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In Nottingham

von  -Moonshine-

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Kapitel 14: Tremors

Liz hatte Kate eine Karte des Londoner U-Bahnnetzes auf den Tisch gelegt, bevor sie in die Redaktion gefahren war und diesen Linienplan studierte Kate jetzt ausgiebig.

Drei Tage war es her, seit sie in London angekommen war und am Tag zuvor hatte Liz sie zu den wichtigsten Touristenattraktionen geschleppt: Madame Tussauds, Tower Bridge, natürlich zum Buckingham Palace und auf dem Trafalgar Square haben sie gemütlich den anstrengenden Tag ausklingen lassen, die Tauben gefüttert und sich empörte Blicke der Einheimischen zugezogen.
Kate konnte gar nicht verstehen, warum so viele Menschen etwas gegen diese Vögel hatten, und, das war am allerschlimmsten, sie "fliegende Ratten" nannten.
Lustig waren die Tauben um Liz und Kate herumgewatschelt und innerhalb weniger Minuten hatte sich das Ganze zu einer Taubeninvasion entwickelt, da anscheinend alle Vögel auf dem Platz - und Kate hatte das Gefühl, dass der Trafalgar Square der taubenbevölkertste Fleck Land auf der ganzen Erde war - ihre Chance gewittert und es darauf abgesehen hatten, eines der begehrten Brotkrumen für sich zu ergattern.
Liz, die nach John's Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter nichts mehr dazu gesagt hatte und es scheinbar schnell verdrängt zu haben schien, hatte sich köstlich über die angriffslustigen Tiere amüsiert, entspannt ihre Beine ausgestreckt und somit ein paar schreckhafte Tauben verjagt, die aber nicht lang auf sich warten ließen und schnell zurückkehrten.
Es war ein relativ warmer Tag gewesen, dafür, dass es erst Anfang März war, doch trotzdem konnten Liz und Kate es nicht lange aushalten, am kalten Steinrand eines der zwei Springbrunnen zu sitzen, die Nelsonsäule in ihren Rücken, weiter im Hintergrund die Spitze des Big Bens aufragend.
Als es dämmerte und die Touristen ebenfalls weniger wurden, begaben sich die zwei Schwestern zu Liz nach Hause, die angekündigt hatte, ein leckeres Abendessen zuzubereiten. Beide hatten zum Mittag nur ein Sandwich vertilgt und waren dementsprechend hungrig.

Lizzie hatte ihrer Schwester aufgetragen, sich nicht vom Fleck zu rühren und ihr ja nicht beim Kochen zu helfen und während sie in der Küche zugange war, saß Kate am Esstisch und las sich die kleinen Artikel in einem alten London-Reiseführer durch, den sie in den tiefen Tiefen von Liz's Bücherregal, das eine erstaunliche Breite an verschiedener Literatur bot, was Kate ihrer Schwester eindeutig nicht zugetraut hatte, gefunden hatte.
Das Büchlein musste schon mehrere Jahrzehnte alt sein, denn die zwei amüsierten sich hin und wieder über die ein oder andere besonders merkwürdige oder lustige Formulierung.
Liz informierte ihre jüngste Schwester, dass sie am nächsten Tag in die Redaktion musste, also sollte Kate sich doch, wenn sie wollte, einen schönen Tag in London machen, damit sie nicht allein zu Hause herumsitzen musste.
Irgendwo hatte sie dann extra einen Netzplan ausgraben und die heimische Haltestelle mit einem blauen Kugelschreiber eingekreist.

In der Wohnung war es ziemlich ruhig. Lizzie war vor rund einer Stunde, am frühen Nachmittag, ausgeflogen, und Kate hatte bis jetzt keine Lust gehabt, sich aus dem Haus zu bewegen. Obwohl das Wetter, wie auch am Tag zuvor, ungewöhnlich mild war, war sie doch etwas schlecht gelaunt. Sie sagte sich, dass es daran lag, wieder allein mit ihren Problemen und Sorgen gelassen zu werden. Liz war eine hervorragende Entertainerin und Kate hatte sich in den drei Tagen, zumindest bis jetzt, pudelwohl gefühlt.
Sie stand eine Weile lang am Balkongeländer und schaute auf die vorbeifahrenden Autos hinunter, hing ein bisschen ihren Gedanken nach, als das Telefon plötzlich klingelte und sie erschrocken zusammenfahren ließ.
Etwas misstrauisch näherte sie sich dem lärmenden Ding, nicht sicher, ob sie rangehen sollte oder nicht. Liz hatte dazu nichts gesagt und vielleicht war es ja sogar ihre Mutter, die etwas zu Danny's Geburtstag am kommenden Wochenende loswerden wollte.
Zögernd griff Kate nach dem Hörer.
"Hallo?"
Schweigen am anderen Ende, dann - "Lizzie?" Es war eine etwas irritierte Männerstimme.
Dieselbe, die Kate zwei Tage zuvor auf dem Anrufbeantworter schon gehört hatte. Instinktiv fühlte sie, dass sie gerade ins Fettnäpfchen getreten war.
"Nein... hier ist Kate", erklärte sie vorsichtig.
Der Mann, höchstwahrscheinlich John, wie sie vermutete, schwieg wieder einige Sekunden, bis er weitersprach. "Ach!", rief er aus, als fiele es ihm wieder ein. "Die Schwester?"
"Ja." Kate nickte. Sie war erstaunt, dass er bescheid wusste, obwohl doch weder sie noch Judy noch irgendwer anders aus der Familie John je kennen gelernt hatten. Liz musste also von ihnen erzählt haben... Ein bisschen überraschte das Kate, denn insgeheim hatte sie nicht damit gerechnet, dass Liz über ihre "spießige", wie sie selbst oft sagte, Familie sprach. Ein bisschen erfüllte es sie allerdings auch mit Stolz und Zuneigung für ihre doch recht oft so egozentrische Schwester.
"Hier ist John", stellte er sich vor, verzichtete aber darauf, sie darauf hinzuweisen, wer er war, nämlich der Ex-Freund. "Ist sie da?"
"Nein." Er tat Kate leid, wie er sie so flehentlich gefragt hatte und auch ihre einsilbigen Antworten behagten ihr selbst nicht, aber sie wollte nichts Falsches sagen und sich den heiligen ihrer Schwester Zorn aufladen.
John seufzte tief. "Sie ist in der Redaktion, stimmt's?", hakte er nach und fügte dann murmelnd eher an sich ans an Kate hinzu: "Das ist sie Mittwochs immer..."
Verblüfft schwieg Kate. Er wusste ja allerhand...
"Kate?"
"Ja?"
"Danke." Er klang erleichtert und schon viel energischer. "Bis nachher!" Ohne ein weiteres Wort legte er auf und Kate, mit dem unguten Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, blieb wie angewurzelt mitten im Wohnzimmer mit dem Telefonhörer in ihrer Hand stehen, den sie verstört anstarrte.
Bis nachher? Was hatte das zu bedeuten? Sie hatte sich ganz bestimmt nicht mit John verabredet und ihn auch nicht eingeladen, mal vorbeizuschauen, nicht mal zwischen den Zeilen. Oder hatte sie etwas verpasst?!

Wenig später, aber früher als erwartet, drehte sich ein Schlüssel im Schloss herum und Liz purzelte gutgelaunt in die Wohnung, als Kate gerade in dem weichen Polster versank und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Das beunruhigende Telefonat mit John versuchte sie zu verdrängen, so gut es ging, und als Liz endlich nach Hause kam, zwei duftende Pizzakartons in den Armen, gelang ihr das schlussendlich auch.
"Meeresfrüchte und Schinken", verkündete sie und deutete auf beide Pizzas. "Welche darf's sein?"
Kate lächelte. Sie wusste, dass Liz sowohl Schinken, als auch Meeresfrüchte mochte und ihr selbst ging es da nicht anders.
"Von jeder die Hälfte", forderte sie daher und behielt Recht in ihrer Annahme, dass ihre Schwester mit ihrer Wahl vollauf zufrieden sein würde.
"Einen Moment noch, ich hüpf kurz unter die Dusche." Liz verschwand schnell in ihrem Schlafzimmer und wenige Minuten später hörte Kate das laufende Wasser im Badezimmer. Sie machte den Backofen an und stellte die Pizzas rein, damit sie heiß blieben.
Während Liz laut summend duschte, nagte das Telefonat mit John schon wieder an Kate. Ob sie ihrer Schwester etwas davon erzählen sollte? Sie entschied sich dafür, doch erst nach dem Essen. Sie wollte die gute Laune, die Liz momentan hatte, nicht gefährden, schon gar nicht, weil diese sich ganz offensichtlich sehr auf die Pizza freute.

Doch es kam alles ganz anders, als Kate geplant hatte. Kaum hatte Liz sich die Haare abgetrocknet, sich angezogen und war in die Küche gekommen, wo Kate schon vorsorglich die Pizzas in Scheiben geschnitten hatte, klopfte es an der Tür.
Überrascht wandte sich Liz um. "Für die Post ist es ein bisschen zu spät", murmelte sie vor sich hin, während sie zur Tür ging. Kate blieb in der Küche zurück und goss vorsorglich Limonade, die sie in Lizzie's Kühlschrank gefunden hatte, in zwei Gläser.
Was daraufhin folgte, war ein bitterböses Schnauben und Keifen Lizzie's, schnelle, laute Schritte auf dem Parkettfußboden und die Tür, wie sie krachend ins Schloss fiel.
Kate spitzte die Ohren, nachdem sie von der knallenden Tür so erschreckt worden war, dass sie zusammengezuckt ist.
"Wie zum Teufel bist du reingekommen?", ertönte Lizzie's schrille, aufgeregte Stimme und Kate wusste sofort, wer da geklopft hatte. Schuldbewusst zog sie sich auf einen Stuhl zurück, wollte sich einerseits nicht einmischen, andererseits nicht in Schussweite kommen, da sie an dem ganzen Schlamassel doch mit beteiligt war. Wäre sie bloß nicht ans Telefon gegangen... Liz würde sie umbringen!
John schien diese Frage zu ignorieren. "Wir müssen reden, Liz, und das weißt du genauso gut wie ich", beharrte er. "Warum bist du nur so störrisch?"
Er klang gar nicht wie ein Rockmusiker, schoss es Kate durch den Kopf. Zumindest bis jetzt noch nicht. Sie stellte sich Musiker immer leicht bekifft, mit einem verwirrten Grinsen im Gesicht und notfalls ein bisschen aggressiv vor, solche Typen eben, wie Lizzie sie jahrelang mit nach Hause geschleppt hatte. Sie konnten sich nicht anständig artikulieren und nahmen nichts ernst.
In John's Tonfall jedenfalls war nichts davon zu hören. Schon allein die Art, wie er sprach, hatte etwas würdevolles, anständiges, ernstes. Kate überkam das jähe Verlangen, ihren Kopf einmal aus der Tür zu stecken und einen Blick auf ihn zu werfen, doch die Furcht vor ihrer Schwester war zu groß, um dieses Risiko einzugehen.
"Wir müssen gar nichts!", giftete Liz angespannt. "Du bist hier nicht erwünscht, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest." Ihr Tonfall war kalt, bissig.
John holte hörbar Luft. Es schien, als versuchte er, sich unter Kontrolle zu halten. Seine nächsten Worte sprach er mit Bedacht aus, betont ruhig. "Ich gehe erst, wenn du wieder mit mir redest."
Liz schnaubte und setzte sich augenblicklich in Bewegung.
Kate hörte sie näherkommen und versteifte sich automatisch auf ihrem Stuhl. Kerzengerade saß sie da, als Liz rigoros in die Küche stürmte. Ihr Gesichtausdruck eisern, ihre Schritte bestimmt.
Das kannte Kate schon - Liz würde sich nicht so einfach von John einlullen lassen, was auch immer er von ihr wollte.
"Eine Stunde", entschied sie kühl.
Während Kate ihre Schwester dabei beobachtete, wie sie, äußerst unwillig und verdrießlich, nach ihrer Handtasche griff und nebenbei ihre Autoschlüssel vom Tisch aufsammelte, bemerkte sie gar nicht, wie John ihr in die Küche gefolgt war.
"Ich fahre", sagte er bestimmt, aber nicht unfreundlich, und Kate wandte sich etwas erschrocken zu ihm um. Er lehnte am Türrahmen, die Hände lässig in die Taschen seiner beigen Jacke vergraben.
John hatte braune, kurze Haare, braune, warme Augen, ein markantes Kinn, er war deutlich größer als Liz selbst, sicherlich auch älter, und äußerst anständig gekleidet - keine Spur von Lederkluft oder ähnlichen Vorlieben von Liz.
Mit geweiteten Augen betrachtete Kate diesen Mann, den sie sich so anders vorgestellt hatte. Das war, als hätte man das billigste Menü im Restaurant bestellt und aufgrund eines Irrtums des Kellners ein Fünf-Gänge-Menü mit allem drum und dran bekommen.
Liz steckte ihre Schlüssel dennoch trotzig in ihre Handtasche, schnaubte kurz und nahm sich ein Stück der Pizza, das sie sich in eine Serviette legte.
John wandte sich Kate zu und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, ein unmerkliches Lächeln auf den Lippen, während Liz in der Küche zugange war, um noch mehr Zeit zu schinden. Kate blinzelte verwirrt.
"Ich werde dich wohl nie los", knurrte Liz in diesem Moment garstig und warf ihm einen abfälligen Blick zu, dem er oben Mühe stand hielt, ohne auch nur sein Gesicht zu verziehen. Und das alles mit einem aufmerksam-interessierten Ausdruck, als würde Liz's Verhalten ihm nicht im Geringsten nahe gehen.
Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und wartete geduldig, bis Liz endlich soweit war.
"Es dauert nicht lange", sagte sie brüsk zu Kate und bedachte John ein weiteres Mal mit einem misstrauischen Blick. "Ich bin bald wieder da, schau dich ruhig in der Stadt um, aber vergiss nicht die Haustürschlüssel."
Kate nickte benommen. Das hier war eindeutig zu seltsam, als dass sie irgendetwas sagen konnte. Und Liz schien noch nicht herausgefunden zu haben, dass das alles ihre Schuld war. Zum Glück!
"Bis nachher", verabschiedete sich Liz durch zusammengebissene Zähne, John immer wieder tödliche Blicke zuwerfend, die er gekonnt ignorierte.
Sie schritt so würdevoll wie möglich mit großen Schritten an ihm vorbei in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen. Er stieß sich locker von der Türkante ab und lächelte Kate aufmunternd zu.
"Bis dann, Kate. Wir sehen uns sicherlich wieder, dann hoffentlich unter glücklicheren Umständen." Er grinste schief, bevor er sich von ihr abwandte und Liz folgte.
Kate konnte nur hoffen, dass ihr Mund nicht offen stand.
John - der Freund ihrer flippigen Schwester - ein anständiger, höflicher, gutaussehender Kerl?
Sie konnte es gar nicht fassen - war das etwa der Grund gewesen, warum sie ihn nie hatte der Familie vorstellen wollen?
Kate schüttelte fassungslos den Kopf, gerade, als die Tür hinten den beiden ins Schloss fiel - dank Liz wohl lauter, als sie es musste. Ihre Schwester war Kate schon immer ein Rätsel gewesen, aber nun, wo sie einen netten Mann vor ihrer Familie versteckte, bloß, weil er nett war und den Erwartungen ihrer Eltern entsprach, erklärte sie sie für vollkommen übergeschnappt.
Geistesabwesend schob sie sich ein Stück Pizza in den Mund und biss ab, kaute gedankenverloren und dachte noch ein bisschen darüber nach. Es gab noch einiges, was sie nicht verstand, aber das würde sie Liz fragen, wenn diese von ihrem kleinen Ausflug zurückkommen würde. Kate musste grinsen. Ihre Schwester war echt ein Fall für sich!
Und wie konnte sich John nur so sicher sein, dass sie sich bald wiedersehen würden? Anscheinend kannte er ihre Schwester nicht richtig!

Kate beschloss, mit dem U-Bahnplan bewaffnet, die Gegend etwas genauer zu erkunden.
Es war nicht weit zu Fuß bis zur U-Bahnstation Knightsbridge und gleich um die Ecke von Liz’s Haus befand sich der Hyde Park, doch dort war Kate gestern schon gewesen und außerdem hatte sie keine Lust, alleine durch den Park zu spazieren.
Kate begutachtete ihre Karte. Bis zum Piccadilly Circus waren es nur drei Stationen und ein kleiner Schaufensterbummel würde ihr sicherlich gut tun, um sich abzulenken.

Im Stadtbezirk City of Westminster wurde Kate, als sie mit der Rolltreppe an die Oberfläche des Tageslichts gelangte, von Lärm, Verkehrsstau, dauerndem Hupen und einer Menge blinkender Lichter begrüßt. Viel imposanter aber waren die alten Gebäude, die sich majestätisch über die Menschen erhoben.
Beeindruckt und etwas eingeschüchtert, weil sie das erste Mal alleine in dieser Stadt unterwegs war, schaute sich Kate um und folgte anschließend den anderen Leuten, die aus der U-Bahn Richtung Einkaufsstraße Haymarket strömten.
Graue und weiße, große Häuser im georgianischen Stil reihten sich aneinander und säumten die Straße rechts und links. Im Erdgeschoss befanden sich große und kleine, flippige, bunte und schicke, elegante Geschäfte, ganz in der Nähe - wie konnte es anders sein? - ein Mcdonald’s.
Kate bewunderte die Farbenpracht, lauschte auf das aufgeregte Geplapper der Leute um sich herum - die meisten waren Touristen und sprachen andere Sprachen - und beobachtete sich fotografierende Familien. Mitten auf den Gehwagen standen in regelmäßigen Abständen irgendwelche Künstler, die mit Kreide ein Kunstwerk auf dem Asphalt hervorzauberten, Pantomimen, die besonders von Kindern belagert wurden und Musiker, mit Geigen oder Gitarren, die bekannte Hits, meistens alte, melancholische Lieder, spielten und mit sanfter, schmerzerfüllter Stimme dazu sangen, dass es Kate ganz schwer ums Herz wurde.
Vor einem jungen Mann mit langen, verfilzten, zusammengebundenen Haaren, der auf seiner Gitarre ein ihr bekanntes Lied spielte, blieb sie stehen und ließ sich einen kurzen Moment durch seinen ausdrucksvollen Gesang in eine andere, ihr nur allzu bekannte, Welt entführen, doch schnell fasste sie sich wieder, holte ein paar Münzen aus ihrer Tasche und ließ sie in das dafür vorgesehene Glas fallen, das zu den Füßen den jungen Mannes stand.
Er grinste sie dankbar an, wobei ein Grübchen in seiner rechten Wange sichtbar wurde, und nickte, während er die nächsten Zeilen des traurigen Lieds spielte. Kate ergriff die Flucht, bevor ihr sein Lied richtig nahe gehen und all ihre Sorgen mit einem Mal zurückbringen konnte.
Stattdessen versuchte sie, ihre Gedanken auf Claire zu lenken. Sie hätte gerne gewusst, wie es bei ihr zu Hause, in Nottingham, lief, aber Claire hatte ihr strikt verboten, anzurufen.
"Ruf ja nicht an!", hatte sie ihr mehrmals eingeschärft und sie dabei streng angesehen. Und das alles, damit sie ein bisschen abschalten und vergessen konnte und nicht ständig an das, was sie daheim wieder erwartete, denken musste.
Sie war sich sicher, dass Claire ihrem besten Freund das Leben nicht gerade leicht machte. Sie hatte Jake nicht Bescheid gesagt, dass sie weggefahren war und Liz's Telefonnummer hatte er ebenso nicht. Claire würde sie ihm sicherlich auch nicht aushändigen.
Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie das schadenfreudige Gesicht ihrer Freundin wieder vor sich sah, als diese ihr verkündete, dass sie sich schon um Jake "kümmern" würde. Nun, daran zweifelte Kate nicht eine Sekunde.


Es war schon nach sieben Uhr abends und dunkel, als Kate in Liz's Wohnung zurückkehrte und fast erwartete sie, ihre frustrierte Schwester vor dem Fernseher, an der Pizza kauend, die Kate vorsorglich eingepackt und in den Kühlschrank gestellt hatte, vorzufinden.
Doch in der Wohnung war es mucksmäuschenstill. Keine Musik, kein Radio, keine Fernsehgeräusche waren zu vernehmen und auch die Badezimmertür stand offen. Ganz offensichtlich war Liz noch nicht zu Hause und war es zwischenzeitlich wohl auch nicht gewesen, denn alle Sachen befanden sich noch am selben Platz, an dem sie waren, als Kate selbst die Wohnung verlassen hatte, was nun schon fast zwei Stunden her war.
Etwas verwirrt und besorgt ob dem Aufenthaltsort ihrer Schwester runzelte Kate die Stirn und überlegte nebenbei, ob sie lieber fernsehen oder ein Buch lesen wollte. Fernsehen machte ohne Claire's bissige Kommentare nicht so viel Spaß, also entschied sie sich für Letzteres.
In ihrem Zimmer machte sie das Radio an, stellte es leiser und nahm sich ein Buch, mit dem sie sich auf ihr Bett hockte.

Gegen 22 Uhr, von Liz noch immer keine Spur, legte Kate das Buch weg und machte sich bettfertig. Ein bisschen Sorge hatte sie schon um ihre Schwester, aber - und das war auch typisch für Liz - hatte diese ihr Handy auf der Ablage in der Küche liegen lassen und war nicht erreichbar.
Kate versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie sich schon wehren konnte und sich in der Stadt auskannte. Außerdem war John bei Liz, und er schien ihr nicht gerade wie ein gefährlicher Serienkiller... oder? Man konnte ja nie wissen...
Kate überlegte hin und her, und immer, wenn ein panischer Gedanke auftauchte, versuchte sie, diesen irgendwie wieder zu verdrängen und sich gut zuzureden, bis sie bemerkte, dass ihre Fantasie ihr wieder mal Streiche spielte.
Irgendwann schlief sie erschöpft ein und wachte erst acht Stunden später wieder auf.

Kate duschte, putzte sich die Zähne, zog sich an. Langsam kroch die Panik in ihr hoch. Liz war noch immer nicht zurückgekommen und es war schon 8 Uhr am nächsten Morgen!
Während sie sich die Haare fönte, überlegte sie, ob sie irgendwo in Liz's Wohnung ein Telefonbuch finden würde, wo John's Nummer verzeichnet war.
Mit diesem Gedanken stürmte sie aus dem Bad und wollte gerade ins Wohnzimmer, um nach einem Adressbuch zu suchen, doch dann hörte sie das erlösende Geräusch: den Schlüssel im Schloss.
Für einen kurzen Moment setzte ihr Herz aus, als ihr durch den Kopf schoss, dass jemand Liz überwältigt und den Schlüssel geklaut haben könnte, um sie jetzt auszurauben, doch diese Panik hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde an, bis sie sich zusammenriss.
Tatsächlich war es Liz, die auf Zehenspitzen durch die Tür getrippelt kam und diese besonders leise hinter sich schloss.
Fassungslos stand Kate im Flur, von Liz noch unbemerkt, und starrte ihre Schwester an, die sich ihrer Schuhe entledigte. Sie hatte dieselben Klamotten an, in denen sie am Vortag die Wohnung verlassen hatte. Als sie sich umdrehte, begegneten sich ihre Blicke und Liz konnte sich ein ertapptes, schuldbewusstes Grinsen nicht verkneifen.
"Wo warst du denn?!", wollte Kate alarmiert wissen, obwohl sie es sich schon denken konnte, denn Liz's unverschämtes Grinsen sprach Bände. "Es ist 8 Uhr morgens!"
Liz winkte ab und marschierte, immer noch grienend, an Kate vorbei in die Küche, wo sie sich sogleich daran machte, Kaffee zu kochen.
"Ach, komm schon Katie, sei doch nicht so." Sie hielt inne und versuchte, ernst zu gucken, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Stattdessen wurde ihr glückliches Lächeln noch breiter. Sie kicherte in sich hinein. "Frühstück?"
"Ich hab mir Sorgen gemacht", versuchte ihre jüngere Schwester zu erklären, ein wenig verzweifelt, weil die Ältere nicht einsah, dass man nicht einfach mit einem "Bis gleich" wegging und erst 15 Stunden später zurückkam, und ignorierte Liz’s Frage.
"Das musst du nicht." Liz grinste. "Ich bin schon groß, weißt du?" Sie zwinkerte ihrer verwirrten Schwester verschwörerisch zu, ähnlich wie John vor ihr, und widmete sich wieder der Kaffeemaschine.
Mit einem amüsierten Glucksen fügte sie noch hinzu: "Aber erzähl Mum nichts, ja?"
Kate schnaubte leise, verächtlich. Liz war also "schon groß"...!


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