Anabelle von Schreiberliene (The Dance) ================================================================================ Arie Da-Capo ------------ Die kunstvoll gefertigte Spieluhr, deren drei Ecken genau in seine Handfläche passen, und deren Gravur „A.M.“ deutlich zu erkennen ist, springt auf, als sein Finger vorsichtig in die kleine Mulde drückt. Aus dem Schmuckstück, dessen Oberfläche wie geschmolzener Sternenstaub glitzert, dringt eine sanfte, dunkle Musik, die viel gemein hat mit den Tönen, die das ungleiche Paar an diesen Ort geführt haben, aber dennoch nicht die selbe ist. Es klingt mehr, schießt es Adamo durch den Kopf, als vervollständige sie die Melodie… Im selben Moment beginnt das Stück von neu, und als habe er Adamos Gedanken gelesen, öffnet Arcian sein eigenes goldenes Kleinod. Tatsächlich klingen die beiden Uhren gemeinsam, eine warme, dunkle Bassstimme mit dem klaren Sopran – doch den zwei jungen Männern ist trotz ihrer fehlenden musikalischen Ausbildung bewusst, dass da etwas fehlt. Das Stück ist noch nicht vollendet. Dennoch, versucht Adamo sich einzureden, es ist ein Fortschritt, dessen Bedeutung kaum in Worte zu fassen ist. Alles ändert sich dadurch… Aber ihm ist bewusst, dass er sich selbst gegenüber nicht ehrlich ist, dass er das Wichtigste gar nicht in seine Gedankenwelt lässt. Trotzdem verfolgt es ihn. Die Entdeckung ist wichtig, gewiss, doch sie würde erst wirklich gewichtig, wirklich brauchbar, wenn Adamo sich nur entsinnen könnte, woher er die Uhr hat; doch er kann sich an kein einziges Gesicht mehr erinnern, geschweige denn an einen Hinweis, der ihn zum Besitzer führen könnte. Fast schon eine Stunde betrachtet er nun das Schmuckstück, hofft, dass etwas in ihm gelöst, aufgestoßen wird, doch im Grunde weiß er, dass es sinnlos ist. Arcian währenddessen spürt die Wut in sich aufsteigen, und ihm ist wieder gegenwärtig, warum er sich des Diebes hatte entledigen wollen. Je länger er den jungen Mann beobachtet, desto größer werden seine Zweifel darüber, ob Adamos Leben die Mühe wert war, die er sich gemacht hat, um es zu erhalten. Nichts gibt es, keine neue Spur; nur eine weitere Spieluhr, die spielt und ihn an der Nase herumführt, indem sie ein Gefühl der Vertrautheit in ihm weckt und ihm vorgaukelt, die Antwort sei nahe. In Wirklichkeit, erkennt er, ist er fast genauso weit von ihr entfernt wie zuvor – es gibt nur ein weiteres Rätsel ohne Lösung. Wie sehr er sich in dieser Einschätzung täuscht, merkt er erst, als es zu spät ist. Es gibt nicht viel, was sie noch nicht versucht haben, kaum eine Möglichkeit die noch nicht ausgeschöpft ist, und ohne Adamos Erinnerung ist das einzige, woran sie sich klammern können, die Gewissheit, dass sie zumindest am rechten Ort suchen. Doch in ihrem Zimmer zu sitzen und weiterhin das wertvolle, das geheimnisvolle Kleinod anzustarren, ist, zumindest findet Arcian das, nicht einmal im Ansatz sinnvoll. Er will in die Stadt, denn er fühlt, dass weiteres Herumsitzen seine Geduld zerbersten lassen wird, und Adamo, der das für keinen guten Plan hält, hat die Todesangst noch gut genug vor Augen, um auf Protest zu verzichten. Überhaupt, was soll es denn schaden? Er selbst weiß ja nicht, was ihnen zu tun übrig bleibt, und solange Arcian sich weigert, seine Spieluhr jemandem zu zeigen, kommen sie nicht weiter. Da kann er auch durch die Straßen laufen, hoffen, durch Zufall über A.M. zu stolpern und versuchen, den Zorn seines Begleiters von sich fern zu halten. Doch je länger sie ziellos durch die Stadt laufen und die heiße Sonne ihre Gesichter verbrennt – schließlich nähert sich der Kriit seinem Zenit – desto absurder kommt ihm die Vorgehensweise vor. Was erwartet der Gedächtnislose? Was genau will er denn von ihm? So, das weiß Adamo ganz genau, verschwenden sie ihre Zeit. Wenn doch nur sein Begleiter nicht so furchtbar und dumm zur selben Zeit wäre! Wenn er doch nur beide Spieluhren in seiner eigenen Hand hätte, dann könnte er endlich die Experten befragen und eine Antwort kriegen… Und während auch Arcians Gemüt von Stunde zu Stunde düsterer wird, beginnt im Unterbewusstsein des Diebes, ein Plan Gestalt anzunehmen, seinen Verstand langsam aber sicher zu ergreifen. Der Krieger erkennt von diesem Vorgang nichts; für ihn zählt nur sein eigener Zorn, was der Andere empfinden oder denken könnte, interessiert in keiner Weise, er will es nicht wissen. Doch während er die vorbeidrängenden Menschen beobachtet, fällt ihm wieder ein, in welcher Situation er sich befindet. Das Geld, das der Dieb besorgt hat, reicht gerade für die Schulden und die Nacht; danach wird es wieder knapp. Und er hat nicht vor, auf der Straße zu schlafen oder seine Zeit mit Arbeit zu verschwenden… Ein grimmiges Lächeln verzerrt seine Gesichtszüge. In der Tat, der Wurm ist durchaus von Wert für ihn… „Nein.“ Er hat Angst, große Angst sogar, wenn er ehrlich ist. Sein Herz klopft in einem rasenden Staccato, und er spürt die Dunkelheit, die hinter seinen Augenlidern lauert. Doch er kann nicht nachgeben; auch wenn Arcian die Gesetze der Gesetzlosen weder kennt noch würdigt, weiß er selbst doch ganz genau, dass er sein Glück schon zu oft versucht hat. Hätte jemand in seinem Revier so sehr gewildert wie er in diesem, er hätte nicht eine Sekunde gezögert, die Hilfe der Gilde in Anspruch zu nehmen. Und die hätte kurzen Prozess mit dem Eindringling gemacht… Nein, noch ein Streifzug steht außer Frage, zu groß ist das Risiko, diesmal entdeckt und verpfiffen zu werden. Sie müssen einfach schnell herausfinden, woher die Uhren kommen, dann brauchen sie keine Unterkunft mehr – alles andere ist Wahnsinn. Es liegt sogar im Rahmen des Möglichen, dass man ihn bereits als das, was er ist, erkannt und beobachtet hat, ihm aber zugestanden hat, in einer Notlage zu sein. Noch weiter kann er nicht gehen. Das muss Arcian einfach verstehen. Es ist besser, nach Hause zurückzukehren und von dort aus vielleicht über die Gilde eine Spur ausfindig zu machen, als hier noch einmal den Teufel zu versuchen. Doch während er seine Position vertritt, verraten die Augen des Mannes, den er zweimal gerettet hat und der sich dafür mit einem Mordversuch bei ihm bedankt hat, ihm, dass dem Menschen nichts ferner liegt, als ihn zu verstehen… Und dann ist da wieder diese Angst. Es ist Routine, und obwohl sein Unwohlsein eine Grenze überschritten hat, die es ihm fast unmöglich macht, nicht in Panik zu verfallen, ist sein Kopf ganz klar. Er muss jetzt zuschlagen, so viel an sich nehmen, wie er kann, sodass es für die Schifffahrt nach Hause reicht. Zudem wird er, zusätzlich zu dem neuen Schmuckstück, das unter seiner Weste steckt, die goldene Spieluhr an sich nehmen, und noch heute das Lager der Experten aufsuchen. Die zweite Uhr ist aus einem Material gemacht, das er noch nie gesehen, sondern von dem er nur gehört hat. Kuzar, das Metall der flüssigen Sterne, und jemand, der so wertvolles Material verarbeitet, wird mit Sicherheit sein Meisterwerk erkennbar signieren. Nein, denkt Adamo, während seine flinken Finger ganz ohne seine Oberaufsicht ihre Arbeit tun, Sorgen muss man sich nicht machen, nicht, wenn man zwei Stücke bei sich hat – der einzige Risikofaktor ist die Zeit. Es muss heute geschehen, bevor die Rache der Gilde ihn treffen kann, bevor er zugrunde geht. Arcian davon zu überzeugen wird nicht nur schwer, sondern unmöglich – dieser Gedanke, so schwer er auch fällt, ist wahr. Er wird es verstehen, wenn ich die Antwort habe, redet sich der Dieb ein, während er im Gedränge zielsicher das Kleinod seines Begleiters an sich nimmt, und versucht mit aller Kraft nicht daran zu denken, was das letzte Mal geschehen ist, als er dem Krieger seinen Schatz weggenommen hat. Sein Herz will sich gar nicht mehr beruhigen, er muss so schnell wie möglich fort, um zu tun, was er sich vorgenommen hat, doch natürlich darf Arcian keinen Verdacht schöpfen. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er das Verschwinden der Uhr bemerkt, mit jeder Minute, die die beiden zusammen sind – es ist eine Gratwanderung, und Adamo ist sich nicht sicher, wie gut er darin ist. Schließlich hält er es nicht mehr aus und bedeutet seinem Begleiter, dass er den Ort wechselt – alleine, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Flink dreht er sich um und atmet einmal tief durch. Es ist geschafft – hat er erst einmal ein Ergebnis, kann die Wut nicht mehr so bodenlose sein. Plötzlich spürt er den festen Griff Arcians an seinem Arm und stirbt. Nichts in ihm ist mehr fähig, sich zu bewegen, alles ist in unbeschreiblichem Grauen erstarrt, und der Horror lässt seine Sicht verschwimmen. Der heiße Atem an seinem Ohr treibt ihm die Tränen in die Augen, und er ist kurz davor, zusammenzubrechen. „Lass sie hier.“ Es braucht einige Augenblicke bis Adamo erkennt, dass die Stimme nicht wütender ist als zuvor, nicht bedrohlicher, dass sie ihn nicht erdrosselt. „Was?“ Der Griff wird fester. „Die zweite Uhr. Lass sie hier. Du brauchst sie nicht.“ Und die Erleichterung überfällt ihn mit unaufhaltsamer Gewalt, kurz versinkt alles in barmherzigem Schwarz und seine Knie wollen dankbar ihren Dienst quittieren; nur die Hand an seinem Arm, die bleibt real. Arcian hat vielleicht durchschaut, was er machen will, doch er hat nicht erkannt, dass er ihn bestohlen hat; er verlangt nur ein Kleinod zurück. Das ist Adamos Chance, und er weiß es. Bebend zieht er das schimmernde Dreieck unter seinem Hemd hervor und drückt es seinem Begleiter in die Hand; dann, sobald der ihn losgelassen hat, sucht er das Weite. In seinem Kopf herrscht immer noch Leere, Watte ist zwischen ihm und der Welt, eine durchsichtige Seifenblase, die alles um ihn herum unwirklich erscheinen lässt. Es dauert ein bisschen, bis sein Organismus und sein Geist sich von diesem Schock erholt haben, doch dann wird er sich der Gelegenheit vollends bewusst – und dem Risiko, das für ihn daran hängt. Aber die Gefahr, denkt er, fast schon spöttisch, hat mich noch nie abgeschreckt. Ihm hat es nicht gefallen, wie der Wurm sich aus dem Staub gemacht hat; er kann ihn jetzt noch am Ende der Straße sehen. Warum er es so eilig hatte, ist ihm ein Rätsel, doch er fühlt das alte Misstrauen gegen den Anderen wieder hochkochen. Einige Sekunden gibt er sich diesem Gefühl hin, schwebt in der Unentschlossenheit, dem Ungewissen, dann fällt er eine Entscheidung. Sie haben genug Gold für die nächsten Wochen, das Essen und die Bestechungsgelder, es gibt keinen Grund mehr, weitere Taschen zu leeren. Also folgt er dem Dieb und zwingt ihn, sich wieder auf die Suche nach etwas zu konzentrieren, von dem er selbst keine Ahnung hat. Aber alles ist besser als diesen Abschaum alleine handeln zu lassen… Und außerdem verschafft es ihm eine seltsame Befriedigung, die Angst und die Abscheu in den blauen Augen des anderen zu lesen. Hoffnungslosigkeit ist alles, was er fühlt, ist alles, was sein Körper verstehen kann. Er hat es versucht, doch die Möglichkeiten sind nun ausgeschöpft, die Karten gespielt. Einfluss zu nehmen ist ihm nicht mehr möglich. Gewiss, er könnte versuchen, Arcian zu überzeugen, doch er weiß schon jetzt, wie das Ergebnis aussehen wird. Der andere ist so in sich selbst, in seinen eigenen Gedanken, seiner Machtgier gefangen, dass es ihm unmöglich ist, zu erkennen, dass Adamo recht hat. Wieder spürt der Dieb die Resignation, die ihn am Pier ergriffen hat; all das scheint ihm nun unausweichlich. Überhaupt, wenn er versuchen würde, Arcian dazu zu bewegen, die Uhren den Experten zu zeigen, wüsste dieser genau, dass er geplant hat, ihn zu hintergehen, und Adamo ist sich darüber im Klaren, dass der Krieger die Gelegenheit nutzen und ihn dafür bestrafen wird. Außerdem, und davor spürt er ungleich mehr Furcht, könnte er dann bemerken, dass sein Kleinod fehlt, denn bisher hat er selbst keine Gelegenheit gesehen, es unbemerkt zurückzustecken. Es grenzt so oder so an ein Wunder, dass sein Verschwinden so lange unbemerkt geblieben ist, aber Adamo weiß, dass er das Glück schon viel zu sehr versucht hat, und dass seine einzige Chance ist, das Thema zu vermeiden. Ihre Herberge ist nun am Ende der Straße zu sehen, und wenn er ehrlich ist, ist Adamo froh, dass der Tag endlich ein Ende hat. Mag sein Ende morgen kommen, zumindest erwischt es ihn dann nach eine guten Portion schlaf. Doch nicht einmal das ist ihm gegönnt. Kaum erreichen sie den Eingang der Gaststube, verwehrt ihnen der Türsteher den Eintritt, will sie nicht einmal anhören. Während Adamos müdes Hirn mit den Geschehnissen kaum Schritt halten kann, hat er sich doch mit dem Verlauf des Tages schon abgefunden, ergreift Arcian die altbekannte Wut. Ihn will man nicht hineinlassen? Nicht in seinen Raum, für den er teuer bezahlt hat, in sein Bett, zu seinen Besitztümern? Dass es sich dabei natürlich nur um die wertlosen, abgetragenen Kleider handelt, niemand wäre dumm genug, etwas von Wert in den Räumen einer Herberge zu lagern, vergisst er, will er vergessen – er hat ein Recht auf Wut, und das heiße Gefühl fordert seinen Platz. Sein Kopf aber wird wieder ganz klar, seine Gedanken sind metallisch und ruhig und er spürt seine Stärke deutlich in den Armen. Bestimmt schlägt er den Mann beiseite, und schreitet in den Schankraum. Die große, massige Gestalt füllt den Raum, fordert den Respekt, der ihr zusteht, und die Gewalt, die er ausstrahlt, schlägt dem Wirt fast den Weinkrug aus der Hand und er verschluckt sich an seinem eigenen Speichel. Dieses Auftreten, wenn auch in gemäßigterer Weise, hat den alten Mann dazu gezwungen, viel Unverschämtheit dieser Gäste hinzunehmen; und auch, wenn sie inzwischen wieder gut zahlen, ist ihm der Mann nicht geheuer. Doch er hat einen Ruf zu verteidigen als Herbergsvater, und deswegen kommt er hinter seiner Theke hervor. „Was wollt ihr hier?“ Arcian dreht sich fast um, bevor ihm einfällt, dass er ja diese Laus im Schlepptau hat, die regungslos da steht und langsam aus ihrer lethargischen Stille zu erwachen scheint. Verächtlich schnaubend deutet er die Treppe hinauf. „In mein Zimmer.“ Seine Stimme verspricht in diesen drei Worten, dass es keine Alternative gibt, sein ganzes Wesen beherrscht die Situation, schüchtert jedes Bewusstsein im Raum ein, doch die Reaktion des Wirtes ist nicht die erhoffte. „Keine Ahnung, wer ihr seid; in meinem Haus will ich euch nicht mehr sehen.“ Seine Stimme zittert, und gleichzeitig wünscht er sich der andere möge starrsinnig genug sein, um weiterhin blind auf seinem Recht zu bestehen. Natürlich gibt es die Regeln der Gauner und Diebe, denkt er, aber wenn ich sie befolge und er sich nicht dran hält, bin ich schuldlos… Und bekomme meine Rache, tönt es tief in ihm, denn der Hüne vor ihm hat seinen Stolz über Wochen hinweg zutiefst verletzt und ihn zum Kind unter seinem eigenen Dach gemacht. Und tatsächlich, sein Gast kommt bedrohlich näher und verlangt Zutritt, nein, er nimmt sich den Zutritt, steigt die ersten Treppenstufen hinauf, nachdem er den Wirt zu Boden geworfen hat. Ihn schließt man nicht aus, ihm gibt man, was er will, und er will in sein Zimmer… Dunkle Freude steigt im Wirt auf, doch gerade als er beschließt, dem Spektakel beizuwohnen, hört er eine helle Stimme. „Warte.“ Der!, schießt es durch das ergraute Haupt, dieser falsche, kleine Bastard! Gerade als es so aussieht, als bekäme jeder, was er verdient, muss sich der schmächtige Begleiter des Fremden einmischen. Der dreht sich beunruhigend langsam um und starrt den Burschen an. Stille ist es nicht, die einkehrt, sondern etwas anderes, etwas viel furchterregenderes, die Ruhe vor dem Sturm, in der der Keim des Unglücks schon verborgen liegt. Auch der Blonde scheint das zu merken, denn er schluckt hörbar; dann aber macht er einen Schritt auf den anderen zu. Keine Fehler! Etwas anderes kann Adamo nicht denken, während er nach den richtigen Worten sucht. Es hat gedauert, bis er verstanden hat, was hier geschieht, doch nun muss er unter allen Umständen verhindern, dass Arcian und seine Brutalität sie beide vernichten. Er weiß nicht genau, was er getan, wen er bestohlen hat, dass es zu dieser Situation kommen konnte, doch er ist sich sicher, dass ihrer beider Schicksal nun am Wendepunkt steht. Kurz fragt er sich, warum Arcians Wesen gerade jetzt derart durchbrechen muss, doch er weiß, dass er dazu keine Zeit hat. Entweder Arcian hört auf ihn, vertraut ihm und legt sein eigenes Verhalten, seine Wut, ab oder zumindest zu Seite, oder all das wird kein gutes Ende nehmen. Besorgt beobachtet er, wie der dunkelhaarige Mann auf ihn zukommt, und fast vergisst er, was er sagen will. Doch schnell genug fällt es ihm wieder ein. „Der Kodex.“ „Welcher Kodex?“ „Unser Kodex, er befiehlt…“ Doch Arcian ist es egal, was der Kodex dieses widerlichen Wurms, der es gewagt hat, ihn in seinem Vorhaben aufhalten zu wollen, besagt, es ist ihm auch egal, was er ihm zu sagen hat; in diesem Moment wird ihm klar, dass der Dieb ihn nur aufhält. Er braucht ihn nicht, er hat alles, was er braucht, um die Antwort zu finden, und das einzige, woran es ihm mangelte, nämlich Geld, hat Adamo besorgt. Er packt ihn am Handgelenk, und im selben Moment wird die Türe aufgestoßen; gleichzeitig laufen schnelle, schwere Schritte die Treppen hinunter. Im Bruchteil einer Sekunde erkennt Arcian, dass Soldaten vor der Herberge stehen und wohl auch in seiner Kammer gewartet haben; er erkennt, dass der einzige Fluchtweg sie nun aus dem Fenster führt, dass eine Flucht aber auch die Gefahr in sich birgt, dass man sie schnappt. Und er erkennt, dass sie nicht gekommen sind, um ihn zu verhaften. Er fühlt sich, als müsse er gleich lachen; als seine Augen Adamos begegnen, ist beiden bewusst, wie die Dinge stehen, sie wissen, welche Möglichkeiten sie haben. Wer wem ausgeliefert ist. Und dass das Fenster für eine Reaktion nur wenige Sekunden beträgt. Er lächelt. Und packt den Dieb hart am Handgelenk, bevor er sich zur Türe dreht. "Er ist es." Danach beobachtet er mit einer gewissen Freude die Festnahme. Adamo fühlt, wie der Verrat ihn trifft; er hat nicht damit gerechnet, nein, er war für den Bruchteil einer Sekunde davon überzeugt, dass Arcian den Wendepunkt nutzen, ihn retten wird. Nun spürt er den harten Stiefel im Rücken, das Blut im Mund, die Schmerzen im Solarplexus, und fragt sich, warum er nach all der Angst, nach der Gewalt und der Unterdrückung doch noch die Tränen bekämpfen muss. Gleichzeitig, und das stürzt ihn in dieser ungünstigen Situation in Verwirrung, fühlt er Erleichterung; endlich, endlich ist etwas passiert. Als er wieder zu Boden gestoßen wird, fällt die goldene Uhr auf das schmutzige Stroh; und es ist, als könnte er die Überraschung Arcians hören. Mit Mühe blickt er auf; ihre Blicke kreuzen sich. Es ist nicht einmal ein Augenblick, doch in diesem Moment braucht Adamo die wichtigste Schlacht, die die Beiden jemals ausgetragen haben, nicht gewinnen. Es reicht, das Arcian sie verliert. Als Adamo nach draußen gerissen wird, ist das Schmuckstück wieder da, wo es hingehört - unter seinem Hemd. Doch lange bleibt es nicht dort. Die kunstvoll gefertigte Spieluhr, deren drei Ecken genau in ihre Handfläche passen, springt auf, als ihr Finger vorsichtig in die kleine Mulde drückt. Die Gravur ist zwar verblasst, doch ihre Augen wissen, wo sie zu suchen haben, und ihr Zweifel wird weiter zurückgedrängt. Aus dem Schmuckstück, dessen Oberfläche wie geschmolzenes Gold schimmert, dringt eine sanfte, helle Musik, die viel gemein hat mit den Tönen, die zu finden sie gehofft hat. Er ist es, schießt es ihr durch den Kopf; er muss es sein. So lange hat sie die Melodie nicht mehr vernommen, doch im Grunde weiß sie, was die Spieluhr, die der räudige Dieb bei sich getragen hat, bedeutet. Merkwürdig; sie hat ihren eigenen Besitz wiederhaben wollen, doch was ihr gebracht wurde, ändert alles. Aber... Kann das wirklich sein? Sie muss es überprüfen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Im selben Moment beginnt das Stück von neu, und als habe sie ihre Gedanken gelesen, öffnet Annabelle ihr eigenes filigran durchscheinendes und das zweite, tiefblaue Kleinod. Tatsächlich klingen die drei Uhren gemeinsam, eine warme, dunkle Bassstimme mit dem hellen Tenor, und über allem schwebt der schwere Alt, verführerisch und fast schon hypnotisch – doch den jungen Frauen tönt nur die Dissonanz im Ohr. Sie blicken sich an, und das stilles Einverständnis ist in ihren Augen zu lesen. Das Stück ist noch nicht vollendet. Dennoch, versucht Adriane sich einzureden, es ist ein Fortschritt, dessen Bedeutung kaum in Worte zu fassen ist. Alles ändert sich dadurch… Doch ihr ist bewusst, dass sie sich selbst gegenüber nicht ehrlich ist, dass sie das Wichtigste gar nicht in ihre Gedankenwelt lässt. Trotzdem verfolgt es sie. Die Entdeckung ist wichtig, gewiss, doch sie würde erst wirklich gewichtig, wirklich brauchbar, wenn der Dieb sich nur entsinnen könnte, woher er die Uhr hat; doch er kann sich an kein einziges Gesicht mehr erinnern, geschweige denn an einen Hinweis, der sie zum Besitzer führen könnte. Wie auch? Er ist schmutziger, räudiger Abschaum – er hat ihre Magd bestohlen, hat es gewagt, das Wappen auf ihrem Umhang zu missachten und somit sein Leben verwirkt. Er ist dumm; natürlich kann er ihr nicht helfen. Fast schon eine Stunde betrachtet sie nun das Schmuckstück, hofft, dass etwas in ihr eine Lösung auftun wird, doch im Grunde weiß sie, dass es sinnlos ist. Es gibt nur eine Möglichkeit. Annabelle währenddessen spürt die Wut in sich aufsteigen, und ihr ist wieder gegenwärtig, warum sie damals am Vorgehen der Älteren gezweifelt hat. Sie ist zu weich, und es fehlt ihr die nötige Strenge; zwar hat das bisher keine Probleme aufgeworfen, doch die Spieluhr zeigt, dass sie sich in einer falschen Sicherheit gewiegt haben. Sie weiß nun wieder, warum sie sich seiner hatte entledigen wollen… Je länger sie die junge Frau beobachtet, desto größer werden ihre Zweifel darüber, ob Adrianes Leben die Mühe wert war, die sie sich gemacht hat, um es zu formen. Nichts gibt es, keine neue Gefühlsregung, keine plötzliche Entschlossenheit; nur eine weitere Spieluhr, die spielt und Adriane an der Nase herumführt, indem sie ein Gefühl der Vertrautheit in ihr weckt und ihr vorgaukelt, die Vergangenheit sei in greifbarer Nähe.. In Wirklichkeit, erkennt Annabelle, ist sie weiter entfernt als jemals zuvor – es gibt kein Zurück mehr. Es gibt nur noch die Zukunft. Ihre Zukunft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)