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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Die praktische Prüfung

Die Zeit war eine seltsame Sache. Sie ließ sich nicht mit reinen Worten erklären, geschweige denn in eine bestimmte Schublade stecken. Zeit ist relativ. Das war eine sehr bekannte Ausdrucksweise und obwohl sie so oft verwendet wurde, dachten die meisten Menschen vermutlich nicht einmal genau darüber nach, was diese Worte tatsächlich bedeuteten. Dabei war es doch wirklich immer wieder erstaunlich.
 

Die Zeit konnte langatmig sein, wenn man wollte, dass sie verging. Stunden konnten in Situationen von Langeweile oder Erwartungen plötzlich eine halbe Ewigkeit dauern. In glücklichen, freudigen Momenten hingegen wollte man die Zeit festhalten; wollte, dass dieser Augenblick so lange wie möglich anhielt. Genau in diesen Situationen verging die Zeit rasend schnell, wie ein reißender Fluss dem man sich nicht entziehen konnte. Die Zeit konnte wahrlich Fluch und Segen zugleich sein. So auch jetzt. Wenn man wollte, dass die Zeit still stand und sei es auch nur für einen winzigen Moment, dann spielte die physikalische Größe da nicht mit. Im Gegenteil, sie schaffte es noch schneller zu vergehen, als üblich.
 

„Wie kann es schon so spät sein?“, stöhnte Carina, während sie an der Seite ihres Mentors in Richtung Institut lief. Grell grinste sie mit einem fast schon unverschämt breiten Lächeln an. „Tja, jetzt ist es soweit. Enttäusch mich bloß nicht, Carina.“ „Danke, das beruhigt mich jetzt ungemein“, erwiderte die 18-Jährige sarkastisch und hob die linke Hand an ihren Mund, um an einem ihrer Nägel zu kauen. Keine Sekunde später schlug Grell ihr mahnend auf die Finger. „Haben wir uns nicht darauf geeinigt, dass du das sein lässt? Frauen sollten schöne, lange Fingernägel haben. Deine sehen mittlerweile ganz passabel aus, also fang jetzt nicht wieder mit dieser ekelhaften Kauerei an.“ Carina verdrehte die Augen, gehorchte ihm jedoch. Tatsächlich hatten sich die längeren Fingernägel als relativ nützlich erwiesen. Jedenfalls war Ronald ziemlich entsetzt gewesen, als er sich die roten Kratzer auf seinem Gesicht im Spiegel angesehen hatte. „Wozu erzieht dich Sutcliff eigentlich? Zu einem Shinigami oder doch eher zu einer Bestie?“ „Du bist selbst schuld, beim nächsten Kampf achtest du einfach darauf, dass deine Hand nicht zufällig auf meinem Hintern landet.“ „Das war ein Versehen.“ „Ja klar, wer‘s glaubt wird selig.“
 

Jedenfalls konnte sie sich ziemlich gut vorstellen, ihre Nägel noch häufiger zum Einsatz zu bringen, sollte es denn notwendig werden. „Mir ist schlecht“, jammerte sie und jetzt hatte selbst Grell den Anstand, sie mitleidig anzusehen. „Jetzt mach dich doch nicht so verrückt. Die Prüfung ist viel einfacher als du denkst. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“ „Ja, aber du bist auch ein gottverdammtes Genie.“ „Ich weiß“, trällerte Grell mit quietschender Stimme, woraufhin Carina ihn genervt ansah. Der Rothaarige räusperte sich kurz und sah dann auf seine Uhr. „Tja, meine Schicht fängt gleich an. Ich drück dir die Daumen, Kleines.“ Jetzt musste Carina gegen ihren Willen doch lächeln. „Ich schaff das schon“, antwortete sie und sah dabei zu, wie der Shinigami sich an Ort und Stelle in Luft auflöste.
 

„Ich schaff das schon“, flüsterte sie noch einmal in die entstandene Stille hinein und betrat mit zittrigen Beinen das Institut. Als sie vor dem Prüfungsraum ankam, entdeckte sie Ronald, der ebenfalls zu warten schien. Carina setzte sich einen Stuhl von ihm entfernt hin und schielte zu ihm herüber. Eine Frage lag ihr brennend auf der Zunge und wieder einmal siegte ihre Neugier über ihren Verstand. „Und, wie ist deine theoretische Prüfung so gelaufen?“, fragte sie versucht beiläufig und der junge Mann schaute verwundert auf, schien sie anscheinend erst jetzt zu bemerken. „Wird wohl gereicht haben, denke ich“, antwortete er und zuckte lässig mit den Schultern. „Wie kann er nur so ruhig bleiben?“, dachte Carina und war fast schon ein bisschen neidisch. Aber so war es schon immer gewesen. Sie machte sich wegen jeder Kleinigkeit einen riesigen Kopf, machte aus einer Mücke einen Elefanten und dabei war das in den meisten Fällen überhaupt nicht notwendig. „Darf ich dir auch eine Frage stellen?“, fragte ihr Klassenkamerad sie nun und wirkte für seine Verhältnisse relativ ernst. Verwundert nickte sie und als er ihr seine Frage stellte, weiteten sich Carinas Augen um mehrere Millimeter.
 

„Hast du Angst?“
 

Die 18-Jährige musste ihn nicht fragen, worauf er anspielte. Natürlich ging es um die praktische Prüfung. Die Prüfung, dessen Inhalt sie von Anfang der Ausbildung an gekannt hatten. Ronald schaute sie aufmerksam an und Carina musste kurz schlucken. „Er war ehrlich zu mir, also sollte ich diesen Gefallen wohl erwidern“, dachte sie. „Ja. Der Gedanke, eine Seele zum ersten Mal einzusammeln und das Leben desjenigen somit zu beenden, macht mir schon irgendwie Angst.“ „Ich hoffe, dass das mit der Zeit nachlässt“, sagte Ronald und gab indirekt zu, dass auch er nicht ganz ohne Furcht war. „Ich auch“, antwortete Carina und konnte für einen Moment kaum glauben, dass sie mit Ronald gerade eine vernünftige Konversation geführt hatte.
 

Erneut verging die Zeit rasend schnell. Ronald wurde in das Zimmer hereingerufen und verließ es 5 Minuten später wieder mit einem Zettel in der Hand. Er sagte kein Wort, was er vermutlich auch nicht durfte, sondern winkte ihr nur kurz zum Abschied zu. Und dann, nach ca. 10 Minuten, wurde endlich ihr Name aufgerufen. Mit einem schmerzhaft hohen Puls betrat sie den Klassenraum, ihre Augen fielen sogleich auf Mr. Crow und Mr. Jones. Beide Herren saßen genauso wie bereits bei der theoretischen Prüfung hinter dem Pult, auf dessen Oberfläche mehrere Papierstapel sowie etwa 10 kleine Sicheln lagen. Als sie vortrat, überreichte ihr Mr. Jones genauso einen Zettel, wie Ronald ihn gehabt hatte. Bevor sie überhaupt Gelegenheit dazu hatte, sich das Stück Papier genauer anzusehen, öffnete der Prüfer den Mund.
 

„Auf diesem Zettel sind alle Informationen verzeichnet, die Sie zum Einsammeln der Seele benötigen. Foto, Name, Geburtsdatum, Todeszeitpunkt, Todesort und natürlich die genaue Todesursache. Sie haben die Aufgabe, die Seele vorschriftsmäßig zu überprüfen und einzusammeln. Dazu werden Sie wie üblich noch eine der Übungstodessensen verwenden.“ Nun reichte er ihr eine der Sicheln, bei dessen Anblick Grell vermutlich vor Empörung geweint hätte. Carina nickte, atmete gleichzeitig einmal tief durch. „Strengen Sie sich an“, sagte Mr. Crow leise und der Blondine wurde übel. Es war klar, dass er keine Blamage von seinen Schülern wünschte. Wie schon Ronald vor ihr verließ sie wieder das Klassenzimmer, stieg die Treppen hinunter und ging mit schnellen Schritten auf den Ausgang zu. Jetzt wollte sie das Ganze nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Zu ihrem großen Bedauern schien Alice nicht im Dienst zu sein, denn hinter der Rezeption saß eine andere Frau. „Schade, allein Alice Anblick hätte mich schon ein wenig beruhigt“, dachte Carina und trat nun aus dem Institut hinaus.
 

„Dann mal los“, murmelte sie, schloss ihre gelbgrünen Augen und konzentrierte sich auf den Ort, an dem sie auftauchen wollte. Gleich darauf ergriff sie das Gefühl der Schwerelosigkeit, ihr Körper wurde ganz leicht und sie konnte spüren, wie es plötzlich ganz kalt und windiger wurde. „Gut, dieser Teil hat also schon mal funktioniert“, sagte sie erleichtert, als sie wieder die Augen öffnete und sich an dem Ort wiederfand, den sie sich in Erinnerung gerufen hatte.
 

Der Clock Tower, der aber von allen wegen seiner schwersten Glocke immer nur Big Ben genannt wurde, ragte hoch über London auf und ermöglichte es der angehenden Seelensammlerin die ganze Stadt zu überblicken. Dabei fiel ihr Blick automatisch auf das riesige Ziffernblatt unter ihr und somit auch auf die darunter stehenden lateinischen, goldenen Lettern. Gott schütze unsere Königin Victoria die Erste. Carina verzog spöttisch die Lippen. „Wenn die Leute nur wüssten, wie viele ihrer Mitmenschen schon wegen ihrer ach so hochgeschätzten Königin ihr Leben lassen mussten“, dachte sie. Auch unter den Shinigami wurde viel getratscht und so blieben nur wenige Geheimnisse, die Menschen betrafen, wirklich verborgen. Und wirklich jeder Seelensammler hatte schon einmal eine Seele nehmen müssen, nur weil die Königin diese hatte loswerden wollen. An und für sich konnte Carina diese Tatsache egal sein. Allerdings mochte sie die Vorstellung einfach nicht, dass eine Person, die so viel Einfluss und Macht besaß, auch tatsächlich im negativsten aller Sinne von ihr Gebrauch machte. Gedankenverloren ließ die 18-Jährige ihre Augen über die Stadt unter sich gleiten.
 

London hatte sich in den letzten 2 Jahren nicht verändert und Carina hatte das auch nicht erwartet. Es war bereits später Nachmittag, die Sonne ging gerade unter. Wie so oft regnete es in London, der Wind pfiff um die Häuser und ließ Carina ein wenig frösteln. „Das Wetter passt irgendwie zu meiner Stimmung“, murmelte sie und setzte sich nun in Bewegung, indem sie von dem hohen Turm hinunter auf das nächstgelegene Gebäude sprang. „Und das ohne einen Kratzer, wer hätte das damals gedacht?“, grinste sie in sich hinein und warf nun zum allerersten Mal einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand. Gleich darauf fühlte es sich an, als würden ihre Organe zu Eis erstarren. Oh Gott, sie kannte dieses Gesicht!
 

„George“, flüsterte sie und schloss für einen Moment ungläubig die Augen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Was zum Teufel hatte sie in ihrem Leben getan, dass sie so etwas auch noch im Tod verdient hatte? Wie konnte es sein, dass sie von den schätzungsweise 5 Millionen Einwohnern Londons ausgerechnet ihrem ehemaligen Blumenhändler die Seele nehmen musste? „Wenn es so etwas wie Schicksal gibt, dann hat es was gegen mich. Ganz sicher“, stöhnte sie genervt und las nun weiter. Der liebenswerte 46-Jährige würde in seinem Blumenladen an einem Herzinfarkt sterben. „Nun ja, wenigstens ein relativ normaler Tod“, dachte Carina trocken, was ihr aber nur wenig Trost spendete. Aber sie hatte keine Wahl. Er stand auf der Liste, sein Tod musste eintreten.
 

„Denke positiv Carina“, sagte sie zu sich selbst, während sie von einem Dach zum Nächsten sprang. „Wenn du seine Seele einsammeln kannst, dann kannst du es auch bei allen anderen.“ Schnell hatte sie ihr Ziel erreicht. Von ihrem Platz auf dem gegenüberliegenden Gebäude konnte sie den stämmigen Händler deutlich in seinem Laden sehr. Er schien gerade die Blumenkästen wegzuräumen, um den Laden anschließend für den heutigen Tag schließen zu können. Oft hatte Carina ihn dabei gesehen, wenn sie vom Friedhof zurückgekommen war. Er hatte ihr dann immer mit einem Lächeln zugewinkt und die damals 16-Jährige hatte die Geste erwidert. Für ihn hatte sich in den letzten 2 Jahren also nichts verändert. Und er hatte keine Ahnung, dass der Tod ihn nur in wenigen Minuten ereilen würde…
 

Mit einer fließenden Bewegung betrat sie seinen Laden. Natürlich bemerkte er sie nicht. Wenn Shinigami nicht gesehen werden wollten, dann wurden sie auch nicht gesehen. Eine einfache, aber sehr vorteilhafte Tatsache. Sie spürte, wie sich ihre Aufregung beinahe verzehnfachte, denn laut der Akte hatte er nur noch etwa 20 Sekunden. George stellte nun den letzten Kasten an seinen angestammten Platz und wischte sich danach den Schweiß von der Stirn. 15 Sekunden. „Puh, endlich fertig“, sagte er in die Stille hinein, zog sich seine Gummihandschuhe aus und legte sie auf den Tresen. 10 Sekunden. Seine Schürze folgte als Nächstes und seine Hand glitt in eine seiner Hosentaschen, holte den Schlüssel zum Laden hervor. 5 Sekunden. Er hielt inne, mit einem Mal war sein Gesicht bleich und schmerzverzerrt. Schweiß breitete sich auf der Stirn des Mannes aus, er schien Probleme beim Luftholen zu haben. Der Schlüssel fiel klirrend zu Boden, seine Hand krallte sich in seine Brust. Carina verzog das Gesicht, als sie ihn keuchen hörte und dabei zusah, wie er nun auf die Knie sank und zur Seite wegkippte. Sie konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie sein Herz trotz des Infarktes weiterarbeiten wollte, es aber nicht schaffte. „Es ist soweit“, dachte die Blondine und rief sich die Reihenfolge ins Gedächtnis, die sie im Unterricht gelernt hatte.
 

Schritt 1: Benutzte deine Death Scythe und rufe den Cinematic Record hervor.
 

Sie hob die kleine Sichel und zögerte einen winzigen Moment, bevor sie sich ins Gedächtnis rief, dass die Waffe keine Wunde herbeiführen wird. „Nicht wie damals“, schoss es ihr kurz durch den Sinn, doch sie schüttelte den Gedanken sofort ab und stieß die Spitze nun in seine Brust. Ein kleiner - nur für sie wahrnehmbarer – Ruck durchfuhr seinen Körper und dann schossen sie hervor. Die Cinematic Records.
 

Schritt 2: Siehe dir die Cinematic Records an und prüfe, ob die Zielperson noch vorteilhaft für die Zukunft sein könnte.
 

„Es ist tatsächlich wie ein Kurzfilm“, flüsterte Carina und besah sich interessiert die Bilder. Sie konnte sehen, wie George auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Wie er sich als kleiner Junge bei einem Sturz vom Pferd das Bein brach. Dann, mehrere Jahre später, übernahm er den Bauernhof seiner Eltern und heiratete. Er wurde Vater von einer kleinen Tochter. Erneut vergingen Jahre. Ein fürchterlicher Brand vernichtete den kompletten Hof, seine Frau und seine 6-jährige Tochter starben bei dem Unglück. Er ließ daraufhin alles hinter sich und kam gebrochen nach London, um ein neues Leben zu beginnen. Er kaufte den Blumenladen und versuchte seine schreckliche Vergangenheit zu vergessen. Im Laufe der Jahre konnte er wieder Freude empfinden, er traf viele verschiedene Menschen und Carina konnte selbst sich in einem flüchtigen Bild erkennen. „Er ist nicht vorteilhaft“, dachte sie, aber überraschen tat es sie nicht. Menschen, die auf der Todesliste standen und dann doch verschont wurde, waren in der Regel Politiker, Biologen, Physiker, Revolutionäre…Für Blumenhändler wurden keine Ausnahmen gemacht. Der Cinematic Record kam nun zum Abschluss und plötzlich weiteten sich George’s Augen bis zum Anschlag.
 

„C-Carina?“, röchelte er mit letzter Kraft und die 18-Jährige lächelte ihn so sanft wie nur möglich an. Dass er sie nun sehen konnte, war der Tatsache geschuldet, dass er zum jetzigen Zeitpunkt mehr tot als lebendig war. „Hab keine Angst. Die Schmerzen sind gleich vorbei“, sagte sie und schlug einen ruhigen Ton an.
 

Schritt 3: Zerschneide den Cinematic Record und vervollständige die Akte.
 

Mit einem sauberen Schnitt der Sichel durchtrennte sie die Aufzeichnungen und setzte gleich darauf den Stempel auf den Zettel, der den Fall als abgeschlossen kennzeichnete. Im selben Moment erstarrte der Körper zu ihren Füßen. George’s Kopf fiel zu Boden, seine Augen starrten ohne wirklich zu sehen an die Decke. Und genau in diesem Moment konnte Carina sie spüren. Seine Seele. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Wie oft hatten sie im Unterricht über die Seele gesprochen? Wie oft über den Ablauf, den Prozess des Einsammelns? Aber nie hatte jemand erwähnt, wie es sich tatsächlich anfühlte.
 

Eine Seele war nichts Greifbares. Sie war wie eine kleine Sonne, eine Kugel aus silbernem Licht, die plötzlich den ganzen Raum erhellte. Und sie fühlte sich so unglaublich zerbrechlich an. Zittrig atmete Carina ein und wieder aus. Die Seele war viel mehr, als nur die Essenz eines Menschen. Sie war etwas Kostbares. Etwas Reines. Etwas, das niemals beschädigt werden sollte. Bei der bloßen Vorstellung, dass Dämonen Seelen aßen, wurde Carina mit einem Mal furchtbar schlecht.
 

Obwohl George‘s Seele verschwand und somit in den Besitz der Registratur überging, pochte Carinas Herz immer noch heftig gegen ihre Brust. Fühlte es sich für jeden Seelensammler so an? Automatisch dachte sie nun an ihre eigene Seele und Trauer keimte in ihr auf. Sie hatte ihre Seele durch ihren Selbstmord beschmutzt. Ihre Seele würde für immer in diesem Körper gefangen sein. Und falls sie sterben sollte, würde ihre Seele sicherlich an einen anderen Ort gehen, als die der Menschen. „Da kann man auf die Menschen ja fast schon ein wenig neidisch sein“, flüsterte sie in die Stille hinein und trat mit langsamen Schritten wieder aus dem Laden hinaus.
 

Sie sprang nach oben auf das nächste Haus und automatisch wanderte ihr Blick nach Westen. Nicht weit von hier hatte sie in einer der unzähligen Gassen Londons ihr Leben gelassen. Immer noch bereiteten ihr diese Gedanken Unbehagen und vermutlich würde das auch niemals aufhören. „Ich sollte gehen“, dachte sie und schloss die Augen, um sich wieder zu konzentrieren. Für heute hatte sie ihr Ziel erreicht. Jetzt musste sie die Akte nur noch den Prüfern vorlegen.
 

Mit einer geübten Handbewegung schnitt er den Faden ab, der still in seiner rechten Hand ruhte und betrachtete sein Werk. Wie immer sah der Körper des Verstorbenen nun wieder schön und ansehnlich aus. Der Mann Mitte 30 war von einer Kutsche erfasst worden und demnach war der Schaden an seinem Körper relativ groß ausgefallen. Allein durch die schiere Wucht seines Aufpralls auf dem harten Asphalt der Straße war der Großteil seiner Stirn zertrümmert worden. Außerdem hatten seine rechte Schulter und sein rechtes Bein in einem so ungeraden Winkel vom Körper abgestanden, dass es ein Wunder gewesen war, dass sie nicht komplett abgerissen worden waren. Ja, der Undertaker konnte dieses Mal wirklich stolz auf sein Werk sein.
 

Das Gesicht des Mannes konnte man wirklich wieder ohne Zaudern ansehen. Seine Stirn wurde nun wieder von einer sehr langen Naht zusammengehalten, die der Bestatter mit einer dünnen Schicht Make-up bestrichen hatte. Bei der rechten Seite seines Kunden hatte er sich schon etwas mehr Mühe geben müssen. Die Knochen hatte er brechen und in die richtige Form zurückbringen müssen. Die abgeschürfte Haut wurde von dem schwarzen Anzug verdeckt, den der Verstorbene nun trug. Mit vorsichtigen, beinahe sanften Handgriffen brachte er die Leiche in die richtige Position und schloss mit einem leisen Lachen den Sarg. Erneut war ein Tag zu Ende gegangen, an dem er seine Arbeit voller Hingabe erledigt hatte. Bald würde es für ihn nicht mehr so einfach sein. Nur noch wenige Monate, dann würden der Earl und sein Bediensteter alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um ihn zu fassen. „Hehe“, kicherte er. Allein die Vorstellung bescherte ihm bereits großes Vergnügen. Es würde eine willkommene Abwechslung zu seinem bisherigen Alltag darstellen.
 

Der Silberhaarige hielt mit einem Mal inne, schien äußerlich mitten in der Bewegung erstarrt zu sein. Wie so oft spürte er es, wenn jemand in der Nähe seines Ladens sein Leben ließ. Und wie könnte es auch anders sein? Die Shinigami wurden vom Tod angezogen, wie die Insekten vom Licht. Wobei er sich manchmal nicht sicher war, ob es nicht vielleicht auch anders herum war. Vielleicht zogen die Shinigami ja auch den Tod an?
 

Wenige Sekunden vergingen und nun konnte er auch einen seiner Artgenossen wahrnehmen. Wie immer waren die Shinigami stets direkt vor Ort. Bei ihm war es selbst genauso gewesen. „Manchmal wäre es nützlich, die Liste noch zu haben“, dachte er und strich sich mit einem seiner langen Fingernägel nachdenklich über das Kinn. Die Liste mochte er vielleicht vermissen, aber seinen Job? Nein, ganz sicher nicht.
 

Mit einem undefinierbaren Lächeln auf den Lippen trat er den Rückweg in den oberen Teil seines Ladens an. Gewiss würden der Earl und sein Butler nicht die Einzigen sein, die hinter ihm her sein würden.
 

Oh ja, er war sich sicher, mit den Shinigami würde er auch noch jede Menge Spaß haben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Fullmoon1
2016-07-04T10:31:23+00:00 04.07.2016 12:31
Gutes Kapitel ;)


Lg Fullmoon1


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