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Every Little Thing

von  -Moonshine-

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Kapitel 3: Melting Like Ice

Verdrängungstaktiken funktionierten für gewöhnlich immer nur so lange, bis man sich mit dem Gegenstand seiner Verdrängung konfrontiert sah, wobei es deutlich einfacher war, Vergangenes zu verdrängen.
Bei mir verhielt es sich natürlich ganz anders: bis Donnerstag Abend habe ich jeden Gedanken an das, vermutlich katastrophal werdende, Date, das ich am nächsten Abend haben würde, in die Flucht geschlagen, doch kurz vor dem Schlafengehen setzten die obligatorischen Bauchschmerzen ein und mit ihnen einher gingen die Fragen, die die Welt einer jeden Frau bewegten: was ziehe ich an? Worüber soll ich mit ihm reden? Was ist, wenn ich was Falsches sage? Was, wenn er mich nie mehr wiedersehen will? Was, wenn ich mich total blamiere? Was, wenn er gar nicht erst auftaucht? Was, wenn ich so nervös bin, dass ich kein einziges Wort zustande bekomme? Was, was, was...?
Ich lag also im Bett, die Augen so weit geöffnet wie eine nachtaktive Eule, und stierte bewegungslos die Decke an, während sich in meinem Kopf ein skandalöses Szenario nach dem anderen abspielte.
Es war erst sehr spät in der Nacht, als ich endlich wegdämmerte und schon nach nur wenigen Minuten - so kam es mir zumindest vor - klingelte mein äußerst penetranter Wecker in altbewährter Manier.
Grummelnd stellte ich ihn aus. Mein erster Gedanken war: zum Glück war bald Wochenende. Mein zweiter: Oh. Mein. Gott.
Bei "Oh. Mein. Gott." meldete sich mein unruhiger Magen wieder, weshalb ich das Frühstück getrost weglassen konnte, stattdessen aber mit ein paar Beruhigungstabletten liebäugelte, die ich aus rein schlechtem Gewissen dann doch lieber an ihrem Platz liegen ließ.
Auf ziemlich wackeligen Beinen stakste ich zur Arbeit. Der Kindergarten lag zum Glück ganz in meiner Nähe, sodass ich keinerlei Ärgernisse mit Bus und Bahn erdulden musste. Wenigstens etwas in meinem ach-so-glücklichen Leben.
Bei meinem Glück würde der Bus sich jeden zweiten Tag um 20 Minuten verspäten und an Tagen, an denen er pünktlich wäre, würde es zu Erdbeben, Unfällen oder sonstigen, von höheren Mächten gelenkten Katastrophen kommen. Da war ich mir ziemlich sicher.

"Oh mein Gott."
Moment mal, das kam mir doch bekannt vor? Hatte ich das nicht bereits gedacht?
Ich schaute auf, während ich in der Küche des Kindergartens stand und ein paar kleine, kindgerechte Teller in den Hängeschrank einräumte.
Martha, unsere hauseigene "Köchin", stand in der Tür und betrachtete mich mit einem skeptischen Gesichtsausdruck.
"Kindchen, wie siehst du denn aus? Hast du die Nacht überhaupt ein Auge zugetan?" Sie schüttelte besorgt den Kopf, kam zu mir herüber und nahm mir mitfühlend die Teller aus der Hand, um dazu überzugehen, sie selbst einzuräumen.
Martha war 51 und somit die Älteste unter uns. Sie sorgte dafür, dass unsere Kinder jeden Tag auf's Neue zur Mittageszeit etwas zwischen ihre Zähnchen bekamen. Sie hatte selbst drei Kinder, mit deren Erziehung sie ihr ganzes Leben daheim verbracht hatte, da ihr Mann Karriere machen wollte. Und außerdem gehörte es damals angeblich "zum guten Ton", dass die Frau zu Hause blieb, hatte sie uns erklärt. Aber Martha hatte eine Ausbildung zur Erzieherin hinter sich und stürzte sich, kaum, dass ihre Kinder aus dem Haus waren, wieder in den Job.
Obwohl es Julie, der Leiterin des Kindergartens, eigentlich untersagt war, eine Erzieherin mehr einzustellen, überzeugte sie den Vorstand von der Notwendigkeit einer Köchin.
So kam es, dass Martha unter dem Deckmantel der "Köchin" bei uns arbeitete, aber eigentlich viel mehr als nur das war. Sie war die gute Seele, die jedem zuhörte, für alles eine Lösung hatte und darüber hinaus konnten nicht nur die Kinder von ihren Köstlichkeiten nicht genug bekommen.
Ich seufzte. "Nein."
Sie drehte sich zu mir um und beäugte mich prüfend. "Ist es immer noch wegen des Einbruchs? Es ist schrecklich, was für Folgeschäden so etwas haben kann! Wenn das so weitergeht, solltest du dir eine Selbsthilfegruppe suchen oder dir vielleicht einen Hund zulegen?"
Ich verdrehte die Augen, während Martha immer noch munter über die Vorzüge eines Wachhundes weiterplapperte. Den Einbruch hatte ich, voll und ganz eingenommen von meinem anderen "Problem", tatsächlich schon fast vergessen.
"Nein, nein", widersprach ich ihr und unterbrach somit ihre Ausführungen über einen "besser großen Hund. Obwohl die Kleinen aggressivere und bissigere kleine Kläffer sind".
Sie verstummte augenblicklich und sah mich weiterhin misstrauisch an, als versuchte sie, in meinen Augen die Antwort zu finden. Dann gab sie auf.
"Was ist es denn dann?"
Ich ging hinüber zum Wasserkocher und stellte ihn an, um das Wasser aufzubrühen. Gleich würden Julie und Eve antanzen, die zwei Hardcore-Kaffeetrinker. Und mir würde ich einen beruhigenden Tee gönnen... Und vielleicht ein Sandwich, denn mein Magen rebellierte bereits gegen die ihm verwehrt gebliebene Frühstücksration.
"Ach...", versuchte ich abzuwinken und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich..." Ich hielt inne, als mir klar wurde, dass ich eben dabei gewesen war, ihr anzuvertrauen, dass ich nervös war. Aber Martha würde mich ohnehin so lange drängen, bis ich alle schmutzigen Details vor ihr ausgebreitet hatte. Also konnte ich ja auch sofort damit anfangen.
"Ich glaub, ich hab heute Abend eine Verabredung", gestand ich ziemlich kleinlaut, ganz so, als wäre mir diese Tatsache irgendwie peinlich.
Martha starrte mich an und ich versuchte, ihrem Blick auszuweichen. "Aha", kommentierte sie entgeistert und schwieg dann ein paar Sekunden. "Wie kann man GLAUBEN, eine Verabredung zu haben?"
Ich zuckte verschüchtert mit den Schultern. "Mir geht's ziemlich schlecht deshalb..."
"Also ehrlich, Kindchen... du bist die einzige Frau, die ich kenne, die sich wegen einer Verabredung schlecht fühlt", sagte sie pragmatisch und äußerst verständnislos.
Einfach gesagt, wenn man keine Ahnung davon hatte, mit WEM ich verabredet war. Mit Mr. Hinreißend persönlich. Mit einem Polizisten. Mit dem Gesetz. Mit... mit... dem Mann, dessen Nachnamen ich nicht kannte!
Ich wurde rot, als ich an die letzte Nacht dachte und daran, wie ich im Halbschlaf, oder zumindest kurz davor, seinen Namen - Sean - tausendmal in Gedanken wiederholt hatte, wie ein verliebter, geistesgestörter Teenager - und das war wohl der Knackpunkt: genau das wollte ich nicht sein. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich mit meinen 21 Jahren gar nicht so weit vom Teenagerdasein entfernt war, wie zum Beispiel... Martha!
"Er ist Polizist", stieß ich hervor, in einem kläglichen Versuch, mich vor Martha zu rechtfertigen. Warum mir ausgerechnet diese Tatsache helfen sollte, wusste ich auch nicht.
"Wer ist Polizist?", kam es von der Tür her und Julie und Eve traten gleichzeitig herein. Während Julie's Augen sofort den Wasserkocher fixierten, schaute Eve neugierig von mir zu Martha und zurück.
Somit wären wir dann komplett, fehlen also nur noch die Kinder. Eve war 26 Jahre alt und vor mir die Jüngste hier gewesen, Julie war 34.
Bevor ich den Mund aufmachen konnte, tat Martha dies bereits. "Unser Küken hat heute ein Rendezvous mit einem Polizisten", feixte sie und sah die anderen beiden vielsagend an.
"Oooh", machte Eve lüstern und grinste mich anzüglich an. "Bist du wohl mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, was, Emily?"
"Nein", antwortete ich ehrlich schockiert.
"Dann wird es aber allerhöchste Zeit." Sie wackelte mit den Augenbrauen und zwinkerte mir dann bedeutsam zu.
Julie kam zu mir herüber und fischte im Schrank nach dem Instant-Kaffeepulver. Seitdem unsere Kaffeemaschine nicht mehr funktionierte, mussten wir uns mit diesem Zeug behelfen, war mir gar nichts ausmachte, denn ich trank ja nie etwas davon.
"Lasst Emily doch in Ruhe", wies sie die anderen beiden zurecht. "Ihr macht sie nur unnötig verrückt."
In aller Seelenruhe nahm Julie den Wasserkocher und goss sich das kochende Wasser in eine Tasse ein.
Eve seufzte. "Du Glückliche. Ich hätte auch nichts gegen ein Date mit einem sexy Polizisten einzuwenden..."
Ich hatte nie behauptet, er wäre "sexy", obwohl das natürlich voll und ganz der Wahrheit entsprach.
"Du hast einen Freund", machte ich sie auf diese unbedeutende, kleine Tatsache aufmerksam und runzelte die Stirn, verschränkte die Arme vor der Brust. Dass mein Date hier so ausgiebig besprochen werden würde, darauf habe ich mich irgendwie nicht eingestellt.
Eve blickte mich aus traurigen Rehaugen an. "Du sagst es..."
Martha tätschelte ihr kurz die Schulter. "Du brauchst nur ein bisschen Abwechslung, das ist alles."
"Genau das ist ja das Problem", jammerte Eve. "ICH brauche Abwechslung, aber Paul sieht das ganz und gar nicht so." Paul war Eve's langjähriger Freund und das hier war nicht das erste Mal, dass sie sich über ihn beschwerte. Höchstens das erste Mal an diesem Tag.
Ich witterte meine Chance, dieser Diskussion zu entfliehen, da sie sich in eine andere Richtung wendete, und versuchte, mich heimlich aus der Küche zu schleichen.
"Halt!", rief Eve und zog mich am Ärmel wieder zurück. "So schnell kommst du uns nicht davon." Sie grinste, beugte sich zu mir herüber und fügte halblaut hinzu: "Ich hoffe, du wirst heute Abend die Abwechslung kriegen, die ich so dringend nötig habe."
"Eeeveeee!", quiekte ich panisch und wurde puterrot - ein Zustand, in dem ich mich anscheinend ständig befand in letzter Zeit. Julie, immer ruhig und gelassen, verdrehte die Augen angesichts Eve's Kommentar und nippte an ihrem Kaffee.
"Dazu wird es gar nicht erst kommen, weil ich heute Abend wahrscheinlich eh im Krankenhaus lande", verriet ich den Dreien entmutigt, als ich wieder an die Location unserer Verabredung dachte - die Eishalle.
"Warum das denn?", fragten Martha und Eve synchron und sahen mich verständnislos an.
"Schlittschuh laufen", erwiderte ich knapp und stieß einen tiefen Seufzer aus, während Julie mir eine Tasse Tee reichte, die ich dankbar entgegennahm. Der heiße Dampf, der aufstieg und der zarte Geruch nach Pfefferminze war schon so viel tröstender.
Meine drei Kolleginnen sahen mich entgeistert an.
"Das kann ja nur schief gehen", kommentierte Eve schließlich trocken und Martha fügte vorsichtig hinzu: "Ihr kennt euch wohl noch nicht so lange, oder?"
Sie hatte es mal wieder auf den Punkt gebracht.
"Genauer gesagt gar nicht. Er war derjenige, der wegen des Einbruchs zu mir geschickt wurde und als ich am Dienstag da war, also auf dem Revier, um irgendeinen Wisch auszufüllen, na ja... da hat er mich halt gefragt...", stammelte ich, vor meinem Inneren Auge spielte sich die Szene noch einmal ab.
"Ist das süüüüüüß", quietschte Eve und hüpfte hibbelig um mich herum, mich an den Schultern festhaltend, sodass ich mich mit ihr im Kreis drehte.
"Sieht er wenigstens gut aus?"
Wenn sie wüsste... auf meinem Gesicht breitete sich ein unkontrolliertes Grinsen aus, das sich selbstständig gemacht zu haben schien und sich nicht mehr wegwischen ließ.
Eve grinste zurück. "So gut also, ja?"


Ein unsicheres, grün-graues Augenpaar starrte zurück, als ich einen Blick in den Spiegel warf.
Ich betrachtete meine hellbraunen Haare, von denen ich mich entschlossen hatte, sie offen zu lassen, und mein Blick wanderte nach unten, über den dunkelroten Pullover, die blauen Jeans und meine blau-weiß gestreiften Socken.
Da ich mich "warm anziehen" sollte, ließ das glücklicherweise nicht viel Spielraum für ein raffiniertes, verführerisches Outfit, bei dessen Zusammenstellung ich sowieso kläglich versagt hätte. Es war Ende März und noch relativ kalt draußen. Und in der Eishalle herrschten ja sowieso Minustemperaturen. Glaubte ich zumindest.
Mit meinen 1,64 Metern war ich nicht unbedingt die Größte im Lande, aber so schlimm fand ich das gar nicht. Von meinem Bruder, der sich auf seine Größe ganz offensichtlich etwas einbildete, musste ich mir zwar ständig Witze darüber anhören, aber den sah ich ja zum Glück nicht so oft.
Ich warf noch mal einen letzten Blick in den Spiegel. Erst letzten Monat war ich beim Friseur gewesen und meine Haare sahen noch einigermaßen vorzeigbar aus. Vorne etwas kürzer, bis zum Kinn etwa, und nach hinten hin wurden sie bis zu den Schulterblättern immer länger.
Ich wagte es, kurz zur Uhr herüberzusehen. 19:38 Uhr. Noch 22 Minuten. Falls er überhaupt auftauchen würde... Für alle Fälle hatte ich das Abendessen sausen lassen, denn wenn ich gedacht hatte, dass mein Magen heute morgen Saltos schlug, dann hatte ich mich da gehörig getäuscht. Das war nichts gewesen im Vergleich zu jetzt. Wie sollte ich das nur aushalten?
Ich war nervös wie selten zuvor und ich musste mich wirklich mit aller Kraft davon abhalten, nicht an meinen Fingernägeln zu kauen.
Vollkommen fertig angezogen setzte ich mich auf die Kante meines Bettes und faltete die Hände im Schoß zusammen, sodass ich nicht in Versuchung kam, mit ihnen irgendeinen Unsinn anzustellen.
Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, in der Hoffnung, mich dadurch beruhigen zu können und fragte mich gerade, wie schnell wohl mein Herz schlug, als das Telefon unangekündigt klingelte und ich zusammenschreckte, als hätte mir jemand eine Tarantel zugeschmissen.
Mein erster Gedanke war, er rief an, um abzusagen. Mein zweiter, dass er meine Telefonnummer ja gar nicht kannte.
Mit zitternden Finger griff ich nach dem Hörer.
"Ja...?"
"Emiiiily!", ertönte eine mir sehr wohlbekannte Stimme und ich entspannte mich augenblicklich, setzte mich erleichtert wieder auf die Bettkante. Es war Joanna, meine beste Freundin, die Weltenbummlerin. Momentaner Aufenthaltsort: Südafrika.
"Jo", japste ich atemlos und wollte ihr sofort alles erzählen, was in der Zwischenzeit vorgefallen war, doch ich schluckte das Verlangen runter und fragte stattdessen: "Wie geht's dir?"
Jo rief sehr selten an, diesen Monat war das erst ihr zweiter Anruf, weil sie viel zu tun hatte und andererseits gab es auch nicht immer eine Möglichkeit, ins Ausland zu telefonieren. Außerdem musste sie sich ihre Gelegenheiten auch noch aufteilen auf ihre Eltern und ihren Freund.
"Gut wie immer", kam es prompt aus dem Hörer. Sie hörte sich fröhlich an und ich glaubte ihr auf’s Wort. Joanna war der Typ Mensch, der aus jedem noch so schlimmen Umstand etwas Gutes herausfiltern konnte und nie den Kopf in den Sand steckte. "Und wie geht es dir? Du hörst dich ganz schön fertig an", lachte sie. Ihre Stimme war leise und kam von weit, weit weg.
"Auch gut", erklärte ich niedergeschlagen und bedachte die Uhr mit einem weiteren, vorwurfsvollen Blick. 19:43 Uhr.
"Erzähl schon, was los ist." Sie glaubte mir natürlich kein Wort. Kein Wunder, so wie ich mich anhörte.
Ich beschloss, sie vor die Wahl zu stellen, denn wir hatten nicht mehr viel Zeit.
"Willst du lieber die Geschichte hören, wie jemand meine Wohnung aufgebrochen und mich beraubt hat, oder doch lieber die von dem Polizisten, mit dem ich heute Abend verabredet bin?", schlug ich ihr vor, in der Hoffnung, sie würde das richtige Thema auswählen.
Sie dachte einen kurzen Moment lang nach. "Ist dir was passiert?"
"Nein."
"Dann die vom Polizisten", entschied sie und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Ich erzählte ihr die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, wodurch ich auch das ganze Fiasko mit dem Einbruch erläuterte. Als ich fertig war, kicherte meine Freundin und ich konnte an ihrer Stimme hören, wie sie übers ganze Gesicht strahlte.
"Das ist super", freute sie sich. "Ihr werdet sicher Spaß haben und er klingt nach einem sehr netten Kerl. Also, mach das Beste draus!"
"Ja, aber...", wollte ich Widerspruch einlegen, doch sie kam mir zuvor.
"Kein aber, Em", maßregelte sie mich. "Nach Tom, dem Arschloch, brauchst du endlich mal wieder ein bisschen Abwechslung, also ran an den Speck!"
Schon wieder dieses Wort: Abwechslung. Ich fragte mich, ob das ein bestimmter, allgemein bekannter Geheimcode war, den alle Frauen verwendeten?
"Es ist nur...", stammelte ich nicht sehr überzeugt, "was soll ich ihm nur sagen? Worüber soll ich mit ihm reden? Was ist, wenn er mich nicht mag?"
Jo schwieg am anderen Ende der Leitung.
"Du bist doch sonst nicht sooo schüchtern", stellte sie dann verwundert fest.
Ich versuchte, mich zu verteidigen, obwohl ich auch nicht wusste, weshalb ich schon allein bei dem Gedanken an ihn - Sean - so schwach wurde. "Das ist anders", erwiderte ich, leicht unsicher, was denn GENAU anders war.
"Oooh, verstehe", entgegnete Jo bedeutungsschwer und lachte vergnügt. "Du bist verliiiebt!"
Ich schnappte nach Luft. "Das bin ich nicht!"
"Doch, doch! Du magst ihn, keine Widerworte! Und das erst nachdem du ihn zwei Mal gesehen hast... also das nenn ich mal Liebe auf den ersten Blick, uh làlà!"
Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich glatt sagen, dass sie mich verhöhnte. Die Wahrheit war aber: so war Jo nun mal.
Mit einem hochroten Kopf stotterte ich irgendwelche Rechtfertigungen in den Hörer, doch sie ließ mich kaum noch zu Wort kommen.
"Hör zu, ich muss Schluss machen. Ich bin sicher, du kommst klar. Ich rufe dich demnächst noch mal an. Es dauert nicht so lange wie dieses Mal, versprochen. Ich muss doch wissen, wie das Ganze ausgegangen ist!"
Ich schaute auf die Uhr. Noch sechs Minuten.
"Jo, ich... das wird eine Katastrophe!", klagte ich weinerlich und umklammerte den Telefonhörer, als könnte er mir besseren Halt geben. Als wäre ich dadurch meiner besten Freundin näher.
"Das wird es nicht", sagte Joanna bestimmt, streng und fügte dann sanfter hinzu: "Ihr werdet viel Spaß haben."
Wenn ich nur halbwegs so überzeugt wäre wie sie!
"Bis ganz bald und ich hoffe, du hast dir ein paar hübsche Dessous besorgt!", rief sie noch einmal lachend und als ich entsetzt den Mund aufmachte, um darauf etwas zu erwidern, klickte es bereits in der Leitung und alles, was ich nun hörte, war das Besetzt-Zeichen.
Seufzend ließ ich den Hörer sinken und legte das Telefon beiseite.
Ein angsterfüllter Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich nur noch drei Minuten hatte.
Ich setzte mich wieder auf die Kante meines Bettes und wartete.

20:06: Er war nicht da! Er würde auch nicht mehr auftauchen! Er hatte mich versetzt. Ich saß hier angezogen und vollkommen eingehüllt in meine Dummheit, meine freudige, fiebrige Erwartung, naive Hoffnung, und er hatte mich versetzt! Das war doch klar gewesen, redete ich mir ein und versuchte, die Enttäuschung nicht zu sehr an mich herankommen zu lassen.
Warum sollte sich so jemand wie ER - durch und durch perfekt, selbstsicher, gutaussehend und einfach... haach! - für mich - unbedeutend, klein und alles andere als besonders - interessieren?
Wahrscheinlich war das alles nur ein gelungener Spaß von ihm... wahrscheinlich saß er gerade mit seinen Freunden bei einem kühlen Bier und sie amüsierten sich prächtig über die Art und Weise, wie er mich verunsichert, mich umgehauen hatte... Ich war eben ein leichtes Opfer...
Noch mitten in meinem Selbstmitleid versunken, klingelte es an der Tür.
Erschrocken sprang ich auf, hin und hergerissen zwischen kindlicher Hoffnung und absoluter Ungläubigkeit. Vielleicht war er es gar nicht, sagte ich mir, aber vielleicht ja doch!
Schwungvoll riss ich die Tür und war ehrlich überrascht, ihn dort anzutreffen.
Mein erstaunter Blick traf den seinen. Er musterte mich ebenso überrascht, hatte ich doch wie ein Berserker die Tür aufgeschlagen, als ginge es um Leben und Tod.
"Guten Abend", sagte er freundlich, mich höflich anlächelnd, als ich immer noch dastand und ihn aus großen Augen anstarrte. Er hatte eine helle Jeans und einen dunkelbraunen Pullover mit einem kleinen V-Ausschnit an, der locker anlag und ihm sehr gut stand. Darunter trug er ein gestreiftes, helles Hemd, das unter dem Pullover hervorlugte. Den Hemdkragen trug er jedoch unter dem Sweater. Sein dunkelblondes Haar, weich und perfekt durcheinander, lud geradezu ein, ihm mit gespreizten Fingern hindurchzufahren und noch ganz andere Sachen anzustellen...
Ich räusperte mich kurz, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen, und seufzte erleichtert: "Sie sind ja tatsächlich gekommen."
Das schien ihn ein wenig zu verwirren, denn er runzelte fast unmerklich die Stirn und warf mir einen fragenden Blick zu.
"Aber natürlich", bestätigte er etwas verblüfft und verzichtete zum Glück darauf, expliziter auf meine Aussage einzugehen. "Sind Sie soweit?"
"Äh, ja, na klar", stammelte ich und zwang mich, sich von seinem Anblick loszureißen. Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe, riss meine Jacke mit solch einer Heftigkeit vom Haken, dass der Garderobenschrank bedenklich schwankte und schloss die Tür hinter mir gründlich ab.
Er schwenkte die Eingangstür auf und wartete, bis ich hindurchgegangen war. Dann folgte ich ihm schweigend und mich sichtlich unwohl in meiner Haut fühlend zu seinem Wagen.
Es war ein Rover - das konnte ich aber auch nur erkennen, weil ich es ablas, denn ich kannte mich mit Autos kein Stück weit aus.
Was ich allerdings wusste, war folgendes: dieser Wagen war schwarz, hatte vier Türen, einen Kofferraum und eine Motorhaube. Er sah stinknormal aus - wie jeder andere Wagen auch.
"Wie geht es Ihnen heute?", fragte er höflich, trat dabei an die Beifahrertür und steckte den Schlüssel hinein.
"Ganz gut...", nickte ich nervös. "Und Ihnen?"
Mit einem leisen Summen wurde das Auto entriegelt. Ganz selbstverständlich öffnete er die Beifahrertür und lächelte, um mir zu signalisieren, ich sollte einsteigen.
Ziemlich geschmeichelt - Tom hatte mir nie die Türen geöffnet und demnach war das vollkommen neues Terrain für mich - erwiderte ich unwillkürlich sein Lächeln und stieg ein.
"Auch gut", antwortete er, als er neben mir auf dem Fahrersitz Platz nahm und den Motor startete.

Die kurze Fahrt zur Eishalle zog sich ewig hin und das Gespräch kam nicht richtig in Gang. Er stellte zwar hin und wieder eine Frage, jedoch war ich, vollkommen mit den Nerven fertig, in meinen Antworten so unkreativ und beschränkt, dass ich immer wieder nur kurze, teilweise unzusammenhängende Sätze stammelte, die nicht wirklich Anlass zu einem Gespräch boten.
Je schlechter es lief, desto unruhiger und unsicherer wurde ich. Er hielt mich wahrscheinlich für eine langweilige Tussi, die nicht mal einen ganzen Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt formulieren konnte, geschweige denn, eine normal-intelligente Unterhaltung zwischen zwei Menschen führen. Jedoch musste man ihm zu Gute halten, dass er sich das alles nicht anmerken ließ und sehr freundlich blieb.

In der Eishalle angekommen parkte er den Wagen und ich folgte ihm mit einem flauen Gefühl im Magen hinein, das sich noch verstärkte, als mein Blick auf die beeindruckende Menschenmasse fiel, die sich da dicht an dicht auf der Eisfläche tummelte.
Oh Gott. Das würde ein Todeskampf werden, schoss es mir panisch durch den Kopf.
Während ich hinter der Absperrung stand und fasziniert, in Erwatung meines baldigen Ablebens, die Selbstmörder auf dem Eis betrachtete, hatte Sean sich abgekapselt, um den Eintritt zu bezahlen und die Schlittschuhe zu leihen.
Zuvor hatte er mich nach meiner Schuhgröße gefragt - 38 - und ich hatte ihm angeboten, selbst zu bezahlen, doch er hatte mich nur angelächelt und behauptet, das würde er als persönliche Beleidigung auffassen.
"Wollen wir?", holte er mich aus meinen Gedanken, als er wieder neben mich trat, legte mir behutsam die Hand auf den Rücken und schob mich in Richtung Bänke, auf denen wir dann unsere Schuhe gegen die Killerhacken eintauschten.
Misstrauisch betrachtete ich meine Füße und überlegte, ob sie mich wohl noch immer noch tragen würden, wenn ich mich jetzt erhob, aber Sean lenkte mich wieder ab, als er aufstand und zu mir herunterblickte.
"Sind Sie schon einmal Schlittschuh gefahren?"
Ich richtete mich ebenfalls auf und stand nun auf etwas wackligen Beinen. Während ich ihm hinterher stakste - geradewegs in mein Verderben hinein - erzählte ich: "Ja... aber das ist schon zu lange her..." Sechs Jahre, um ehrlich zu sein, aber davon sagte ich ihm nichts. Ich war 15 und irgendwer hatte vorgeschlagen, doch in den Winterferien Eislaufen zu gehen.
Den Rest kann man sich ja denken - wer mit einem angeknacksten Knöchel in der Notaufnahme landete, brauche ich hier wohl kaum zu erwähnen.
"Bei mir auch", stimmte er mir fröhlich zu und glitt elegant auf die Eisfläche, geradezu so, als würde er hier jeden Tag drei Stunden verbringen.
Argwöhnisch schaute ich das Eis an und dann ihn.
"Kommen Sie nur", sagte er freundlich und streckte mir seine Hand hin, die ich ein paar Sekunden lang verblüfft anstarrte. Dann gab ich mir einen Ruck und ergriff sie. Sie war etwas rau, im Gegensatz zu meiner cremeverwöhnten eigenen, und angenehm warm.
Ich war mir sicher, dass mein Gesicht geradezu astronomisch schnell eine gesündere Färbung annahm, aber andererseits war es hier drin kalt und ich war bei weitem nicht die Einzige mit rosa Wangen. Wobei mir die rote Nase zum Glück erspart blieb - noch.
Ich wagte einen Schritt auf das Eis und spürte, wie er seinen Griff verstärkte, als ich ein wenig wankte. Dann befand sich auch sogleich mein zweites Bein auf der glatten Fläche und zusätzlich hielt ich mich am Geländer fest.
Puh, geschafft.
"Ganz schön rutschig, was?", lachte Sean und ließ seinen Blick in der Halle schweifen. Ich nickte. Zu rutschig für meinen Geschmack.
Er sah mich wieder an und zögerte. "Wollen Sie... alleine fahren oder...?" Er deutet mit einem vagen Kopfnicken zu unseren Händen und ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen, aber ich verstand ihn auch so.
"Bloß nicht!", japste ich geschockt und mit aufgerissenen Augen, bis mir wieder klar wurde, wie das wahrscheinlich bei ihm angekommen war.
"Ich meine, ich wollte sagen, dass... ich bin nicht sicher, ob ich hier lebend rauskomme", gestand ich ihm peinlich berührt ein und schaute weg. Als ich ihn wieder ansah, lächelte er verständnisvoll und drückte meine Hand.
"Ja, es ist ziemlich voll, nicht wahr?", sagte er im Plauderton, als hätte das irgendetwas mit meiner Aussage eben zu tun. Verwirrt nickte ich, und da hatte er sich schon in Bewegung gesetzt und zog mich mit sich.
Wankend stolperte ich hinter ihm her, im Begriff, sofort auf die Nase zu fliegen, doch er packte mich am Ellbogen und ich schaffte es, mein Gleichgewicht zu halten.
"Langsam", verlangte ich atemlos, ganz bleich im Gesicht.
Vorsichtig probierte ich aus, wie weit ich kam und nach kurzer Zeit schaffte ich es tatsächlich, einige Meter zu fahren, ohne auch nur in die Versuchung zu kommen, den Boden zu küssen.
Begeistert strahlte ich ihn an. "Das funktioniert ja tatsächlich."
Er musste über meinen Miene lachen. "Aber sicher tut es das. Kommen Sie, jetzt schneller", sagte er aufmunternd und zog mich wieder mit. Langsam konnte ich mich seinem Tempo anpassen und wenn ich hin und wieder stolperte, hielt er mich mit eisernem Griff davon ab, auf Konfrontationskurs mit dem Eis unter meinen Schlittschuhen zu gehen. Außerdem fuhren wir auch immer in der Nähe der Absperrung, wo sich meistens nur Kinder aufhielten, was ich sehr süß von ihm fand.
"Sagen Sie, Emily", sagte er dann nach einer Weile und schaute mich an, was mir ein bisschen Sorgen bereitete, weil das bedeutete, er sah nicht mehr geradeaus, "was machen Sie eigentlich beruflich?"
"Ich, äh... oh!" Ich hielt erschrocken die Luft an, als uns ein fahrendes Geschoss mit Pudelmütze kreuzte. "Ich arbeite im Kindergarten", antwortete ich schließlich etwas verlegen. So ein Beruf musste ihm sicherlich total läppisch und lächerlich vorkommen, wo er doch Polizist war.
"Oh, wirklich?", wollte er interessiert wissen. "Mögen Sie Kinder?"
"Aber sicher", ereiferte ich mich verzückt. Das war endlich ein Thema mit dem ich wohl fühlte. "Später will ich mindestens drei oder vier haben!"
Sofort biss ich mir auf die Unterlippe. So was war doch nichts, was man einem Mann erzählte, schon gar nicht, wenn er einem gefiel und das bei der ersten Verabredung! Selbst ich wusste, dass so etwas die Männer nur verschreckte, aber anscheinend hatte ich nicht nachgedacht und nun hatte ich den Salat. Wenn ihn nicht diese Verabredung zur Strecke bringen würde, dann war das sicherlich dieser äußerst intelligente Satz von mir gewesen. Klasse gemacht.
Ich wagte einen Blick zu ihm hin und er lächelte nachsichtig.
"Kommen Sie aus einer großen Familie?", hakte er nach.
Ich schüttelte den Kopf. Es war klar, dass er das Thema so schnell wie möglich wechseln wollte. "Ich habe nur einen Bruder", erklärte ich ihm ein bisschen resigniert. Aber über den wollte ich jetzt auch nicht reden...
"Oh, wirklich. Ich habe zwei Schwestern", informierte er mich. "Eine Ältere und eine Jüngere."
"Das muss hart gewesen sein", sagte ich mitfühlend. Als einziger Junge in der Familie und dann noch ein Sandwichkind. Östrogen-Overkill mal zwei.
"Sie sind eigentlich ganz nett. Zumindest, seitdem sie... oder besser gesagt, wir alle, aus der Pubertät raus sind." Er grinste und ich musste lächeln. In der Pubertät waren die meisten unausstehlich - siehe mein Bruder - deshalb war es ein großes Glück, dass die Kinder im Kindergarten alle zwischen drei und sechs waren. Das größte Problem, dass es dort gab, war, wenn Benny Cecily's Puppe mal wieder die Haare schneiden wollte oder Anna und Louisa sich darum zofften, wer von ihnen mit den Bauklötzen spielen durfte.
"Das kann ich mir gut vorstellen", pflichtete ich ihm bei, um die Konversation am Laufen zu halten, und erzählte ihm noch ganz nebenbei von den Missetaten meines jüngeren Bruders während seiner Pubertätsphase - aus der er meiner Meinung nach noch immer nicht rausgewachsen ist.
"Haben Sie sich eigentlich schon von dem Schock erholt?", wollte er wissen und spielte damit auf den Einbruch an, den ich nur allzu gerne verdrängte - vielleicht spielte er aber auch darauf an, dass er mich auf meine herumliegende Unterwäsche aufmerksam gemacht hatte, was kein geringerer Schock war, und eine neue Ladung Blut wurde direkt in mein Gesicht gepumpt.
"Ja, ein bisschen...", antwortete ich ausweichend, zögernd, doch ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen, denn er erklärte mir, dass er das sehr gut verstehen könnte und dass seine Familie, als er noch ein Kind war, auch so etwas durchlebt hatte. Allerdings waren sie im Urlaub gewesen und haben den Überfall erst bei der Rückkehr, mehrere Tage später, bemerkt.
"Ich konnte nächtelang nicht mehr schlafen", schmunzelte er erinnerungsselig. "Damals war ich neun gewesen."
Ich lächelte unwillkürlich - das war irgendwie recht süß von ihm, so etwas einzugestehen.
"Es ist schrecklich, wenn in den privaten Sachen herumgeschnüffelt wird, ohne, dass man etwas dagegen machen kann", beklagte ich mich. Ich fühlte mich ehrlich gesagt etwas missbraucht, aber Martha hatte mir erklärt, es wäre ganz normal, so zu empfinden. Das waren die "Folgeschäden", wie sie immer sagte und Julie hatte mich noch am selben Tag nach Hause geschickt. Ich glaube auch, Eve hat etwas von "Therapie" gemurmelt, aber so genau konnte ich das nicht sagen und Eve redete sowieso viel, wenn der Tag lang war.

Er erzählte mir ein paar weiterer solcher Geschichten, während wir weiter ruhig unsere Runde drehten, und nach einiger Zeit stellte ich überrascht fest, dass ich mich tatsächlich so weit entspannt hatte und mich in seiner Gegenwart sehr wohl fühlte. Er hatte so eine beruhigende Wirkung auf mich, was nicht letztendlich daran lag, dass er noch immer meine Hand hielt und mich vor dem ein oder anderen Unfall bewahrte.
Er sprach sehr ruhig, ganz ohne jede Verächtlichkeit in seiner Stimme, egal, was ich sagte, und hörte aufmerksam zu, stellte hin und wieder eine Frage und ich fühlte mich, wie im siebten Himmel. Irgendwie hatte er es geschafft, meine Nervosität auszuschalten und mich in wundervolles Wohlbefinden zu lullen, aus dem ich nur ungern wieder herausgeholt werden wollte.
Der Fahrtwind wehte meine Haare zurück und ich wurde immer übermütiger und sicherer auf dem Eis, sodass er mich irgendwann fragte, ob ich es nicht mal allein versuchen wollte.
Ich nickte begeistert. Das war die Chance für mich, zu beweisen, dass ich doch nicht so eine Versagerin auf diesem Gebiet war, wie man bis dahin vielleicht annehmen könnte.
Wir holten Schwung und er lächelte mir aufmunternd zu, bevor er meine Hand losließ.
In vollem Tempo flog ich durch die Lüfte, zumindest kam es mir so vor, und fühlte mich wieder ein Stück weit sicherer und selbstständiger allein.
Meine Euphorie hielt allerdings nicht lange an, denn plötzlich schnitt mich ein Jugendlicher von links. Er entwischte mir noch gerade so, kurz bevor ich ihn fast umgefahren hätte, aber die Aktion hatte mich so erschrocken und aus dem Konzept gebracht, dass ich das Gleichgewicht verlor und gefährlich wankte. Irgendwo dicht hinter mir hörte ich ein lautes, sorgenvolles "Emily!", als ich gerade die Absperrung nur einige Meter vor mir erblickte.
Erleichtert schlitterte ich schwankend darauf zu, streckte die Hände nach ihr aus, hatte jedoch nicht meine Geschwindigkeit mit eingerechnet.
Es kam, wie es kommen musste: ich bretterte mit vollem Tempo gegen das Geländer, aber anstatt mich daran zu klammern, prallte ich heftig ab und merkte, wie ich rücklings stürzte. Im Fallen gelang es mir zwar, mich noch schnell auf die Seite zu drehen, um meinen Sturz mit den Armen abzufangen, jedoch war auch das nicht gerade von Erfolg gekrönt.
Ich fiel genau auf meinen rechten Arm und schlug anschließend noch mit der Schläfe hart auf dem Eis auf.
Irgendwie kam mir das Ganze recht unwirklich vor und erschöpft blieb ich erst einmal einen Moment lang liegen, die Augen fest zusammengekniffen. Mein Kopf dröhnte.
War das eben wirklich passiert? Vielleicht war ich ja nur aus dem Bett gefallen...?
Sean war auf der Stelle bei mir, kniete sich nieder und versuchte, mir aufzuhelfen.
In seinen Augen spiegelte sich ehrliche Sorge wider und er zog mich sachte hoch und führte mich sicher zu den Bänken, während ein paar Schaulustige sich um uns herum versammelt hatten und die Show sichtlich genossen.
"Alles in Ordnung, tut Ihnen etwas weh?", wollte er wissen und drückte mich mit sanfter Gewalt auf die Bank, bevor er mich einer genauen Musterung unterzog.
Meine rechte Hand schmerzte höllisch, mein Kopf fühlte sich ein bisschen lädiert an.
"Es geht schon", krächzte ich niedergeschlagen, als mir wieder einmal bewusst wurde, wie peinlich ich mich verhalten hatte. Das konnte auch nur mir passieren. Und dann ausrechnet in seiner Anwesenheit. Das war sicherlich nichts anderes als Murphy's Gesetz: "Alles, was schief gehen kann, wird auch schief gehen." Es bestimmte mein ganzes Leben.
Um mich nicht sofort mit ihm auseinander setzen zu müssen, hob ich meine Hand und betrachtete sie eingehend und wackelte höchst konzentriert mit ein paar Fingern. Alles schien noch zu funktionieren, also war sie nicht gebrochen. Zum Glück!
"Die Hand, hm?", wollte Sean wissen und nahm meine schmerzende Hand in seine, drehte sie ein bisschen herum, um sie sich genauer anzusehen. "Tut's sehr weh? Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?", fragte er sehr mitfühlend und sah mich ernst an.
Ich schüttelte schnell den Kopf. Nur das nicht!
"Halb so schlimm." Ich zwang mich zu einem gequälten Lächeln. Er schien zwar nicht überzeugt, bestand aber auch zum Glück nicht darauf.
Stattdessen beugte er sich zu mir herunter und legte die Stirn in Falten, beäugte mich äußerst skeptisch.
"Ich muss kurz zum Auto. Bin gleich wieder bei Ihnen, in Ordnung?"
Ich nickte benommen und schaute zu, wie er mit Leichtigkeit aus seinen Schlittschuhen schlüpfte und seine blau-gestreift-besockten Füße sogleich in seine Schuhe steckte.
Dann verschwand er aus meinem Sichtfeld.
In meinem Kopf hämmerte ein tauber Schmerz, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste, und meine Hand schmerzte fürchterlich. Ich betrachtete sie eingehend, doch kein einziger Kratzer war zu sehen und alle Finger waren auch noch dran.
Ich machte mich daran, auch meine Füße aus den unbequemen, unglücksseligen Schlittschuhen zu schälen. Gerade schnürte ich meinen zweiten Sneaker zu, als Sean wieder auftauchte.
Ohne etwas zu sagen ging er vor mir in die Hocke. Selbst im kauernden Zustand war er immer noch einige Zentimeter größer als ich, die ich auf der niedrigen Bank Platz genommen hatte.
Verwundert blickte ich ihn an. Was sollte das werden?
Er öffnete seine Hand und zeigte mir, was er aus dem Auto geholt hatte: ein Pflaster. Ich betrachtete es verstört.
"Sie... bluten da ein wenig an der Stirn", erklärte er in einem beruhigenden Tonfall - wahrscheinlich, um eine hysterische Reaktion meinerseits zu vermeiden.
"Oh", war meine äußerst geistreiche Antwort darauf.
Dass er hier so besorgt vor mir kniete und mir so nah war, brachte mich ein bisschen aus dem Konzept.
Ich musste mich dringend auf andere Gedanken bringen.
"Schleppen Sie immer eine halbe Apotheke mit sich herum?", wollte ich skeptisch wissen und brachte ihn damit zum Lachen.
"Ein Pflaster ist für Sie schon eine halbe Apotheke?", lautete seine amüsierte Gegenfrage.
Nun, für mich traf das jedenfalls zu.
Nichts ging bei mir so schnell weg, wie diese kleinen, hilfreichen Dinger... Wie warme Semmeln beim Bäcker.
Aber das konnte er ja schlecht wissen - obwohl, spätestens jetzt vermutlich schon...

Er strich mir mit seiner Hand behutsam eine Haarsträhne aus der Stirn. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine Berührung elektrisierte mich augenblicklich. Meine Atmung ging flacher, ich wagte es kaum noch, mich zu bewegen.
Er klebte das Pflaster auf meine verletzte Stirn, während ich ihn unverhohlen anstarrte und schließlich einen ziemlich roten Kopf bekam, als mir das bewusst wurde.
Obwohl um uns herum nur ohrenbetäubender Lärm herrschte, kam er nur gedämpft zu mir herüber. Sean war der Einzige, den ich in diesem Moment wahrnahm, es war, als wären nur wir zwei hier. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als er einen kurzen Moment lang meinen Blick hielt und mir in die Augen sah. Es hatte sich eine Art intime Atmosphäre zwischen uns aufgebaut und mir wurde seine körperliche Anwesenheit, dass er hier so bereitwillig vor mir kniete, mit einem Mal schmerzlich, stark, bewusst. Meine Nervosität meldete sich wieder und war noch stärker als zuvor, ganz so, als wollte sie mir sämtliche Luft zum Atmen rauben. Vielleicht war es aber nur er, in seiner ganzen glanzvollen Erscheinung, der mich so aus der Fassung brachte...
"So, jetzt sind Sie wie neu", lächelte er, strich das Pflaster noch einmal glatt. Dann nahm er seine Hand, mit der er mir immer noch die Haarsträhne aus dem Gesicht hielt, wieder weg und sie fiel mir erneut in die Stirn.
"Ich sehe bestimmt aus wie ein Idiot...", sagte ich verlegen und wich seinem freundlichen Blick aus, der immer noch aufmerksam auf mir ruhte.
"So ein Unsinn", widersprach er und lächelte mir wieder aufmunternd zu. "Pflaster stehen Ihnen unheimlich gut", neckte er mich.
Das überraschte mich nicht. Wundschutzpflaster und ich, wir hatten eine Art symbiotische Beziehung zueinander. Ich konnte nicht ohne sie und sie konnten ganz offensichtlich auch nicht ohne mich. Wahrscheinlich hatte die Pflasterindustrie die Hälfte ihres Umsatzes mir zu verdanken.
Sean zwinkert mir grinsend zu und fügte leiser hinzu: "Sie sehen bezaubernd aus."
Das kam unerwartet.
Ich wurde noch verlegener und meine Wangen begannen zu glühen. Noch nie hatte mich jemand "bezaubernd" genannt, schon gar nicht mir einem lädierten, pflasterbeklebten Gesicht...
Bevor ich mich stotternd für das Kompliment bedanken konnte, erhob er sich.
"Ich bringe Sie besser mal nach Hause." Er sammelte geschäftig unsere Sachen ein, sodass ich Zeit hatte, seine Freundlichkeit zu verdauen und mich ein bisschen zu sammeln.
"Eigentlich wollte ich Sie ja noch zum Abendessen ausführen", gab er zu und hängte sich seine Jacke über den Arm. "Aber ich fürchte, das ist keine gute Idee mehr." Er deutete mit einem besorgten Kopfnicken auf meine schmerzende Hand. "Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht ins Krankenhaus bringen soll?"
Ich schüttelte bestimmt den Kopf. Alles, bloß kein weiterer Besuch im Krankenhaus.
"Es geht schon, danke", lehnte ich höflich ab. Ob er wohl die Panik in meinen Augen bemerkt hatte? Es gab nicht Schlimmeres als Krankenhäuser. Und ich wäre so gerne noch mit ihm Essen gegangen... Aber die Kopfschmerzen brachten mich fast um und mit meiner Pflastervisage konnte ich mich unmöglich irgendwo blicken lassen, schon gar nicht in einem Restaurant...
"In Ordnung", sagte er nicht ohne Zweifel und warf mir noch einen prüfenden Blick zu. Ich stand auf, nahm meine Jacke von der Bank und wollte gerade nach den Schlittschuhen greifen, als er mir zuvorkam.
"Die nehme ich", lächelte er.

Ich wartete an der Tür, während er die Schlittschuhe zurückgab und als er wiederkam, hielt er mir in aller Selbstverständlichkeit wieder die Tür auf, damit ich hindurchgehen konnte.
Auf dem Parkplatz holte er seine Autoschlüssel heraus und wollte gerade aufschließen, als er plötzlich innehielt und entgeistert die Straße hinauf starrte.
Verunsichert folgte ich seinem Blick, konnte jedoch nichts Auffälliges erkennen.
Er runzelte die Stirn und schüttelte anschließend den Kopf.
"Es ist nicht", sagte er mehr zu sich als zu mir, als ich ihn mit einem fragenden Blick bedachte. "Ich dachte nur... aber es war nichts."
Er schloss das Auto auf der Beifahrerseite auf und hielt mir wieder mal gekonnt die Tür auf. Ziemlich geschmeichelt lächelte ich ihn dankbar an und stieg ein, während er schnell herumkam, um neben mir am Steuer Platz zu nehmen.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst halb 10 Uhr war. Ein neuer Tiefpunkt in meinem Liebesleben. Wessen erste Verabredung mit einem unwiderstehlichen Mann dauerte nur knapp eine Stunde und 30 Minuten, wenn nicht meine? Deprimiert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken und starrte trübselig aus dem Seitenfenster.
Er warf mir an einer roten Ampel einen kurzen Blick zu.
"Es tut mir leid."
Ich schaute überrascht auf. "Was denn?"
"Ich hätte Sie an einen weniger gefährlichen Ort bringen sollen", entschuldigte er sich geknickt. "Das ist meine Schuld. Und nun sind Sie verletzt."
Ich riss die Augen auf. "Aber nein", widersprach ich ihm heftig und fuchtelte wild mit den Händen, während ich gleichzeitig den Kopf schüttelte. "So was passiert mir ständig, wirklich", beteuerte ich. "Das hier ist noch gar nichts!" Ich lachte nervös.
Perfekt, Emily. Nur weiter so, schieß schön weiter deine Eigentore und erzähl ihm von deinen anderen Unzulänglichkeiten, schimpfte ich mich in Gedanken, als mir klar wurde, dass ich mal wieder meinen Mund nicht hatte halten können.
Ich ließ schnell den Kopf sinken und traute mich nicht, ihn anzusehen. Das war sicherlich nicht klug, die Bandbreite meiner Fehler und Schwächen schon nach nur einer Stunde vor dem wundervollsten, höflichsten Mann auf der Welt auszuwalzen.
"Ach ja?" Er klang amüsiert. "Das glaub' ich Ihnen auf's Wort."

Er hielt in meiner Straße, unweit meiner Wohnung, und wir stiegen aus. Mein Herz begann wild gegen meine Brust zu hämmern, denn meine einzige Chance, zu verhindern, dass er - ER - jetzt gleich vielleicht für immer aus meinem Leben verschwinden würde, war, ihn auf einen Kaffee einzuladen.
Das einzige Problem war, dass "Kaffee" ein allseits bekannter Code für "Sex" war und diesen Eindruck wollte ich ganz sicher nicht bei ihm hinterlassen.
Ich legte es auch nicht darauf an, ehrlich nicht, jedoch fürchtete ich, dass, ob ich nun das Wort "Kaffee" durch ein anderes Getränk ersetzte oder nicht, das nichts an der allgemeingültigen Regel der Codierung ändern würde. Mal ganz zu schwiegen von der Angst, dass er ablehnen würde.
Denn ob er nun davon ausging, ich wollte ihm nur etwas zu trinken anbieten oder ihn gar mich selbst anbieten, würde ein "nein" doch nichts anderes bedeuten, als dass er nicht mit mir zusammen sein wollte. Weder für die Dauer eines Wasser, noch für die Dauer eines... nun ja, lassen wir das...
Und das wäre sicherlich alles andere als schmeichelhaft.
Noch ganz vertieft in meine fiebrigen Gedanken und die Überlegung, ob mein ohnehin bereits angeknackstes Selbstwertgefühl ein "nein" verkraften konnte, bemerkte ich gar nicht, wie wir bereits vor meiner Tür standen. Ich mit dem Rücken zur Tür, er mir gegenüber, mir zugewandt.
Ich beschloss, all meinen Mut zusammen zu nehmen und blickte ihn entschlossen an.
Leider habe ich nicht mit seinem aufmerksam-höflichen, unwiderstehlichen Lächeln gerechnet, das mein Herz sofort wieder in meine Hosen sinken ließ, während ich nur so dahinschmolz.
Schweigend starrte ich ihn an, alle Gehirnzellen schienen kurzfristig einen Last-Minute-Urlaub gebucht zu haben...
"Also dann", sagte er nach einer schier endlosen Stille. "Es war ein sehr netter Abend, Emily."
Da! Das war's! Das war meine Chance gewesen und ich hatte sie verpasst.
Mit trockenem Mund nickte ich enttäuscht und wollte mich gerade abwenden, als er blitzschnell nach meiner schmerzenden Hand griff und mit seinen weichen Lippen einen zarten, sanften Kuss auf meine Handoberfläche drückte.
Ich war so verdattert, dass ich ihn nur perplex angaffen konnte.
Er hingegen lächelte mir verschmitzt zu.
"Auf Wiedersehen", verabschiedete er sich, drehte sich um verschwand aus der Eingangstür, sowie auch aus meinem Blickfeld.
"Auf Wiedersehen", quiekste ich aufgeregt, zwei Sekunden zu spät, vollkommen überrumpelt, und die Röte, die sich auch erst mit einiger Verzögerung meldete, stieg mir augenblicklich ins Gesicht.
Mit zitternden Fingern schloss ich automatisch meine Tür auf und lehnte mich von der anderen Seite dagegen, meine Hand umklammert und sie fasziniert betrachtend.
Es war das erste Mal, dass mir jemand einen Handkuss gegeben hatte und es war ein unglaublich angenehmes Gefühl. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ein verspätetes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich fühlte mich wie mit 16, wollte mich sofort auf's Bett schmeißen und mein grienendes Gesicht im Kissen vergraben.
Joanna hatte Recht gehabt, schoss es mir durch den Kopf.
Ich mochte ihn. Ich mochte ihn wirklich. Solch intensive Gefühle hatte ich noch nie empfunden.
Sean war perfekt. Er war höflich, zuvorkommend, freundlich, liebevoll, gentlemenlike, einfach bezaubernd, hinreißend, seine weichen, dunkelblonden, unordentlichen Haare verführten fast dazu, ihm durch das Haar zu fahren, seine muskulöse Brust, sich an ihn zu schmiegen und nur zu gern würde ich mich von seinen Armen umschlingen lassen...
Irgendetwas hatte der Mann... viel besser gesagt: er hatte alles. Und ich hatte mich erstaunlich schnell um den Finger wickeln lassen.
Die Hitze, die sich bei alle diesen Gedanken in meinem Kopf staute – und nicht nur dort - verfärbte diesen zu einer ungesunden, roten Farbe. Könnte heißer Dampf durch meine Ohren entweichen, würde er es bei dem bloßen Gedanken an Sean pfeifend tun.
Doch schon einige Momente später verflüchtigte sich mein stupides Grinsen und meine Zuversicht. Ich spürte, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht entwich.
Es gab da eine unbedeutende Kleinigkeit: er hatte mich weder nach einem zweiten Date gefragt. Noch nach meiner Telefonnummer...


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