerade über dich gesprochen. Willst-“ „Du lästerst also über mich, was Redfield?“ „Ne-nein.“ Valerie hob entschuldigend die Hände. „Ich wollte nur-“ „Du und ich, Frau gegen Frau, keine Messer, Baseballschläger oder anderen Gegenstände, die sich als Waffen qualifizieren. Nur unsere Fäuste!“ Valerie stand nun vorsichtig auf. „Anya, bitte, ich wollte dich nicht verärgern. Wir haben nur gerade darüber geredet, dass du nicht mehr Reservespielerin sein musst – falls wir dieses Jahr noch spielen. Eishockey, verstehst du?“ „Mir doch egal!“, fauchte Anya und spuckte ihr Gegenüber dabei mehr oder weniger versehentlich an. „Wir klären das jetzt auf ganz traditionelle Art und Weise!“ „Aber es gibt doch gar nichts zu klären!“ Völlig aufgelöst wandte Valerie sich an Marc, doch der zuckte nur ebenso verwirrt wie sie es war mit den Schultern. „Klar gibt es das! Du hast … hi Marc.“ Der Wechsel ihrer Stimmlage von zornig-raunend zu friedlich-verträumt kam so plötzlich, dass er Anya selbst ein wenig erschrak. Nicht, dass es sie störte. „Hi.“ Gab der nur tonlos von sich, was aber reichte, um das Mädchen innerlich Freudensprünge vollführen zu lassen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: 12:49 und es war Donnerstag, der 5. September – ein denkwürdiges Datum!   Schließlich wandte sie sich wieder an Valerie. „Also? Bist du ne Memme oder hast du den Mut, dich mit mir zu messen? Ach was frag ich überhaupt!“ Mit ausgestreckten Armen wollte sie über ihre verhasste Erzrivalin herfallen, doch die trat einen Schritt zurück und hob die rechte Hand. „Stopp!“ Ihr Ton hatte sich verändert und war nun ebenso wütend wie der Anyas. „Keine Ahnung, welche Laus dir heute über die Leber gelaufen ist, aber es reicht! Ich weiß ja nicht, woher deine Abneigung mir gegenüber herkommt, aber wenn du dich wirklich mit mir anlegen willst, bitteschön. Aber nicht so!“ Anya zwinkerte verwirrt. „Wie denn dann?“ „Ein Duell“, antwortete Valerie bestimmend. „Du wirst wohl einsehen, dass ich dir körperlich nicht das Wasser reichen kann. Es wäre nicht fair und ich erwarte von dir zumindest so viel Charakter, dass du das einsiehst. Im Duell hingegen sind die Chancen gleichmäßig verteilt. Also, was sagst du?“   Was bildete sich diese Ziege ein, fragte Anya sich wütend. Als ob es sie scherte, ob irgendein Kampf fair war oder nicht. Es gab nur Gewinner und Verlierer, mehr nicht. Und sie hatte nicht vor, zu Letzterem zu gehören. Andererseits … sie sah Marc an, dessen Blick erwartungsvoll an ihr haftete. Vermutlich wäre es nicht die beste Idee, vor seinen Augen jemanden zu verdreschen, der ihm etwas zu bedeuten schien. So ein Mist aber auch! Obwohl … eigentlich war das Duell gar kein so schlechter Einfall von Valerie. So konnte sie Marc zeigen, dass mehr in ihr steckte, als nur rohe Gewalt. Vielleicht würde er dann endlich Notiz von ihr nehmen?   „'kay“, brummte sie schließlich gönnerhaft. „Bin ja kein Unmensch.“ „Dann schlage ich vor, dass wir unsere Duel Disks holen. Meine ist im Spind.“ „Meine auch. In zehn Minuten, genau hier. Und wehe, du bist dann nicht da, wenn ich zurück bin.“ Valerie rollte genervt mit den Augen. „Glaub mir, du wirst dir noch wünschen, dass ich nicht gekommen wäre.“   ~-~-~   Die beiden jungen Frauen standen sich mit voller Entschlossenheit in ihren Mienen gegenüber. Valerie, die sich Anyas Frechheiten nicht länger gefallen ließ und natürlich Anya selbst, die nur darauf wartete, ihrer Erzfeindin eine saftige Abreibung zu verpassen. Sie befanden sich nahe der großen Eiche bei den Sporthallen, auf der großen Wiese des Campus, umringt von einer Traube neugieriger Schüler. Ausnahmslos alle feuerten Valerie an, doch das störte Anya nicht im Geringsten. Sie hat nur ein Ziel vor Augen: das andere Mädchen nach allen Regeln der Kunst zu demütigen. „Können wir anfangen?“, fragte die ungeduldig. „Klar doch.“ Anya grinste, doch als plötzlich das Bild der falschen, bösartig wirkenden Anya vor ihrem inneren Auge erschien, hörte sie sofort damit auf. Warum fing das gerade jetzt an!? Sie wollte sich nicht daran erinnern! Albträume waren scheiße! Es war gerade einmal genug Platz für die beiden, um sich vernünftig duellieren zu können. Aus dem immer größer werdenden Kreis der Schülerschaft gab es kein Entkommen. Ganz vorne in der ersten Reihe, hinter Anya, standen Nick und Abby. Selbst sie feuerten ihre Freundin nicht an, denn gerade Abby empfand das Verhalten der Blondine als fürchterlich übertrieben. Sie wollte sie darin nicht noch bestärken. „Duell!“, riefen die beiden Frauen schließlich voller Eifer.   [Anya: 4000LP / Valerie: 4000LP]   „Die Herausforderin fängt an!“, entschied Anya unwirsch und zog zu ihrem Startblatt eine sechste Karte, ehe Valerie widersprechen konnte. Pah, dachte sie sich dabei schadenfroh, das funktionierte wirklich jedes Mal! Ihre Hand musternd, überlegte Anya, wie sie am besten vorgehen sollte. Wieder kamen die Erinnerungen an das Duell mit Levrier. Wie sein Höllenhund ihr so real erschienen war, wie er ihr durch die Zerstörung ihres Monsters Schmerzen zugefügt hatte. Sie schüttelte widerwillig den Kopf. Nein, dieses Mal würde sie sich nicht überrumpeln lassen. Es war ohnehin alles nur ein Traum gewesen! Dennoch entschied Anya sich letztlich, dieses Mal einen defensiven Eröffnungszug zu spielen. Mit den Karten in ihrer Hand war das auch nicht weiter schwer. „Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich [Gem-Knight Sapphire] und [Gem-Knight Emerald] von meiner Hand! Sapphire, du bist das Herz, Emerald, du die Rüstung! Los!“ Ein bunter Wirbel bestehend aus etlichen, tanzenden Edelsteinen erschien über ihr. Sapphire, der Ritter des Saphirs in seiner blauen Rüstung und Emerald, der Krieger in blassgrüner Rüstung und Herr der Smaragde, wurden in den Strom hineingezogen und schufen aus ihrer Lebensessenz ein neues Monster. Dieses ging vor Anya in die Knie. Er war ein Krieger in dunkelblauer Rüstung und gleichfarbigem Umhang, welcher einen Schild am rechten Arm trug, in dem ein wunderschöner Aquamarin steckte. Eine Klinge, aus ebenjenem Edelstein geschmiedet, ragte aus dem Schild hervor. „Beschütze mich, [Gem-Knight Aquamarine]!“   Gem-Knight Aquamarine [ATK/1400 DEF/2600 (6)]   „Dazu setze ich noch zwei Karten verdeckt“, donnerte Anya ehrgeizig und schob die Fallen in die Schlitze ihrer guten, alten Battle City-Dueldisk. Ihr Vater, dem sie einst gehört hatte, war einer der Teilnehmer des mittlerweile legendären Duellturniers gewesen. Und auch wenn er es nicht in die Finalrunden geschafft hatte, war Anya mächtig stolz auf diese Tatsache – und wurde in diesem Zuge auch nie müde, es jedem zu erzählen, der nicht imstande war wegzurennen. Die beiden Karten erschienen mit dem Bild nach unten gerichtet vor ihren Füßen. „Das war's erstmal von mir. Na dann zeig mal, was du so kannst, Redfield!“   Valerie strich sich durch das lange, schwarze Haar und legte den Kopf in den Nacken. Die Geste hatte etwas Abfälliges an sich, was Anya augenblicklich zur Weißglut trieb. Aber sie beherrschte sich, solange Marc zusah. Warum stand der bloß auf Valeries Teil des Spielfelds? Was hatte die, was sie nicht hatte!? „Du wolltest es nicht anders, Anya. Sag nicht, ich hätte nicht versucht, dich davon abzuhalten. Aber manche lernen es nie“, sprach Valerie siegessicher. Dann zog sie so schwungvoll und zugleich elegant, dass ihre Gegnerin schon überlegte, nicht vielleicht doch mit der Duel Disk, statt den Karten darauf, zuzuschlagen. Ihre Rivalin hielt eine Monsterkarte zwischen Mittel- und Zeigefinger, ganz nah an ihrem Gesicht. Die braunen Augen funkelten vor Entschlossenheit. „Ich rufe [Gishki Chain]!“ Aus einer großen Wasserlache, die plötzlich entstand, schoss eine grüne Amphibie mit dem Körperbau eines Menschen. Um seinen Körper herum hatte das Wesen eine lange Kette gewickelt, die es jetzt schwang – doch völlig unerwartet in Valeries Richtung.   Gishki Chain [ATK/1800 DEF/1000 (4)]   Die Kette verschwand mitten in Valeries marineblauer Duel Disk, die sie nun in die Höhe hielt. „Wenn [Gishki Chain] als Normalbeschwörung gerufen wird, sehe ich mir die obersten drei Deckkarten an. Sollten darunter Ritualmonster- oder Zauberkarten sein, kann ich eine davon meinem Blatt hinzufügen.“ Als digitales Abbild erschienen vor Valerie drei Karten. Auch Anya konnte ihre Vorderseite sehen, da die Karten jene beidseitig zeigten. Einmal war da das Effektmonster [Gishki Ariel], dann die Falle [Torrential Tribute] und … ein blau-umrandetes Monster, [Evigishki Soul Ogre]. Ein Ritualmonster! Valerie, die die drei Karten in der Hand hielt, behielt die unheimliche Kreatur und legte die anderen beiden Karten auf ihr Deck zurück. „Ich werfe jetzt [Gishki Vanity] von meiner Hand ab, um seinen Effekt zu aktivieren“, sagte Valerie. Hinter ihr erschien ein Mann mit schwarzem Haar, gekleidet in ein Priestergewand. Er flimmerte jedoch nur kurz auf und war dann verschwunden. „Und was sollte das jetzt?“, herrschte Anya ihre Gegnerin an. „Wart ab, du wirst es schon sehen.“ Lautete die unbefriedigende Antwort. „Bis dahin aktiviere ich die Ritualzauberkarte [Gishki Aquamirror]. Hast du Einwände?“ „Ja, aber dagegen unternehmen kann ich nichts“, maulte Anya widerwillig. Valerie lächelte zufrieden. Sie schien Spaß an dem Spiel zu haben, was der Blondine überhaupt nicht gefiel. „Mit diesem Spiegel kann ich [Evigishki Soul Ogre] beschwören, wenn ich genug Opfer darbiete, um seiner Stufe gleichzukommen. Oh, und sie ist 8.“ Ein goldener Spiegel erhob sich vor Valerie. In ihrem spiegelte sich die Karte, die Valerie als Tribut anbieten wollte. Es war ein Effektmonster, Anya konnte es nicht genau erkennen … aber es gehörte eindeutig der Stufe 4 an, wie sie anhand der orangefarbenen Sterne am oberen, rechten Kartenrand erkennen konnte! „Hey, das ist zu wenig! Du musst mehr-“ „Bist du immer so vorlaut, Anya?“, unterbrach Valerie sie spitz. „Natürlich reicht es nicht, aber das spielt gar keine Rolle, weil [Gishki Shadow] ohnehin alle Kosten für die Ritualbeschwörung eines Wasser-Monsters übernimmt. Und nun sieh her, denn aus endlosen Kristallfontänen erscheint [Evigishki Soul Ogre]!“ Und es war genau so, wie Valerie es beschrieben hatte. Mehrere Wassersäulen schossen aus dem Boden empor, sie alle waren glasklar und bildeten nach und nach einen großen Kreis inmitten von Valeries Spielfeldseite, welcher sie vor Anyas Blicken abschirmte. Als die Säulen nahtlos ineinander übergingen, tauchte hinter ihnen ein riesiger Schatten auf. Die Fontänen verebbten und ließen etwas zurück, von dem Anya nie geglaubt hätte, dass ein so damenhaftes Wesen wie Valerie es je ausspielen würde. Es war wie eine Mischung aus Mensch, Amphibie und Dinosaurier. Das Ungetüm stand auf zwei Beinen, hatte dunkelblaue, schuppige Haut und eine feinen Kamm aus Schwimmhäuten, der von seinem Haupt hin zu seiner massiven Schwanzflosse reichte. Das eigentümlichste Merkmal war aber der Kopf, der eher zu einem Dinosaurier passte, als zu einem Meeresbewohner. Das über drei Meter große Ungeheuer gesellte sich zu seinem Kameraden.   Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 DEF/2800 (8)]   Anya war beeindruckt. Das Ding vermochte es sogar, die ohnehin schon ziemlich hohe Verteidigung ihres Ritters zu durchbrechen. Aber dazu würde es gar nicht erst kommen! „Verdeckte Falle aktivieren! [Bottomless Trap Hole]!“ Sie drückte hitzig den Knopf, der die Aktivierung auslösen sollte. Einmal, zweimal, aber egal wie oft sie es versuchte, nichts geschah. „Das brauchst du gar nicht zu versuchen“, rief Valerie. „Erinnerst du dich an [Gishki Vanity]? Er verhindert, dass du auf die Beschwörung von meinem Soul Ogre reagieren kannst. Deine Falle ist blockiert und wird dir nichts mehr nützen, denn sie kann nur aktiviert werden, wenn ein Monster mit 1500 oder mehr Angriffspunkten gerufen wird. Diesen Zeitpunkt hast du jetzt aber verpasst!“ Vor Wut knirschte Anya mit den Zähnen. „Schön, diese Runde geht an dich.“ Aber du wirst dich noch wundern, dachte sie mit grimmiger Zufriedenheit. Denn Aquamarine hatte noch eine böse Überraschung parat. „Ich nutze jetzt den Effekt von Soul Ogre und lege [Gishki Marker] ab, damit ich eine deiner offenen Karten auf dein Deck zurückschicken kann!“ „Oh fu-!“ Valerie hielt die Karte hoch in die Luft, bis sie zu Wasser wurde und von ihrem Ungetüm eingesaugt wurde. Dieses schoss dann einen gewaltigen Wasserstrahl auf Aquamarine.   Anya konnte es nicht fassen. Nicht nur, dass diese hinterhältige Sumpfkuh ihren Ritter so einfach beseitigt hatte, nein, er wurde auch ins Extradeck geschickt. Um seinen Effekt aber einzusetzen und den Seelenoger auf Valeries Hand zu geben, hätte Aquamarine den Friedhof betreten müssen. So ein Mist! Plötzlich stand Anya völlig ungeschützt da, sie hatte nur noch ihre verbliebene Falle.   „Ich hoffe du verstehst jetzt, wovon ich gesprochen habe“, sagte Valerie stolz. „Ich bin vielleicht keine Sportskanone, so wie du, aber dafür in anderen Dingen wesentlich geschickter. Es wäre nett, wenn du mich in Zukunft in Ruhe lassen würdest, okay?“ Anya gab nur einen genervten Zischlaut von sich. Diese dumme Schnepfe wurde langsam unerträglich. Ebenjene strecke den Arm aus und zeigte direkt auf ihre Gegnerin. „[Gishki Chain], [Evigishki Soul Ogre], eure vereinte Angriffskraft reicht aus, um sie mit einem Schlag zu besiegen. Also tut eure Pflicht!“ Die Blondine schreckte zurück. Valerie hatte vollkommen recht, sie würde diesen Angriff nicht überstehen. Und verhindern konnte sie ihn auch nicht. Sie sah panisch auf ihre Duel Disk. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die Kette von der einen und ein gewaltiger Wasserstrahl von der anderen Seite auf sie zugeschossen kamen. Sie konnte die Attacke nicht aufhalten … aber den Schaden eindämmen! „Verdeckte Falle! [Inverse Universe]!“ Die vor ihr liegende Karte sprang auf. Plötzlich wurden Valeries Monster in die Knie gezwungen. Die Angriffe von beiden Seiten blieben mitten in der Luft stehen, als hätte jemand die Zeit angehalten. Valerie kniff skeptisch die Augen zusammen. „Was wird das, wenn es fertig ist?“ „Damit verdrehe ich die Angriffs- und Verteidigungswerte aller Effektmonster auf dem Feld dauerhaft.“ „Mehr nicht?“ Anya biss sich auf die Lippe. Mehr nicht? Verdammter Mist, dadurch würde sie den Zug überstehen! Diese arrogante Ziege ging ihr so was von auf den Keks!   Gishki Chain [ATK/1800 → 1000 DEF/1000 → 1800 (4)] Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 → 2800 DEF/2800 → 2800 (8)]   Die Zeit hatte zu ihren Wurzeln zurückgefunden. Die Angriffe trafen Anya, doch gingen durch sie hindurch wie ein Hauch von nichts. Dennoch schützte sie sich mit ihren Armen, denn sie rechnete mit Schmerzen. Eine Angewohnheit, die sie offenbar durch die Begegnung mit Levrier, dem Nicht-Existierenden, angenommen hatte. Und sie hasste es.   [Anya: 4000LP → 200LP / Valerie: 4000LP]   Laute Jubelrufe erklangen von den Schülern, sie alle galten Valerie. „Verliert Anya gerade?“, fragte Nick heiter. Abby seufzte. „Ja. Hast du was anderes erwartet?“ „Klar! Schlammcatchen!“ Das Hippie-Mädchen verdrehte die Augen. Warum hatte sie überhaupt gefragt?   Anya indes hatte sich gefangen. Noch war sie nicht aus dem Rennen und würde schon einen Ausweg aus dieser Misere finden. „Ich setze meine letzte Handkarte verdeckt“, verlautete Valerie. „Du bist dran.“   Ihre Gegnerin ballte eine Faust. Anya musste jetzt ein glückliches Händchen beweisen, sonst würde sie auf ewig die Lachnummer der ganzen Schule sein. Es war zwar selbstverständlich, dass sie jedem den Hals umdrehen würde, der es wagte über sie laut zu lachen. Ihren Ruf hingegen würde sie dadurch nicht retten können. Sie durfte nicht gegen Valerie verlieren! „Draw!“, fauchte sie wie ein wild gewordener Löwe. Und was sie in den Händen hielt, gefiel ihr – das normale Monster [Gem-Knight Tourmaline]. „Effekt von [Gem-Knight Fusion] aktivieren. Ich verbanne einen Gem-Knight aus meinem Friedhof und bekomme meine Zauberkarte dafür von ebenjenem zurück!“ Sie nahm Sapphire und steckte ihn in ihre Hosentasche, während der Zauber in ihr Blatt wanderte. „Und jetzt mit Schmackes! [Gem-Knight Fusion]! Dieses Mal aber auf eine etwas andere Art und Weise! [Gem-Knight Tourmaline], du bist das Element, [Gem-Knight Garnet], du der Ursprung! Vereinigt eure Kräfte und werdet zu [Gem-Knight Prismaura]!“ Aus dem Wirbel aus Edelsteinen, der entstanden war und die Ritter in jeweils goldener und bronzener Rüstung absorbiert hatte, trat ein völlig neues Geschöpf hervor. Er hatte keine Ähnlichkeit mit seinen Vorgängern. Der Ritter trug eine Lanze ganz aus Kristall sowie einen runden Schild. Aus den Schulterplatten des Kriegers ragten ebenfalls große Kristalle und sein Helm war mit Hörnern verziert, was ihm eine eigentümliche Note verlieh.   Gem-Knight Prismaura [ATK/2450 DEF/1400 (7)]   „Und weil's so lustig war, gleich nochmal. Ich verbanne Garnet und erhalte meine [Gem-Knight Fusion] zurück.“ Anya hielt die Karte in die Höhe, als würde sie dadurch den Himmel berühren können. „Prismaura, Effekt aktivieren! Nur einmal pro Zug kann ich eine Gem-Knight-Karte abwerfen, um eine offene Karte meines Gegners zu zerstören!“ Sie schickte ihre eben erst zurück erhaltene [Gem-Knight Fusion] dorthin, wo sie hergekommen war – auf den Friedhof. Anya zeigte auf den Seelenoger. „Rest in Pieces, Miststück!“ Ihr Ritter richtete seine Lanze auf das Ungetüm und schoss aus dem Kristall einen gleißenden Lichtstrahl, der [Evigishki Soul Ogre] in einer grellen Explosion vernichtete. Valerie, ernsthaft erschrocken, wich einen Schritt zurück. Doch sie fasste sich schnell wieder. „Gut gemacht. Aber das allein reicht nicht, um mich unterzukriegen. Komm ruhig her und greif mich an – wenn du dich traust, natürlich!“ Das ließ Anya sich nicht zweimal sagen. „Worauf du Gift nehmen kannst, Redfield! Los Prismaura, Divine Lance Strike auf [Gishki Chain]!“ Der Krieger warf seine Lanze in die Luft und packte sie am Griff, zum Wurf bereit. Mit aller Kraft schleuderte er sie in Richtung Valerie, die aber nur darauf gewartet zu haben schien. „Falle! [Poseidon Wave]! Damit stoppe ich den Angriff und-“   Die Hologramme verschwanden ohne Vorwarnung. Einen Moment lang ging verwirrtes Gemurmel durch die Schülerschaft. Anya, die erst nicht wusste, was geschehen war, schaute auf ihre Duel Disk. Die Lebenspunkteanzeige war schwarz und ein Blick auf Valerie verriet, dass es ihr nicht anders erging. Das Duell war kurz vor dem Höhepunkt unterbrochen worden. „Was für ein verdammter Kackmist ist das denn!?“, fauchte Anya. Plötzlich streifte etwas ihre Wange. Regen. Sie sah nach oben und bemerkte erst jetzt, dass der Himmel in tiefem Grau über ihnen stand. Es blitzte und donnerte.   Die enttäuschte Traube löste sich langsam auf. Abby und Nick eilten zu Anya, die schimpfte wie ein Rohrspatz. „Anscheinend haben die hiesigen Server der AFC schlapp gemacht“, meinte ihre Freundin, doch das war keine Entschuldigung für Anya. Wenn sie den Kampf nicht so entscheiden konnten, mussten sie sich eben doch prügeln! Sie suchte nach Valerie, doch die war nirgendwo mehr zu sehen. Und Marc auch nicht, wie Anya enttäuscht feststellen musste. Schwere Regentropfen prasselten auf sie nieder. „Wir sollten reingehen“, meinte Abby, „sonst erkälten wir uns noch. Mutter Natur ist zwar gütig, aber auch etwas launisch und ich möchte mich eigentlich nicht mit ihr anlegen.“ „Von mir aus.“ Anya rümpfte die Nase. War dieses Miststück doch tatsächlich davongekommen! Aber was war diese Fallenkarte, die sie zum Schluss aktiviert hatte? Valerie schien so selbstsicher, als sie sie ausgespielt hatte. Was Anya nur umso wütender machte. Die Drei eilten auf das Backsteingebäude zu, um ins Trockene zu gelangen. „Schon komisch“, meinte Abby dabei nachdenklich. „Wo kommt auf einmal dieses Gewitter her? Vor fünf Minuten war der Himmel noch völlig wolkenfrei.“ „Zauberei!“, gluckste Nick und erntete natürlich nur Gestöhne. Anya Bauer!   Das Mädchen wirbelte erschrocken um. Diese Stimme, das war- Unter schrecklich lautem Getose schlug ein Blitz gar nicht weit von der Schule ein. Anya war geblendet von seiner Intensität, doch sie hatte ihn genau gesehen. Und er hatte so seltsam ausgesehen, irgendwie viel zu rot und massig für einen normalen Blitz. Und diese Stimme … „Boah, das war cool“, gluckste Nick begeistert. Mittlerweile waren sie alle klitschnass, doch Anya fühlte sich plötzlich so unwohl, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Dieser Blitz, die Stimme, das abgebrochene Duell. Was ging hier vor sich? „Leute“, sagte sie langsam. „Ich … geh mir das anschauen.“ „Was anschauen?“, wollte Abby verwirrt wissen. „Den Blitz … die Einschlagstelle …“ Sie fing sich wieder. Ihre Freunde sollten bloß nicht ahnen, dass ihr das alles ein wenig unheimlich war. Betont lässig meinte sie: „Ist bestimmt cool, vielleicht brennt es sogar irgendwo. Kommt ihr mit?“ „Anya, bist du verrückt? Der Unterricht fängt in ein paar Minuten wieder an! Wir können jetzt nicht dorthin.“ Abby sah sie fordernd an. Aber sie musste, dachte Anya sauer. Da war irgendetwas, sie spürte es im linken, großen Zeh – und der hatte sich noch nie getäuscht. Und sollte es ausnahmsweise doch so sein, umso besser. Bloß würde sie das nie erfahren, wenn sie hier Wurzeln schlug. „Mir doch egal“, schnaubte sie und rannte auf das Ausgangstor des Campus zu. Abby streckte ihre Hand nach Anya aus, seufzte dann. „Die bringt mich noch irgendwann ins Grab mit ihren Ideen. Kommst du auch mit, Nick?“ „Wohin?“, fragte der aufrichtig ahnungslos. Doch Abby hatte ihn längst stehen lassen und war Anya gefolgt.   ~-~-~   Keuchend blieb Anya mitten auf der Straße stehen, die sie als Einschlagstelle vermutete. Mindestens zehn Minuten war sie gerannt, aber die Anstrengungen wurden belohnt. Ihre Ahnung hatte sich als richtig erwiesen, hier war es geschehen. Ein gewaltiger, mehrere Meter breiter Brandfleck prangerte mitten auf dem Asphalt. Er sah seltsam aus, unnatürlich rund und in seiner Mitte war die Straße völlig unbeschädigt und sauber. Tatsächlich war nur der dünne Rand des Kreises verkohlt.   „Hab … ich dich ...“ Anya erschrak. Abby stand hinter ihr und stützte sich von den Knien ab. Sie war völlig außer Atem und genauso pitschnass wie Anya. Nick hingegen war nirgendwo zu sehen. „Du hättest ruhig … etwas langsamer …“ „Stell dich nicht so an“, raunte die Blondine und trat näher an den Kreis heran. Abgesehen von der merkwürdigen Form war nichts Ungewöhnliches an ihm festzustellen. Ihr Blick wanderte weiter über die Straße und blieb an etwas in der Ferne haften, das am Boden lag. „Hey, Abby, was ist das denn?“ Die sah auf und schielte durch ihre getönte Brille. „Sieht aus wie 'ne tote Katze. Oh, das arme Tier.“ „Das ist keine Katze, dafür ist es zu groß.“ Skeptisch näherte sich Anya dem grauen Objekt. Dann blieb sie wie gelähmt stehen. Das war kein Tier, sondern ein Mensch! Das graue Ding war eine Jacke. „Abby … ruf 'nen Krankenwagen“, forderte Anya tonlos und rannte zu dem Verletzten. „Was, aber-“ „Mach schon, der Kerl ist fix und alle!“ „O-okay!“ Das Mädchen eilte auf die liegende Gestalt zu, vielleicht konnte sie noch etwas für sie tun. Doch vor ihr angekommen wusste Anya, dass es für einen Arzt längst zu spät war. Dort lag nur noch ein Gerippe, bedeckt von schlaffer Haut. Das Fleisch, die Muskeln, die Organe … alles schien fort. Selbst die Augen waren nur noch leere Hüllen, die Haut verschrumpelt und aufgesprungen, verkohlt und stinkend. Anya wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Sie stand vor einer verdammten Leiche und konnte nicht einmal schreien!   Sie bemerkte nicht, dass jemand sie beobachtete. Im Gebüsch am gegenüberliegenden Straßenrand stand eine durch Schatten verhüllte Person und verfolgte voller Schadenfreude, wie Anya in die Knie ging. „Anya Bauer heißt sie? Ist sie eine von denen?“ Er machte ein Geräusch, das Verständnis ausdrücken sollte und nickte. „Dann werde ich sie vernichten, wie diesen Trottel dort. Was sagst du, nicht 'Another'? Schade. Wie? Ich soll noch etwas warten? … verstehe. Also schön, eine andere Wahl bleibt uns wohl nicht. Ich hoffe, sie genießt ihre letzten Atemzüge … dämonische Brut!“   ~-~-~   Anya blickte unentwegt in den Spiegel, sah ihr immer noch nasses Antlitz und war doch an einem fernen, gedankenlosen Ort. Sie und Abby hatten der Polizei alles geschildert, alles genau beschrieben und waren schließlich von ihren Müttern abgeholt worden. Jetzt stand sie im Flur, die Hände von Sheryl auf den Schultern und blickte in die Leere. Ihre Mutter war leichenblass, die dunkelblonde Dauerwelle durch den Regen außer Form geraten. Leichen … Anya hatte noch nie zuvor eine gesehen. Es war ganz anders, als wenn man sich ausmalte, wie man Valerie um die Ecke brachte. Das waren nur Fantasien, aber der Tote dort war real gewesen. Und die Stimme hatte sie erst dort hingeführt. Levriers Stimme. „Liebling, kannst du … soll ich dir helfen?“ „Nein, Mum“, antwortete Anya mechanisch. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer etwas zu großen Lederjacke, während ihre Mutter resignierend von dannen schritt. Anyas Blick lag gebannt auf ihrem Ebenbild. An den blauen Augen, dem durchnässten, blonden Pferdeschwanz und den harten Gesichtszügen war nichts Ungewöhnliches auszumachen. Und doch! Es war, als würde sie nicht sich selbst ansehen, sondern eine völlig fremde Person. Jemanden wie Levrier. War er zurück? Hatte er das etwa getan? Aber sie hatte ihn doch vernichtet! Nein, das konnte nicht sein, das war ein Hirngespinst! Es gab keine übernatürlichen Wesen, der Tote war vermutlich vom Blitz getroffen und weg geschleudert worden. Aber seine Kleidung … sie war völlig unbeschädigt gewesen. Nein, sagte Anya sich, das war Quatsch, Levrier gab es schließlich nicht! Stöhnend schüttelte sie den Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Dabei konnte sie nicht sehen, wie ihr Spiegelbild verweilte, obwohl sie außer Reichweite war. Es drehte seinen Kopf in Anyas Richtung und machte ein mitleidiges Gesicht. Dann verschwand es.     Turn 03 – Hunter Obwohl Anya Levrier besiegt hat, reißen die seltsamen Vorkommnisse nicht ab. Einige Schüler werden sogar mitten im Unterricht krank und fallen in Ohnmacht. Obwohl Schulärztin Doctor Warren eine Lebensmittelvergiftung als Ursache benennt, ist Anya sich da nicht so sicher. Spätestens als der geheimnisvolle Alastair auftaucht, welcher sich als Dämonenjäger bezeichnet, erweisen sich Anyas Zweifel als berechtigt. Nachdem Alastair Anya dann noch als Dämon und somit als seine Beute deklariert und sich mit ihr duellieren will, schweben Anya und ihre Freunde in ungeahnter Gefahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)