Stolen Dreams Ⅳ von Yukito ================================================================================ 7. Kapitel ---------- Misha erschien nicht zum Frühstück, was Artjom als Anlass nahm, nach dem Jungen zu sehen. Er fand ihn in seinem Zimmer, wo er sich wieder angezogen hatte, aber immer noch auf dem Bett lag und leise schluchzte. Irgendwie habe ich Mitleid mit dem Kleinen. Es ist nicht so, dass ich ihn hasse oder ihm unbedingt wehtun will, aber er muss lernen, dass er nicht einmal an eine Flucht denken darf. „Komm schon, Misha, du musst etwas essen. Wenigstens ein bisschen.“ „...“ „Soll ich dich tragen, damit du deine Beine nicht belasten musst?“ „...“ Unschlüssig ging Artjom zum Bett. Er beugte sich nach vorne, um Misha vorsichtig auf die Beine zu ziehen, doch kaum hatte er den Jungen berührt, fing dieser plötzlich an, wie am Spieß zu schreien und wild um sich zu treten. Sofort machte Artjom einen Satz nach hinten und beobachtete, wie Misha sich die Hände auf den Kopf legte, als befürchtete er, dass die Decke jeden Moment einstürzen würde. Aus seinen panischen Schreien wurde ein klägliches Wimmern und der Junge glich mittlerweile vielmehr einem kleinen Häufchen Elend als einem Menschen. „Okay, ist ja gut, ich lasse dich ja schon in Ruhe! Beruhige dich!“, rief Artjom erschrocken und verließ das Zimmer. Er schloss sicherheitshalber die Tür hinter sich ab und wollte sich gerade auf den Weg in die Küche machen, als sein Handy zu klingeln begann. „Ja?“ „Hi, ich bin's.“ Diese Stimme... das ist Jason! Jason gehörte zu amerikanischen Mafia, die von den Russen verdächtig wurde, Viktor ermordet zu haben. Seit seinem Tod herrschte zwischen den Amerikanern und den Russen eine starke Spannung, die beiden Seiten zu schaffen machte und neutrale Kommunikation verhinderte. Was verlangte Jason also genau jetzt, wo die zwei Organisationen am wenigsten voneinander wissen wollten? „Was gibt's?“ „Wir... ähm... brauchen einen Arzt. Kennst du vielleicht jemanden, der zu euch gehört und geeignet wäre? Wir können nämlich nicht zu einem öffentlichen Krankenhaus gehen.“ Artjom dachte kurz nach. Er kannte in der Tat jemanden, der Jason weiterhelfen könnte, aber er wusste nicht, ob es so eine gute Idee wäre, potenzielle Schädlinge zu einer hilfreichen Person zu schicken. „Um was geht es denn?“ „Wir haben hier einen Verletzten, der zuvor von euch entführt wurde. Ich glaube nicht, dass die Ärzte sehr erfreut sein werden, ein Kind zu sehen, das gesucht wird. Und dass es verletzt ist, wird die Wahrscheinlichkeit steigern, dass die Ärzte sich nicht bestechen lassen.“ Verstehe... Es wäre auch für uns nicht gut, wenn ein Entführter seine Freiheit zurückgewinnt, also sollte ich ihnen wohl lieber helfen. „Ja, ich kenne da eine Ärztin namens Ellen, die offiziell nicht mehr arbeitet und sich inoffiziell nur mit uns beschäftigt.“ Artjom nannte die Adresse, woraufhin Jason sich bedankte und auflegte. Habe ich das Richtige getan? Wenn sie Ellen umbringen, haben wir eine gute Ärztin weniger. Und es wäre echt schade, sie nicht mehr an Bord zu haben. Nach hastigem Überlegen beschloss Artjom, dass es am besten wäre, selbst zu Ellen zu fahren, um zu sehen, was die Amerikaner wirklich vorhatten. Ohne Misha Bescheid zu sagen – für den Jungen stellte es sowieso keinen Unterschied dar, ob Artjom sich in seiner Villa befand oder nicht – verließ er das Gebäude und fuhr zu Ellen, die in einem anderen Viertel von Sankt Petersburg lebte. Während er sich in einem Hinterzimmer versteckte und zur Kenntnis nahm, dass Jason ihn nicht angelogen hatte und sich tatsächlich nur um einen Jungen sorgte, der etwa in Mishas Alter war, saß Misha immer noch auf seinem Bett und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Er hatte unerträgliche Schmerzen und fühlte sich gedemütigt und machtlos. Sein Wunsch, gemeinsam mit Hannah fliehen zu können, hatte sich wie Rauch in Luft aufgelöst – es gab kein Zurück. Weder für ihn noch für Hannah. Aber ich habe es ihr doch versprochen! Als Artjom wieder nach Hause kam, war es fast zwölf Uhr. Zeit fürs Mittagessen, entschied er und erkannte, dass seine Haushälterin bereits mit dem Kochen begonnen hatte. „Ich dachte mir, Pelmeni wären doch ganz nett“, sagte sie, während sie den Teig zubereitete und Charly, die auf der Theke saß und nach Essen bettelte, mit dem Ellbogen zur Seite schob. „Könntest du sie bitte von hier wegbringen? Ich würde die Anzahl der Haare im Teig gerne auf ein Minimum reduzieren.“ „Klar doch“, erwiderte Artjom, ehe er Charly hochhob, sie in seinem Büro absetzte und dort einsperrte, damit sie sich von der Küche fernhielt. Ich sollte Misha davon überzeugen, am Mittagessen teilzunehmen, dachte er. Ich kann verstehen, dass er Angst vor mir hat, aber seine letzte Mahlzeit liegt schon einige Zeit zurück und ich will nicht, dass er plötzlich umkippt. Weil sein Zimmer ein Badezimmer besitzt, hat er jederzeit freien Zugang zum Trinkwasser, aber ich bezweifle, dass er, seitdem er hier ist, schon etwas getrunken hat, weil er sich immer, wenn ich vorbeischaue, in dieser einen Ecke aufhält. Artjom ging zu Mishas Zimmer, schloss die Tür auf und stellte fest, dass der Junge mal wieder – oder immer noch – an seinem üblichen Platz saß. „Du magst die Ecke, nicht wahr?“ Von Misha kam nur ein klagendes Schluchzen. Er hatte seine zierlichen Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen und das Gesicht hinter den Knien verborgen. Artjom stand mehrere Meter von ihm entfernt, aber er konnte trotzdem sehen, dass Misha vor Angst zitterte. „Würdest du bitte da herauskommen? Das Essen ist bald fertig und ich werde es dir ganz bestimmt nicht nach oben bringen.“ „...“ „Hast du keinen Hunger?“ „...“ „Zügle deine Begeisterung, Misha. Ich komme ja gar nicht mehr zu Wort, wenn du mich hier in Grund und Boden redest.“ „...“ „Nicht witzig? Gut, dann halt nicht.“ Artjom wandte sich zum Gehen ab, doch er hatte nicht einmal die Tür erreicht, als er beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Misha musste etwas essen, sonst würde er früher oder später zusammenbrechen. „Hast du wenigstens etwas getrunken, während ich weg war?“ „...“ „Okay, ich hab's verstanden, du redest anscheinend nicht mehr mit mir, weil du zu gut für mich bist oder so.“ Er ging auf Misha zu, bis er direkt vor ihm stand, und verschränkte wütend die muskulösen Arme vor der Brust. „Nur damit du es weißt: Es gibt da einen Mann namens Roman, der dafür bekannt ist, seine Sexsklaven richtig mies zu behandeln, und dich gerne kaufen würde. Bis jetzt habe ich nicht zugelassen, dass er dich in seine Finger bekommt, also könntest du ruhig etwas Dankbarkeit zeigen.“ Vielen Dank, Artjom, dass du mich beinahe in die Ohnmacht geprügelt hast. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir deswegen bin, dachte Misha, doch kein einziges Wort kam über seine Lippen. „Hör endlich auf, beleidigt zu sein“, zischte Artjom. „Es ist deine Schuld, dass ich dir wehtun musste. Ich habe das nicht gerne gemacht, wirklich nicht, aber du lässt mir keine andere Wahl, wenn du meine Familie in Gefahr bringst.“ „Ich hasse dich.“ Artjom blinzelte verwirrt. Hatte Misha ihm gerade geantwortet oder hatte er sich das bloß eingebildet? „Wie dem auch sei, ich möchte, dass du etwas isst. Entweder folgst du mir freiwillig oder ich werde dich zum Esszimmer tragen. Was ist dir lieber?“ Misha antwortete nicht, sondern rappelte sich zögernd auf und schaute eisern zu Boden, sodass ihm seine braunen Haare in die Stirn fielen. Artjom widerstand dem Drang, dem Jungen die Haare hinter das Ohr zu streichen und machte sich zum Esszimmer auf. Er ging extra langsam, damit Misha mit ihm Schritt halten konnte, und hörte, dass der Junge humpelte, sehr unregelmäßige Schritte machte und gelegentlich leise ächzte oder stöhnte. „Bist du dir sicher, dass ich dich nicht tragen soll?“, fragte er leicht besorgt, aber Misha schüttelte trotzig den Kopf. Er würde lieber so lange gehen, bis seine Beine bluten würden, als sich freiwillig in die Nähe dieses Grobians zu begeben. „Dann halt nicht“, raunte Artjom und führte Misha in das Esszimmer, dessen Tisch bereits gedeckt worden war. Der leckere Geruch von gefüllten Teigtaschen lag in der Luft und ließ Artjom das Wasser im Mund zusammenlaufen. Während er sich an den Tisch setzte und erwartungsvoll seinen Teller ansah, ließ Misha sich möglichst weit entfernt von dem Russen nieder und machte keinerlei Anstalten, seinen Teller, der einen ganzen Meter zu weit rechts für ihn stand, zu sich zu ziehen. „Misha, ich werde gleich wütend. Du wirst jetzt etwas essen!“ Der Junge rührte sich nicht vom Fleck, obwohl er Hunger hatte und förmlich spüren konnte, wie sein Magen sich selbst verdaute. Unter normalen Umständen wäre er sicherlich in der Lage gewesen, etwas zu essen, aber selbst wenn er Artjom nicht abgrundtief hassen würde, hätte er nicht einmal das Besteck anfassen können. In der Anwesenheit anderer Menschen zu essen, war für ihn eine unüberwindbare Herausforderung; da konnte Artjom sagen, was er wollte, Misha würde selbst unter Zwang keinen einzigen Bissen herunterkriegen können. „Junger Mann, entweder wirst du jetzt etwas essen oder du gehst in dein Zimmer zurück und wirst frühstens übermorgen die nächste Gelegenheit bekommen, etwas zu essen zu kriegen“, knurrte Artjom in der Hoffnung, Misha zur Nahrungsaufnahme zu bewegen, doch seine Worte erzielten nicht die gewünschte Wirkung. Schweigend rutschte Misha von seinem Stuhl und verließ humpelnd das Esszimmer. Artjom hätte am liebsten einen Teller nach ihm geworfen, doch er ließ es bleiben. Misha hätte schreien können vor Schmerz. Die gewaltigen Blutergüsse an seinen Beinen machten so etwas Simples wie Fortbewegung zu einer kaum ertragbaren Qual, die Misha wohl oder übel auf sich nehmen musste, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Auf halben Weg passierte er einen Raum, dessen Tür geschlossen war. Eigentlich wollte er ganz normal an ihr vorbeigehen, aber er hielt augenblicklich inne, als plötzlich ein vertrautes Geräusch zu hören war. Das Trippeln des Monsters. Misha lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er fragte sich, ob er weitergehen und das leise Tippen ignorieren sollte, doch sein Bedürfnis, mehr über das Monster herauszufinden, war größer. Neugierig öffnete er die Tür und erblickte ein ordentlich eingerichtetes Büro. Ich bin mir ganz sicher, dass das Trippeln aus diesem Raum kam. Zögernd betrat Misha das Zimmer und sah sich um, doch er konnte weit und breit kein Lebewesen entdecken. Das Geräusch der Stöckelschuhe – natürlich waren es keine Schuhe, aber Misha wusste nicht, woher das Geräusch sonst kam – war verstummt, was es noch schwieriger machte, das Monster zu orten. Mishas braune Augen blieben an einem gefalteten Stück Papier hängen, das auf dem Schreibtisch lag. Alles in ihm schrie, dass er sich von dem Blatt fernhalten sollte, aber sein Körper bewegte sich wie von alleine, als er den Zettel nahm, entfaltete und las. Oh mein Gott... Viktor ist tot?! Artjom meinte doch, er wäre bloß verreist... ''Wenn nicht, gibt ihn'' – damit bin ich gemeint – ''einfach zurück; er ist noch unbenutzt.'' Ich bin doch kein Gegenstand! Wütend und enttäuscht zugleich starrte Misha auf den Brief. Dass Viktor nicht mehr lebte, bedeutete, dass er bei diesem gewalttätigen Arsch namens Artjom bleiben musste, was ja wirklich glänzende Aussichten waren. Sein Blick wanderte zu der Mitte des Papiers, wo eine Menge komischer Striche waren. Misha konnte mit ihnen nicht viel anfangen, aber wenn er das Blatt um siebzig Grad nach links drehte, sahen die Striche ein bisschen wie japanische Schriftzeichen aus, die-- „Anscheinend besitzt du ein Talent dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen.“ Scheiße! Misha legte den Brief eilig zurück auf den Tisch und drehte sich zu Artjom um, der im Türrahmen stand und fuchsteufelswild aussah. Ohne zu zögernd ging der Ältere auf den Jungen zu und schlug ihm mit so einer Wucht ins Gesicht, dass Mishas Nase heftig zu bluten begann. Der Kleine hätte sich gerne nach vorne gebeugt, damit die Blutmassen abfließen konnten, aber Artjom machte ihm da einen Strich durch die Rechnung, als er den Jungen am Hals packte und seinen Kopf gewaltsam nach oben drückte. „Sieht dieses Zimmer so aus, als wäre es für deine Augen bestimmt?“, knurrte der Größere zornig. „Nein“, ächzte Misha, während er gezwungenermaßen sein eigenes Blut schlucken musste. „Es tut mir leid.“ „Oh, glaub mir, es wird dir gleich noch viel mehr leidtun.“ Nur durch devotes Betteln und mehreren Entschuldigungen gelang es Misha, den Rohrstock nicht ein zweites Mal ertragen zu müssen. Ganze zehn Minuten stand er flehend, weinend und blutend vor Artjom, der ihn rügte und schließlich losließ, woraufhin Misha sofort die Flucht ergriff. In seinem Mund befand sich der metallische und leicht süßliche Geschmack seines eigenen Blutes und ihm war speiübel. Kaum hatte der Junge das Büro verlassen, nahm Artjom Viktors Brief und verstaute ihn in seinem Safe. Zuvor drehte er das Blatt auf die Seite, wie er es bei Misha gesehen hatte, doch die Striche sahen für ihn immer noch gleich aus. Könnte es sein, dass der Junge diese Schriftzeichen lesen kann? Ich sollte ihn bei Gelegenheit fragen. Nachdem der Brief vor neugierigen Kindern in Sicherheit gebracht worden war, kehrte Artjom ins Esszimmer zurück und beendete seine Mahlzeit. Anschließend fütterte er Charly, die zuvor aus dem Büro geflohen und ständig auf den Esstisch gesprungen war, um nach einer Möglichkeit zu suchen, etwas von den Teigtaschen stibitzen zu können, und führte ein kurzes Telefonat mit Katja, die ihm erzählte, dass der Junge, der bei den Amerikanern war und Riley hieß, mit dem Plan zu tun gehabt hatte, von dem bei der gestrigen Versammlung kurz die Rede gewesen war. „Lass mich raten: Valentin hat Riley foltern lassen?“ „Vermutlich“, erwiderte Katja. „Ich weiß auch nicht, was er sich dabei gedacht hat – das war wirklich das Dümmste, was er hätte tun können.“ „Uh-hm. Beliebt hat er sich mit der Aktion sicherlich nicht gemacht.“ „Nun, es ist passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Wie geht es mit Viktors Brief voran?“ „Ich bin immer noch dabei, die Schriftzeichen zu entschlüsseln“, gestand Artjom, ehe er noch ein paar Sätze sagte, das Gespräch beendete und auflegte. Ich sollte Misha um Rat fragen. Vielleicht weiß er ja etwas, das mir weiterhelfen könnte. Artjom ging zu Mishas Zimmer, doch der Junge saß weder auf dem Bett noch in seiner üblichen Ecke. Stattdessen befand er sich im anliegenden Badezimmer, wo er sich über das Waschbecken beugte und würgte. Der Russe fragte sich, was Mishas Magen wohl loswerden wollte – schließlich hatte er seit einem Tag nichts zu essen bekommen – doch dann beobachtete er geschockt, wie keine unappetitliche Mischung aus Essen und Magensäure, sondern etwas Anderes ins Waschbecken spritzte. Blut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)