Anabelle von Schreiberliene (The Dance) ================================================================================ Vorspiel -------- Regen fällt auf die Dächer der Hafenstadt, tanzt, springt in glitzernden Tropfen herum, bevor er herabperlt und die feuchte Erde tränkt, deren Durst schon vor Stunden gestillt wurde. Er fällt auf die Straßen, die sich silbrig schimmernd durch das Labyrinth der Häuser schlängeln, fällt auf die unwilligen Passanten, die nur noch spärlich aus den Türen treten und ihn verfluchen. Sie haben schon vergessen, wie sie ihn sich ersehnten. Die kristallenen Ströme haben die lange Dürre vertrieben und spülen nun den Schmutz der Hitze, den Staub, der die Luft geschwängert hat und die letzten Spuren des Todes, hinfort. Wie Musik klingen die Wasserperlen auf dem dünnen Regenfilm, der alles bedeckt; sie komponieren, improvisieren ein Lied des Lebens, das nicht abreißt, nicht endet und einem steten Wandel unterworfen ist, ein Stück, das die Menschen, denen es geschenkt wird, nicht hören. Sie ärgert das ewige Nass, das seine drei Wochen im Monat Liton mit unerbittlicher und doch verspielter Strenge einfordert. Sie verstehen nicht, wollen nicht verstehen, dass allein dadurch dieses kleine Stückchen Erde noch nicht zu einer salzigen Wüste geworden ist. Denn trotz der Nähe des Wassers gibt es häufig trockene Monate, die immer wieder das grüne Land zu verschlingen drohen, bis der Regen der angespannten Hitze ein Ende bereitet, sie ertränkt in seinen Fluten, die fruchtbare Erde rettet... Doch die Menschen vergessen schnell, und wünschen, träumen sich die reine Sonne wieder her, die sie, sobald sie tatsächlich scheint, ebenfalls verfluchen... Nur wenige begreifen die Absurdität, die Komik, die fast schon groteske Art dieses ewigen Kreislaufes, der sich unentwegt wiederholt, Jahr für Jahr, Generation für Generation, und scheinbar nie enden wird. Einer von denen, die es tun, schaut mit blinden Augen lachend durch die gläserne Kuppel seines Reiches, auf die der Regen sanfte Muster malt. Der Weg, der zu dem Weisen führt, ist schmal und verjüngt sich immerfort, je näher man dem dunklen, schmutzigen, heruntergekommenen Haus kommt. Es steht, umgeben von ebenso vernachlässigten, unbeständigen, wertlosen Riesen, unauffällig, kaum eines zweiten Blickes wert, doch wenn man die alte, fast verfallene Türe aufstößt, blickt man in einen langen, dunkelroten Gang, der wie die Lebensader durch das Gebäude führt. Der alte, oft, zu oft benutzte Teppich zeugt von den tausenden Füßen, die diesen Weg schon genommen haben, von all den Suchenden, die glaubten, hier Antworten zu finden und führt jeden Neuankömmling unweigerlich zu jener dunklen Tür, deren einst goldenen Beschläge längst von gierigen, schmutzigen Händen geraubt wurden. Selbst die funkelnde Klinke ist verschwunden; an ihrer Stelle rankt sich nun ein alter, knorriger Ast an der Tür hinauf. Öffnet man aber die Tür ins Reich des Alten, schwingt sie langsam, ehrfürchtig auf und führt den Blick direkt in den großen, achteckigen Raum, der sich mindestens zehn, zwanzig Meter in die Höhe streckt, gen Himmel strebt und dort von der großen, lichten, majestätisch funkelnden Kristallkuppel empfangen wird. Während die Wände nur noch träumerisch von ihrer einstigen Pracht erzählen können, nur noch die verblichenen Malereien vorzuweisen haben, bei denen man nicht mehr erkennen kann, was sie einst so kunstvoll zeigten und der Boden nur noch einen Hauch vom früheren Glanz zurückbehalten hat, ist dieses Gebilde aus Glas wie gerade erschaffen. Die winzigen Regentropfen, die lachend auf ihm tanzen, bauen es jede Sekunde neu, und das Licht, das durch all das auf den Boden fällt, spiegelt sich in dem Wasser wieder. Es funkelt, glitzert, scheint schöner als jeder Diamant, jeder Edelstein, und sei er noch so vollkommen. Sanfte Kreise zeichnen sich auf dem Boden ab, geben dem großen Raum etwas vom alten Zauber wieder, der so lange verschwunden schien. Es ist erstaunlich, dass noch niemand diesen Ort gefunden hat, der ihn nicht finden sollte, kaum zu glauben, dass all die gierigen Augen, die flinken Hände, die die Reichen ausschicken, um ihren Reichtum zu mehren, hier achtlos, ahnungslos vorbeigegangen sind, ohne zu merken, welches Kleinod vor ihnen lag. Doch so ist der Mensch nun einmal: Er sieht nur das, was offensichtlich ist, was sich ihm als Wahrheit aufdrängt, doch die wahren Dinge kümmern ihn nicht in seinem Egoismus. Dazu kommt, dass der Alte sein Königreich sorgsam schützt, bewahrt vor jenen, die hin und wieder doch die Wahrheit riechen, spüren, dass an diesem Haus, diesem kleinen, geduckten Etwas, etwas Magisches ist. Doch vor dem jungen Mann, der mitten im Raum steht, das blonde Haar mit winzigen, vom Regen gespendeten Lichttropfen bedeckt, braucht er nichts zu verstecken, hat der doch schon längst den Weg in sein Refugium gefunden, ist dem Teppich bis hierhin gefolgt und steht nun da, abwartend, mit den Gedanken noch bei seinem Begleiter, der draußen auf ihn wartet, ungeduldig seiner Rückkehr harrt. Es ist nicht das erste Mal, dass sein Denken um den großen, düsteren Mann kreist, der rücksichtslos alles bei Seite schafft, was ihn auf seinem Weg hindert und der seine Kraft so schamlos ausnutzt, um ihn, den eigentlichen Führer, zu unterdrücken, einzuschüchtern, und der andererseits so hilflos und suchend ist, dass der Dieb sich verantwortlich fühlt. Doch das allein kann nicht der Grund sein, dass er den Fremden den ganzen Weg von seiner Heimat bis nach hier gebracht hat, durch den Schmutz, den Schlamm, den kalten, unfreundlichen Regen gezogen ist, um ihn zu dem zu bringen, von dem er glaubt, dass er alles weiß. Die perlenden Tropfen spielen auf der spiegelnden Oberfläche, die nun, da der blaue Himmel vollends durchbricht, wie ein Stück des unendlichen Bogens wirkt, und ziehen den Blick immer wieder auf ihre Bahn, als wollten sie die grübelnden, schweren Gedanken auf andere Pfade führen. Doch Adamo Leham denkt weiter, folgt den Spuren der Wege, die er schon so oft beschritten hat in den vergangenen Tagen. Liebe, hat er für sich festgestellt, ist nicht, was ihn lenkt, denn er spürt keine Leidenschaft, keine Verlangen, kein Schwärmen. Dazu ist dieser Fremde zu bedrohlich, zu dunkel und zu wenig göttlich, nein, vielmehr zieht ihn die gleiche drängende Neugierde, die Faszination, die ihn schon an jenem Abend packte, als er den Gedächtnislosen in seine Hütte nahm, (eine Dummheit, die ihn fast sein Leben gekostet hätte) und zwingt ihn auf den Spuren des Anderen zu bleiben. Er hat tief in sich das Verlangen, diesen Menschen auf seiner Reise zu begleiten, mitzuerleben, wie sich seine Lebensgeschichte niederschreibt, auch wenn er jetzt noch gar nicht wissen kann, ob es sich lohnt... Doch die grünen Augen, die bedingungslos nach dem Verlorenen suchen, versprechen, dass es nicht langweilig werden wird, dass, wenn schon kein Ruhm, Reichtümer oder Liebschaften, zumindest eine aufregende, vielleicht tödliche Reise auf ihn wartet. Adamo weiß nicht, warum ihn das mit einem Mal lockt, ist er doch eher zurückhaltend und vorsichtig, sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht, doch es ist wie ein Seil, eine eiserne Kette, die ihn an den Fremden bindet. Und irgendwann, wenn das Morgen endlich gekommen, Wirklichkeit geworden ist, wird er erfahren, warum es ihn so treibt... Bis es soweit ist, wartet er aber erst einmal auf jenen Weisen, und gleichzeitig, wie dem Dieb plötzlich unangenehm bewusst wird, wartet der Fremde ungeduldig auf ihn, immer unruhiger, bis er vielleicht einfach hereinbricht in das Reich des Lichts. Nun auch hektisch, sich der Zeit überdeutlich bewusst, schaut der junge Man auf seine Füße, die in ihren schmutzigen Schuhen kaum vom Boden zu unterscheiden sind und weiß nicht, dass ganz nahe, nur wenige Meter in der Höhe, der ist, auf den er wartet, den er sich jetzt immer sehnlicher herbeiwünscht, und den er mit seinen Gedanken beinahe zu rufen versucht. Der Alte steht dort, in der dunklen Kutte, das Gesicht noch immer gen Himmel gehoben, den immer leiser werdenden Regentropfen lauschend und doch jede Bewegung, jede Regung seines Gastes beobachtend - blicklos, blind, und doch genauer als es jeder andere könnte. Er hört die Ungeduld, riecht sie, den Schweiß, das schale Wasser der kargen Bettstätte der letzten Tage, den frischen Tau des Morgens und den unverkennbaren Duft eine bevorstehenden, langen Reise, der zu ihm hinaufsteigt und so viel mehr verrät, als jede Menschenzunge je berichten könnte. Lächelnd dreht der Blinde, eingehüllt in seiner Kutte, sich um und schreitet lautlos durch eine Tür, die von der zweiten, von unten nicht zu erkennenden Etage hinunterführt. Adamo währenddessen wartet. Er denkt an die vielen Stunden, die er hier verbracht, unter der Aufsicht des gestrengen Lehrers, der ihm beibringen wollte, seine Gefühle zu verstecken, die Angst fernzuhalten, sich gut zu verhalten, und bei Gott, es hatte wohl nie einen schlechteren Schüler als ihn gegeben, er, der er nicht lernte, nicht tat, was man ihm sagte, nicht aus Trotz oder Rebellion, sondern nur, weil er es nicht konnte. Weinend, klagend, fluchend hatte er es immer und immer wieder versucht, eines um das andere Mal, verzweifelt, schließlich verbissen, und war doch gescheitert, bis es aufgab und dieser Stätte den Rücken kehrte, um das zu tun, was er am besten konnte: Stehlen. Das stand ihm schon immer besser als dieses Engelhafte, Gute, dass am Ende entweder zu großem Reichtum oder zu Elend und Tod führt. Diese Gedanken kreisen eine Weile in seinem Kopf, und Adamo wartet immer ungeduldiger. Er scheut den Gedanken, seinen alten Lehrmeister wiedersehen zu müssen, zu schrecklich, zu abstoßend sind die Erinnerungen und er fürchtet sich vor dem Augenblick, wo einer der weisesten, der größten Druiden ihn wieder begrüßen wird. Es ekelt ihn jetzt schon davor. Und doch wartet er, angestrengt, ungeduldig. Wie lange er steht, weiß er nicht, doch es ist zu lange. Wieder denkt er an den Unmut seines Begleiters, den er mehr fürchtet als alles andere, und das nicht, weil es Streit nicht vertragen kann, sonder schlicht und einfach deshalb, weil die Gewalt, diese strotzende Kraft ihm zurecht Respekt einflößt. Kurz streift ihn der Gedanke, dass er hier doch der Führende, der Bestimmende ist, dass er jederzeit verschwinden kann, doch sofort wird ihm klar, dass es schwer sein wird, all die Faszination zu vergessen und den Fremden alleine zu lassen. Und der Gedächtnislose weiß das auch... Von dessen roher Kraft ganz zu schweigen. Adamo wartet lauschend, und bemerkt doch nicht, wie eine kleine Tür aufschwingt, leise knarrend einen anderen Weg in das Licht zeigt. Erst ein Räuspern, ein knarrendes, knarzendes Geräusch, lässt ihn herumfahren und in das hässlichste Gesicht blicken, das das Menschengeschlecht je hervorgebracht hat. Doch trotz des Widerwillens, des Ekels und der Übelkeit, die ihn gleich überfallen, zwingt er sich, genau hinzusehen. Nicht etwa, weil er den anderen nicht verletzen will, nein, um den macht er sich keine Gedanken, er weiß nur, dass er kein Wort herausbringen wird, wenn er sich nicht an diese Erscheinung gewöhnt. Und sie ist wahrhaft schrecklich... Keine fünf Fuß groß ist die verkrüppelte Gestalt, die noch dazu vornübergebeugt auf einen Stock gestützt läuft und Adamo damit kaum bis an die Brust reicht, eingehüllt in eine schwarze Kutte, die den missgebildeten Körper kaum bedecken, nicht verstecken kann. Der Kopf thront monströs, mindestens ein Fünftel, wenn nicht mehr der gesamten Körperlänge einnehmend, auf einem dünnen, seiner Aufgabe nicht gewachsen scheinenden Hals, an dem große, gräulich schimmernde Hautlappen herunterhängen, den Blick unweigerlich auf sich ziehen. Das Kinn dagegen ragt wie ein Fels aus dem zerschundenen Gesicht, das mit seinen Spalten und Kratern wirkt, als habe jemand mit einer Axt darauf eingeschlagen, und drückt mit der schweren, hohen und doch so gar nicht eleganten Stirn das gesamte Gesicht zusammen, sodass die kleine, schon gespaltenen Nase nur mit Mühe zu erkennen ist. Der riesige Spalt dagegen, der fast den Kiefer abtrennt, fällt sofort ins Auge, wulstig, schmutzig braun und zerrissen, erinnert dabei kaum noch an ein menschliches Organ, hat keine Ähnlichkeit mit einem Mund. In dieser einzigen Ruine, diesem Schlachtfeld, das nichts mehr mit einem Gesicht gemein hat und das wirkt, als habe es ein äußerst ungeschickter Künstler, der nur eine sehr vage Ahnung von den Zügen dieses Wesens hat, mit einer stumpfen Klinge aus dem Holz geschnitzt, sind die Augen dennoch bei weitem das Schrecklichste. Tiefe Wunden, bedeckt von schorfiger, dünner Haut, die fest darüber gespannt ist und doch erahnen, halb erkennen lässt, wie es dahinter aussieht, zeugen von der Unmenschlichkeit der Menschen, vom rauen Umgang mit dem Missgebildeten, dem sie ein Leid mehr antaten. Trotz der buschigen, schmutzig wirkenden Augenbrauen ist der Mann fast zur Gänze kahl, nur wenige, armselige Strähnen sprießen auf dem von roten Flecken bedeckten Kopf, der im Ganzen auf eine grausige Art wie der eines Neugeborenen wirkt - überall Haut, als müsse er noch hineinwachsen, als habe man ihm einen Anzug gegeben, der einfach nicht passen will. Auch der Rest ist nicht schöner, nicht weniger hässlich; magere, zwergenhafte Schultern, an denen geradezu massige Arme hängen, der gewölbte, unnatürlich aufgeblasene Brustkorb, der unvermittelt in einen eingedrückten Bauch übergeht, als habe ein Riese die Gestalt gewaltsam zusammengepresst. Dann die Beine, die, unförmig und voller Scharten, ohne den Schutz der Kutte wohl lachhaft oder auch furchtbar wirken würden. Das einzig Schöne, Anziehende, fast schon Perfekte an diesem Monstrum sind die Hände. An diesen versucht der Junge seinen Geist zu klammern, als er, selber trotz seiner Dürre und Ungepflegtheit immerhin knapp sechs Fuß groß und um unendlich viel ansehnlicher, versucht, sich wieder zu fangen. Groß sind sie, aber nicht klobig, vielmehr feingliedrig, fast schon zerbrechlich und doch voller Kraft. Schlanke, lange Finger gehen über in kurze, kräftige Nägel und selbst die Haut ist straff, fest und voller Energie. An diesem seltsamen Wesen wirken sie wie ein Geschenk Gottes, als wolle der Herr seine Unachtsamkeit wieder gutmachen, dem Krüppel etwas Einzigartiges schenken. Adamo schluckt. Er spürt, wie der Ekel ihn zu überwältigen droht, als er an den Rest des Weisen denkt, versucht aber, ihn zurückzudrängen. Er merkt, dass seine Hände zittern, beben. Er fühlt seine Füße, die nur noch laufen wollen. Und besiegt all das. Zwar konnte er dem Alten noch nie die Hand reichen, zu heilig erschienen sie ihm, doch nun neigt er leicht seinen Kopf, wohlwissend, dass sein ehemaliger Mentor das sehen wird und grüßt. "Gottes Friede sei mit euch, Sh'akr Odeam, großer Meister." Der Alte, der genau weiß, was sein Schüler denkt, der dessen Widerwillen, hier zu sein, riechen und die Abscheu fast schon schmecken kann, lächelt, sodass sein Gesicht auseinanderzufallen droht und erwidert freundlich die Formel, die dank seiner grässlichen, schiefen Stimme drohend wirkt. "Möge er dich auf all deinen Wegen begleiten, Adamo." Er nickt versonnen, kostet die Unruhe des jungen Mannes, die wie greifbar in der Luft liegt, auf seiner Zunge und weiß, dass sein Schüler bald schon sein Kommen rechtfertigen wird, denn der bittersüße Geruch von Schweiß wird immer stärker, färbt die Luft grau. Außerdem spürt er das Zittern seines Gastes, der sich kaum beherrschen kann. Der Weise muss mit einem Mal noch ein wenig stärker lächeln, denn unvermutet muss er daran denken, wie viele Stunden er mit diesem Menschen verschwendet hat. Er hatte ihm beibringen wollen, wie man seine Gefühle, sein Denken versteckt, doch es hatte nicht gefruchtet, und bevor die Übung den kleinen Jungen weiterbringen konnte, war dieser schon verschwunden, um sein Glück auf der Straße zu suchen, seine Bestimmung zu jagen. Kaum etwas hatte er mitgenommen in die Fremde, und das ist wohl der Grund, der ihn wieder hergetrieben hat. Der ungeduldige Ausreißer braucht eine Antwort und hofft, sie hier zu erhalten. Doch auch der Fremde, der vor dem Haus wartet, und den der Alte schon längst bemerkt, geschmeckt hat, sucht nach Lösungen, verzehrt sich selbst vor Unruhe und wartet ungehalten, nicht besorgt, auf den, der vor ihm steht. Doch der greise Krüppel will es dem Jungen nicht leichter machen, möchte, dass dieser alleine spricht. Und das tut der auch. "Ich freue mich, euch wiederzusehen. Verzeiht mein Stören, doch ich benötige Hilfe für einen... einen Freund." Einen Freund... Der Alte muss leise auflachen, denn was in den Worten schwingt, in seinen Ohren tönt, ist keine Freundschaft, nicht einmal Zuneigung, doch er beschließt, Adamo zu helfen, einen Rat für seinen Schüler zu suchen, den Schüler, der nur kommt, um etwas zu nehmen. "Erzähle." Und der Junge erzählt. Es ist die Geschichte eines Fremden, der sein Wissen um die Vergangenheit verloren hat, und nun, nicht wissend, was er sucht, nicht fühlend, was er ist, nicht sehend, welcher Weg der richtige ist, mit seiner ungestümen, unberechenbaren Art danach sucht, der ein Geheimnis hat, das er selbst vergaß und der bedingungslos einer sanften Melodie folgt, während in ihm nur Rohheit ist. Es ist aber genauso die Geschichte eines Diebes, der, überrumpelt und fast getötet, nicht anders kann, als dem Fremden aus reiner Neugierde zu folgen, der sich der Anziehung nicht entziehen und selbst nicht entscheiden, sondern nur gehorchen kann. Während Adamo erzählt, verraten seine Stimme und seine Gesten, seine Bewegungen und sein Atmen, sein ganzes Sein dem Weisen noch so viel mehr, erzählen eine Geschichte der Angst, des Fragens, des Grübeln, des Nicht-Verstehens, der Rücksichtslosigkeit und als der junge Mann endet, weiß der Alte schon, dass keines seiner warnenden Worte dem armen Tropf noch helfen kann, dass dieser tun wird, was der Gedächtnislose verlangt – ungeachtet der Konsequenzen. Der Meister seufzt leise und bittet seinen Besucher, den Begleiter zu ihm zu bringen, und kaum ist Adamo verschwunden, lässt er sich im Schatten der Türe nieder. Man muss den Fremden doch nicht gleich verschrecken. Der Krieger unterdessen wartet ungeduldig, denn ebenso wenig wie es ihm behagt, sich vom Regen tränken lassen zu müssen, mag er diese Ungewissheit. Er hätte aus seinem Führer einfach herauspressen sollen, was sie hier wollen, doch es schien ihm nicht so wichtig, wusste er doch noch nicht, wie lange er vor dem Haus stehen soll... Nun aber erschöpft sich die von je her spärliche Geduld mit jeder Sekunde mehr und auch als das kühle Nass nicht länger zur Erde fällt, spürt der Fremde ein Aufbegehren gegen die Situation, eine Wut, die sich immer schneller aufbaut und mit jeder Sekunde, die verstreicht, bis der Dieb zurückkommt, wächst. Sein Pferd, ein robuster Hengst, zwar nicht schnell, aber zumindest in der Lage ihn sicher und lange zu tragen, tropft, von seinem eigenem Haar, dunkel und glatt, perlt es und sein grober Wollumhang, klamm und schwer vom Wasser, schwimmt beinahe, während stinkender Schmutz mit den letzten Strömen von den Straßen hinab gespült wird... Ihm missfällt die Situation, und gerade als er beschließt, dass es ihm egal ist, was der Besitzer dieser Ruine will, schwingt die Tür einladend auf und zeigt Adamo, der, außer Atem vom schnellen Lauf, im Gang steht. Kurz spielt der Gedächtnislose mit dem Gedanken, ihn für die lange Wartezeit, das ewige Ausharren zu bestrafen, besinnt sich dann aber doch eines Besseren. Er braucht die Fürsprache dieses Wurms, zumindest jetzt noch. Ihm einige Schläge zukommen zu lassen, wird auch noch möglich sein, wenn sie den seltsamen Weisen, von dem sein Führer nun hastig spricht, befragt haben, und Gott bewahre diesen einfältigen Tölpel, wenn der Greis nicht die Antworten weiß! So folgt er dem blonden Mann durch den dunkelroten Gang, der drückend und unheimlich ins Innere des Baues führt und sich im Dunkeln verliert. Würde er ein wenig mehr darauf achten, was um ihn herum geschieht, würde er vielleicht feststellen, dass das Wasser, das aus jeder seiner Poren zu fließen, aus seinen Stiefeln zu quellen scheint, den Boden zwar benetzt, doch nicht tränkt - es verschwindet einfach. . Doch dafür hat der Suchende kein Auge, noch hat das Alter ihn nicht gelehrt, dass auch scheinbar Unwichtiges wichtig sein kann, noch zählt nur, was ihn bewegt und so tritt er durch die alte, ehrwürdige Türe, ohne sich bewusst zu sein, welche Macht der hat, den er hier treffen wird Zuerst blendet das helle Licht, lässt sanfte Farben vor seinen Augen tanzen, dann gewöhnt er sich an die Sonne, die, tausendfach gespiegelt, vervielfacht, durch die Kuppel dringt und den ganzen Saal mit einer Wärme und Klarheit füllt, die ihn fast zu rühren schafft. Doch dann lässt er seinen Blick suchend schweifen, bis er endlich findet, weswegen er hergekommen ist. Ein kleiner, geduckter, merkwürdig verdrehter Schemen sitzt im Schatten einer weiteren, kleinen Türe, scheint sich seinem Blick entziehen zu wollen, und weigert sich, zumindest in Gedanken des Kriegers, seine Fragen zu beantworten. Mit forschen, Ehrfurcht heischenden Schritten schreitet er, fest entschlossen, den Alten zu zwingen, ohne auch nur ein Wort mit ihm gesprochen zu haben, auf diesen zu und schlägt die Türe zu. Und da stehen sie. Ein junger Mann, mehr als sechs Fuß groß, lebendig, vor Kraft strotzend, in der Blüte seiner Jugend und, ihm gegenüber, der Alte, klein, missgebildet und auf das Schlimmste entstellt, kraftlos, das Leben schon fast hinter sich gelassen - größer könnte der Gegensatz nicht sein, unterstrichen vom warmen, pulsierenden Licht, das ihre Silhouetten klarer hervortreten lässt. Für einen Moment ist der Fremde sprachlos, gelähmt, gefesselt vor Entsetzen, vor Ekel und verspürt den unstillbaren Drang, dieses Wesen, dieses Ungetüm, das Monster, das vor seinen Füßen sitzt, mit einem schnellen Schlag zu töten, dieses Leben auszulöschen, das ihn starr werden lässt. Schon ist seine Hand beim Griff seines Schwertes, schon ist der Gedanke dabei, Wirklichkeit zu werden, da hebt der Alte sein Gesicht noch weiter zu ihm empor und lächelt, lächelt auf so schreckliche Weise, dass die unruhigen Finger des Kriegers nichts mehr fassen können, unfähig sind, die Bewegung zu beenden. "Gottes Friede sei mit euch, junger Mann. Man erzählte mir bereits von eurer misslichen Lage; wenn ihr mir aufhelfen wollt, werde ich euch hoffentlich eine Antwort auf eure Fragen geben können." Er hebt den Arm, streckt dem, der ihn, wie er sehr wohl weiß, gerade töten wollte, die Hand hin, auffordernd, und nach einigen Sekunden, in denen der Gedächtnislose sich fragt, was der Alte wohl wissen kann, ergreift er diese und zieht, das Gesicht abwendend, den anderen hoch. Der missgestaltete Zwerg, dem es unmöglich ist, dem Besucher ins Gesicht zu sehen, ohne den eigenen Kopf in den Nacken zu legen, weiß, dass der Fremde niemand ist, den er länger als nötig aufhalten soll. Er spürt auch, dass die Gefahr von diesem mit jeder Sekunde größer wird, und so streckt er noch einmal seine Hand aus. "Um euch zu helfen, benötige ich das Kleinod - die einzige Spur, wie Adamo mir verriet." Sofort schreit es in dem Krieger auf, ein gellendes Kreischen, das sich mit aller Macht dagegen wehrt, diesem Monstrum, diesem Unmensch seinen Schatz zu überlassen, dem Wesen, das aussieht wie dem Teufel versprochen, das Schmuckstück auch nur für wenige Sekunden anzuvertrauen - doch noch während Vernunft und Gefühl miteinander kämpfen, während tausend Gedanken im Dunkeln aufblitzen und wieder verschwinden, während Adamo verschreckt daneben steht und sich fragt, ob er das Richtige getan hat oder bald für sein Tun bestraft wird, bewegt sich die Hand wie von selbst nach vorne und lässt zu, dass der Weise die Uhr an sich nimmt. Vorsichtig betastet der sie, fühlt die feinen Rillen, die das Werkzeug eines begabten Schmiedes hinterlassen hat, fühlt die kleine Mulde, die unter seinen suchenden Fingerkuppen nachgibt und das Innere der Spieluhr freigibt. Sofort ertönt die sanfte Melodie wieder, tanzen die Töne durch den großen Saal, noch zauberhafter durch das helle Licht, indem kleine Staubteilchen sich im Takt zu drehen scheinen, und der Druide aus dem fernen Land im Norden hebt merklich seine Augenbrauen, als ihm zusätzlich noch eine kleine Gravur auffällt, verwischt, verbraucht, fast vernichtet von tausenden von Fingern, die darüberstrichen - doch weiter kommt er nicht, denn nachdem der Atem des Besitzers immer schneller, immer lauter, der Angstschweiß und die innere Spannung immer merklicher geworden sind, wird das Objekt ihm entrissen. Gierig schließen sich die Finger des Gedächtnislosen um das kühle Metall, denn nachdem tausende irrationale, wirre Gedanken durch seinen Kopf gestoben sind, ist er davon überzeugt, dass der Alte ihm seinen Schatz rauben wird, wenn er nicht schneller ist, ihm nicht die Gelegenheit nimmt - fast schon ist er entschlossen, die Gefahr endgültig zu beseitigen, und auch das abstoßende Äußere seines Gegenüber trägt zu seinem Misstrauen bei. Doch dieser wäre nicht schon so lange ein Missgebildeter auf dieser Welt, wenn er nicht gelernt hätte, das Unverständnis, die Gedanken der Menschen zu erahnen und ihren bösen Taten zuvorzukommen, und so beginnt er, ohne zu zögern die Antworten zu geben. "Das was du suchst befindet sich jenseits des großen Wassers, in Salomé... Der, dem diese Uhr gehört, trägt die Initialen A. M., aber..." "Sie gehört mir." Scheinbar in seiner Vermutung bestätigt, der Weise wolle ihm seinen Schatz rauben, schießen die Worte wie Kanonenkugeln in den Raum, wollen im Vorfeld verhindern, dass ihm jemand seinen Besitz streitig macht, immer noch beherrscht von der Abscheu. Doch Sh'akr Odeam schütteln unmerklich den Kopf, versucht, den jungen Mann auf die Wahrheit zu bringen, ihm zu helfen in seiner Suche. "Nein, ich..." "Halt!" Funkelnd, bedrohlich, abwehrend steht der Krieger dort, will nicht ein Wort, nicht einen Laut mehr von dem hören, der ihm, wie er denkt, alles nehmen will und beginnt entschlossen den Rückzug. "Das reicht. Wir gehen also über das große Wasser, um dort zu suchen, was wir hier nicht finden können." Wieder schüttelt der Weise den riesigen Kopf, will dem jungen Mann noch einen Rat mehr geben, doch kaum hat er seinen Hände vorsichtig in die Richtung gestreckt, da stößt dieser ihn auch schon zu Boden, erfüllt von einem Ekel, der einfach nicht weichen will. Und ohne weiter zu warten, ohne noch einen Blick auf den Gestürzten zu werfen, dreht der Krieger sich um und schreitet schnell aus dem Raum hinaus, hinein in den Gang, der nun rötlich zu brennen scheint, ihn aber widerstandslos passieren lässt. Adamo dagegen bleibt kurz zurück, schaut auf den Greis, der auf dem Boden liegt und Schwierigkeiten hat, sich zu erheben, überlegt kurz, kann sich aber nicht dazu durchringen, die monströse Gestalt anzufassen, um ihr zu helfen. "Gottes Segen sei mit euch, Meister..." Lautlos, geschwind, wie er es immer tut, verschwindet auch er, folgt dem Fremden, dem er einfach nicht abschwören kann, hinaus zu den Pferden, die geduldig warten, sie bald zum nahen Hafen tragen werden. Der Alte aber liegt noch am Boden, kaum merklich lächelnd und die blinden Augen zu dem Himmel, den er schon so lange nicht mehr gesehen hat, gehoben. "Möge er dich auf all deinen Wegen schützen, Adamo. Du wirst ihn bitter brauchen." Leise fallen leichte Wasserperlen wieder auf die Kristallkuppel, bevor sie tanzend, spielend herabrinnen und über die feuchten Straßen laufen, sich zu fröhlich sprudelnden Bächen vereinend in den unendlich vielen Gassen verschwinden. Es regnet wieder in der schönen Hafenstadt am Wasser. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)