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Anime Evolution: Krieg

Fünfte Staffel
von

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Schattentanz

1.

„Es tut mir Leid, okay?“ Entnervt fuhr sich die junge Frau durch ihre Haare. „Es tut mir Leid, Leid, Leid, Leid, Leid. Es tut mir Leid, dass die Simulation beendet wurde, es tut mir Leid, das wir hier im Nichts schweben, es tut mir Leid, das ich mich als Dai-Kuzo ausgegeben habe, es tut mir Leid, Leid, Leid, Leid!“

„Davon können wir uns jetzt auch nichts kaufen!“, blaffte Yoshi Futabe wütend. „Weil du Akira angegriffen hast, sitzen wir jetzt im Leerraum zwischen den Systeme fest! Du hast die Simulation beendet! Fest sitzen wir! Fest!“

„Nun, nun“, versuchte ich den aufgebrachten Freund zu besänftigen. Aber er hatte ja Recht. Ursprünglich waren Yoshi und ich im Geheimquartier des Legats in Biotanks gestiegen, um ihrer Infiltration des Paradieses der Daina und Daima nachzuspüren. Heraus gekommen waren wir mitten im Forschungsprojekt von Henry William Taylor, einer von wahrscheinlich fünfzigtausend Jahren alten Dai-Bewusstseinen konstruierten Simulation, die ihm Antworten auf das damalige Geschehen und die Götter geben sollte, welche in dieser Zeit erstmalig aufgetaucht waren.

Das war nicht nur für uns eine echte Überraschung gewesen, sondern auch für eine Agentin des Legats, welche mit ihren Kameraden das Paradies infiltriert hatte. Nur war sie ausgerechnet in dieser Simulation zusammen mit Henry hängen geblieben. Und als sie mich die Zentrale betreten gesehen hatte, da war ihr erster Gedanke gewesen, mich zu überwältigen.

Dabei war die Simulation eingefroren. Irgendwie. Auf jeden Fall schwebten wir hier mitten im Leerraum zwischen den Sonnen, und unser Schiff war weiter geflogen oder existierte gar nicht mehr. Grund dafür war ihr Hochgeschwindigkeitsangriff gewesen, mit dem sie mein Bewusstsein hatte attackieren wollen. Spötter mochten annehmen, dass das Paradies wirklich nicht mehr als eine Simulation war, die sich in unseren Köpfen abspielte, und in der wir nicht teil nahmen, sondern unsere Teilnahme simuliert vorgesetzt bekamen. Aber das Paradies war wirklich um ein winziges Jota von den Gehirnen, für die es erschaffen worden war, entfernt, was bedeutete, dass tatsächlich eine Versetzung des Bewusstseins nötig war, befand sich quasi in einem Mikro-Universum. Ansonsten hätte ich das Paradies der Daima und Daina niemals mit meiner KI-Rüstung regelrecht betreten können. Nun, es war nicht sehr schwer für mich gewesen, mich zu verteidigen und die Verbindung zu meinem Körper, der in einem Biotank ruhte, zu beschützen. Immerhin war dies nicht das erste Mal, das ich in einer solchen Situation steckte. Erst neulich waren mein Leib und mein Bewusstsein achtzig Lichtjahre voneinander entfernt gewesen, und ich hatte es überlebt. Die Kleinigkeit, innerhalb des Paradieses, speziell in diesem Szenario von ihm getrennt zu sein, war eigentlich nicht der Rede wert

Das Ergebnis war simpel und grausam. Wir hatten Henrys Mission vermasselt. Und Schuld daran war die Legats-Agentin, die von sich behauptete, auf direkte Anweisung von Juichiro Tora zu handeln. Aber der Magier Tora war bereits seit einiger Zeit der Verbündete meines Großvaters Michael. Es war sicherlich ein Bündnis auf Zeit, aber selbst dieser Mann würde alles tun, damit die Erde und dadurch auch das Dämonenreich nicht vernichtet wurden. Vor diese Argumente gestellt hatte die Agentin kapituliert und sich uns angeschlossen, bis sie neue Anweisungen bekam. Im Anschluss hatte Yoshi sie mit Vorwürfen bombardiert, von denen jeder einzelne nur zu genau stimmte.

„Ist doch wahr, Akira! Können wir nicht einmal alle ordentlich zusammen arbeiten? Das ist ja hier fast wie Planwirtschaft. Keiner weiß worum es geht, aber alle machen mit!“

„Sehr treffend formuliert“, murmelte ich.

„Irgendwie merkwürdig“, meldete sich Henry zu Wort. Der ehemalige Legat, ehemalige britische Agent und ehemalige Risikopilot rieb sich das breite Kinn. „Der Alte meinte, die Simulation würde enden, wenn ich es vermassele. Stattdessen befinden wir uns mitten im Nirgendwo zwischen den Sternen. Das entspricht nicht seinen Worten.“

„Es ist eine Falle“, erwiderte ich leichthin. „Der alte Dai hat sich denken können, dass dein Boss nach einiger Zeit kommt um nachzuschauen, was aus dir geworden ist. Bis dahin sollte dich das Szenario beschäftigen. Immerhin bin ich als Regent des Paradies für die meisten Bewohner ein wirklicher Quell der Qualen mit meinen vielen Reformen und Projekten.“

„Meinst du das wirklich?“, fragte er erschrocken.

„Nein, natürlich nicht. Obwohl man es denken könnte, wenn man bedenkt, dass wir hier isoliert sind, weitab jedes Sterns oder Planeten. Ich meine, ein besseres Gefängnis kann es doch nicht geben, solange wir darüber grübeln wie die Simulation wieder gestartet wird, anstatt uns in unsere Körper zurück zu ziehen. Wahrscheinlich würden sie in diesem Moment unsere Zeitwahrnehmung extrem reduzieren und nach einer Möglichkeit suchen, uns daran zu hindern, wirklich wieder in die Biotanks zurück zu kehren und... Ja?“

Die Agentin senkte die Hand, mit der sie mir gewunken hatte. „Ist es vielleicht ein schlechtes Zeichen wenn ich dir berichte, dass ich mich nicht länger ausloggen kann?“

„Nicht, dass das überraschend kommen würde“, brummte Yoshi barsch.

„Es ist wohl wirklich eine Falle“, stellte ich tonlos fest.
 

Wenn ich in der Zeit, in der ich auf dem rechten Auge nahezu blind gewesen war, eines gelernt hatte, dann war es zu sehen. Mein rechtes Auge, von dem ich lange angenommen hatte, ein Säureattentat hätte die Hornhaut getrübt und mir ein weißes, blindes Auge beschert, war von mir unbewusst mit einem KI-Panzer geschützt worden. Dieser Panzer hatte mich nicht nur vom normalen dreidimensionalen sehen abgeschnitten und mein Auge vor der Säure beschützt, er hatte mich immerhin noch in die Lage versetzt, hell und dunkel mit dem Auge zu unterscheiden. Darüber hinaus hatte mein rechtes Auge in Finsternis wesentlich mehr erkennen können als mein Linkes. Ein Widerspruch, der mir zu grübeln gegeben hatte. Allerdings war keiner der allmächtigen KI-Meister in meinem Umfeld, angefangen bei Arno Futabe, meinem ersten KI-Lehrer, über Kitsune und Dai-Kuzo bis hin zu hervorragenden und geheimnistuerischen Meistern wie meiner Cousine Sakura und ihrem kleinen Bruder Makoto, dazu bereit gewesen mich aufzuklären. Stattdessen hatten sie mich mit einem blinden Auge und einem riesigen Schuldkomplex herum laufen lassen. Letztendlich war das besser gewesen als einen Machtkomplex aufzubauen, aber sicherlich hätte es einen schnelleren, besseren und vor allem weniger schmerzhaften Weg geben können als durch mein persönliches Trauertal absoluter Verzweiflung. Langer Rede, kurzer Sinn, da ich tatsächlich im Paradies existierte – diesmal nicht mit Hilfe meine KI-Rüstung, sondern als Teil der Simulation – konnte ich tatsächlich einen Teil meiner KI-Rüstung aufbauen. Eigentlich bestand meine Rüstung aus einer simulierten Uniform des Naguad-Hauses der Arogad, ein Umstand, der mich immer wieder fragen ließ, ob mir meine Eltern in frühen Jahren eine solche Uniform gezeigt hatten oder das Bild irgendwie in meinen Genen gesteckt hatte – oder ich den gleichen Geschmack hatte wie die Gründer der Dynastie. Aber damit waren meine Fähigkeiten noch nicht erschöpft. Konkret bedeutete dies, dass ich mir eine Brille mit weißen Gläsern erschuf. Und diese Brille hatte die gleichen Fähigkeiten wie mein KI-geschütztes rechtes Auge. Nur um einiges stärker. Ich konnte damit in absoluter Finsternis sehen. Andererseits gab es im Leerraum zwischen den Planeten einfach nichts zu sehen.

„Da bist du!“, rief ich und deutete in die uns umgebende Finsternis.

Aus dem Nichts schälte sich die Gestalt, die ich mit Hilfe der Brille erkannt hatte.

„Ich werde verrückt! Der Alte!“, rief Henry erstaunt. „War er also immer an mir dran.“

„Wundert dich das etwa?“, meinte Yoshi vorwurfsvoll.

„Respekt, Reyan Maxus. Ich hätte nicht gedacht, dass du mich aufspüren würdest. Andererseits hast du eine Form von Belohnung verdient. Einen letzten Triumph sozusagen.“

Fragend hob ich die Augenbrauen, während die KI-Brille wieder verschwand. Der Dai hatte mich mit dem Titel Reyan Maxus angesprochen, und das alleine hatte schon eine tief greifende Aussage. „Also war es wirklich ein Hinterhalt“, sagte ich ernst.

„Oh nein, eigentlich sollte es nur eine Beschäftigungstherapie für den jungen Burschen und seine Begleiterin werden. Aber, wie sagt man so schön bei euch Terranern? Eine Gelegenheit sollte man am Schopf packen, wenn sie sich bietet.“

„Das ist durchaus korrekt interpretiert“, erwiderte ich. „Und, was passiert nun mit uns?“

„Nichts. Ihr könnt gehen.“ Die Miene des Alten wurde ernst, und schließlich beinahe mitfühlend, wenn ich richtig in seinem Gesicht lesen konnte. „Es tut mir Leid, aber es gab keine andere Möglichkeit.“

„Keine andere Möglichkeit?“, fragte ich argwöhnisch und lauschte zugleich tief in mich hinein. Was immer er vorgehabt hatte, er hatte es bereits getan. Und das beunruhigte mich sehr. Hing es vielleicht damit zusammen, dass die Agentin nicht in ihren Körper zurückkehren konnte?

„Du verstehst nicht, junger Arogad. Es darf keine Reyan Maxus geben. Alles was Sean O´Donnelly hier erlebt hat, ist und war korrekt und nicht manipuliert. Nicht die Götter haben die Zivilisationen der Daima und Daina ausgerottet, sondern sie waren es selbst. Sie haben sich in endlosen Bruderkriegen vernichtet. Die schlimmsten und gefährlichsten waren dabei die Reyan mit ihren Fähigkeiten, Basisschiffe allein mit der Kraft ihres Geistes zu steuern. Die Reyan Maxus waren es, die Dutzende, ja hunderte Welten zerbombt, die den Daima und Daina eine neue Steinzeit beschert hatten. Die Götter haben in all der Zerstörung nur ihre Chance ergriffen, wofür sie aber letztendlich mit ihrer Ausrottung bezahlen mussten. Dass ihre Kinder und ihre Robotzivilisation letztendlich Sieger blieb, konnte nur gelingen, weil die meisten Maxus tot waren und die wenigen Überlebenden in Daimon Zuflucht und Abgeschlossenheit suchten und fanden.“ Sein Blick wurde entschuldigend, um Mitgefühl heischend. „Du, junger Arogad, bist der erste Reyan, der den Status eines Maxus erreicht hat. Jemand, der sein KI nicht nur schmieden, projizieren und manifestieren kann, sondern der auch fremde Materie manipuliert. Du hast deinen Banges in Größe, Kampfkraft und Geschwindigkeit verdreifacht, und dieser erschreckende Effekt hielt bange zwölf Stunden an. Du bist von großer Macht, und dies bedeutet, dass du auch von großer Gefahr bist. Deine Existenz alleine ist diese Gefahr.“

„In dieser Zeit sind die Erben der Götter die Gefahr“, erwiderte ich ernst. „Und Stärke zu haben bedeutet noch nicht, sie auch falsch einzusetzen.“

„Weißt du denn, was richtig oder falsch ist, junger Arogad?“, erwiderte der Dai mit wehmütigem Spott in der Stimme. „Die Reyan Maxus damals hatten es geglaubt, hatten gekämpft, Rache und Gegenrache genommen, bis sich die ersten Dai in die Zuflucht ihrer Daimon zurückgezogen hatten... Und die Daima und Daina litten am meisten unter diesen Kämpfen. Mehr noch, sie selbst waren es, die den Maxus zuriefen, noch härter und noch gnadenloser zu kämpfen, um auch für sie Rache zu nehmen. Und die Maxus taten es.“

„Ich aber werde es nicht tun!“, erwiderte ich zu laut und zu gepresst. Angst schüttelte mich. Angst, ich könnte von der Macht in mir kompromittiert werden. Ein altes Sprichwort lautete: Ein Land sollte wahrhaftig nur von einem gutherzigen, weisen, aufrichtigen und ehrlichen König regiert werden.

Was wenn ich eines Tages glaubte, solch ein König zu sein? Was wenn ich dieses Wissen mit Gewalt durchsetzen wollte?

„Fassen wir es zusammen. Dass die Götter nicht ganz die große Nummer sind, für die ich sie gehalten habe, steht ja schon länger fest“, sagte Henry ernst. „Die Dai zogen sich aus den Kämpfen zurück, überließen das Feld den Reyan Oren und Maxus. Diese ließen sich nicht lange bitten und setzten ihren Vernichtungsfeldzug gegen sich selbst und alle anderen fort.“

„In der Zwischenzeit gab es Kräfte, die meinten, die Galaxis gehörte geläutert. Sie bauten die Götter auf, erhöhten ihre Waffenstärke, ihr Wissen und die Zahl ihrer Schiffswerften. Zu diesem Zeitpunkt gab es das organische Volk der Götter schon nicht mehr, weil es lange zuvor von einem Reyan Maxus ausgerottet worden war. Irgendwann waren die Götter dann mächtig genug, um mit dem, was von der Macht der Dai übrig geblieben war, in einem für sie sehr vorteilhaften Patt zu stehen. Die Kräfte, die die Götter aufgebaut hatten, waren Opfer dieses Patts. Und nach ihnen wurden wieder und wieder Daimon zerstört, potentielle Quellen für Reyan in der fernen Zukunft, und damit potentielle Gegner. Jede Daimon, die von den Göttern oder ihren Kindern aufgespürt wurde, konnte sich schon bald auf den Besuch von Strafern freuen. Einzig die Erde bildete eine Ausnahme. Der Kampf gegen die Dai dieser Welt barg die Gefahr für die Götter, selbst unterzugehen. Wenngleich sie wieder und wieder testeten, ob die Daimon und ihre Bewohner nicht auf eine offene oder versteckte Weise besiegt werden konnten. Denn die Macht dieser Dai birgt sich im Sol-System, nicht aber in den anderen Systemen, die einst von den Daima und Daina beherrscht worden waren. So lange diese Kraft nicht erweckt wird haben die Götter im übrigen Universum freie Hand. Bis zu jenem Tag, an dem sie sich stark genug glauben, den Konflikt mit der Erde zu überstehen. Oder wenn sie glauben, dass die Dai wieder Reyan Oren und Maxus produzieren und sie damit direkt bedrohen. Der Ärger und die Kämpfe der letzten Jahre sind ein Zeichen dafür, dass die Götter sich provoziert und bedroht sehen. Ein Kriegsausbruch steht unmittelbar bevor.“

„Und genau dafür werden meine Kräfte gebraucht, oder?“, fragte ich ernst.

„Du verstehst nicht. Du verstehst es einfach nicht! Du darfst gar nicht existieren! Selbst wenn du wirklich so edel bist, wie du uns als Befehlshaber unserer Flotten und Initiator des Exodus vorgeführt hast, junger Arogad, so bedeutet doch deine Existenz, dass auch andere Daima und Daina zu Reyan Maxus werden können! Und die Reyan Maxus waren bereits einmal beinahe Totengräber unserer Realität. Die Dai sind rar geworden. Es gibt niemanden mehr der sie zügeln könnte. Ungebändigt würden sie die Galaxis überschwemmen, und als Sklave ihrer Emotionen wieder alles vernichten, was die Daima und Daina nach der großen Vernichtung wieder aufgebaut haben.“ Er wirkte mit einem Mal entschlossen. „Deshalb musste ich dich töten. Denn selbst wenn die Erde fällt, wenn die Dai auf dem blauen Juwel sterben, so gibt es doch noch Daima und Daina, die weiter leben werden, solange sie nicht wissen, dass das Potential zu Reyan in ihnen steckt.“

„Moment Mal, Moment! Hast du gerade in Vergangenheitsform in Verbindung mit dem Verb töten gesprochen?“, fragte ich nervös. Ich sah zu Yoshi herüber.

„In der Tat. Du bist bereits so gut wie tot. Ich habe deine Verbindung zu deinem Körper gekappt. Dein KI wird bald erlöschen. Du wirst vergehen, und mit dir der Beweis, dass es die Reyan Maxus gibt. Dies wird den kommenden Konflikt abmildern und hoffentlich verhindern, dass andere Daima und Daina ebenfalls so töricht sind und Maxus´ produzieren.“

„Du hast was?“, rief ich erstaunt und erschrocken. Spontan wollte ich mich ausloggen, in meinen Leib zurückkehren, aber da war nur eine große, empfindliche Leere.

„Sobald du erloschen bist, junger Arogad, können sich deine Begleiter wieder in ihre Körper begeben. Sie sind keine Reyan Maxus. Ich brauche ihre Leben nicht zu nehmen. Stirb aufrichtig und wie der Held, den alle in dir sehen.“ Der Alte deutete eine Verbeugung an und verschwand im Nichts.
 

„Autsch“, murmelte Yoshi.

„Nix Autsch. Das hilft mir jetzt nicht“, sagte ich hastig. Ich überprüfte meinen Körper, so gut wie ich es vermochte, und fand nichts. Danach überprüfte ich meine Existenz im Paradies, und zu meinem Entsetzen begann das Gefühl für diesen Leib schwächer und schwächer zu werden. In einem schlechten Anime hätte genau jetzt die Szene begonnen, in der ich mich auflöste oder langsam verblasste. Es hätte zumindest eine schöne Theatralik gehabt.

„S-so war das nicht geplant“, kam es stockend von der Legats-Agentin.

„Du glaubst dem alten Sack doch wohl nicht?“, tadelte Henry. „Akira, lass dich nicht ins Bockshorn jagen! Der will doch nur, dass du an Angst stirbst und...“

Ich spürte wie ein weiterer, eisiger Schauder durch meine Existenz ging. Dann spürte ich, wie die Kontrolle über meinen Leib verschwand. Todesangst überkam mich, aber ich drängte sie zurück. „Leider ist es Realität. Mein Leib ist von mir abgeschnitten. Und ich spüre, wie ich langsam die Kontrolle verliere. Vorschläge?“

„Kannst du einen von uns übernehmen? Dann loggen wir aus und stellen die Verbindung zu deinem Körper wieder her“, schlug Yoshi vor.

„Ich glaube nicht, dass der Alte das zulässt. Sicher beobachtet er uns hier irgendwo“, wandte ich ein. „Er wird euch erst gehen lassen, wenn ich verschwunden bin. Weitere Ideen?“

„Wir erzwingen uns unseren Weg? Wir sind noch mit unseren Körpern verbunden. Deiner wird ja wohl in der Nähe sein. Wenn wir uns durchkämpfen, folgst du uns einfach und wir weisen dir so den Weg zu deinem Leib“, sagte Henry fest. „Ich meine, du folgst der da und Yoshi.“

„Danke für „der da“. Ich habe einen Namen!“, protestierte die Agentin.

„Den wir noch nicht gehört haben“, warf Yoshi ein. „Nein, es würde zu lange dauern, bis wir herausgefunden haben, wie wir uns den Rückweg erzwingen können.“ Yoshi wühlte sich mit beiden Händen durch die goldblonden Haare. „Eine Idee, ihr Götter, nur eine Idee, wie...“

Die Augen des Freundes leuchteten auf, und ich hatte unmerklich das Gefühl, noch tiefer im Ärger zu stecken. „Dein Blick gefällt mir nicht“, tadelte ich meinen besten Freund.

„Akira! Deine Projektion besteht doch aus KI, oder?“

„Ja, schon, ich habe sie mit meinem KI verstärkt. Mit beachtlich viel eigenem KI.“

„Und du bist von deinem Körper getrennt, oder? Dein KI ist quasi frei.“

„Irgendwie gefällt mir nicht, worauf du hinaus willst, Yoshi.“

„Ich meine, ich kann freies KI binden! Ich kann dir einen Container erschaffen, so wie für Spike!“

„Hey, Hey, keine Experimente! Das hat einmal geklappt! Du wirst doch nicht mein Leben riskieren wollen“, beschwerte ich mich.

„Du meinst mehr riskieren als es ohnehin gerade gefährdet ist?“ Spöttisch sah Yoshi mich an.

„Da hast du wohl Recht“, sagte ich widerwillig.

„Außerdem ist es nicht das erste Mal. Nach Spike habe ich noch ein paar andere Biester erschaffen. Einen Bären, einen Adler, einen...“

„Moment! Das erfahre ich erst jetzt? Du produzierst unnütze KI-Biester?“

„Ich musste ja wohl experimentieren, um Erfahrung zu sammeln, oder?“, erwiderte Yoshi bissig. „Außerdem sind sie nicht unnütz. Sie alle beschützen Laysan, und das recht gut, wie du am Beispiel von Joan und Jora Kalis gesehen hast.“

„Joan hat die Situation gelöst, oder?“

„Meinetwegen, aber meine Biester haben sie gewarnt. Komm schon, das ist vielleicht deine einzige Chance, und ich wollte eh noch einen Delfin erschaffen.“

„Keinen Delfin!“, rief ich nervös. „Der passt nun wirklich nicht zu mir!“

„Stimmst du also zu? Dann such dir mal ein anderes KI-Biest aus. Ein Hund, ein Wolf, ein Tiger, eine Eule, ein Falke, ein...“

„Adler! Wenn du mich schon in einen Tierkörper einsperrst, dann will ich ein Adler sein!“

„Weißkopfadler, Seeadler, Steinadler, Malayenad...“

„Überrasche mich einfach“, erwiderte ich, als das Taubheitsgefühl einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.

„Und du hältst das für eine gute Idee?“, hakte Henry nach.

„Wenn du in den nächsten zehn Sekunden keine bessere hast, lass mich machen“, brummte Yoshi.

Zögernd nickte Henry und entfernte sich etwas. Also hatte auch er keine gute Idee.

Yoshi verschränkte die Hände ineinander und drückte sie nach außen. Es knackte vernehmlich. „Also einmal Adler für Tisch eins. Kommt sofort.“

Als ich seine vor Erwartung geweiteten Augen sah, musste ich mich für eine Sekunde fragen, welche Alternative wirklich besser war. Sterben oder ein Adler werden.

Dann wischte ein ultraheller Blitz mein Bewusstsein aus.

***

Als ich langsam wieder erwachte, dröhnte mein Kopf, als würden sich eine Division Banges mit eine Division Hawks ein Schauschießen liefern. Ich fasste mir an die Stirn, und es tat gut, den Druck meiner Finger darauf zu spüren. Langsam öffnete ich die Augen.

„...hat geklappt“, klang Yoshis Stimme an mein Ohr. „Aber wie lange es Bestand haben wird weiß ich nicht. Noch ist der Körper geschwächt.“

„Ihr habt uns einen Riesenschreck eingejagt, als die Vitalwerte vom Division Commander plötzlich weg gesackt sind. Und dann kommt er als Vogel wieder! Ich meine, Hey, es ist Akira Otomo, und da gibt es keine Unmöglichkeiten. Aber ich habe nicht damit gerechnet, in meinem Alter noch mal überrascht zu werden“, antwortete eine Stimme, die ich einem meiner Bataillonskommandeure zuordnete. Ich stöhnte gequält, während sich der Blick meiner Augen langsam scharf stellte.

„Vorsichtig, Akira, bleibe fokussiert. Denn wenn du das nicht tust, dann...“

Yoshi hatte kaum ausgesprochen, da hatte ich auf einmal das Gefühl, in einer Achterbahn einen erheblichen Berg hinab zu fahren. Es wurde ein Sturz, der meinen Magen gekitzelt hätte, wenn ich einen gehabt hätte. Danach bot sich mir die Welt aus einer unerwarteten Perspektive. Ich hockte neben mir. „Ich“ war dabei ein dehnbarer Begriff. Denn langsam aber sicher ahnte ich, dass Yoshi nur halbe Arbeit geleistet hatte. Ich hatte von vorne herein geahnt, dass es ein Fehler gewesen war, nicht nach der Zeit nach der Manifestation als KI-Biest zu fragen.

„Genau das habe ich gemeint. Du hast deine Kontrolle über Akira verloren“, sagte Yoshi vorwurfsvoll. Sein Gesicht erschien riesengroß vor mir. Eine Hand drückte es beiseite, und mein Oberkörper richtete sich auf. Während ich daneben hockte, und das garantiert in der Form eines von Yoshi als Adler geformten KI-Biests.

Ich war also nicht nur wieder mal von meinem Körper getrennt worden, diesmal war er bis zu einem gewissen Grad handlungsfähig. Eine Hand senkte sich auf mich herab und streichelte mich vorsichtig am Kopf meines KI-Körpers, während mein Körper zaghaft lächelte.

„Es ist etwas kompliziert. Du, ich meine dein Körper, handelst autark. Die Trennung hat einen schweren Schaden bewirkt, den ich nicht beheben kann. Was wir wissen ist, dass du nicht vollkommen aus dem Körper verschwunden bist. Im Gegenteil. Wir haben einige Zeit darüber diskutiert und festgestellt, dass dein „ES“ noch immer in ihm ist. Also alle grundlegenden Fähigkeiten einer Intelligenz, nur eben auf Aktion und Instinkt reduziert. Im Falle deines Körpers kommt noch Erfahrung und Wissen dazu.“ Yoshi zuckte mit den Schultern. „Wir wissen noch nicht wie groß seine Intelligenz ist und ob er in der Lage ist mit anderen sprachlich zu kommunizieren. Aber auf jeden Fall mag er dich, das ist doch positiv.“

Bei diesen Worten sträubte sich mir das Gefieder. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Was kam als Nächstes? Wurde mein Körper mein Feind?“

„Das Über-Ich, also das philosophische Bewusstsein, steckt im KI-Biest. Einem Adler, genau wie bestellt. Das Ich, die Zwischenstufe, teilt ihr euch merkwürdigerweise. Wie gesagt, wir wissen noch nicht genau, was Akira-Körper alles kann und tun wird, aber wir wissen, dass du ihn einnehmen kannst. Er ist dann quasi von dir besessen, aber um dies eine längere Zeit zu tun wird wohl einiges an Übung notwendig sein. Ich habe die anderen KI-Meister bereits informiert und auch die Dai von der ADAMAS angefordert. Wir arbeiten an einer Lösung, aber bis die steht wirst du dich wohl mit der Situation abfinden müssen und quasi von dir selbst besessen sein.“ Yoshi runzelte die Stirn. „Das Beste ist wohl, wenn du dich selbst immer dann begleitest, wenn du nicht von dir besessen bist.“

„Yoshi. Das ist der schlimmste Moment meines Lebens“, murrte ich. Na, wenigstens meine Stimme war einigermaßen normal. Eine schrille, piepsige Vogelstimme hätte dem Fass den Boden ausgeschlagen.

„Wir arbeiten dran, wir arbeiten dran. Sei lieber froh, dass ich dich aus der Falle des Dai gerettet habe, ja?“, antwortete der Freund pikiert. „Immerhin lebst du noch.“

Mist, in dem Punkt hatte er Recht. Und irgendwie leben war immer noch besser als gar nicht mehr leben. Allerdings würde ich dem Dai seine ganze Reyan-Argumentation bei nächstbester Gelegenheit nachhaltig in den Rachen stopfen mit einem Hawk-Arm nachstopfen.

„Und was nun?“

Unschlüssig hob Yoshi die Hände.

Henry trat in Begleitung einer jungen Frau in mein Sichtfeld.

„Eigentlich ist er ganz hübsch so“, murmelte sie und strich sanft über mein Gefieder. Nicht dass ich meinen KI-Körper bereits gesehen hatte, aber ich ging von Federn an einem Adler aus.

Eine Hand meines Körpers ergriff ihre. Mahnend und verneinend sah mein Leib sie an. Aber bereits eine Sekunde darauf lächelte er sie an. Er hatte der Agentin eine Abfuhr darin erteilt, mich zu berühren, ihr aber auch signalisiert, nicht böse zu sein. Eine erschreckende Entwicklung. Andererseits war das wirklich besser als von meinem eigenen Körper gehasst zu werden.

„Ich bin dafür, wir gehen erstmal alle nach Hause. Bis auf dich, Agentin. Du wirst unseren Spezialisten erst mal Rede und Antwort stehen“, sagte Henry fest.

„Hey! Was ist aus „Wir sind jetzt Verbündete“ geworden?“

„Später“, erwiderte Henry und schob sie in Richtung eines Geheimdienstmanns der UEMF. Mamoru Hatake erwartete sie bereits. „Ich denke auf Handschellen können wir verzichten. Es wird nur eine formelle Befragung.“

Zögernd nickte die Agentin und folgte Mamoru. Halb wandte sich der Geheimdienstoffizier mir zu, wollte etwas sagen, verstummte, schüttelte den Kopf und öffnete erneut den Mund. „Junge, Junge. Akira, du bist wirklich ein Unglücksmagnet.“

Ich seufzte innerlich tief und schwer. Damit hatte er wirklich Recht.
 

2.

Es war schwierig. Um nicht zu sagen SEHR SCHWIERIG. Mein Körper agierte und reagierte auf einer unbewussten Ebene auf alle ihn dargebotenen Reize, und zwar in den Mustern, die er gewohnt war. Im Prinzip war ich ja auch nur schizophren geworden. Mein ES, also die einfachste Form des Selbstverstehens und ein Teil meines ICH steuerten nun meinen Körper, während mein restliches ICH und mein ÜBER-ICH, also der komplexe, spekulative Verstand in der KI-Rüstung eines Adlers steckten, die mir Yoshi als Ersatz-Korpus erschaffen hatte.

Oh, im Prinzip konnte ich mich auf mich selbst verlassen. Sprich, während ich aus Entkräftung meinen eigenen Körper nicht in Besitz nehmen musste und auf seiner rechten Schulter ritt und wir in Yoshis Begleitung – von einem halben Dutzend Leibwächter abgesehen – mit der Bahn fuhren, benahm sich ES-Akira anständig. Aber er reagierte eben auf die ganzen Reize, ebenso wie ich es getan hätte. Leider stoppte ich mich bei vielen Dingen selbst, weil sie mir zu unnötig oder zu peinlich erschienen. ES-Akira hatte damit keine Probleme und schenkte jedem ein Lächeln, der ihn anlächelte. Genauso reagierte er auf einen bösen Blick eines West End-Daimas mit einem Knurren und Zähnefletschen wie ein Alphamännchen im Wolfsrudel gegen einen dreisten jungen Rivalen. ES-Akira hatte sehr wohl verstanden, dass der Mann ihn hasste. Ich wäre drüber hinweg gegangen und hätte ihn mit meiner Missachtung viel stärker getroffen.

„Junge, Junge, was machst du auch für Sachen“, tadelte Yoshi und richtete den Kragen der Schuluniform meines Körpers. Danach strich er mir, also meiner KI-Rüstung als Adler, über den Kopf. „Vögel streichelt man nicht. Es bricht ihnen das Gefieder“, tadelte ich.

Aufgeregtes Raunen ging durch die Gruppe meiner mehr oder weniger heimlichen Beobachter. Hatten uns ohnehin schon viele Blicke getroffen, weil Akira Otomo wie ein gewöhnlicher Sterblicher Bahn fuhr – eigentlich machte ich das immer, aber für die meisten Menschen in der AURORA war es eben noch keine Routine – so hatte sich das Interesse vervielfacht, als der große, stolze Raubvogel auf seiner Schulter erkannt wurde. Ich musste zugeben, es schmeichelte mir schon, dass der Vogelkörper als schön anerkannt wurde. Ein Grund, Yoshi zu danken. Bevor ich ihn für seine KI-Biestmassenerschaffung tadelte.

„Er spricht“, flüsterte eine Mädchenstimme.

„Wie erwartet von Otomo-sama. Sein Vogel ist natürlich etwas ganz besonderes“, antwortete ein anderes Mädchen und zustimmendes Gemurmel erfüllte den Waggon.

„Stell dich nicht so an. Das ist doch nur eine KI-Rüstung“, murmelte Yoshi und tätschelte meinen Kopf. „In der du übrigens sogar vor direktem Beschuss durch einen Hawk sicher bist.“

„Angeber“, murmelte ich. Oh, ich traute ihm durchaus zu, dass sein neuestes KI-Biest, also ich, derart mächtig und gut geschützt war. Aber musste er damit angeben gehen?

Kurz überlegte ich, ob ich dem Freund einen kräftigen Hieb mit meinem Schnabel verpassen sollte, ließ es dann aber doch. Die Krallen waren dafür definitiv besser geeignet.

„Du bist nun mal meine beste Schöpfung“, erwiderte Yoshi lächelnd. „Und das auch noch unter Zeitdruck, weil dein KI sich zu verflüchtigen drohte. Mir scheint, unter Druck arbeite ich wirklich am besten.“

„Annehmbar, meinst du wohl.“ Ich unterdrückte den Drang, mein Gefieder zu putzen und meine Greiffüße abzupicken. Ebenso hatte ich noch nicht versucht zu fliegen. Ich befürchtete einen spektakulären Bauchklatscher. Vielmehr wartete ich auf den Moment, an dem ich wieder stark genug war, um meinen Körper in Besitz zu nehmen.
 

Ich wandte ES-Akira meinen Kopf zu. Die Perspektive war etwas ungewöhnlich, weil sie durch Vogelaugen erfolgte. ES-Akira war nicht ohne Verstand. Im Gegenteil, er offenbarte in schneller Folge Fähigkeiten, die ich besessen hatte. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er sprechen konnte, wenngleich eine angeregte philosophische Diskussion oder eine Unterhaltung über die Technologie der Mechas wohl nicht möglich sein würde. Sozialverhalten würde er eventuell diskutieren können, weil dies zu den grundlegendsten Fähigkeiten des Menschen gehörte, aber das auch nur in einem bestimmten Rahmen. Oh, ich glaubte nicht, dass ES-Akira dumm war. Nur einem Großteil seiner Fähigkeiten beraubt, sprich mich.

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich in meinen Leib zurückgekehrt war, damals im Kaiserreich. Laysan war mein Anker gewesen, ich hatte um ihn eine KI-Hülle erschaffen, die meinem alten Äußeren entsprach. Ich war vor meinen schlafenden Körper getreten und hatte in ihn wechseln wollen... Und ich schwöre, für eine Sekunde hatte ich geglaubt, er hätte mich böse, beinahe abweisend angesehen. Das war damals nur mein Körper gewesen. ES, ICH und ÜBER-ICH hatten sich komplett bei mir befunden. Nicht, dass ich als Vogel die Fähigkeit brauchte, wie ein Mensch zu schmecken und zu riechen, geschweige denn die Fertigkeit auf zwei Beinen zu laufen oder meine Hände zu benutzen. All dies wurde dann relevant, sobald ich wieder in meinem Körper steckte und mich mit ES-Akira verband. Ein Dauerzustand war das nicht, sicherlich. Und ich hätte es verstanden, wenn ES-Akira mich dafür in einem gewissen Maße verabscheute, auf einer instinktiven Ebene. Aber er hatte mir noch nicht einen bösen Blick geschenkt. Im Gegenteil. Er wusste wer ich war und beschützte mich. Er spürte, dass wir zwei Teile eines Ganzen waren und dass wir wieder zusammen finden mussten.

Langsam kam mir der Verdacht, dass mein Körper meine KI-Rüstung böse angesehen hatte, weil er hatte einmalig sein wollen. Nun, das entsprach meinem normalen Ego, das, wie Sakura mal spöttisch betont hatte, durchaus ein paar der Großhangars der AURORA füllen konnte. Es war jedenfalls eine angenehmere Lösung als die Erkenntnis, dass mein Körper mich töten wollte. Eine Art Semi-Selbstmord gewissermaßen.
 

Eine Hand senkte sich auf meinen Kopf und streichelte mir übers Gefieder. „Denk... nicht... zuviel“, tadelte mich meine eigene Stimme, die sich erheblich tiefer anhörte, sobald ich sie nicht mit meinen eigenen Ohren hörte.

Entsetzt sah ich zur Seite. ES-Akira hatte gesprochen. Und er hatte mich getadelt. Und er lächelte mich tröstend an. In den klaren grünen Augen stand keinerlei Falschheit, keine Hintergedanken. Nichts was in dieser Welt als negativ angesehen werden konnte. In diesem Moment wäre ich bereit gewesen, für diesen reinen, in sich ruhenden Menschen einen Tempel zu erbauen, um ihn dort zu verehren... Ihm fehlten ja auch alle wichtigen Details eines menschlichen Verstandes, die aus einer reinen Seele eine verdorbene machen konnte. Zum Beispiel wie bei mir die Tatsache für den direkten Tod von viertausend Menschen und Kronosier verantwortlich zu sein. Grob über den Daumen gepeilt. Beneidenswert. Wirklich beneidenswert.

„Akira-sama. Wir sind da“, meldete einer der Wächter. ES-Akira und Yoshi erhoben sich und gingen zwei der Leibwächter nach, während zwei weitere die Flanken und die anderen zwei den Rücken schützten. Ich musste kurz mit den Flügeln schlagen um mein Gleichgewicht zu halten und richtete mich danach wieder zur vollen Größe auf. Bewunderndes raunen und Kommentare über das schöne Tier erreichten meine Ohren. Verdammt, als Mann war ich für Komplimente empfänglich, selbst wenn ich ein dämlicher Adler war.

ES-Akira lächelte ins Rund und winkte. Erfreutes raunen antwortete ihm.

„Hier entlang, bitte“, sagte der vorderste Leibwächter und deutete eine lange Straße hinab, die auf einen Shinto-Tempel zu führte, der auf einem künstlichen Hügel saß. Hier lebte und arbeitete einer der größten KI-Experten der Menschheit, Arno Futabe, Großvater von Yoshi und mein geistiger Mentor. Er war es, der mir meine eigenen KI-Fähigkeiten verdeutlicht hatte. Er war es, der die Grundlagen dafür gelegt hatte, was ich heute erreicht hatte. Dummerweise war das alles nicht durchweg positiv. Und wahrscheinlich war das eine seiner wichtigsten Lektionen gewesen, ging es mir durch den Kopf. Wenn man jemandem die Grundlage für etwas wirklich Großes in die Hand gab, war es nicht so dass der Proband die Wahl hatte, ob es sich positiv oder negativ entwickeln würde. Es entwickelte sich immer in beide Richtungen, egal ob man es wollte oder sogar darauf hinarbeitete, oder nicht.

Selbst wenn man selbst nichts am negativen tat, ein anderer übernahm das mit Sicherheit. Die normale Regel auf der Welt war, dass man Dinge am besten selbst in Angriff nehmen sollte, wenn sie getan werden mussten. Je mehr Grundlage und Macht eine Sache oder ein Mensch aber aufbaute, desto wahrscheinlicher wurde es, dass sich andere quasi schon darum schlugen, um den negativen Aspekt auszufüllen. Das hätte zumindest erklärt, warum auf jeden Triumph mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks eine niederschmetternde Erfahrung kam. So wie diesmal. So wie immer. Was mich zu meiner Lieblingsfrage brachte: Warum eigentlich immer ich? Nur weil ich immer vorweg lief und die Spitze hielt? Was für eine unfaire Welt war das, die einen Egomanen wie mich nicht mal ein wenig komfortierte.
 

Ungefähr auf halber Höhe auf der Treppe sah ES-Akira mich auffordernd an. Ich verstand. Er hatte gespürt, dass ich wieder genügend Kraft aufgebaut hatte, um Besitz von ihm zu ergreifen und forderte mich nun quasi auf, es auch zu tun. Letztendlich waren wir eins, und er schien sich so unkomplett auch nicht sehr gut zu fühlen.

Die KI-Gestalt des Vogels verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen griff leichter Schwindel nach mir, und ich sah die Welt wieder mit meinen eigenen Augen. Eine merkwürdige Welle an Gefühlen schwappte über mich hinweg. Hunger, Durst, Müdigkeit, Euphorie und das Verlangen nach Komfortzeit mit meiner Freundin drohten mich hinweg zu fegen. Es brauchte ein paar Sekunden bis ich begriff, dass ich diese Emotionen nur derart stark empfand, weil ich sie als ÜBER-ICH nicht gehabt und nun zurückerhalten hatte. Nun ja, nicht ganz. Da war immer noch die durchtrennte Verbindung zwischen Körper und Geist, und ich ahnte, dass die Restaurierung dieser Verbindung keine leichte Sache werden würde.

Einer der Wächter wollte mich stützen, aber ich wehrte ab. Langsam nahm ich die erste Treppenstufe. Dann die nächste. Es war ein schönes Gefühl im eigenen Körper zu stecken.

„Also weiter“, murmelte Yoshi.

Oben auf dem Treppenabsatz empfing mich bereits eine Horde Leute. Genauer gesagt einige meiner Jungs. Unter ihnen waren auch Makoto und Doitsu. Gemein war ihnen allen eines: Sie sahen mich düster an.

„Ach, kommt schon! Das ist doch kein Beinbruch und kein Todesurteil! Ich werde schon einen Weg finden, wie ich das hier wieder flicke“, wandte ich ein.

„Das ist es nicht“, brummte Takashi und drückte mir ein Bündel Papier in die Hand.

Verblüfft starrte ich es an. AURORA-Mark. Und wie ich nach einer kurzen Zählung feststellte, etwas über sechshundert. „Habt ihr gesammelt? So schlecht geht es mir nun wirklich nicht.“

„Nicht gesammelt“, sagte Makoto. „Gewettet. Das ist der Pool.“

Ich wusste, die Antwort würde mir nicht gefallen. Dennoch stellte ich die Frage: „Um was habt ihr gewettet?“

„Nun, wir haben darauf gewettet, was als nächstes mit dir passiert“, erklärte Makoto ernst. „Ich zum Beispiel habe gewettet, dass dein Geist wieder mal entführt wird. Einhundert Mark habe ich eingesetzt.“

„Ich habe gewettet, dass du wieder mal für tot gehalten wirst“, gestand Takashi.

„Und ich habe gewettet, dass du komplett mit Körper entführt wirst“, sagte Daisuke.

„Alles in allem sind neunhundertzwanzig Mark zusammen gekommen. Eine stattliche Summe also. Und was machst du? Lässt dich in ein KI-Biest verbannen! Das ist nicht fair, Akira, einfach nicht fair!“ Makoto schenkte mir den beleidigsten Blick, zu dem er fähig war.

„Moment mal“, sagte ich ernst und schnappte nach dem Kragen meines Cousins. „Ihr habt darum gewettet, was mir als nächstes passiert? Ihr habt auf mein Unglück gewettet? Und womöglich auch noch drauf gewartet?“

Entschuldigendes Gemurmel erhob sich. „Dafür hast du ja jetzt auch den Pott gekommen. Damit sid wir quitt.“

„Entschuldige bitte, Mako-chan, dass ich gerade in den Tiefen meiner persönlichen Verzweiflung dem Tritt nachspüre, den ihr mir zusätzlich verpasst habt. Leute, wie konntet ihr so etwas tun?“

„Komm wieder runter, Alter“, erwiderte Kei. „Niemand hat darauf gewettet, dass dir wirklich was passiert. Immerhin bist du der Akiranator, das mächtigste Wesen in diesem Teil der Galaxis.“

„Bitte immer nur einen unqualifizierten Scherz pro Tag“, tadelte ich den alten Freund. „Akiranator... Was für ein übler Witz.“

Yoshi runzelte die Stirn. „Witz? Ich glaube nicht. Du gehst zur Schule, und ein Daishi fällt dir vor die Füße, in den du einsteigst und die Welt rettest. Du fliegst zum Mars und schmeißt Phobos auf das Legat. Du fliegst nochmal zum Mars und eroberst ihn. Du fliegst nach Kanto und startest eine Revolte, die den ganzen Planeten befreit. Du fliegst nach Nag Prime und kommst als Besitzer Kantos, des Daness-Turms, des Mars und des Mondes wieder. Du fliegst...“

„Schon gut, schon gut!“, fiel ich ihm ins Wort. „Ich habe verstanden. Was also seht ihr in mir? Einen unbesiegbaren Menschen? Einen Gott?“

„Das mit der Körpertrennung bekommt ihm nicht“, murmelte Kei. „Er kriegt Halluzinationen.“

„Hey“, tadelte ich.

„Bleib locker, Akira. Keiner denkt hier daran, dich auf ein so hohes Podest zu setzen. Wozu auch, dann käme ja keiner mehr zu dir rauf. Im Gegenteil, wir wollen dich bei uns behalten.“

Die anderen nickten geschlossen zu Keis Worten.

„Deshalb haben wir auch nicht auf deinen Tod gewettet. Erstens weil daran sowieso keiner glaubt“, führte Makoto fort, „und zweitens weil wir keine Menetekel beschwören wollen.“

„Mene-was?“

„Steht in der Bibel. Mene, Menetekel, Uphasin.“

„Bitte, was? Ich bin Atheist.“

„Schon gut“, erwiderte Makoto seufzend. „Jedenfalls war unsere Wette mehr eine Art Ritual. Wir haben versucht Dinge zu beschwören, die dir nicht schaden können, weil du sie schon so oft überlebt hast. Ich weiß, das ist Aberglaube. Aber wir alle haben keine Lust, dich erneut zu verlieren. So eine kleine Entführung bringt dich nicht um. Du kommst ja als Oberbefehlshaber der Entführer zurück. Wir haben es zumindest nicht schlecht gemeint.“

Zustimmendes Gemurmel der anderen erklang.

Ich war ergriffen. Langsam trat ich einen Schritt vor und klopfte den Jungs auf die Schultern. „Danke. Ich weiß das zu schätzen.“ Ich reichte Makoto das Geld zurück. „Die Wette ist nicht ungültig, weil ich selbst nicht gewettet habe. Aber ich steige mit ein.“

„So? Und auf was wettest du?“

„Das ich mindestens dreitausend Jahre alt werde, ohne entführt oder für tot gehalten zu werden.“

„Dreitausend Jahre? Eher tritt einer der anderen Fälle ein“, erwiderte Makoto entrüstet, nahm das Geld aber wieder an.

„Und ich werde mein bestes tun, um die Wette zu gewinnen.“

„Worin wir dich natürlich tatkräftig unterstützen werden“, versprach Daisuke.

„AKIRA!“

Ich schreckte auf und hätte dabei beinahe den Kontakt zu meinem Körper verloren. „Mein Meister ruft. Entschuldigt mich, aber vielleicht gewinnt jetzt doch noch einer. Nur für den Fall, dass Futabe-sensei nichts von mir übrig lässt.“ Hastig drängte ich mich durch die Reihen, winkte noch einmal zurück, sah Yoshi an meiner Seite – und erstarrte. Der alte Mann starrte mich böse an. Er wandte sich um und ging in Richtung Haupttempel. „Komm“, sagte er nur, und ich wusste, ich hatte nun ein echtes Problem am Hals.

***

„Ein seltener Gast“, empfing Juichiro Tora Michael Berger, als der amtierende Direktor des Legats sein Labor betrat.

„Eine seltene Gelegenheit“, erwiderte Berger, während er langsam in den aufgeräumten und hell erleuchteten Raum trat. „Wenn wir erst wieder Feinde sind, werde ich wohl nicht so viele Gelegenheiten, dir bei deiner Arbeit über die Schulter zu schauen.“

Der Dämon warf dem Fioran einen spöttischen Blick zu. „Es gibt eine gute Chance, dass wir nie wieder Feinde werden, weil wir eventuell nicht mehr lange zu leben haben.“

„In der Tat, diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen“, erwiderte Michael mit dem Anflug eines Schmunzelns. „Umso wichtiger ist es, die uns verbleibende Zeit zu nutzen.“

Aufmerksam sah er sich weiter in der großen Halle um, die im Wolkenkratzer des Legats drei aufeinander folgende Stockwerke einnahm. Sie befanden sich zirka zehn Etagen unter dem Parkdeck, tief in das Gestein, auf dem Manhattan stand, eingegraben. „Ich hätte mehr erwartet.“

„Mehr?“, fragte der Magier und zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht einen Käfig mit KI-Biestern? Eventuell eine Freilaufzone für Youmas? Oder ein paar Tische, auf denen Probanden angeschnallt sind?“

„Etwas in der Art, ja.“

„Es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, Michael. Aber im Zeitalter der Computertechnologie laufen die meisten Experimente als Simulation ab. Wir müssen die Ergebnisse nur ab und an durch reale Experimente belegen.“

„Hm. Als wir unseren Kampf begonnen haben, gab es noch keine Rechner“, wandte Michael ein.

„Die Menschen hatten keine Rechner. Uns aber stand die Technologie zur Verfügung. Mir als Verbündeten des Cores sogar die Biocomputertechnologie.“ Er deutete in die Tiefe des gewaltigen Raums. An der Wand war eine Galerie aufgestellt, in der sich zwei Dutzend Biotanks befanden. Alle waren besetzt. „Die meisten Insassen leben bereits dreihundert und mehr Jahre in diesen Tanks. Sie existieren in ihrem eigenen Paradies und werden dort noch leben, wenn ein normaler Mensch seine Lebensspanne bereits beendet hat.“

„Dreihundert Jahre?“ Michael trat näher und musterte die nackten Menschen, Männer wie Frauen. „Es ist eine Grausamkeit, sie so lange von der Welt auszuschließen.“

„Oh, ich schließe sie nicht von der Welt aus. Sie tun es selbst. Ihr Dienst im Biocomputer ist vollkommen freiwillig. Sie können kommen und gehen, wann immer sie wollen. Außerdem informiere ich sie jeden Tag über das Geschehen auf der Welt, sofern sie das überhaupt möchten. Auf jeden Fall sage ich ihnen ständig, dass sie in einer Traumwelt leben. Sie wollen es so, Michael, und für viele wäre die Chance, in dieser Welt real zu leben eine Strafe. Zu unterschiedlich ist die Welt aus der sie kommen von jener in der wir beide leben.“

„Menschen können lernen. Menschen können sich anpassen“, beharrte der alte Berger.

„Hören Sie, Michael. Ich lasse mich schon mehr auf Sie ein als ich sollte. Strapazieren Sie meine Geduld nicht und stellen Sie meine Methoden nicht in Frage.“ Er begleitete seine Worte mit einem bösen Blick.

„Ich stelle nicht in Frage. Ich vergleiche lediglich unsere unterschiedlichen Moralvorstellungen und versuche das in Einklang zu bringen mit dem was ich über die Jahrhunderte über Sie gelernt habe. Oder gelernt zu haben glaube, Juichiro.“

„Hm. Falls es Sie beruhigt, die meisten Menschen in diesen Tanks haben ein Handicap, das sogar ein KI-Meister nicht beheben kann.“ Er deutete auf einen Tank in der untersten Reihe. Dort schwebte eine uralte Frau träge in der Nährflüssigkeit. „Eine Schamanin von einem Stamm, der von weißen Robbenjägern ausradiert wurde. Sie war zu alt, und die Männer ließen sie leben. Nicht um ihr einen Gefallen zu tun, sondern um das Wissen zu genießen, dass die alte Frau auf sich gestellt erbärmlich sterben musste. Ich habe sie gefunden und gerettet. In der Welt im Biotank ist sie wieder zwanzig und lebt glücklich in der Gemeinschaft des Biocomputers. Ich hätte ihr auch eine Simulationswelt mit einer fiktiven Familie erschaffen können, aber das wäre Betrug gewesen. Ich lege Wert darauf, dass meine Probanden wissen was ich mit ihnen tue.“

„Wie beruhigend. Und wie sind Sie auf die Frau aufmerksam geworden? Wie sind die Robbenjäger auf den Stamm aufmerksam geworden?“

Tora neigte leicht den Kopf nach links. „Sie ist Schamanin. Sie ist mit dem großen Weltgeist verbunden. Ich kann nicht sagen wie die Robbenjäger den Stamm gefunden haben und warum sie ihn ausradieren mussten. Aber ich weiß ziemlich genau, dass sie anschließend an einer Bleivergiftung starben, während ich die Frau retten konnte. Als aktiver Teil des Weltgeists konnte ich sie in ihrer größten Not so deutlich sehen wie ein Leuchtfeuer in tiefschwarzer Nacht. Sie wissen, dass wir Dai mit der KI-Seele der Erde eng verbunden sind.“

„Bleivergiftung?“, argwöhnte Michael.

„Bleivergiftung. Man hat die ersten Konservendosen damals mit Blei verschlossen, weil es so leicht formbar war. Von Partikelwanderung hat man damals noch nichts gewusst. Geschweige denn von der Möglichkeit, sich an Metall zu vergiften. Sie haben sich im wahrsten Sinn des Wortes tot gefressen.“

Michael nickte verstehend und verschwieg das nicht ganz unwichtige Detail, dass er eine der ersten Firmen gegründet hatte, welche Dosen mit Pressrand hergestellt hatte, einer Methode ohne Blei, die schnell Marktbeherrschend geworden war.

„Jenen hier habe ich kurz vor der Jahrhundertwende in London getroffen. Er hat... Nun, einige Defizite, die ihn unregelmäßig zum getriebenen Mörder machten, der einen perfiden Spaß daran hatte, Frauen in finsteren Nächten auf offener Straße mit einem Messer zu töten. Ein Umstand, der ihn nach dem Rausch der Tat beinahe in den Wahnsinn trieb. Hier im Tank ist er endlich von seiner Biochemie getrennt. Seine Hormone verwirren nicht länger seine Gedanken. Hier in dieser Welt ist er ein reines Bewusstsein und mein bester Rechner.“

„Jahrhundertwende? Sie meinen die vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert?“ Michael runzelte die Stirn. „Das ist Jack the Ripper. Sie haben Jack the Ripper im Biocomputer?“

„Bitte keine Vorwürfe. Er lebt hier ein besseres Leben und leistet als Teil des Rechners sehr gute Arbeit. Er hat es verdient, auch einmal in Frieden leben zu können.“

„Das bringt seine Opfer nicht zurück.“

„Das würde sein Tod auch nicht, Michael“, erwiderte Tora scharf.

Die beiden Männer sahen sich streng an, dann endlich lenkte Berger ein. „Ist ein Argument. Also hat jeder einzelne von diesen Menschen eine besondere Geschichte.“

„Das kann man sagen. Sehen Sie das zarte Geschöpf in der dritten Reihe ganz rechts? Ich traf sie knappe zwanzig Jahre später in Paris. Sie ist Holländerin und arbeitete in einem Nachtclub als Tänzerin. Sie fiel einer Intrige zum Opfer, das auf einen hohen Minister ausgerichtet war. Man erschoss sie als feindliche Spionin, dabei war alles was sie sich zuschulden kommen lassen hatte, indischen Tempeltanz zu tanzen und sich mit einem Mann einzulassen, der Feinde im Übermaß hatte. Keinen Finger hat er für sie gerührt, der Bastard.“ Unwillkürlich ballte Tora die Hände zu Fäusten.

„Mata Hari. Interessante Menschen haben Sie hier in Ihrem Biocomputer.“

„Namen, Michael? Namen sind hier Schall und Rauch. Sie sind unwichtig, weil die Menschen hier nicht anhand ihrer Namen existieren, sondern nur durch ihre Persönlichkeit und Existenz. Ich gebe zu, ich habe die Menschen Zeit meines Lebens mit arroganten Augen gesehen. Aber die Arbeit mit dem Biocomputer hat vieles für mich geändert.“

„Was Sie nicht davon abgehalten hat, Youmas auf die Menschen los zu lassen.“

„Nein, das hat es wahrlich nicht. Aber würden Sie mir glauben, dass ich nicht an eine Waffe gedacht habe, als ich die ersten Youma erschuf, die Menschen übernehmen konnten? Natürlich war es später eine Waffe, eine gute sogar um Ablenkungen zu erzeugen und KI zu ernten. Die anderen Forschungsprojekte mit KI waren da schon wesentlich gefährlicher. Ich denke da nur an die beseelten Torpedos oder den Zulu-Kreuzer, dessen Hauptwaffe durch KI erheblich verstärkt worden war.“

„Den KI-Resonator nicht zu vergessen.“

„Oh, der ist nicht von mir“, erwiderte Tora lächelnd. „Die Ideengrundlage und die Konstruktionspläne hat man im Core gefunden, nachdem der Legat ihn entmachtet hatte. Spezialisten durchforsteten seine Speicher und fanden Regelmäßigkeiten in einer Sektion mit Datenmüll. Es stellte sich heraus, dass der Datenmüll zur Ursprungsprogrammierung gehört hatte, die schon auf Iovar vorgenommen worden war. Das Programm hatte sich mit der Zeit zersetzt, aber den Spezialisten gelang eine Rekonstruktion. Sie war lückenhaft, bildeten aber die Basis für erste Versuche. Am Schluss stand der Resonatortorpedo, von denen die AURORA acht Stück an Bord hat.“

„Es hat keinen wesentlichen Einfluss auf meine Meinung über Sie, Juichiro. Unser Kampf gegeneinander beruht auf anderen Dingen, nicht nur auf Ihrem Missbrauch des AO und die Auswüchse, die Sie erfunden haben.“

„Dabei ist es ein sehr interessantes Experiment gewesen. Würden Sie mir glauben wenn ich sage, dass ich ursprünglich gar nicht vorhatte, Youmas zu erschaffen? Es wurde ebenso zur Waffe missbraucht wie die Kernspaltung. Möglichkeiten wurden für die Youmas entdeckt, die ich nicht einmal ansatzweise im Sinn hatte. Ursprünglich wollte ich nur eines: Mein Interesse für die Menschen stillen, das von der kleinen Gemeinde, die ich um mich gesammelt hatte, geweckt worden war. Ich wollte wissen wie die Menschen ticken, wie sie funktionieren. Woran sie glauben und was sie tun. Also nutzte ich KI-Energie, um das in einem Menschen zum Vorschein zu bringen, was ihn am meisten bewegt. In den meisten Fällen war das Ergebnis sehr enttäuschend. Meine Probanden verwandelten sich meist in etwas großes, plumpes, gewalttätiges, das sich zudem einem bestimmten Thema gewidmet hatte. Die Kraft und die Fähigkeiten, die ein Youma ihnen verlieh, wenn er von ihnen Besitz ergriff, wurde fast immer auf eine plumpe und dumme Weise genutzt. Wohl vielleicht ein Grund, warum Kuzo die Slayer erschuf, um die Youmas zu bannen. Und um mir willfährige Werkzeuge zu nehmen, natürlich.“

„Interessant. Abgesehen von den Werkzeugen sagten Sie fast immer. Gab es denn auch Beispiele, die Sie zufrieden gestellt haben?“

Tora lächelte hintergründig. „Oh, es gibt heute noch Menschen in Tokyo und in anderen Großstädten der Erde, die noch immer von meinen Youmas besessen sind. Aber sie wurden nicht entdeckt, weil das was sie bewegt, das was sie antreibt nicht monströs ist. Weil sie die Kraft, die ihnen verliehen wurde, zu nutzen wissen. Sie tun dies für andere, nicht für sich selbst. Eigennutz ist meistens der erste Schritt zum großen klobigen Klempnermonster, das mit einer gigantischen Rohrzange um sich schlägt.“

„Die meisten Menschen denken zuerst an sich“, stellte Michael fest. „Ich bin da keine Ausnahme.“

„Sie lügen, alter Mann“, tadelte Juichiro. „Sie denken mindestens zuerst an Eridia, wenn nicht auch noch an Ihre Tochter und Ihre Enkel, bevor Sie überhaupt in Erwägung ziehen, an sich selbst zu denken. Wenn Sie sich selbst vorziehen, dann nur temporär, und dann auch nur, um einer Situation zu entkommen, die Ihr Leben beenden könnte. Damit Sie weiterleben können und weiter für andere da sind.“ Tora betrachtete Berger sinnend. „Sie sind KI-Meister, deshalb gibt es wohl keinen Youma, den ich erschaffen könnte, der Sie wirklich übernehmen könnte. Vielleicht wage ich mich mal an das Experiment. Und vielleicht werden wir keinerlei Veränderung an Ihnen sehen, Michael, bestenfalls, dass der Engel noch stärker, noch reiner und noch fürsorglicher geworden ist.“

Bei der Erwähnung seines alten Spitznamens raunte Michael Berger ärgerlich auf. „Nichts ist rein und nichts ist gut. Vor allem nicht in dieser Welt, vor allem nicht ich. Wie kann ein Mann das auch sein, wenn er seine eigene Tochter zum Schalter macht?“

„Wie erstaunlich, dass Sie diesen Aspekt erwähnen. Seine Tochter als Garant für den Vertrag zwischen Dais und Göttern zu machen erscheint auf den ersten Blick wie ein fürchterliches Verbrechen. Aber dann haben Sie sie zurück nach Nag Prime geschickt.“

„Und alle glauben lassen, sie wäre gestorben. Und das in einem Autounfall. Ich habe meinen Enkeln die Mutter fort genommen und meinem Schwiegersohn die Frau. Und ich habe meine Tochter belogen.“ Michael merkte, wie seine Hände zu zittern begannen. „Und dann ist all das auch noch umsonst, weil Eridia sie wieder mit zur Erde bringt. Ich...“ Er sah Tora an. Ein beinahe wahnsinniges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich bin fast schon daran interessiert zu sehen, welches Monster in mir lauert und zu solchen Taten fähig ist.“

„Wenn Sie mir dazu eine Bemerkung erlauben“, sagte Tora und sah den Naguad ernst an, „dann lassen Sie mich sagen, Michael, dass ich nicht daran glaube, dass ein Monster geboren werden würde. Wenn ich eines an Ihnen als meinen Gegner immer geschätzt habe, dann Ihre Aufrichtigkeit, ihre Integrität und den festen Willen, Gutes zu tun und Fehler wieder gut zu machen. Machen wir uns nichts vor, wir sind beide keine Engel und auch keine Monster. Wir haben unsere eigenen Methoden, unsere eigenen Wege und wir spüren die Last der Verantwortung, die unsere Wege uns aufbürden. Ich will die Dai wieder zu den Sternen führen, die verkrusteten Strukturen unserer Gesellschaft aufbrechen und sie dynamisieren. Ich hatte immer den Traum von einem demokratischen System, von einer neuen, schlechteren Ordnung, um deren Bestand wir jeden einzelnen Tag kämpfen müssen und die es deshalb auch wert ist zu existieren.

Sie wollten all die Zeit die Menschen schützen. Nicht einen, nicht zwei, sondern alle. Und obwohl Sie gesehen haben, dass Sie das nicht können, dass Sie die Menschen nicht einmal voreinander beschützen können, haben Sie nie aufgegeben. Sie haben Ihr Ziel nie aus den Augen verloren. Und als Ihre Tochter zum Ziel zu werden drohte, weil sie der Schlüssel ist, haben Sie ihren Tod vorgetäuscht und sie aus der Schusslinie geschafft. Auch wenn das für alle schwer war, für Sie selbst, für Ihre Frau, die Enkel, Ihren Schwiegersohn. Sie haben es getan, weil die Alternative gewesen wäre, gegen radikale Dämonen zu kämpfen, die in ihrer maßlosen Arroganz eine Naguad-Frau für eine leichte Gegnerin gehalten hätten. Die einen Krieg zwischen Verbündeten los gebrochen hätten, an dessen Ende der Core die Erde dominiert hätte, weil er nach nur einer geringen Schwächung von Kräften aus der Daimon und den Naguad stärkste Fraktion geworden wäre und nachhaltig zugeschlagen hätte.“ Tora seufzte schwer. „Ich hätte in dem Fall bereit gestanden, um die Erde an mich zu reißen. Ich HABE bereit gestanden. Aber anstatt den offenen Konflikt zu suchen haben Sie die Quelle entfernt.“

„Und nun ist sie wieder da, und alles Schönreden von Ihrer Seite nützt nichts. Helen wird erneut zur Zielscheibe werden. Und ich weiß nicht, ob ich sie gut genug beschützen kann.“

Tora lächelte dünn. „Oh, Sie wären überrascht wenn Sie wüssten, wie stark die eigenen Kinder werden können, wenn man sie nur lässt. Mein Sohn jedenfalls hat sich unter der Obhut von Akira besser entwickelt als ich es je zu hoffen vermocht habe. Außerdem ist er ein ganz passabler KI-Meister geworden. Aber das er mir meine alte Flamme ausgespannt hat, das nehme ich ihm wirklich übel.“

„Ihre alte Flamme?“ Michael runzelte die Stirn. „Akari?“

„Sie ist zum Teil eine Dai und bereits sehr alt, das wissen Sie doch. Reimen Sie sich den Rest selbst zusammen, Michael. Ich bin es müde an diese Geschichte zu denken, nachdem sie für mich bereits dreihundert Jahre traurige Vergangenheit ist.“

Michael Berger sah den Magier konsterniert an. Es gab da ein paar Zusammenhänge, die er nun besser begriff. Zusammenhänge, die an ihre Plätze gelangten und nun endlich Sinn ergaben. Und die ihm bewusst machten, das selbst Männer wie Dai-Tora-sama ihren eigenen Schmerz in der Welt kannten.

„Wirklich“, meinte Michael ausweichend und ließ seinen Blick über die Rechnerblöcke schweifen, „ein schönes Labor haben Sie hier, Juichiro.“

„Das beste ist die Kaffeemaschine. Darf ich Sie zu einer oder zwei Tassen einladen, Oberster Legat?“, fragte Tora mit einem beinahe ehrlich gemeinten Lächeln.

„Oh, da sage ich nicht nein.“

Die beiden Männer gingen tiefer in den Raum, passierten Mitarbeiter und Arbeitsdrohnen des Core, grüßten hier und da auf dem Weg zur großzügig und opulent ausgestalteten Ruhezone. Und für einen kurzen Moment erschien beiden ihr langer Kampf so unsinnig und weit entfernt wie Iovar von der Erde. Zumindest für den Moment. Einen sehr, sehr kurzen Moment.
 

3.

Die Erde befand sich in einer gigantischen Daimon. Das war alleine deshalb bemerkenswert, weil der Himmel zu bestimmten Tageszeiten einen ganz eigenen, fast goldenen Schimmer aufwies. Zwar bemühten sich die Betreiber, die geheimnisvollen Dai, Nacht und Tag so gut es ging zu simulieren, aber morgens und abends gelang es ihnen nur unzureichend, und die Menschen konnten jene Blase erkennen, die nun ihre Welt umgab und beschützte. Abends konnte man sogar Passage zwei sehen, jenen Transporttunnel, der zur Daimon des Mars führte. Angeblich in Nullzeit. Passage eins, die zum Mond, konnte man immer dann sehen, wenn der treue Trabant der Erde in einem entsprechenden Winkel stand, also knapp über dem Weltenrund. Es gab einen regen Verkehr zwischen den drei Daimons, und entsprechend der interglobalen Vernetzung der drei Welten nahm dieser mehr und mehr zu, wurde ausgeklügelter, günstiger und wurde so schließlich sogar für normale Menschen erschwinglich. Aber das waren Gedanken, die in die Irre führten und vom eigentlichen Thema ablenkten. Tatsache war, dass UEMF und Legat gemeinsam über die drei Welten herrschten, auch über den Mars, auf dem die Naguad ihr regionales Flottenkommando eingerichtet hatten, mit Torum Acati als Statthalter, während auf der Erde die Dai aus ihrem ewigen Versteck gekommen waren und den Anspruch auf die Welt erneuerten. Alleine die Existenz der gigantischen Daimon war Hinweis darauf. Man sollte meinen, der Mond sei noch frei, aber letztendlich war der Trabant Terras mittlerweile weniger erschlossen als der Mars. Von dort Hilfe zu erwarten wäre fahrlässig gewesen.
 

„Haru?“, klang eine nervöse Männerstimme auf.

Das junge Mädchen, welches gerade zum zweihundertsten Mal ihr Shinai im Karatake schwang, hielt mit der Präzision einer Maschine mitten im Schwung inne. Nichts deutete darauf hin, welchen enormen Kraftakt sie hinter sich gebracht hatte. Lediglich ein dünner Schweißfilm auf ihrer Stirn war Zeugnis dieses Teils ihres täglichen Trainings. Sie nahm die Maske an, den Men, und hielt sie in der Rechten. „Was gibt es, Philip?“

Der amerikanische Austauschstudent flüsterte unwillkürlich. „Sie sind jetzt da, Haru. Wir müssen los.“

Haru Mizuhara nickte verstehend. Sie setzte sich in Bewegung, und jeder einzelne Schritt hinterließ einen Fleck ihrer nackten Füße auf dem Boden. „Ich komme sofort.“

Philip King runzelte die Stirn. „Die Zeit zum umziehen und zum duschen werden sie dir schon zugestehen“, wandte er ein.

„So?“, fragte die junge Frau und löste ihr Kopftuch. Darunter kam eine braune Haarflut hervor, die ihr hübsches, weibliches Gesicht wundervoll einrahmte. „Das ist aber nett von ihnen.“ Men und Shinai landeten in den Armen des großen, schlanken schwarzen Amerikaners. Der junge Mann, die Launen der Kendo-Kapitänin bereits gewöhnt, nahm es als das was es war: Ein Vertrauensbeweis.

Einen Seufzer konnte er allerdings nicht unterdrücken. Neben der Umkleidekabine für die Frauen lehnte er sich gegen die Wand. „Es sind insgesamt einundvierzig. Vertreter von siebzehn Schulen, neun davon international. Viele haben Verwandte oder sogar Geschwister in der UEMF.“

„So? Das war zu erwarten gewesen.“ Deutlich war zu hören wie eine Dusche ihren Dienst aufnahm. „Ich habe auch ausdrücklich nach solchen Leuten verlangt. Solchen die kämpfen wollen.“

Philip runzelte die Stirn. „Ob sie kämpfen wollen kann ich nicht sagen. Aber sie werden dir zuhören, Haru. Immerhin bist du die Tigerin der Fushida Highschool und hältst den Namen und die Ehre Akira Otomos aufrecht.“

„Das hast du schön gesagt. Dafür kaufe ich dir nachher ein Eis“, spottete sie. „Nur weil ich den Kendo-Club leite bin ich noch nicht Akira-sempais Nachfolgerin. Ich denke, es gibt niemanden, der in diese großen Fußstapfen treten kann.“

„Und trotzdem versuchst du es“, hielt Philip ihr vor.

Darauf antwortete die Tigerin der Fushida nicht.

Das brausen des Wassers indes hielt an, und der junge Mann, der zwei ältere Brüder in der Air Force und der UEMF hatte, schüttelte energisch den Kopf, um sich die junge Frau nicht unter der Dusche vorzustellen. Haru war achtzehn Jahre alt und im zweiten Jahr der Oberstufe. Für das legendäre Kendo-Team der Fushida war sie ein Glücksgriff gewesen, und schnell hatte man sie mit Akira Otomo selbst verglichen, der in seiner Zeit als Kendoka vielleicht nicht der berühmteste oder erfolgreichste gewesen war, aber dennoch durch seine Sturheit und seine Zähigkeit immer wieder aufgefallen war. Eigenschaften, die er auch als Blue Lightning bewiesen hatte. Haru WAR erfolgreicher als Akira jemals gewesen war. Sie war Landesmeisterin in ihrer Altersklasse und hatte schon sehr erfolgreich auf internationalen Turnieren gekämpft. Selbst in der Männerwelt des Kendos kannte man ihren Namen, alleine schon weil man ihn in einem Atemzug mit Akira Otomo aussprach. All das machte sie zu einer jungen Frau mit Einfluss. Philip wollte nicht Macht sagen, obwohl es das wohl war. Und sie war ehrgeizig genug, diese Macht zu nutzen. Im Moment war sie stellvertretende Schulsprecherin, aber im dritten Jahr würde sie ihrem Bruder Takashi als Schulsprecher nachfolgen. Auch das UEMF-nahe Training wurde von ihr besucht. Nach der Historie, welche die Schule im zweiten Marsfeldzug aufzuweisen hatte, waren von dieser Schule immer wieder Freiwillige zur Erdverteidigung gegangen. Viele hatten es als Pflicht angesehen um das fortzusetzen, was ihre Vorgänger geleistet hatten, andere als Ehre. Der Anteil war mit acht Prozent an allen Schülern derart erschreckend hoch, dass die UEMF ihre engen Bande mit dieser Schule genutzt hatte, um den jungen Menschen wenigstens zu zeigen, was auf sie im UEMF-Dienst wartete. Häufig leiteten ehemalige Schüler diese Trainingseinrichtungen, die sowohl Unterrichtsstoff als auch Fitness-Leistungen beinhalteten. Man sagte, wer sich vom harschen Ton, vom rigiden Stil und von der Härte der Lehrer nicht beeindrucken ließ und im Dienst der UEMF wirklich seinen Lebenszweck sah, schon mit einem Bein in der Organisation war. Haru Mizuhara hingegen hatte nicht nur das erste Bein, sondern auch schon einen Arm und das zweite Bein eingesetzt. Dennoch war sie wie so viele andere von der Entwicklung überrascht worden. Erheblich überrascht.

Die Dusche stellte ihre Arbeit ein. Philip hörte es kaum, als sie mit nackten Füßen zurück in den Umkleideraum schritt.

„Es ist nicht so als würde ich versuchen wie Akira Otomo zu werden“, rechtfertigte sich die junge Frau. „Aber einer muss ja etwas tun. Findest du es nicht komisch, dass UEMF und Legat plötzlich als beste Freunde auftreten? Und woher sind die Dai gekommen? Warum haben wir zuvor nie etwas über sie gehört? Dann ist da noch der Fall mit diesen Mecha-Piloten, die nicht in der UEMF dienen und mit Sack und Pack der AURORA nachgeflogen sind. Glaubst du wirklich, die sind desertiert? Nein, jemand hat sie aus dem Weg geschafft, damit die Übernahme der Hauptstädte gelingt. Moskau wird immer noch von Legatstruppen kontrolliert, Delhi und Johannesburg ebenso. Da können sie sich auch nicht mit unsicherer Sicherheitslage und präventiver Präsenz raus reden.“

Ihre Hand legte sich auf Philips Schulter. „Meine Sachen, bitte.“

Wortlos legte er Shinai und Men in ihre auffordernd erhobenen Hände. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich zu duschen und anzuziehen. Für eine Frau war das sicherlich Weltrekord.
 

Nachdem sie ihre Rüstung verstaut hatte, verließen die beiden den Dojo.

„Wie geht es bei dir voran?“, fragte sie ihren Klassenkameraden.

Philip lächelte dünn. „Ich denke, ich bin auf einem guten Weg. Ich kann bereits eine KI-Aura um eine Waffe manifestieren. Mehr wage ich noch nicht, um das Erlernte sicher zu beherrschen. Erst neulich kam wieder ein Bericht über einen KI-Unfall und eine Warnung im Fernsehen, mit diesen Kräften nicht zu spielen.“

„Hast du schon mal daran gedacht, dass die UEMF nicht nur aus Sicherheitsgründen davor warnt, sein KI nicht zu trainieren oder gar zu nutzen? Feindliche KI-Meister würden ihnen sicherlich den Tag versauen.“

„Ich denke schon, dass die Warnung gerechtfertigt ist. Yukiko wurde nach ihrem KI-Unfall aus der Klinik entlassen. Sie hätte beinahe ihr Herz angehalten, von den Verbrennungen auf ihrem Arm ganz zu schweigen. Es ist also was dran.“

„Sie hat eine enorme KI-Affinität. Aber sie ist zu schnell zu gierig geworden. Und wenn Kinder mit dem Feuer spielen, verbrennen sie sich nun mal. So ist das eben“, erwiderte Haru.

Sie wechselten in das Hauptgebäude. Schnell erreichten sie das Klassenzimmer, in dem normalerweise die Konferenzen der Schülervertretung abgehalten wurden. Draußen, durch die Fenster gerade noch in der Abendsonne zu erkennen, stapfte eine gewaltige Samurai-Rüstung durch die Straßen der Stadt.

„Das KI-Biest sammelt freies KI“, raunte sie Philip zu. Anschließend setzte sie sich auf ihren Platz, den der Vorsitzenden, denn in dieser Runde hatte sie das sagen, solange kein besserer gewählt worden war.

„Mein Name ist Haru Mizuhara. Ich habe die Einladungen ausgesprochen.“ Ihr Blick ging über die Anwesenden. „Es freut mich, dass ihr so prompt und zahlreich gekommen seid.“

Ihr Blick ging über verschiedene Gesichter, Jungen wie Mädchen aus vielen weit voneinander entfernten Ländern der Erde. „Und es ist gut so.“

„Die Andeutungen in der Einladung waren klar zu erkennen, Haru Mizuhara“, sagte ein junger Mann ohne Schuluniform. Da er jedoch eine Dienstuniform der Air Force trug, rechnete sie ihn einer Militärschule zu. „Dennoch möchte ich es gerne von dir hören: Warum sind wir hier?“

„Du bist Luc Valsonne, nicht wahr?“

Der andere nickte. Noch vor zwanzig Jahren hätte man dies mit dem Hinweis ergänzt, Quebecker oder zumindest Kanadier zu sein. Aber heutzutage setzte sich mehr und mehr die Bezeichnung Terraner durch. Sowohl im Wortschatz als auch in den Köpfern der Menschen.

„Dann bist du in den Tagen, die da kommen, ein wichtiger Mann“, schloss Haru.

„Ein wichtiger Mann? Wobei?“, hakte Valsonne nach.

„Ist es nicht offensichtlich? Im Kampf gegen die Dai.“ Haru lächelte unergründlich, während ein leises raunen durch den Raum ging.

***

„Ich werde sicherlich nicht gegen Akira kämpfen!“, rief ein entrüsteter Mitschüler der Fushida High, namentlich Sven Dorff, und ein überwiegend deutscher ferner Cousin von Yoshi Futabe.

„Natürlich geht es nicht darum gegen Akira zu kämpfen“, sagte Haru ernst. „Wie ich schon sagte, unser Kampf gilt den Dai. Und ob es einen Kampf in dem Sinne geben wird, wird sich zuerst heraus stellen müssen.“

Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit, bevor sie hinaus zum KI-Biest deutete. „Seht euch das Ding an. Seht hin! In allen großen Städten und in den meisten kleinen laufen diese Dinger herum. Ordentlich darauf getrimmt, alleine mit ihrem Auftreten eine gewisse Gefälligkeit zu erreichen. Aber was tun diese Dinger? Sie saugen KI auf. Und wie wir alle wissen ist KI erstens essentiell für unsere Körper und zweitens kann es sehr gefährlich werden. Alleine heute gab es in ganz Tokyo fünf Verletzte, die sich am eigenen KI verbrannt haben. Verbrannt! Und das ist keine Metapher!“

„Feuer ist auch gefährlich, und dennoch brauchen wir es zum Leben“, warf eine Schülerin aus einem anderen Stadtteil ein. Ihren Namen wusste Haru im Moment nicht.

„Richtig. Das wissen alle. Warum soll es beim KI anders sein? Nur wer hinfällt gewöhnt sich daran schneller wieder aufzustehen. Anstatt uns Lehrer zur Verfügung zu stellen die uns helfen unsere KI-Kontrolle zu entfalten und zu beherrschen zu erlernen ignorieren und unterdrücken sie das Wissen über das KI, und wenn es doch erwähnt wird, ist es negativ dargestellt. Bin ich die einzige in diesem Raum, die das stutzig macht?“

Wieder wurde geraunt, aber diesmal zustimmend.

„Ich sage nicht, dass uns ein ebensolcher Krieg bevor steht, wie ihn jene Schüler gehabt haben, die vor drei, vier, fünf Jahren an dieser Schule waren, die sich damals freiwillig für den Marsfeldzug gemeldet hatten. Aber es kann sein. Es kann durchaus sein. Wir kennen die Dai nicht. Wir kennen ihre Motive nicht. Wir kennen ihre Repräsentanten nicht. Im Gegenteil. Hätten sie ihre eigene Daimon nicht aufgeben müssen, würden sie sich mit ihrem Kontinent Lemur immer noch versteckt halten.“

Sie machte eine kurze Pause, in der sie jedem einzelnen in die Augen sah. „UEMF und Legat arbeiten zusammen. Seite an Seite. Sie haben einige der stärkeren Länder besetzt, die nicht mit der UEMF kooperieren. Darunter die einst so mächtige U.S.A., die kurz vor dem Abflug der AURORA heftig rebelliert hat – allerdings weil ihre Führer geglaubt haben, das Legat wäre mit ihnen verbündet. Und all das läuft in den Händen einer Macht zusammen, die im Hintergrund agiert und für uns unangreifbar ist.“

Wieder wurde geraunt. Zustimmend. Ernst. Leise bestätigende Kommentare erfüllten die Luft.

„Ich sage nicht, dass wir im Krieg sind. Aber ich sage, dass das Legat bis vor kurzem unser Feind war. Wenn das Geschichte ist, soll es so gut sein, denn sobald die Soldaten des Legats ihren Platz in dieser Welt finden, haben die Kämpfe mit ihnen ein Ende. Und wenn die Dai nach bestem Wissen und Gewissen in unserem Sinne handeln, soll es gut sein. Aber wenn dem nicht so ist, dann stehen wir vielleicht alle vor der bitteren Erkenntnis, dass die Menschen in dieser und den anderen drei Daimon binnen eines Dreivierteljahres, vielleicht früher, vielleicht später, für den Erhalt der Barrieren ausgesaugt werden. Das mag richtig sein, das mag der einzige gangbare Weg sein. Wir können die Hände falten und in den Schoß legen und unsere Leben und unsere Zukunft getrost anderen überlassen. Aber ich will es wissen! Ich will die Wahrheit wissen! Und wenn sie mir nicht gefällt, will ich etwas dagegen tun! Ich will nicht vor Akira Otomo stehen müssen und ihm sagen, dass wir die Erde, dass wir die Menschheit haben sterben lassen, weil keiner bereit war etwas zu tun, etwas in Erfahrung zu bringen, etwas zu riskieren!“

Wieder wurden bestätigende Stimmen laut.

Haru Mizuhara lächelte dünn. „Es gibt vier Gründe, warum wir alle hier versammelt sind. Warum wir uns hier und jetzt treffen. Warum wir aus aller Welt zusammen gekommen sind. Der erste Grund ist einfach. Jeder einzelne von uns hat einen Angehörigen in der UEMF. Mein Bruder Takashi dient als Kommandeur des Fifth Head-Bataillon im Gyes-Regiment der Hekatoncheiren und steht Akira Otomo zur Seite. Viele von uns haben Angehörige auf der AURORA. Und jeder einzelne muss sich vor dem Tag fürchten, diesem Angehörigen gegenüber zu stehen und ihm gestehen zu müssen, dass das was er erreicht hat, von anderen wieder verloren wurde.“

Betretene Blicke gingen zu Boden. Nur wenige sahen Haru an. Und in deren Blicken war Feuer.

„Der zweite Grund ist, dass wir alle Teil des Vorbereitungsprogramm der UEMF sind. Jeder von uns hat mindestens einmal an einem kompletten Kurs teil genommen, wenigstens einmal in einem Simulator oder gar einem echten Hawk gesessen. Und keiner hier im Raum hat es wirklich schlecht gemacht. Im Gegenteil, er steht auf der inoffiziellen Bewerberliste, und das auf den oberen Plätzen.“

Dorff sah sie mit einem interessierten Schmunzeln an. „Interessant. Und Grund drei?“

Haru hob die rechte Hand. Flammen schienen die Finger plötzlich zu umspielen, doch keiner der Anwesenden gab sich beeindruckt. „Grund drei ist, dass wir alle das KI beherrschen, bis zu einem Level, den auch jene vor uns erreicht haben, die auf dem Mars gegen das Legat gezogen sind, um mit Akira Otomo die Erde zu retten. Und der vierte und letzte Grund ist...“

Spannung erfüllte den Raum. Niemand wagte zu atmen. Die Anwesenden hingen dem jungen Mädchen an den Lippen.

„Der vierte Grund ist, dass wir alle mehr oder weniger einer Gruppe vorstehen. Einige Gruppen bestehen nur aus wenigen, aber hoch trainierten Leuten, andere sind beinahe schon Massenbewegungen aus motivierten, aber nur wenigen geübten Leuten. Dennoch bedeutet all dies gebündelt eine große Macht.“

Nun redeten die Anwesenden durcheinander. Eines gab das andere, eine wilde Diskussion entstand, die schließlich von Philip King mit einem lauten Ruf zur Ordnung beendete.

„Danke dir, Philip. Was ich hier und heute sagen will ist, dass ich eine Allianz vorschlage. Eine Gemeinschaft, die im Sinne Akira Otomos und im Sinne der Erde handelt. Die sie verteidigt und potentielle Bedrohungen untersucht, notfalls bekämpft oder gar vernichtet. Die nicht auf die beschwichtigenden Worte anderer hört, sondern selbst aktiv wird. Die nur ihrem eigenen Gewissen und Akira Otomo verantwortlich sind.“

„Das klingt... Interessant. Aber selbst wenn wir vielleicht tausend junge Leute auf unserer Seite haben, wenn wir alle ein wenig KI beherrschen, wenn wir Waffentraining haben, wird das, kann das reichen? Die Dai sind KI-Meister, das wissen alle. Und die Legatstruppen haben kein schlechteres Training genossen als die der UEMF.“

„Was das KI angeht, nun, wir haben alleine, jeder für sich, derart große Fortschritte gemacht. Nun aber, da wir uns kennen, können wir uns austauschen, gegenseitig überwachen und voran bringen. Wir schmeißen all unser Wissen in den Pool und erklimmen gemeinsam die nächste Stufe.“

„Klingt machbar. Aber unser militärisches Wissen dürfte so nicht leicht zu verstärken sein. Wir haben alle dieselben Kurse besucht, während wir unser KI auf differentem Wege erforscht haben“, warf eine junge Russin aus Wladiwostock ein.

„Das stimmt. Aber auch für dieses Problem gibt es eine Lösung“, erwiderte Haru. „Es ist mir etwas gelungen, was... Nun, atemberaubend ist. Kennt jemand den Namen John Takei?“

„John Takei, John Takei... Ein verdammtes Phantom“, sagte Dorff. „Taucht mal auf und verschwindet wieder. Hat angeblich am zweiten Marsangriff teil genommen, danach ein Großteil der neuen Technologien für die AURORA mit entwickelt.“

„Er ist der einzige Mecha-Pilot der UEMF, dem man jemals nachgesagt hat, besser zu sein als Akira Otomo“, fügte die Russin hinzu und errötete. „Wobei es keinen Beweis gibt, dass er wirklich besser als Akira ist.“

„Ein kapabler Mann. Es heißt, dass Akira Otomo nur deshalb so gut geworden ist, weil er John Takei übertreffen will.“

Haru Mizuharas Lächeln verschwand. „Dann wird es die Anwesenden sicher freuen wenn ich euch mitteilen kann, dass es mir über ein paar Beziehungen gelungen ist, genau diesen John Takei anzuwerben. Ich hatte einige wichtige Gespräche mit ihm, habe seine Stimmung sondiert, und weiß das er diese Welt ebenso wenig den Dai überlassen will wie wir. Und er will Akira Otomo auch nicht unter die Augen treten und den Verlust der Welt eingestehen müssen. Er wird uns ausbilden. Militärisch, taktisch, strategisch.“ Ihr Kopf ruckte zur Tür, die prompt in diesem Moment aufschoss. Ein großer, schlanker Mann mit schneeweißen Haaren trat ein. Sein rechtes Auge war unter einer Augenklappe verborgen, und der Pony hing ihm tief ins Gesicht. Er hatte den typischen, elastischen Gang eines Mecha-Piloten der UEMF, die eine Menge Training absolvieren mussten, damit ihnen in den langen Stunden im Cockpit ihrer Hawks weder Thrombose noch Muskelschwund drohte. Er hatte ein freundliches, hübsches Gesicht. Er lächelte in die Runde und grinste. „Entschuldigung, aber ist dies die Klasse für Nachwuchsverschwörungen? Ich bin dann nämlich der neue Homeroom-Lehrer.“

Ihm folgte keine Horde von Sicherheitskräften. Auch keine Geheimagenten. Alleine trat er ein. Neben der Tür lehnte er sich gegen die Wand. „Solltet ihr Fragen haben, wäre jetzt der beste Zeitpunkt, um damit heraus zu rücken“, sagte er und wurde übergangslos ernst. „Denn wer die Welt retten will, sollte weder Fragen noch Zweifel haben.“
 

4.

„Ich melde mich zum Rapport, Sir.“ Leekan Amada salutierte vor Neon Zut Achander.

Der erfahrene Anelph-Offizier zeigte eine seltene Gemütsregung, als er eine Augenbraue hoch zog. „Sie sind...“

„Ja, Sir. Ich bin die Verbindungsoffizierin zum Core, abgestellt von Akira Otomo persönlich.“

Mit einer Mischung aus morbidem Interesse und stark gezügeltem Abscheu sah Admiral Achander den Drohnenkörper an, der vor ihm stand. „Äh... Sie sind weiblich?“

„Bitte lassen Sie sich nicht vom Offizierskörper irritieren, Sir. Wir haben es nie für nötig gehalten, für Männer und Frauen verschiedene Körper zu erbauen. Denn letztendlich sind sie nur Behältnisse für unser AO. Zudem hatten wir nie erwartet, einmal in diplomatische Aufträge verwickelt zu sein, die uns nicht die Zeit lassen, in unsere Körper zurück zu kehren und die Biotanks des Paradies zu verlassen.“

„Eine Frage“, warf Rogan Arogad von der Seite ein. Seit sein schwer beschädigtes Schiff AROGAD in einer Werft der Axixo-Basis auf dem Lorania-Mond Yomma repariert wurde, gaben er und seine Offiziere und Mannschaften ihr Bestes, um im regionalen Flottenhauptquartier gute Arbeit zu leisten.

„Gerne doch, Admiral Arogad.“ Der Robotkörper hatte eine erbärmliche Mimik, denn wie Leekan Amada bereits erklärt hatte, waren sie nicht für diplomatische Missionen vorgesehen gewesen. Aber dennoch spielte ein mechanisches Lächeln um das Gesicht der Offizierin. Offiziersdrohnen waren eben in mehrerlei Hinsicht aufwändiger als normale Drohnen.

„Wie alt sind Sie?“

„Wie alt?“ In einer typisch weiblichen Geste wollte sie sich mit der Rechten durch ihr Haar fahren, unterließ es dann aber. Drohnen hatten keine Haare. „Wenn Sie nach dem reinen Alter gehen wollen, nun, dann bin ich etwas über dreitausend Jahre alt. Wenn Sie danach gehen wollen wie alt ich mich fühle, dann muss ich Ihnen sagen, dass ich mich etwas zu jung für die Verantwortung fühle, die der Fünfsternträger mir übertragen hat.“

Fünfsternträger, so wurde Aris Arogad nicht selten von Core-Offizieren genannt, wegen der fünf Sterne, die seinen Rang beschrieben und ihn zum unumstrittenen Befehlshaber des Cores machte. Dazu kam seit einigen Wochen auch noch das Amt als Regent des Cores, solange die Herrin in ihrem „Urlaub“ war, ihrem ganz eigenen Versuch, eine eigene Persönlichkeit zu erlangen. Ein komplexes Thema, welches selten mit Außenstehenden diskutiert wurde. Den hier im Raum Anwesenden fehlten sicherlich ein bis zweitausend Jahre Lebenserfahrung, um zu verstehen was im Herzen des Cores eigentlich vor ging. Wesentlich leichter zu verstehen war, dass Aris Arogad nun auch noch den Core eingesackt hatte, und das im wahrsten Sinne des Wortes.

„Interessant“, murmelte der Haus-Admiral der Arogads und lächelte kaum merklich. „Interessant.“

„Kommen wir zum Thema zurück. Nennen Sie mir bitte Ihren Rang, Leekan Amada“, sagte Achander und richtete das Gespräch damit wieder auf militärische Belange aus.

„Ich bin Dreisternträger. Ich kommandiere ein Kontingent aus zweitausend Raider-Schiffen und fünf zentralen Steuereinheiten. Damit kommandiere ich etwas mehr als siebzig Offiziere und eine Feuerkraft, die in etwa vier Bakesch entspricht. Vollen Salven natürlich.“

Achander unterdrückte den dringenden Impuls, hart zu schlucken, denn das was Amada gerade „eine Feuerkraft, die in etwa vier Bakesch entspricht“ war eine reine Zahl. Wenn diese zweitausend Einheiten eloquent und intelligent geführt wurden, konnte die reine Feuerkraft mit einer gewieften Taktik ergänzt und die eigentliche Stärke verdoppelt werden.

„Die Sie mir hiermit unterstellen“, schloss Achander.

„Natürlich, Sir. Deshalb bin ich hier auf Laccus“, erwiderte sie ernst.

War das nur Achanders Eindruck, oder wirkte die Frau wirklich etwas pikiert, weil er indirekt ihre Loyalität in Frage gestellt hatte?

„Wo stehen Ihre Schiffe, Admiral?“, fragte Achander gerade heraus, um über diesen peinlichen Augenblick hinaus zu kommen.

„Sie befinden sich gut aufgeteilt um Liviors Monde. Ich denke, wenn die Logodoboro einen Überraschungsangriff auf uns durchführen wollen, dann werden sie die Schwerkraftsenke vom größten Planeten des Sonnensystems mit Kusshand annehmen, um den Anmarschweg zu verkürzen und den Überraschungseffekt zu erlangen.“ Die Frau im Androidenkörper wirkte ernst. „Selbst zweitausend Raider sind meines Erachtens nicht ausreichend, um die Schwerkraftsenke Laccus ordentlich zu überwachen.“

„Wir haben das bedacht“, meldete sich Rogan zu Wort. „Die Invasion der Logodoboro, die wir seit Monaten erwarten, kann auf drei Arten erfolgen. Zwei halten wir für wahrscheinlich. Entweder springen sie mit kleinen Schiffsgruppen rund um Livior ins System, um nicht aufzufallen und sich nach und nach zu sammeln, oder sie kommen mit ihrer ganzen Flotte in einem großen, gewaltigen Sprung. Das Ende ihres Wurmlochs auf unserer Seite dürfte selbst bei einem Massentransit zur schwer aufzuspüren sein. Die dritte Variante, ein regulärer Sprung ins System, ist nach meiner Meinung keine Option für sie. Logodoboro braucht einen kräftigen Vorteil, denn selbst ohne Ihre Raider, Amada, haben wir mittlerweile rund zweihundert kampfstarke Schiffe im System versammelt. Und wenn mein Bakesch erst mal wieder repariert ist, beißt sich selbst ein Strafer der Götter an uns die Zähne aus.“

Erschrocken sah die Offizierin ihn an, bevor sie eine rituell wirkende Geste ausführte. „Bei der Herrin des Paradies der Daina und Daima, Admiral, sagen Sie so etwas nicht. Es bringt Unglück, so zu reden.“

Rogan Arogad erstarrte. Dann entschuldigte er sich kleinlaut. Raumfahrer waren im Allgemeinen ein abergläubischer Haufen. Wenn man in einer Umgebung diente, die ein lebendes Wesen mit all seiner Feindlichkeit binnen weniger Sekunden töten konnte, durch ersticken, erfrieren oder Schock, begann man unmerklich, hier und da in kleinen Ritualen Zuflucht zu suchen, um sich wenigstens auf gefühlter Ebene mit dem feindlichen, kalten und luftleeren Weltall zu arrangieren.

Fenn Ikosu, vor Rogans Ankunft der ranghöchste Naguad im System, gesellte sich zu den Drei. „Wir haben das in Betracht gezogen. Ein Kordon von Überwachungssatteliten umzieht Livior. Außerdem haben wir Letus und Lamada ebenfalls in der Überwachung, obwohl wir sie nicht für mögliche Ziele der Logodoboro halten. Im Gegenteil. Letus ist eine Milliarde Kilometer von Livior entfernt, Lamada sogar das Vierfache. Jeder Gegner, der von dort zu uns will, hat einen weiten, beschwerlichen Weg vor sich, den wir zudem auch noch einsehen können. Zudem steht Lamada auf der anderen Seite von Kanto, was zumindest den Anflugweg nach Laccus zu lang macht. Mögich wäre mit dieser Variante ein Direktangriff auf Lorania in etwa einem Vierteljahr, wenn sich die Hauptwelt durch die natürliche Planetenbewegung auch auf der anderen Seite befindet.“

„Ich sehe, man neigt zur vorausschauenden Planung bei den Naguad. Das erklärt einiges“, erwiderte die Dreisternträgerin amüsiert.

„Das, und wir haben ein gutes Gedächtnis“, sagte Rogan Arogad mit plötzlich bedrohlich leiser Stimme.

„Rogan, es ist gut“, mahnte Ikosu.

Der Arogad erwiderte darauf nichts, sondern verschränkte die Arme vor der Brust.

„Entschuldigen Sie, Amada, aber es ist noch nicht sonderlich lange her, dass wir den Core bekämpft haben. Es ist noch nicht lange her, dass Core-Schiffe bewohnte Welten angegriffen haben.“

„Es ist auch nicht lange her, dass die Anelph einen Aufstand gegen das Imperium gewagt und gewonnen haben“, erwiderte die Core-Offizierin spitz.

„Nun ja“, murmelte Achander und lächelte für einen Augenblick.

„Dennoch brennt mir eine Frage auf der Seele“, mischte sich Rogan nun doch ein. „Waren Sie je an einem Angriff auf eine Welt des Imperiums beteiligt, Leekan Amada?“

„In dem Punkt muss ich Sie leider beunruhigen. Ich war noch nie im Naguad-Imperium und habe deshalb erschreckend wenig astrogale Erfahrung in diesem Raumgebiet. Ich habe Akira Otomo mehrfach darauf hingewiesen, aber er hat darauf bestanden mich zu schicken. Dafür hat er sogar den alten Kommandeur abgelöst. Tonhe Lragi war immerhin Viersternträger und kannte das gesamte Kanto-System von seinen Raids her auswendig.“

Die beiden Naguad und der Anelph sahen sich kurz an, und sahen ihre kollektive Vermutung bestätigt. Aris Arogad hatte selbst dieses Detail bedacht.

„Es heißt der Core sammelt seine Flotten zum eigenen Schutz. Warum sind Sie mit Ihrer Flotte noch hier, Amada?“, hakte Rogan Arogad nach.

„Ein Befehl des Regenten. Ob wir zweitausend Raider mehr oder weniger zusammen ziehen ist für den Core nicht entscheidend. Aber in der ungewissen Lage, in der sich das Kanto-System befindet, können zweitausend Raider der Schlüssen für Sieg oder Niederlage sein.“

„Verstehe. Wir...“ Weiter kam der Arogad nicht, denn in diesem Moment brach in der Zentrale des Flottenhauptquartiers der Alarm aus.

Achander aktivierte sein KommSet. „Bericht“, schnarrte er.

„Admiral, die Überwachungssatteliten rund um Livior haben einen Sprung aufgezeichnet. Wir konnten keinen Ausflugkanal eines Wurmlochs ausmachen, aber der Vektor zeigt eindeutig auf ein von den Logodoboro beherrschtes Nachbarsystem.“

„Damit haben wir gerechnet. Livior steht einfach ungünstig zur Zeit“, murmelte der alte Anelph mehr zu sich selbst. „Wissen wir, was angekommen ist?“

„Nein, Sir, aber es kann nicht groß gewesen sein. Ich habe mehrere in der Nähe kreuzende Fregatten damit beauftragt, die Region mit aller gebotener Vorsicht zu kontrollieren.“

„Gut. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie weitere Informationen haben.“ Der Admiral deaktivierte sein KommSet und sah die anderen drei ernst an. „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn einige Raider an der Suche teilnehmen könnten, Amada.“

„Natürlich, Sir. Ich werde mich mit Ihren Leuten koordinieren.“ Die Frau im Drohnenkörper nickte leicht, bevor sie sich ihrer neuen Aufgabe zuwandte.

„Ich bin gespannt was dabei herauskommt“, murmelte Rogan Arogad leise.

***

Das, was dabei herauskam, stand einen guten Tag später vor einem Tisch des Konferenzraums direkt neben der Zentrale. Neon Zut Achander selbst war anwesend, weitere hohe Offiziere flankierten ihn. Das, was dabei herauskam, hatte sich als zwei Personen entpuppt, die mit einer klapprigen alten Yacht ins System gesprungen und dabei havariert waren. Ihr Glück, dass Achander den Core angefordert hatte; es war ein Raider gewesen, der sie aufgespürt hatte, bevor der nun nutzlose Haufen Altmetall auf Livior abgestürzt war.

Sie, das waren ein Mann und eine Frau, die eindeutig Koromando-Gene in sich trugen.

Sie wirkten beide erschöpft und reichlich nervös, und ihre Blicke gingen immer wieder zu Leekan Amada, der Offizierin des Cores.

„Mein Name ist Ryudan Koromando. Dies ist meine Frau Layss. Wir sind in dieses System gekommen, weil wir uns Hilfe erhoffen. Wir... Es geht um unseren Sohn Laysan.“

„Moment, bitte. Ihr Sohn Laysan? Wie bitte glauben Sie, dass wir Ihnen dabei helfen können?“ Irritiert sah der Admiral die beiden an. Sie waren Nichtkombattanten, definitiv, aber sie waren nun auch in der Obhut der Flotte, zumindest solange wie ihre Rettung unter den Tisch gekehrt werden konnte und Haus Koromando nicht nach fragte.

„Wir...“, begann Ryudan und schluckte hart. „Wir...“

„Laysan“, sagte Amada unvermittelt. „Dies ist der Name der Hülle, die Akira Otomo gedient hat.“

Rogan Arogad sah erschrocken zu der Core-Offizierin herüber. „Könnten Sie das in normaler Sprache erklären?“

„Ich glaube, das kann ich am besten“, sagte der Koromando und leckte sich über die Lippen. „Ich... Wir... Wir gehören einer Spezialeinheit für Agententätigkeiten innerhalb des Hauses an. Unser Untername ist Cabrek.“

Achander schien mit dieser Uniform nicht viel anfangen zu können, aber Rogan Arogad und Fenn Ikosu sahen ernst auf. „Cabrek?“

„Ja, Sir. Wir sind Agenten der zweiten Stufe. Uns oblag es in unseren letzten Auftrag...“ Der Mann schluckte hart. „Uns oblag es, das AO von Meister Aris Arogad von Naguad Prime zu schmuggeln, nachdem Cabrek es aus seinem Leib extrahiert hatte.“

„Und Sie haben es getan, im Leib Ihres eigenen Kindes“, schloss Amada vorwurfsvoll.

Die beiden senkten ihre Blicke. Der Mann schluchzte, die Frau konnte nur stumm nicken.

Alarmiert sahen die beiden Naguad einander an. „Das erklärt einiges. Nun weiß ich auch wieder warum mir der Name Laysan so bekannt vor kam. Endlich wissen wir also, welches Haus in dieser Ungeheuerlichkeit verstrickt war“, schloss Rogan.

„Und das zumindest Haus Cabrek mit den Logodoboro im Bunde ist“, fügte Ikosu ernst hinzu. Und, verdammt, ja, das war eine ernste Nachricht.

„Was erwarten Sie also von uns, Ryudan, Layss?“, fragte Achander ernst.

„Wir... Es hieß, wir würden unseren Sohn bald nach der Übergabe zurück erhalten. Aber nun ist es schon fast ein Jahr. Er... Es war von Beginn an verrückt von uns, unser eigenes Fleisch und Blut in diese Sache hinein zu ziehen, aber wir haben gehorcht, weil wir Cabrek sind. Doch nun wollen wir nicht mehr gehorchen! Wir wollen unser Kind zurück! Und deshalb...“ Ryudan sah ernst auf. „Haus Koromando und Haus Logodoboro sind Verbündete. Es geht ihnen um die Macht, die von den Häusern Arogad und Daness ausgeübt wird. Sie wollen die führenden Häuser im Reich werden.“

„Das ist eine schwere Anklage“, erwiderte Ikosu.

„Die wir vor jedem Gericht wiederholen werden, aber bitte helfen Sie uns, unseren Sohn zurück zu holen!“, flehte Layss Koromando. Sie sah zu Amada herüber. „Bitte!“

„Also, ich bin nicht sonderlich erfahren, wenn es darum geht, was in euren Köpfen so vorgeht, Naguad“, sagte die Offizierin mit Ärger in der Stimme, „aber der Fall Laysan wurde nicht nur unter uns Offizieren ausgiebig diskutiert. Ich denke, es gibt kaum einen Daina oder Daima, der diese Tat gut heißen würde, egal unter welcher Prämisse oder unter welchem Befehl. Und die meisten sind der Überzeugung, dass es Laysan dort wo er sich jetzt befindet, besser geht als bei seinen leiblichen Eltern, die ihn verraten und verkauft haben.“

Diese offenen, brutalen Worte trafen die beiden Koromando schwer.

„Können Sie uns wenigstens sagen wo er sich befindet? Wie es ihm geht?“, fragte die Frau in flehendem Ton.

„Nun, nachdem Akira Otomo seinen Körper wieder erlangt hat, hat er das Gefäß – ich meine Laysan – verlassen. Danach hat er ihn in seinem Haushalt aufgenommen. Soweit ich von Markub Tarnel weiß, führt er ein ruhiges, geordnetes Leben und geht zur Schule. Ich würde keinerlei Veranlassung sehen, ihn aus dieser stabilen Familie zu reißen, nur um ihn solchen Eltern zu übergeben!“

„Ziehen Sie Ihre Zügel an, Amada. Niemandem ist mit Anklagen und dergleichen geholfen. Außerdem haben die beiden uns ein großartiges Angebot gemacht, das wir nutzen sollten“, schloss Achander. „Wenngleich ich Ihnen sagen kann, dass die AURORA nicht so bald wieder in Reichweite kommt, um Ihren Sohn zurück zu transferieren. Ich bin mir übrigens auch nicht sicher, ob wir das tun sollten. Amada hat vielleicht Recht. Wie dem auch sei, wahrscheinlich wird es Sache der Gerichte sein, darüber zu entscheiden. Bis dahin verspreche ich allerdings, Meister Arogad über Ihr Anliegen zu unterrichten. Eventuell erlaubt er auch, dass Sie Laysan private Botschaften schicken; unser neues Funksystem ist erstaunlich effektiv.“

Ryugan lächelte kalt. „Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, Sie zu überzeugen. Ich wusste, dass es ein Fehler war, Laysan auf diese Weise zu verlieren. Aber ich bin bereit, für diesen Fehler gerade zu stehen. Und ich bin bereit, dafür so weit zu gehen, wie es mir möglich ist. Ich hatte ein Speichermedium bei mir. Wissen Sie wo es sich befindet?“

„Wir untersuchen es gerade in einem Labor“, sagte Ikosu.

„Gut. Dann sollten Sie versuchen, ein bestimmtes Codewort einzugeben.“ Ryudan Koromando zog ein Stück Schreibfolie und einen Stift hervor. Er beschrieb das Stück ausführlich und überreichte es Admiral Achander. „Sollte das für Sie interessant sein, können wir vielleicht über die restlichen Informationen verhandeln, die sich auf dem Medium befinden.“

Achander nahm den Zettel entgegen, reichte ihn mit einem geflüsterten Befehl weiter und wartete.
 

Nach mehreren Minuten kam der Adjutant wieder und flüsterte aufgeregt mit seinem Admiral.

Achander atmete tief durch. „Herrschaften. Die Häuser Koromando und Logodoboro planen einen gemeinsamen Angriff auf das Kanto-System mit dem Ziel, Laccus anzugreifen und diese Flottenzentrale zu zerstören. Die beigelegten Beweise sind erdrückend authentisch.“ Er sah die Logodoboros ernst an. „Reden wir über den Rest der Daten.“

„Reden wir über die Rückführung unseres Sohns“, erwiderte Ryudan ernst.
 

Epilog:

„Atme.“

Gehorsam saugte ich die Luft in die Lungen und entließ sie wieder. Für zehn bis zwanzig Sekunden. „Sensei, ich...“

Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. Arno Futabe sah mir aus nächster Nähe direkt in die Augen. „Atme!“

Es gab einige Dinge zwischen Himmel und Erde, die man besser weder tun noch erfahren sollte. Ganz oben auf meiner persönlichen Liste fand sich der Eintrag: Futabe-sensei wütend machen.

Also fügte ich mich und begann erneut zu atmen. Tausende Fragen fielen mir dazu ein. Sensei hatte mich gelehrt, dass man Meditation nicht dadurch erreichen konnte, indem man seine Gedanken leerte, denn das war ein unnatürlicher Zustand, den man unmöglich erreichen konnte. Nichts denken zu wollen war so unsinnig wie Vakuum zu atmen. Und wer es dennoch schaffte hatte wohl auch zuvor nicht viele Gedanken im Kopf gehabt. Für mich also war es erwiesenermaßen unmöglich. Nein, darum konnte es Sensei nicht gehen. Was bezweckte er dann damit? Mir war klar, dass Futabe-sensei einen Grund hatte, warum er mich zum atmen her befohlen hatte. Und ich war mir beinahe sicher, dass ich die Aufgabe hatte, diesen Grund zu finden.

Was bewirkte das regelmäßige atmen? Das ständige denken ans atmen? Die Kontrolle über den Atem? Langsam, ich lief Gefahr, mit meinen Gedanken auf den falschen Weg abzudriften. Warum war ich hier? Ich hatte mich ins Paradies der Daina und Daima begeben, um einem Einsatzkommando von Legats-Agenten zu folgen, bevor sie dort Unheil anrichten konnten, oder um bereits begangenes Unheil wieder zu flicken.

Stattdessen war ich in einer Simulation gelandet, welche mir unbekannte Dai, die schon länger im Paradies lebten als das Naguad-Imperium bestand, für Henry Taylor errichtet hatten, um ihm bei seiner Suche nach der Heimat der Götter zu helfen. Das ganze hatte sich als Finte heraus gestellt. Oder mein Eintreffen hatte die Dai improvisieren lassen. Es war allgemein bekannt, dass ich nun als Reyan Maxus galt, ein Umstand, den ich selbst noch nicht besonders gut verdaut hatte. Es hatte in jedem Fall mit neuen Fähigkeiten zu tun, die, wenn ich dem Dai glauben konnte, der mich angegriffen hatte, dazu geführt hatten, dass das Großreich der Daima und Daina mit allen Nationen in einem gewaltigen Bürgerkrieg vernichtet worden war. Der Dai hatte die Reyan Maxus dabei besonders hervor gehoben. Die Götter, oder vielmehr die Robotzivilisation, die sie zurück gelassen hatten, nachdem sie ausgelöscht worden waren – von Daina oder Daima – hatte danach nur noch aufkehren müssen. Selbst heutzutage suchten die Strafer und Scouts der Götter die Daimon genannten Schutzeinrichtungen des alten Volks und vernichteten sie, bevor weitere Reyan Maxus entstehen konnten. Der Dai, und jene die seiner Meinung gewesen waren, hatten versucht, meine Existenz zu korrigieren, indem sie jenen kleinen symbolischen Faden durchtrennten, der mich mit meinem Körper verbunden hatte, selbst über sechzig und mehr Lichtjahre. Das hätte mein Tod sein müssen, aber ein KI-Biest, von Yoshi erschaffen, hatte meinem Ich, meinem KI als Behältnis gedient. Dennoch waren Körper und Geist getrennt worden. Ich musste also von meinem eigenen Leib Besitz ergreifen, wenn ich ihn steuern wollte. Einfachste Vorgänge, die eigentlich mein Unterbewusstsein übernommen hatte, steuerte ich nun wissentlich. Man konnte sagen, ich war zutiefst verunsichert und traute meinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr. Und am meisten verunsicherte mich die Tatsache, dass ich sogar jetzt von meinem Geist und meinem Körper in getrennten Bahnen dachte. Dabei waren wir gerade eins. Wie lange konnte ich nicht sagen. Ob die Verbindung eines Tages wieder hergestellt werden konnte, war ebenso vage.

Nun, ich hatte nicht erwartet, dass eine so schwer wiegende Verletzung wie jene, die mir die Dai zugefügt hatten, einfach so mit einem Schnippen behoben werden konnte. Aber ich fürchtete mich. Ich fürchtete mich wirklich vor jenem Moment, an dem ich wieder die Kontrolle über meinen Leib verlor und erneut im KI-Adler manifestierte, den Yoshi für mich gemacht hatte.

Ich... Entsetzt hielt ich inne. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich beim nachdenken die Kontrolle über das bewusste atmen verloren hatte. Mein Körper atmete selbstständig, und wie ich feststellen musste, tat er das in zufriedenstellendem Maße. Für ein paar Augenblicke atmete ich wieder bewusst, aber eine kleine Ablenkung genügte, und ich atmete erneut unbewusst.

Ich runzelte die Stirn. Eigentlich hatte ich gedacht, dass der Verlust der Kontrolle des Atems einher gehen würde mit dem Verlust der Kontrolle über den Körper. Das ich erneut in dieses KI-Biest schlüpfen musste. Das er wieder am Ruder war, und...

Moment. Es gab kein er oder uns, es gab nur ein ich. Wenn wir aufgespalten wurden, dann existierten zwei Teile von mir, nicht zwei Varianten oder zwei Individuen. Zudem war ich erheblich gehandicapt. Als Adler fehlten mir viele Dinge, die für mich erst richtig wichtig geworden waren, als ich sie das erste Mal verloren hatte. Wichtige Emotionen, das Gefühl der Vollständigkeit. Als ich aus meinem Körper entführt worden war, hatte ich so etwas nicht empfunden. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals komplett entführt worden war. Diesmal aber behielt mein Leib einen Teil meines Ichs. Ich sah erschrocken auf. „Sensei, ich...“

„Das ist richtig, Akira. Du hast verstanden, was ich dir beibringen wollte.“

Ich schluckte hart. „Es braucht gar keine bewusste Kontrolle meinerseits. Ich muss lernen, meinem Körper bewusst zu vertrauen und ihn die einfachen Funktionen selbst ausführen zu lassen. Wenn ich versuche alles besonders gut oder richtig zu machen, reibe ich mich nur auf und verkürze die Zeit, die ich komplett bin.“

Futabe-sensei nickte zufrieden. „Du hast es tatsächlich verstanden. Akira, dein Körper hasst dich nicht. Man kann sich zwar selbst hassen, aber dafür bist du nicht destruktiv genug.“

Ich nickte verstehend. Langsam erhob ich mich. „Gut. Also lasse ich mir selbst die lange Leine.“

„Du hast es tatsächlich begriffen.“

„Gut. Und wann arbeiten wir daran, die Verbindung zu meinem Körper wieder herzustellen?“

Arno Futabe lächelte spöttisch. „Du hast die Verbindung wieder hergestellt, als du deinen Körper das erste Mal übernommen hast, Akira. Mehr brauchtest du nicht zu tun. Geh jetzt, und mache dir darüber keine Sorgen mehr.“
 

Ich verbeugte mich vor meinem Sensei und wandte mich ab. Nur einen Augenblick darauf fühlte ich mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Übergangslos befand ich mich wieder im KI-Biest. „Seeeeenseiiii...“

„Oh, vertrau mir, die Verbindung ist wieder da. Aber ich habe nicht behauptet, dass du nicht wieder aus deinem Körper hinaus geschleudert wirst. Das wird die nächsten Tage und Wochen ab und an passieren, also gewöhne dich besser dran. Irgendwann wird es weniger werden und schließlich ganz aufhören.“

„Wann ist wann, Sensei?“

Arno Futabe sah mich abschätzend an. „Hm. Vielleicht nächste Woche. Vielleicht nächstes Jahrtausend.“

„Senseiiiii...“ Manchmal kannte der alte Mann keine Gnade mit mir. Also würde ich noch oft der zweigespaltete Akira sein. Damit hatte die Liste meiner akuten Probleme einen weiteren Punkt erreicht und drohte nun bald die hundert zu sprengen. Mist.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Subtra
2008-10-27T11:12:48+00:00 27.10.2008 12:12
Lol ich habs auf auf Battletech zuerst gelesen, Irgendwo ist dir glaub ich ein Fehler unterlaufen, schau mal im Forum und gib Atalantis oder so ein, falls du Atlantis gemeint hast oder so. Ansonsten fand ich es witzig das Akira in immer witzigere Sachen verstrickt wird XD.


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