Stolen Dreams Ⅶ von Yukito ================================================================================ 6. Kapitel ---------- Es war mitten in der Nacht, als Lucas Handy eine Nachricht empfing und daraufhin zu blinken begann. Der junge Mann hatte zwar nicht geschlafen, aber sich zumindest im Halbschlaf befunden, weshalb er nicht gerade erfreut war, dank irgendeiner Person, die anscheinend nichts Besseres zu tun hatte, als ihm um halb drei Uhr morgens Nachrichten zu senden, wieder ganz von vorne anfangen zu können. Er griff nach dem Handy, um es umzudrehen, damit das immer noch blinkende Licht nach unten zeigte und nicht die Zimmerdecke erhellte, doch als er sah, wer ihn da angeschrieben hatte, war er plötzlich hellwach. Chiara! Luca zog das Handy zu sich und war im Begriff, es zu entsperren, als er spürte, wie sich starkes Unbehagen in ihm ausbreitete. Seine Organe verknoteten sich, seine Hände zitterten leicht und alles in einem fühlte er sich wie damals, als er als Jugendlicher zum ersten Mal richtigen Stress mit der Polizei hatte. Was soll das? Chiaras Nachricht ist das, worauf ich schon die ganze Zeit gewartet habe. Es gibt überhaupt keinen Grund, so zu reagieren... wahrscheinlich hat es nichts hiermit zu tun. Vielleicht bin ich nur krank und mit ein bisschen Glück ist es etwas, das mich umbringen wird. Zögernd entsperrte Luca sein Handy, schloss alle Anwendungen und öffnete sein Postfach. Chiara schrieb, dass sie ihm nach langem Nachdenken noch eine Chance geben möchte, aber dass ihre Beziehung nur eine Zukunft hätte, wenn Luca nicht nur an sich denken und sich mal ein bisschen anstrengen würde. Nachdem Luca die Nachricht seiner Freundin mehrmals gelesen hatte, versuchte er, eine Antwort zu formulieren, doch völlig egal, wie er sich ausdrückte und wie viele Entschuldigungen er in seinen Text packte, das Ergebnis sah nicht wie etwas aus, das gut genug war, um es Chiara zu schicken. Schließlich gab Luca auf. Er schaltete das Handy aus und beschloss, Chiara morgen zu antworten. Bis dahin konnte er über den Inhalt ihrer Nachricht nachdenken und... Da ist nichts, über das ich nachdenken müsste. Chiara hat recht. Es ist meine Schuld, dass es zwischen uns so schlecht läuft. Anstatt mich um sie zu kümmern, denke ich nur an mich selbst... es ist ein Wunder, dass sie sich noch nicht von mir getrennt hat. Chiara hatte mit ihrer Nachricht nur einen kleinen Schneeball vom Berg gestoßen, aber was unten im Tal ankam, war eine ganze Lawine. Zuerst krallte sich Luca in sein Kissen und blinzelte schweigend die Tränen aus seinen bernsteinfarbenen Augen, aber es dauerte nicht lange, bis er am liebsten seine Matratze in Stücke reißen und sich die Seele aus dem Leib schreien wollte. Bevor er sich versah, hatte er sich bereits aufrecht hingesetzt und das Licht auf seinem Nachttisch angemacht. Er öffnete die Schublade und holte das Einzige heraus, das ihn jetzt von seinen schlechten Gedanken ablenken konnte. Eine verführerisch schimmernde Rasierklinge. Während Onkel Lorenzo heute zu Besuch gewesen war, hatte Luca die Situation genutzt, um sich in das Badezimmer seines Vaters zu schleichen und dort eine ganze Packung der scharfen Klingen zu klauen. Spätestens wenn Antonia sie finden oder Marius den Verlust bemerken würde, steckte Luca in Schwierigkeiten, aber das war es ihm wert, denn was auch immer die Erwachsenen tun oder sagen würden – die Stimmen in Lucas Kopf waren um ein Vielfaches schlimmer. Ungeduldig strich der junge Mann über seinen linken Unterarm. Die Verletzungen vom letzten Mal waren noch nicht verheilt, aber das störte ihn nicht. Er entfernte die Verbände, warf sie in den nahestehenden Papierkorb, streifte mit seinen kalten Fingern die blasse Haut und stellte sich vor, wie rote Linien sie zieren würden. Gedankenverloren griff Luca nach der Rasierklinge und-- „KOMM ZURÜCK!“ Luca erschrak so sehr, dass er die Klinge fallen ließ. Während er sie vom Boden aufzusammeln versuchte, was einfacher gesagt als getan war, weil die Nachttischlampe den Bereich vor Lucas Füßen nicht beleuchtete, hörte er, wie ein flinkes Paar Füße durch den Flur huschte und direkt auf sein Zimmer zusteuerte. Sie gehörten vermutlich Fabian, aber Luca konnte sich beim besten Willen keinen Reim daraus machen, was Fabian bei ihm wollte und warum er zu dieser Uhrzeit noch im Haus herumlief. Sicher war aber, dass das andere Paar Füße, das wütend durch den Korridor trampelte, Marius' Schritte waren. Fuck. Wenn Dad mich hier auf frischer Tat ertappt, bin ich am Arsch! Wo zur Hölle ist das blöde Teil?! Endlich fand er die Rasierklinge. Kaum hatte er sie in der Schublade verschwinden lassen und diese geschlossen, wurde die Tür aufgestoßen und ein sehr verängstigter und schockierter Fabian stolperte ins Zimmer. „Du... du musst mir helfen!“, japste er panisch. „Dein Vater, er--“ Wenn man vom Teufel sprach – als Fabian bemerkte, dass Marius sich ihm näherte, holte er erschrocken Luft und versteckte sich wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal den Kindergarten besuchte und sich an seine Mutter klammerte, hinter Luca, der aufgestanden war. Unter normalen Umständen hätte Luca seinen unerwarteten Gast grob aus seinem Zimmer gestoßen und ihm gesagt, dass er sich verziehen soll, aber da der junge Mann keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging, stand er wie angewurzelt da und schaute zu Marius, der fluchend den Raum betrat und zu humpeln schien. „Komm hierher, du wertloses Stück Dreck!“, fauchte er Fabian an, der sich ängstlich in Lucas Rücken krallte und die blauen Augen vor Schreck weit aufgerissen hatte. Der Ältere verspürte das Bedürfnis, den Jungen seinen Ellbogen ins Gesicht zu rammen, damit der Kleine mehr Rücksicht auf seine Privatsphäre nahm. „Was ist hier los?“, wollte Luca wissen. „Es ist mitten in der Nacht. Was ist euer scheiß Problem?“ „Dieses Blag meint, sich weigern zu müssen – das ist los“, knurrte Marius und krallte sich in den Türrahmen. Er wirkte, als hätte er Schmerzen. Perplex sah Luca von seinem Vater zu Fabian, von dessen Verhalten er langsam, aber sicher die Schnauze voll hatte. Er war im Begriff, Teddy an den braunen Locken zu packen, Richtung Marius zu schubsen und ihm zu sagen, dass er hier keine Hilfe zu erwarten hatte, als der Junge plötzlich den Mund aufmachte. „Krankes... Schwein.“ Seine Stimme war leise und bebte, aber die Art und Weise, wie er die Worte betonte, ließ sie so stark und aussagekräftig klingen, als hätte er sie geschrien. „Hüte deine Zunge“, zischte Marius. „Luca, wenn ich näherkomme, rennt er weg. Bring ihn zu mir, ja?“ Angesprochener zögerte. Sein Blick wanderte zwischen dem Jungen und dem Mann hin und her, bis er an Letzterem hängen blieb. „Was für einen Befehl hast du ihm gegeben?“ „Nichts Wichtiges“, winkte Marius ab und schaute zum Fenster. „Nichts Wichtiges? Aber warum jetzt? Es ist fast vier Uhr morgens.“ Marius schwieg, woraufhin Luca sich an Fabian wandte. „Was wollte er von dir?“ „Wie ich bereits sagte – Nichts Wichtiges“, antwortete Marius für Fabian. Seine Stimme klang so bedrohlich wie das Grollen eines Gewitters, aber Teddy schien ihm nicht zuzuhören. Der Junge ließ Lucas T-Shirt los, umfasste seine eigenen Oberarme und erschauerte, als besäße er die Aufgabe, einen Teller voller Spinnen zu essen. Diese Antwort warf nur noch mehr Fragen auf. Während Luca überlegte, was zwischen Marius und Fabian vorgefallen sein könnte, verlor der Ältere die Geduld. Er stampfte auf Teddy zu und streckte seine Hand nach ihm aus, aber Luca schob den Jungen schützend hinter sich und blickte seinem Vater herausfordernd in Gesicht. „Wenn's wirklich nichts Wichtiges ist, kann es doch bis morgen warten, oder?“ „Junger Mann“, knurrte Marius so aggressiv, als würde er jeden Moment die Beherrschung verlieren und zuschlagen. „Überreich mir dieses Kind. Jetzt.“ „Nein“, erwiderte Luca ruhig. „Wenn ich das mache, werdet ihr euch bis zum Sonnenaufgang gegenseitig anschreien.“ „Mach dir darum keine Sorgen. Ich kann dir versichern, dass der Bengel nach nur wenigen Minuten ohnmächtig ist. Dann hast du deine Ruhe.“ Luca verschränkte die Arme vor der Brust und hob sein Kinn. Eigentlich gab es für ihn keinen Grund, Fabian in Schutz zu nehmen, aber die beiden Worte des Jungen hallten immer noch in seinen Ohren wider. „Krankes Schwein...“ „Dad, das hier ist mein Zimmer und wenn du das nicht respektierst, werde ich gehen.“ „Nein, das wirst du nicht.“ „Und ob ich das werde. Die Schlüssel liegen auf meinem Schreibtisch. Ich muss mich nur anziehen und mir ein Taxi nehmen – und dann bist du mich los.“ „Du“, fauchte Marius, „bleibst hier.“ Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich um, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Luca seufzte genervt und drehte sich zu Fabian um. „Entweder sagst du mir, was los war, oder ich schmeiße dich raus.“ Teddy schluckte nervös. „D-dein Vater... wollte von mir, dass ich...“ „Ja?“ „...“ „Heute noch.“ „... Lorenzo.“ „Was?“ „Ich sollte das tun, was Lorenzo Marius' Meinung nach in seiner Freizeit tut.“ Luca brauchte ein paar Sekunden, um diese Formulierung zu verstehen, doch dann kapierte er es. „Willst du mir gerade erzählen, dass Dad dich missbrauchen wollte?“ Das war so bescheuert, dass er kurz lachen musste. „Junge, das musst du falsch verstanden ha--“ Der Ausdruck in Fabians Augen ließ ihm die Lust am Lachen vergehen. „Findest du das witzig?“, fragte der Jüngere in der gleichen todernsten und mächtigen Stimme, mit der er vorhin auch ''Krankes Schwein'' gesagt hatte. „Natürlich nicht. Aber ich kann's mir nicht vorstellen. Das musst du falsch verstanden haben.“ „Ach ja?“ Überzeugung klang anders. „Ja. Ich kenne meinen Vater nicht allzu gut, aber ich weiß, dass er nicht auf Kinder, nicht auf Männer und erst recht nicht auf männliche Kinder steht.“ Fabians Gesichtsausdruck sah aus wie der von jemanden, der den Sinn des Lebens verstand. „Ich habe ihn gebissen.“ „Was?“ „Er hat mich vor seine Füße auf die Knie gezwängt und mir gesagt, dass ich etwas Bestimmtes für ihn tun soll. Währenddessen hat er mit der anderen Hand seinen Gürtel geöffnet und...“ Teddy machte eine Pause, als würde er die Geschichte in seinem Kopf weitererzählen. „Also habe ich ihn gebissen.“ Luca wollte Fabian sagen, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber dann fiel ihm ein, wie Marius das Zimmer betreten hatte. Humpelnd. Und er hatte gewirkt, als würde ihm etwas wehtun. Etwas im Schritt. Luca öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Wort kam heraus. Sein Vater hatte versucht, Fabian zu etwas Sexuellem zu nötigen? Das konnte und wollte er sich einfach nicht vorstellen. Fabian musste sich irren. „Danke übrigens, dass du mir geholfen hast“, sagte der Junge, dessen Stimme wieder normal klang. Danke, dass du mich davon abgehalten hast, mich zu ritzen, wollte Luca erwidern, aber zum Glück konnte er verhindern, dass diese Worte seinen Mund verließen. „Übrigens, wegen heute Nachmittag...“, murmelte Fabian. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht sagen sollen, dass du... deine jetzige Lage verdient hast.“ „Schon gut.“ „Nein, wirklich, es tut mir leid. Ich kenne dich nicht einmal richtig und... niemand hat es verdient, sich den Tod zu wünschen.“ „Ich sagte, es ist schon gut“, sagte Luca und ging zum Fenster, um es zu öffnen und ein wenig frische Luft in sein Zimmer zu lassen. „Hör auf, davon zu reden.“ „I-ich...“ „Ehrlich, Teddy, ich brauche dein Mitleid nicht. Selbst wenn du meine Situation kennen würdest, du könntest sie trotzdem nicht verstehen.“ „Ähm... ich habe zwar keine Ahnung, wie es zu deiner Verfassung gekommen ist, aber... ich denke schon, dass ich weiß, wie es dir geht.“ „Uh-hm“, machte Luca desinteressiert und griff nach einer Packung Zigaretten, die er hinter einem Blumentopf versteckt hatte. Unter normalen Umständen hatte niemand ein Problem damit, dass er rauchte, aber Antonia war der Meinung, dass es seinem Appetit schadete und die Nahrungsaufnahme noch schwieriger machte als sie ohnehin schon war. Luca fand das ziemlich bescheuert, aber niemand kümmerte sich um das, was er sagte. Luca sah in der Spiegelung des Fensters, dass Fabian sich auf das Ende des Bettes gesetzt hatte und nervös seine Hände knetete. „Na los, sag es mir“, verlangte der Ältere, weil er keinen Bock hatte, diese peinliche Stille zu ertragen. „Sag mir, wie ich mich fühle.“ „Manchmal unglücklich...“ „Ne, echt? Krasse Scheiße, darauf wäre ich nie gekommen.“ Luca schüttelte den Kopf und griff nach seinem Feuerzeug, das auf dem Schreibtisch lag. Er zündete das Ende seiner Kippe an, nahm einen tiefen Zug... „... aber meistens fühlst du gar nichts.“ ... und verschluckte sich an dem Qualm. Hustend beugte sich Luca aus dem Fenster, aber das hielt Fabian nicht davon ab, weiterzureden. „Du bist emotional so abgestumpft, dass es dir vorkommt, als könntest du keine Gefühle wahrnehmen. Andere sagen, dass du dich verletzt, um überhaupt etwas zu fühlen, aber das stimmt nicht. Du verletzt dich, weil du es nicht mehr aushält. Weil der Schmerz das Einzige ist, was dich davor bewahrt, vollkommen wahnsinnig zu werden. Und du verletzt dich, weil du denkst, dass du es verdient hättest.“ Luca hatte es mittlerweile geschafft, wieder normal zu atmen. Er fragte sich, aus welchem Buch Fabian diesen Text auswendig gelernt hatte, sagte aber nichts dazu. Es wäre bestimmt am besten, dem Jungen nicht zu zeigen, dass er vollkommen recht hatte. „Völlig egal, was du tust oder was andere tun, dir geht es mies. Du fühlst dich, als hättest du alle Menschen um dich herum enttäuscht... als würden sie sich nur mit dir abgeben, weil sie es müssen; als wäre es besser, wenn du einfach sterben würdest... nein, nicht sterben. Du möchtest nicht sterben, sondern verschwinden und nie wieder auftauchen. So als hättest du nie existiert.“ Luca nahm den letzten Zug seiner Kippe und drückte den Stummel auf der äußeren Fensterbank aus. Fabian sprach ihm aus der Seele, aber er würde lieber aus dem Fenster springen, als das zuzugeben. „Okay, Kleiner, das reicht jetzt.“ Er schloss das Fenster, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die kühle Scheibe. „Ich weiß nicht, wen oder was du da gerade zitiert hast, aber--“ „Ich zitiere niemanden“, erwiderte Teddy, der den Blick verlegen auf den Boden gerichtet hatte. „Sondern?“ Ein kleines Lächeln erschien auf Fabians Lippen. „Eigentlich ist das etwas sehr Privates, aber da ich wahrscheinlich nicht mehr lange hier leben werde, kann ich es dir ruhig sagen.“ Er räusperte sich und sah Luca mit seinen himmelblauen Augen ins Gesicht. „Das, was ich gerade beschrieben habe, war nicht das, was ich von dir denke, sondern... so wie ich mich gefühlt habe. Früher, als ich noch zu Hause war.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)