Von Prinzessinnen, Alkoholleichen und Gedächtnislücken von Komori-666 ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Chemie? Ich hab Chemie? Ich dachte, das hätte ich abgelegt.“ „Hast du auch, du hast Bio.“ „Wieso hab ich dann jetzt Chemie?“ „Das liegt wohl daran, dass du eigentlich auf die Schule nebenan gehst.“ „Äh...Scheiße! Wie spät ist es?!“ „Unterrichtsbeginn“ „Alter, ...! ...Ich besuch dich definitiv zu oft.“ „Tja...“ Als er vom Stuhl aufsprang, sich seinen Rucksack krallte, war er vor lauter Hektik schon wieder dabei, fast gegen die Tür zu rennen. Er rief mir noch ein 'Ciao' zu und ich sah ihm, langsam mit den Kopf schüttelnd, hinterher. Genauso wie der Rest meiner Klasse. Langsam (und zwar wirklich quälend langsam) drehte ich mich aus meiner Bank in der ersten Reihe zu den anderen um, gähnte. „Was denn? Nun gafft nicht so. Ihr kennt ihn doch jetzt langsam, ist ja nicht das erste Mal, dass er hier ist.“ „Aber es ist das erste Mal, dass er sich beim Rausrennen vor der Tür erschrocken hat“ „Maul halten, Blondi.“ Irgendjemand musste ihn ja in Schutz nehmen. Beziehungsweise war es schon fast meine Pflicht Valentin in Schutz zu nehmen. Schließlich kam er nur rüber, weil ich ihn in den Sommerferien darum gebeten hatte. Die ganze Sache fing damit an, dass wir am Anfang der Sommerferien überrascht festgestellt hatten, dass meine kleine Schwester ab dem neuen Schuljahr in die fünfte Klasse gehen würde. Zumindest war es für mich und Valentin eine komplett neue und verwirrende Erkenntnis... Wer rechnete auch damit, dass man nach der vierten Klasse in die fünfte kam? Nun gut, ob diese Tatsache von Bedeutung war, sei dahingestellt. Was wichtig war, war, dass mit dem Jahrgangswechsel ein Schulwechsel verbunden war. Es versteht sich, meine kleine Schwester war schon immer sehr unselbstständig. Nichts konnte sie allein. Also musste eben für alles, was Klein-Prinzesschen nicht allein konnte, der große Bruder herhalten. „Ach Stefan, nun hab dich doch nicht so. Sie ist doch noch SO klein und du bist schon siebzehn!“ Und mit diesem Satz hatten mich meine Eltern auf der Schule, auf der meine kleine Schwester zukünftig zu finden sein würde, eintragen lassen. Nun, okay, meine alte Schule und diese waren direkt nebeneinander, aber das ging doch ein Stück zu weit. Aber alles, was mein Vater auf mein stures Verweigern zu sagen hatte war, „Wir sind hier nicht bei 'Wünsch dir was', Stefan. Sondern bei 'So isses!'. Du wolltest doch ohnehin mehr Verantwortung zugesprochen bekommen.“ Ja, damit meinte ich einen Führerschein und kein KIND. Aber ändern konnte ich es jetzt auch nicht mehr, es wäre noch dümmer jetzt erneut zu wechseln, als die Idee überhaupt gewechselt zu haben. Oder...auch nicht. Aber Sinn ergab es jedenfalls nicht und das war Fakt. Während ich mich mit meinen Gedanken wieder mit Alleskleber in der Vergangenheit festpappte, nahm ich nur nebenbei die amüsierten Gesichter der anderen wahr. Ich wusste nicht, ob ich Angst haben sollte. Denn es war nie gut, wenn wirklich alle amüsiert waren, oder eher: wenn sie alle von ein und dem selben unterhalten wurden. Musste man nur noch herausfinden, was genau so sehr für allgemeines Getratsche und Gegrinse verantwortlich war. Und wieso Blondi neben mir, ich glaube er hieß Mark oder etwas dergleichen, seinen 'Na-das-war-ja-wieder-mal-klar'-Blick nach vorne richtete. Ich konnte es mir nicht erklären, aber im Gegensatz zu sonst, hatte mich die Neugier noch nicht gepackt, das Verlangen selbst nachzusehen verlor haushoch gegen die Faulheit. „Ouuu weia! Um den muss man sich echt Sorgen machen.“ „Das kommt ...in den besten Familien vor!“ Diese Stimme kannte ich nur zu gut, schnell drehte ich mich um. Das war ja jetzt wohl nicht wahr. „Was machst du denn hier?“ Schniefend und schnaufend hustete Valentin erst einmal eine Runde, bevor er dann tief Luft holte, um eine Antwort von sich zu geben. „Ich hab vorhin den falschen Ordner mitgenommen.“ Also, MIR wäre es nicht aufgefallen, dass da nicht mein schwarzer Ordner vor mir lag. Jedoch wäre es das spätestens dann, wenn ich meine Chemieunterlagen gesucht hätte. Als ich jedoch auf den Tisch sah, musste ich erstmal feststellen, dass das mit dem Ordner-Verwechseln gar nicht möglich gewesen wäre. „...Kann nicht sein. Hier ist nur ein Ordner. Und den hast du wahrscheinlich gerade...“ „Ich hab ihn... versehentlich mitgenommen. Aus Gewohnheit.... Hab meinen vergessen.... Zuhause.“ „Und jetzt?“ „Hä?“ „Du warst noch nie der Hellste. Was machst du jetzt?“ „Wie, was.. ich jetzt mache?“ … Spätestens, wenn er wieder rüber gerannt war, würde er an Luftmangel krepieren, klang sein Keuchen schon gar nicht mehr gesund. „Hast du jetzt nicht Unterricht?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen, musterte ihn bedenklich. „Oh....oh...“ ~ ~ Es war ungefähr drei Uhr Nachmittag, ich hatte Schulschluss, gab meiner Schwester ihr Pausengeld wieder zurück, damit sie sich eine Busfahrkarte kaufen konnte und bequemte mich langsam zu meinem Roller. Motor anlassen. Losfahren. Jedes Mal aufs Neue war es ein unglaublich schönes Gefühl. Vor allem, wenn man wusste, dass man nicht heim fahren musste, wo die kleine Petze mit Muttis Unterstützung warten würde. Meine kleine Schwester verpfiff mich, wo sie nur konnte. Aber daran könnte ich ein ander Mal denken. Jetzt würde ich erst einmal Valentin abholen. Vier Mal in der Woche holte ich ihn von seiner Oma ab und widerstand der Versuchung ihm eine rein zuhauen. Ich weiß ja nicht, wie er das immer schaffte, aber jedes zweite Mal stritten sie wie die Irren und ich war letztendlich der Leidtragende. Schließlich war ich es, der dann seine Laune heben durfte. Während ich also in Gedanken schwelgte und die Straßen entlang fuhr, fiel mir plötzlich auf, dass ich bereits an der richtigen Straße vorbeigefahren war. Ich wusste nicht wieso, aber ich erinnerte mich wieder an diese Ordnergeschichte letzter Woche. Es geschah öfter, dass Valentin seinen Ordner irgendwo bei mir liegen ließ. Entweder bei mir zuhause oder auf meiner Schulbank. Und dann noch diese eine Sache von damals. Valentin hatte also auf meinem Bett gelegen, sabberte friedlich mein Kissen voll und sank immer tiefer in seine Traumwelt ein. Er hatte beim Kommen schon so schläfrig ausgesehen und mein Bett gab ihm dann wohl noch den Rest. War wohl wieder eine lange Nacht für ihn gewesen, was aber seine eigene Schuld war. Keiner zwang ihn bis halb drei morgens Hausaufgaben zu machen. Aber egal, zurück zum Ordner. Mir war langweilig gewesen, sein Ordner hatte vor mir gelegen und überraschenderweise interessierte es mich, welchen Stoff ich durchgenommen hätte, hätte ich nicht wechseln müssen. Als ich allerdings seine Heftränder und die beschmierten Arbeits- und Schmierblätter gesehen hatte, war der Unterrichtsstoff genau so interessant, wie früher auch schon: Gar nicht. Als ich dann ein paar seiner Unterlagen durch und den Rest sporadisch überflogen hatte, packte mich die Neugier und ich kramte in seinem Rucksack nach seinem Block. Mann, ich war heute noch froh, dass er da so seelenruhig geschlafen hatte, denn meinen Gesichtsausdruck hätte in diesen Augenblick niemand sehen sollen, geschweige denn von wollen. Seit diesem Tag weiß ich also, dass ich weiß, dass er nicht weiß, dass ich weiß, dass er gewisse andere Vorlieben hatte. Und dass ich wichtiger Bestandteil dieser Vorlieben war. Aber das ignorierte ich einfach weitgehend. Er konnte so schwul sein, wie er nur wollte, das war mir egal, ihn störten meine sämtlichen Dates, Affären und One-Night-Stands ja auch nicht. Solange er sich nicht wie einer dieser Zicken aufführte, die an die Decke gingen oder dich wie Dreck behandelten, weil sie die Tatsachen nicht offen auf den Tisch legten und sagten, was sie wollten und dann erschrocken darüber waren, dass da mal eine andere an meinem Hals hing, war alles kein Problem. Ich würde das Thema nie ansprechen. Und auch, wenn man es nicht glauben mochte: ich war unglaublich schüchtern. Ich hatte mich ein ganzes Jahr lang nicht einmal getraut Valentin anzusprechen. Den Grund dafür wusste ich immer noch nicht. Aber so langsam fing ich an Vorteile aus diesem Fakt zu ziehen. Man musste nichts sagen, ansprechen oder tun. Er wusste ja, dass er von selbst ankommen musste, wenn irgendetwas wäre. Das Leben konnte manchmal richtig einfach sein. Obwohl ich zugeben musste, dass ich, seitdem ich von dieser Sache erfahren hatte, eine zunehmend beunruhigender werdende Paranoia entwickelte. Auf einmal kam mir die ganze Welt schwul vor. Wenn ich einen Mann telefonieren sah, dachte ich mir nicht nichts, so wie früher, sondern überlegte sofort, ob da nicht sein schwuler Lover an der Strippe hing. Wenn ich zwei Freunde auf dem Heimweg sah, dachte ich sofort daran, dass sie keine Freunde, sondern Freund und Freund sein könnten. Wenn mich meine Klassenkameraden anstarrten oder auf mich zukamen, dann... ich sollte aufhören so zu denken. Ich sollte mich wieder der Straße vor mir widmen. Eigentlich wollte ich zu meinem besten Freund fahren ...aber hatte mich schon wieder verfahren. Dann wollte ich zurückfahren und endlich ans eigentliche Ziel gelangen. Aber JETZT wusste ich nicht einmal, wo ich war. Die Gegend kam mir leicht unbekannt vor. „Hmmm...“ Mal überlegen. Wo war ich, wenn sich ein Spielplatz direkt vor mir und sich eine Kneipe neben mir befand? Definitiv falsch und drei Straßen zu weit. Ich sollte endlich damit anfangen hinzusehen, wo ich entlang fahre. In aller Ruhe setzte ich den Helm ab und überblickte die Gegend, suchte mögliche Abkürzungen. Und dann sah ich plötzlich nichts mehr. „Wer zum Henker bist du?“ Irgendein kompletter Volltrottel hatte mir von hinten seine Hände auf die Augen gelegt und ich wusste nicht, mit wem ich das Vergnügen hatte, ich hatte ebenso wenig eine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich diese Spielchen hasste und derdiedas verdammt kalte Hände hatte. „Wieso reagierst du immer gleich so aggressiv? Dir tut doch niemand was!“ grinste dieser Idiot nur, als er dann doch den Anstand besaß seine Grabscher von mir zu lassen und sich vor mich zu stellen. „Andi...“, grummelte ich nur. Er war eigentlich in Ordnung, soff allerdings manchmal wie ein Loch und lud mich immer mit auf das sinkende Schiff ein. Ja, ich konnte mit vollster Zuversicht sagen, seine Partys waren für niemanden geschaffen, der nach einer Flasche Tequila schon unterm Tisch lag. Allerdings war Andreas auch derjenige, der nach einer halben schon fix und fertig durch die Gegend torkelte. Immer wieder faszinierend. „Lach doch mal.“ „Gib mir 'nen Grund dazu.“ „Aber immer doch! Mein Bruder hat heute Geburtstag und feiert auch dementsprechend. Wir sehen uns um acht?“ Na, was sagte ich denn gerade?! Immer am Saufen! Ich schwieg. Das musste ich mir dann doch nochmal überlegen. War ich wirklich schon bereit für das nächste Besäufnis? Es endete ja doch immer in unangenehmen Situationen, oder wenigstens einen unglaublichen Kater. Und Valentin war auch nicht begeistert davon, aber er war überzeugter Nicht-Alkoholiker. „Na?“, hakte er nochmals nach, als keine Antwort kam. „Naaaa?“ „Wieder in diesem alten Hühnerstall?“ „Beschimpf doch den armen Hühnerstall nicht immer so. Der wurde doch super vorgerichtet und hat ne unglaubliche Musikanlage! Und den Alkoholleichen kann auch nix passieren, da rund herum nur Wiese ist und sonst nichts!“ „Du musst es ja wissen....“ „Hey!“ ~ ~ „Und du hast zugesagt?“ „Nicht direkt.“ „Aber du wirst hingehen?“ „Höchstwahrscheinlich.“ Valentin war wieder unglaublich gereizt, regte er sich wieder ohne Punkt und Komma über seine Oma und die Verwandten, Gott und die Welt auf. Manchmal kam ich mir etwas fehl am Platz vor und überlegte, ob ich mir sein weiblich-angehauchten Gehabe, dass er manchmal an den Tag legte, nur einbildete oder er wirklich immer wegen jedem Mätzchen so einen Aufstand machte. Er war perfekt darin, sich in jeden Schwachsinn hineinzusteigern und das dann auch Stunden über Stunden auszudiskutieren. Aber er kam wirklich nicht schwul rüber, nicht einmal ansatzweise! Na gut, manchmal, wenn er sich aufregte und sein Gift in der Gegend und an seine Umwelt verteilte, war das ganze etwas feminin. Aber nur dann. Zumindest würde ich das eher einem Mädchen zutrauen. Aber deswegen war er doch nicht schwul. Wenn eine Frau ein paar männliche Eigenschaften oder Züge aufwies, war sie ja auch nicht gleiche eine Lesbe. „Und dann meinte sie noch, dass sie ja nichts gegen mich persönlich hätte. Mein Charakter wäre einfach nur schlecht. Aber klar doch, ich nehm es ja auch nie persönlich, wenn man mir sagt, dass mein Charakter scheiße ist. Und wo ist's denn auch bitte persönlich meine Persönlichkeit anzugreifen – kann ich schon verstehen“, fluchte und höhnte er weiter und seine Worte soffen schon fast mit gleicher Begeisterung in seinem Sarkasmus ab. So ging das auch noch 'ne ganze Weile dahin, bis Valentin irgendwann die Luft ausblieb, er etwas zu trinken brauchte und ohnehin schon müde geworden war. Das hatte er jetzt davon. Aber erstaunlich, wie lange er dieses Mal durchgehalten hat, Respekt. Wir bequemten uns also von der Parkbank zu meinem Roller, dessen Motor ich dann auch ohrenbetäubend wie eh und je 'aufschnurren' ließ. Hatte mit Schnurren nur leider nichts mehr zu tun, eher mit einer verreckenden, bösen, fetten Miezekatze, die an einem Fellknäuel erstickte. Ich brachte meinen besten Freund schnell nach Hause und fuhr dann weiter zu meinem eigenen, wo wahrscheinlich schon meine Mutter auf mich wartete, da ich dem kleinen Prinzesschen ja ihr Pausengeld 'geraubt' hatte. Wahrscheinlich hatte dieses Balg noch erzählt, ich hätte es ihr gewaltsam entrissen und sie dabei in den Dreck geschubst, um mir wieder eins auszuwischen und ihre Unfähigkeit geradeaus zu gehen zu vertuschen. Dabei hatte ich ihr das blöde Geld ohnehin zurückgegeben. Nachdem ich Zuhause angekommen war, durfte ich mir wie erwartet einen Vortrag über Rechtschaffenheit und Anstand anhören, über Himmel und Meer, Nehmen und Geben, Leben und Sterben und so weiter und so fort (Und nicht zu vergessen: natürlich auch über das kleine Prinzesschen!). Den restlichen Abend ließ ich dann einfach auf mich zukommen, die Fresse hatte ich ohnehin schon gestrichen voll und noch mehr musste ich mir da nun wirklich nicht noch mit einem weiteren Gang zu meiner Mutter reinstopfen. Jap, Valentin hatte Recht: ich würde auf alle Fälle auf diese blöde Party gehen und wieder saufen wie ein Loch. Meine Leber wird mir dankbar sein und Schwester froh, dass ich nicht da bin. Egal, was morgen auf mich zukommen würde, es war egal. Was zählte, war die Durchsetzung meiner aktiven Methode der Verdrängung – denn das war auch irgendwie das Einzige, was wirklich hinhaute. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)