Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 8. Kapitel ---------- Artjom konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein ältester Bruder gestorben war. Man hatte ihn vergiftet und etwa eine halbe Stunde nach der Einnahme des Getränks, das er nicht hätte zu sich nehmen sollen, hatte er Blut gespuckt, bis er qualvoll erstickt war. Artjom wusste noch ganz genau, wie er hilflos neben ihm gestanden hatte und nichts anderes hatte tun können, als seinem Bruder beim Sterben zuzusehen. Der blutige Speichel, die widerlichen Geräusche, die Panik in den Augen des Sterbenden... alles war auf einmal wieder da. Artjom kam es so vor, als müsste er das Ereignis ein weiteres Mal erleben; es war schrecklich. Reiß dich zusammen!, sagte er sich selbst und schaffte es schließlich, sich aus eigener Kraft aus seinem Flashback zu reißen. Misha hatte währenddessen seinen gesamten Magen entleert. Er würgte, bis es nichts mehr zum Würgen gab, ehe er sich den Mund auswusch, um den ekelhaft bitteren Geschmack von Magensäure loszuwerden, und das Blut in den Abfluss spülte, damit Artjom von der ganzen Sache nichts mitbekam. „Nicht erschrecken, Misha“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme hinter dem Jungen. Die Worte erzielten nicht die gewünschte Wirkung; Misha zuckte ängstlich zusammen, als er spürte, wie Artjom die Hände auf seinen Rücken legte, und begann zu zittern. „Ganz ruhig, Kleiner.“ Bei jeder Person, mit der er vertraut war, hätte Misha es sicherlich als beruhigend empfunden, wenn ihm jemand sanft über den Rücken strich, aber bei Artjom verspürte Misha eine ganz andere Wirkung. Er fühlte sich bedroht und wäre am liebsten mit dem Waschbecken verschmolzen. Verunsichert schaute er in den Spiegel und sah, dass der Ältere direkt hinter ihm stand, leichenblass im Gesicht war und nervös schluckte. „Hast du irgendwo Schmerzen?“, fragte er. „Oberhalb der Gürtellinie, meine ich.“ Misha konnte nicht sprechen. Wie ein Kaninchen, das sich in einer Schockstarre befand, stand er vor Artjom und betete zu Gott, dass der Russe ihn in Ruhe lassen würde. „Bitte antworte mir.“ Der Junge spürte, wie sich kalter Angstschweiß auf seiner Stirn bildete. Er atmete stoßweise, zitterte wie Espenlaub und konnte seinen eigenen Herzschlag, der wild hämmerte, deutlich hören. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie aus Gummi bestehen und jeden Moment einknicken. „Misha, bitte.“ Als Artjoms Hände, die dem Jungen regelmäßig über den Rücken gestrichen hatten, auf einer Stelle verharrten, gelang es dem Kleinen, sich endlich aus seiner Starre lösen zu können. So unerwartet und plötzlich wie ein Blitz fing er an, sich zu bewegen. Er gab einen Schrei von sich, der dem Todesschrei eines Kaninchens ähnelte, schlug um sich und schaffte es irgendwie, sich von Artjom zu entfernen und unter den Waschbecken zusammenzukauern. Wie ein kleines Häufchen Elend saß er dort und hob abwehrend die Arme vor sein Gesicht, das er auch mit seinen angewinkelten Beinen zu schützen versuchte. „Misha, komm bitte daraus“, sagte Artjom, der nun das volle Ausmaß der Konsequenzen seiner Bestrafung erblickte, die anscheinend zu heftig gewesen war. „Ich werde dir auch nicht wehtun, versprochen.“ Der Junge glaubte ihm kein Wort. Er wusste nicht, mit welcher seiner Handlungen er diesmal Artjoms Zorn auf sich gelenkt hatte, aber er wusste, dass er sich nicht freiwillig ausliefern würde. Zwar konnte er dem Mann nicht entkommen, aber das war noch lange kein Grund, die Strafe nicht hinauszuzögern. „Ich möchte dich doch nur zu einem Arzt bringen.“ Misha schüttelte trotzig den Kopf. Artjom hatte auf einen Arzt verzichtet, als Misha vor Schmerzen geschrien und gehumpelt hatte, also warum sollte er seine Meinung nun ändern? „Junger Mann, entweder kommst du jetzt freiwillig daraus oder wir werden es auf die harte Tour machen müssen.“ Angesprochener wimmerte leise und schluchzte vor Angst. „Na gut, du hast es so gewollt. Nur damit du es weißt: Das hier war deine Entscheidung und nicht meine.“ Kaum hatte Artjom seinen Satz beendet, griff er nach Mishas Händen und zog den Jungen gewaltsam unter dem Waschbecken hervor. Der Kleine schrie und zappelte, doch ein kräftiger Schlag gegen die Schläfe bereitete seinem Widerstand ein jähes Ende. Misha ächzte vor Schmerz. Ihm war schwindelig, das Badezimmer schwankte hin und her und viele bunte Punkte tanzten vor seinen braunen Augen herum. Nur am Rande nahm er wahr, dass Artjom ihn vorsichtig hochhob und durch das Haus trug. Er versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber der Russe war ihm haushoch überlegen, was körperliche Stärke anging. „Hörst du jetzt endlich mit dieser verdammten Gegenwehr auf?“, zischte er und schüttelte Misha kurz, damit der Junge aufhörte, sich wie ein Fisch auf dem Trockenen zu winden. Der Kleine gab sich geschlagen. Er begann vor Angst zu schluchzen und das Gesicht hinter seinen zierlichen Händen zu verbergen, damit er Artjom nicht ansehen musste. „Ich weiß wirklich nicht, was dein Problem ist oder warum du jetzt schon wieder weinst. Alles, was ich will, ist dich zu einem Arzt zu bringen – was gibt es daran zu bemängeln?“ Misha antwortete nicht, aber Artjom hatte auch keine Antwort erwartet. Letzterer hatte den Jungen mit einem Arm unter den Kniekehlen und dem anderen unter dem Rücken getragen, doch nun warf er sich den Kleinen über die Schulter, damit er eine Hand frei hatte, um seinen Schlüsselbund aufzulesen. Er stellte fest, dass Misha noch weniger wog als er erwartet hatte, und ging zu seinem Auto, auf dessen Rückbank er den Jungen absetzte, der sofort von ihm wegzukrabbeln versuchte, jedoch von ihm aufgehalten wurde. „Misha, ich möchte jetzt, dass du mir zuhörst“, sagte Artjom eindringlich und hielt ihn nicht zu feste, aber auch nicht zu vorsichtig an den Handgelenken fest. „Du willst nicht, dass ich dir noch einmal mit dem Rohrstock den Hintern versohle, oder?“ Misha schüttelte den Kopf. „Gut. Und ich will nicht, dass du während der Fahrt irgendetwas Dummes tust. Denkst du, wir können uns gegenseitig einen kleinen Gefallen tun?“ Er nickte. „Okay“, sagte Artjom viel sanfter als er zuvor geklungen hatte. Er wollte Misha behutsam über die Wange streichen, aber weil dieser ruckartig den Kopf wegdrehte, blieb Artjom nichts anderes übrig, als den Jungen in Ruhe zu lassen, in sein Auto zu steigen und loszufahren. Während der Fahrt tat Misha nichts, über das Artjom sich beschweren könnte, aber dafür musste er nach dem Parken feststellen, dass er vor einem neuen Problem stand. Misha in das Auto hineinzutun, war keine Herausforderung gewesen, aber ihn aus selbigem herauszuholen, war eine ganz andere Sache. „Würdest du bitte da rauskommen?“, fragte er, woraufhin Misha den Kopf schüttelte und sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange wischte. Er drückte sich selbst gegen die rechte Autotür, während Artjom an der linken stand und ganz genau wusste, dass ein Seitenwechsel zwecklos wäre, weil Misha es ihm gleichtun und ebenfalls die Autotür wechseln würde. „Junger Mann, es reicht jetzt. Komm aus dem verdammten Auto heraus oder ich...“ Artjom hatte den Satz nicht einmal beendet, als er erkannte, dass er es nur noch schlimmer gemacht hatte. Misha hatte sich bei den Worten noch kleiner gemacht und erneut zu weinen angefangen. Mit Zwang erreichte man bei ihm absolut gar nichts. Eigentlich bin ich ein Fan von Gewalt, weil sie Probleme schnell und effektiv zugleich löst, aber Misha scheint eine Ausnahme zu sein. Gut, ich sollte zumindest versuchen, mich ihm auf eine gewaltfreie Art und Weise zu nähern. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie man mit Kindern umgehen muss... „Misha, siehst du diese Villa da?“, fragte Artjom und deutete auf das prachtvolle Gebäude hinter sich. „Dort lebt eine Ärztin namens Ellen, zu der ich dich jetzt bringen will, weil ich mir Sorgen um dich mache. Würdest du also bitte kooperieren, anstatt dich zu weigern?“ Misha schien nicht überzeugt zu sein, aber er sah zu Ellens Haus, was Artjom als Fortschritt sah. „Vertrau mir, dort erwartet dich nichts Schlimmes. Könntest du jetzt bitte zu mir kommen?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Und warum nicht?“, fragte Artjom ungeduldig. „Denkst du, dass ich dich verarsche? Dass das hier bloß eine Pappattrappe oder ein Bordell ist, an das ich dich verkaufen will?“ Davon war Misha anscheinend überzeugt. „Das war ein Scherz, Kleiner. Wenn ich sage, dass dort eine Ärztin wohnt, dann wohnt da auch eine Ärztin. Ich mag brutal sein, aber ich bin kein Lügner.“ Misha rührte sich immer noch nicht vom Fleck. Artjom seufzte genervt und fragte sich, was er jetzt tun sollte. „Ich verstehe wirklich nicht, was dein Problem ist. Liegt es an mir oder glaubst du mir nicht, dass ich dich zu einer Ärztin bringen will?“ Der Kleine schluckte nervös. Er wollte Artjom antworten, aber er konnte es nicht. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und seine Lippen waren ebenfalls zusammengeschweißt. Artjom war mit seinem Latein am Ende. Er hatte es auf die unfreundliche und freundliche Art versucht – was blieb ihm jetzt noch übrig? „Okay, letzter Versuch, bevor ich dich gewaltsam aus dem Wagen zerren werde: Was muss ich tun, damit du freiwillig kommst?“ Misha dachte kurz nach. Artjom war in der Tat kein Lügner und jemand, der gerne Kompromisse vereinbarte. Wenn Misha das zu seinem Vorteil nutzte, könnte er herausfinden, wo Hannah war, was den ersten Schritt der Flucht darstellte. „Sag mir... wo Hannah ist.“ „Netter Versuch, Kleiner. Du hast doch nicht ernsthaft erwartet, dass ich dir jetzt den Namen und die Adresse der Person nenne, die Hannah gekauft hat, oder?“ „Nur... die Stadt.“ „Na gut, das werde ich dir sagen können. Hannah befindet sich in Moskau.“ Misha biss sich auf die Unterlippe. Moskau war eine zehnstündige Autofahrt von Sankt Petersburg entfernt, aber immer noch in Russland, was für Misha eine wertvolle Information war. Zögernd krabbelte er auf Artjom zu, bis er sich in dessen Reichweite befand, und ließ sich widerstandslos von ihm hochheben. „Na bitte, es geht doch“, sagte der Ältere und tätschelte Misha den Kopf. „War das jetzt so schwer?“ Der Kleine nickte, woraufhin Artjom genervt die Augen verdrehte und zum Eingang der Villa marschierte. Er klingelte an der Tür, die wenige Augenblicke später von Ellen geöffnet wurde. Neugierig betrachtete Misha die Ärztin. Sie befand sich vermutlich in ihren späten Dreißigern oder frühen Vierzigern. Ihre schulterlangen Haare waren braun, genau wie ihre Augen, die Artjom misstrauisch beäugten. „Du warst doch vor wenigen Stunden erst hier“, sagte sie auf Deutsch – anscheinend war sie eine Muttersprachlerin – zu Artjom. „Was willst du dieses Mal?“ „Es geht um den Jungen“, erwiderte der Russe und deutete mit einem Nicken zu Misha. „Ich habe vorhin gesehen, wie er Blut erbrochen hat. Es scheint ihm nicht gut zu gehen.“ „Könnte das vielleicht daran liegen, dass du ihn schlecht behandelt hast? Ich habe von Katja gehört, dass... du Andrej manchmal imitierst.“ Artjom seufzte. Er hasste es, mit seinem Cousin verglichen zu werden, doch eigentlich hatte Katja recht. Andrej und Artjom waren sich in der Tat ziemlich ähnlich. „Kann sein“, murmelte er, woraufhin Ellen seufzte und ihn zu ihrem Behandlungszimmer führte, das zur Hälfte auch ein Büro war. „Leg den Jungen auf der Couch dort ab und dann verschwinde. Ich möchte bei meiner Arbeit nicht gestört werden.“ Artjom tat, was von ihm verlangt wurde. Er wollte Misha zum Abschied kurz durch die weichen Haare wuscheln, aber der Kleine schlug seine Hand weg und schien heilfroh zu sein, endlich Abstand zu dem Russen gewonnen zu haben. „Is' ja gut, ich verpiss' mich doch schon“, zischte Artjom gereizt und verließ den Raum. Er würde dem Jungen gerne ein wenig Respekt einprügeln und gleichzeitig wollte er ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles gut wäre. Es war ein komisches Gefühl, das Artjom da verspürte. Einerseits fühlte er sich zu Misha hingezogen, aber andererseits gab es mehr als genug Gründe, den Kleinen einfach wie ein überdrüssig gewordenes Haustier abzugeben. Er hasst mich, er verachtet mich, er ist respektlos und rebellisch, er sorgt bloß für Ärger, er mischt sich in Angelegenheiten ein, die ihn nichts angehen, er... ist verdammt niedlich. Vor allem, dass er nicht so vorlaut und arrogant ist, gefällt mir. Ich habe schon so viele Jugendliche kennengelernt, die meinten, toll und besonders zu sein, und in Wirklichkeit waren sie ganz gewöhnliche Menschen und sterbenslangweilig. Mein Vater hat mal gesagt, dass man sich vor ruhigen Leuten in Acht nehmen soll, weil das diejenigen sind, die nachdenken, bevor sie ihr Maul aufreißen oder zur Tat schreiten. Ich habe das Gefühl, dass Misha der lebende Beweis für diese Lebensweisheit ist. Hinter dieser unauffälligen Fassade versteckt sich eindeutig etwas. Plötzlich fiel Artjom auf, warum er so angetan von dem Jungen war. Er besaß eine Schwäche für außergewöhnliche Dinge, was auch den Grund darstellte, warum er schon 25 Jahre alt war und trotzdem noch keinen Partner gefunden hatte, mit dem er es länger als zwei Monate aushielt. Ich sollte mich langsam entscheiden. Entweder werde ich Misha aufgeben und ihn zu den Menschenhändlern zurückbringen oder ich werde mich zusammenreißen und meine Beziehung zu ihm auf Vordermann bringen, damit wir irgendwann mal andere Dinge tun können, als uns gegenseitig abzulehnen. Eigentlich wollte ich mir mit der Suche nach einem geeigneten Partner noch Zeit lassen, aber Misha ist jemand, mit dem ich mir eine Beziehung durchaus vorstellen könnte. Er hat etwas Mysteriöses an sich, das ich gerne erforschen würde. Nein, ihn direkt zu meinem Partner zu machen, ist zu voreilig. Ich sollte damit beginnen, ihn zu meinem Sklaven zu ernennen. Keine Ahnung, ob er davon begeistert sein wird, aber-- Oh. Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen, das ich vollkommen vergessen habe. Viktor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)