Mundus Vult Decipi von abranka (Die Welt will betrogen sein) ================================================================================ Kapitel 1: Mundus Vult Decipi - Die Welt will betrogen sein ----------------------------------------------------------- Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen. Er war müde. So unendlich müde. Und er hatte es satt. So unglaublich satt. Er strich sich die halblangen pinkfarbenen Haare aus der Stirn. Noch nicht einmal seine Frisur konnte er ändern, ohne dass seine Plattenfirma auf die Barrikaden ging. Freiheit - pah! Welche Freiheiten hatte er schon? Er war Sänger der weltweit erfolgreichen Gruppe Dark Desire, aber was brachte ihm das? Noch nicht einmal übermäßigen Reichtum. Das einzige, was er wirklich davon hatte, war, ein Vogel in einem goldenen Käfig zu sein. Nichts weiter. Er hasste dieses Leben. Irgendwann einmal hatte er es für seinen größten Traum gehalten, berühmt zu sein, Millionen von Platten zu verkaufen, in ausverkauften Stadien zu spielen und die Welt mit seiner Musik zu erobern. Aber jetzt? Der junge, schlaksige Mann schnaubte unwillig. Nichts davon war so, wie er es sich erträumt hatte. Gar nichts. Vor allem nicht die Musik. Diese Musik. "Elias! Komm, wir spielen noch ne Zugabe!" Der hoch gewachsene Bassist Tristan steckte kurz seinen türkisfarbenen Haarschopf durch die Tür. "Ja, ja...", maulte Elias und stieß sich schwungvoll von dem Stuhl ab. Er hatte keinen Bock. Keinen Bock, wieder von der großen Liebe zu singen, wenn sie für ihn nicht in Sicht war. Wenn er nicht an sie glauben konnte. Er hatte keinen Bock, wieder von kreischenden Teenagern mit diversen Gegenständen beschmissen zu werden. Warum hatten sie ihre Band eigentlich Dark Desire genannt, wo doch all das Düstere längst verschwunden war? Ihre selbst geschriebenen Texte konnten sie ja noch nicht einmal zu Songs weiterentwickeln - da hatte sofort die Plattenfirma den Daumen drauf und befahl, dass man doch optimistischer sein und an die Zielgruppe denken sollte. Zielgruppe - was interessierte ihn denn das? Elias knurrte leise einige Flüche vor sich hin und trabte die Stufen hinauf, die auf die Bühne führten. Die Band erwartete ihn bereits. Gemeinsam traten sie wieder hinaus und sofort brach das ohrenbetäubende Gekreische wieder los. Elias musste sich zusammenreißen, um sich nicht die Ohren zuzuhalten. Mit einem strahlenden Lächeln griff er nach dem Mikrofon und dankte den Fans. "Und nun, nur für euch: My love! Denn wir lieben euch alle!" Seine Stimme kam ihm so falsch vor - hörten sie denn nicht, dass er log? Dass alles nur eine Lüge war? Ein verdammter Betrug. An ihnen, an ihm selbst. Nun, dem hochschlagenden Gekreische nach zu urteilen eher nicht. Er seufzte unhörbar, hielt das Mikro fester und als die ersten Klavierklänge begannen, fing er an zu singen. Es war zwei Tage später, als Elias im Hotelrestaurant der nächsten Station ihrer Welttournee unangekündigten Besuch der Managerin von Dark Desire bekam. Lucy Starlight knallte eine Zeitschrift vor ihm auf den Tisch und ließ sich ihm gegenüber mit zornig funkelnden Augen nieder. "Lies!", forderte sie ihn auf, als er keine Anstalten machte, die Zeitschrift aufzuschlagen, sondern sie nur gleichgültig anblickte. Elias seufzte leise und schlug das Magazin auf. Der Artikel, den Starlight meinte, war mit gelbem Textmarker hervorgehoben. Seine Augen huschten über die Zeilen. ,Vollkommen gleichgültiger Sänger.' ,Keinerlei Emotionen in der Stimme.' ,Wie ein schlechter Abklatsch ihrer selbst.' ,Muss zum Singen regelrecht gezwungen werden.' ,Band läuft sich tot.' "Bist du zufrieden?", fauchte Starlight los, als Elias die Zeitschrift sinken ließ und sie abwartend ansah. "Du willst die Band doch schon lange nicht mehr - du willst doch nur noch aufhören! Allein dein Vertrag zwingt dich zum Bleiben!" "Gut zusammengefasst." Elias grinste leicht. "Abgesehen davon, dass ich nicht genug von der Band habe. Nur von dem, was wir hier machen müssen. Ist dir schon mal aufgefallen, dass wir alle nicht mehr wir selbst sind? Wir sind nichts weiter als dieser ,Abklatsch', wie dieser Reporter so schön schreibt. Dark Desire - was für ein lachhafter Name für so eine dumme Boyband, wie wir es geworden sind! Wir sind alle keine sechzehn mehr - mit sechzehn fanden wir es toll, bunte Haare zu haben und mit Teddybären beworfen zu werden. Wir sind nur jetzt alle Mitte zwanzig und da macht das keinen Spaß mehr! Es macht keinen Spaß mehr, das tausendste Lied über die ewige Liebe zu singen. Es macht keinen Spaß mehr, ein kleiner Junge zu sein! Es macht keinen Spaß mehr, bunte Haare zu haben, nur weil das das Image ist!" Das englische Wort klang aus seinem Mund wie ein Schimpfwort. Deswegen werden wir schlecht - deswegen bin ich schlecht! Krieg das in deinen Schädel rein! Wenn du willst, dass diese Band noch etwas wert ist, dann lass uns endlich unsere Freiheiten! Lass uns unsere Songs schreiben und spielen! Dann können wir die Kurve kriegen. Herrgott, sogar die Backstreet Boys sind irgendwann mal einigermaßen erwachsen geworden!" Starlight zündete sich eine Zigarette an und sog den Qualm tief ein. Langsam stieß sie eine leichte Rauchfahne aus und sagte dann: "Schätzchen, das geht nicht. Das Konzept hinter der Band sieht anders aus. Ihr seid eine süße, niedliche Boyband, die Lovesongs singt und damit bei kleinen Mädchen punktet. Ihr könnt euch nicht verändern. Das geht nicht." "Okay... Dann hast du hiermit meine Kündigung. Ich verlasse die Band, denn auf diesen Mist habe ich keinen Bock mehr. Dazu ist mir mein Leben echt zu schade." Elias schenkte Starlight noch ein strahlendes Lächeln, dann stand er auf und ging. Am nächsten Tag war es die Schlagzeile in sämtlichen Zeitungen. ,Boyband Dark Desire trennt sich!' ,Hotlines für Fans eingerichtet!' ,Selbstmorde befürchtet!' Elias las die Schlagzeilen emotionslos. Der Sänger hatte sich seine Haare abgeschnitten, sodass nur noch wenige pinkfarbene Strähnen übrig geblieben waren. Er hatte überlegt, ob er sie schwarz färben lassen sollte, das dann aber doch gelassen. Irgendwie mochte er diese Haarfarbe doch - zumindest, wenn man ihm eine Wahl ließ. Er war froh, dass er diese verdammte Lügen endlich hinter sich hatte. Dass einige Fans sich wirklich versuchten umzubringen, tat ihm unendlich leid, aber andererseits fragte er sich auch, was sie eigentlich in ihm und der Band sahen, dass sie so weit gingen. Wer war er denn schon? Bisher war er nur ein Sänger gewesen, der grottenschlechte Lovesongs sang. "Na, und jetzt?" Tristan schlug ihm lächelnd auf die Schultern. Auch seine Haare hatten sich gewandelt - statt türkis trug er jetzt hellblond. "Was wohl? Wir werden's unserem verdammten ehemaligen Management zeigen - wir werden es allen zeigen und endlich erwachsen werden. Unsere erste Single wird sie alle aufschrecken." Elias grinste breit. "Solange ich dabei endlich richtig rocken darf, bin ich dabei." Tristan stieß seinen besten Freund herausfordernd in die Seite. "Wirst du. Schade nur, dass die anderen nicht mitmachen wollen..." Tristan zuckte mit den Achseln. "Die waren halt mit dem ganzen Zeug doch recht zufrieden. Haben wohl Schiss, dass es schief gehen könnte..." "Und du?" Elias blickte den Bassisten fragend an. "Kein bisschen. Es kann alles nur besser werden. Mach dir keine Sorgen - auf mich kannst du zählen. Lass es uns allen zeigen. Egal, ob wir am Ende ganz oben stehen und oder ganz unten. Ich will mich nicht mehr verstellen, ich will nicht mehr ein netter, kleiner Junge sein - ich will endlich richtige Rockmusik machen!" Dabei vergaß er aber nicht, dass besonders Elias ziemlich tief in der allseits bekannten Scheiße steckte. Durch seinen Austritt aus der Band und der damit verbundenen Konventionalstrafe, war er finanziell ruiniert. Wenn ihre Single floppte, dann konnte er den Rest seines Lebens praktisch abschreiben. Er würde finanziell nie wieder auf die Beine kommen. Doch irgendwie hatte Tristan das Gefühl, dass das den jungen Sänger nur noch mehr anstacheln würde, sein Bestes zu geben. Er würde es dieser dummen Plattenfirma zeigen wollen - er würde es der Welt zeigen wollen. Und Tristan war unglaublich froh, dass er dabei sein konnte. Außerdem war er Elias ungleich dankbar dafür, dass dieser den Mut aufgebracht hatte, sich aus diesem Knebelvertrag zu befreien und ihm damit zugleich ebenfalls die Freiheit geschenkt hatte. Spontan schloss Tristan seine Arme um Elias. Der Sänger lachte und erwiderte die Umarmung. "Nach uns die Sintflut?", fragte der Bassist mit einem herausfordernden Ausdruck in den Augen. "Nach uns die Sintflut", bestätigte Elias. Ein halbes Jahr später hatten sie ihren ersten Auftritt - ihre Weltpremiere in irgendeiner Samstagabendshow. "Und hier sind sie - Tristan und Elias von der erfolgreichen Band Dark Desire! Ihre neue Band heißt True und sie werden uns in einer Weltpremiere ihre erste Single präsentieren. Applaus!" Der austauschbare Showmaster deutete in einer ausgreifenden Armbewegung auf die Bühne. Elias und Tristan nickten sich kurz zu. Die Show begann. Das Lied begann ruhig. Elias saß am Piano und schlug sanfte Töne an. Langsam begann er zu singen. "Did you ever ask how I feel? did you ever look behind this pretty face? there was no try none!" Bei dem letzten Worte sprang er auf. Das Klavier war vergessen. Stattdessen setzen harte Gitarrenriffs sein. Tristan konnte sich endlich austoben und rocken. Der Schlagzeuger und die anderen beiden Gitarristen stiegen ein, peitschten die Melodie voran. "I was caught in a cage made of gold my wings were clipped but now I'm here - free!" Elias genoss jedes einzelne Wort. In jeden Vers, jede Zeile legte er all seine Kraft. Die Musik schien seine Stimme zu tragen, hoch hinaufzuheben und ihr nur noch mehr Nachdruck zu verleihen. Mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht begann er den Refrain. "No one ever wants to see the truth the façade is always enough just a pretty face and a simple song mundus vult decipi" Elias lachte hell auf. Der schmale Sänger wirbelte mit einer Energie über die Bühne, die er noch nie zuvor gezeigt hatte. Er blieb neben Tristan stehen und sang für ihn die nächsten Zeilen. "Come on open your eyes this is me have a look and discover who I am" Abrupt wandte sich der pinkhaarige Sänger ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Publikum. Herausfordernd blickte er die wogende Menge an. Begeisterung war überall zu sehen. Sie klatschten mit. Einige Mädchen standen auf ihren Sitzen und jubelten. Mit Freude sah Elias aber auch, dass sich ihnen einige Jungen anschlossen. "Not a little boy not a pretty face grown up and independent now someone who's just himself" Diesmal fiel Tristan mit in den Refrain ein. Gemeinsam gaben sie dem Ausdruck, was sie in den letzten Jahren so abgrundtief gehasst hatten. Gemeinsam jubelten sie den Neuanfang hoch. "No one ever wants to see the truth the façade is always enough just a pretty face and a simple song mundus vult decipi" Schritt für Schritt begab sich Elias zu dem Klavier zurück. Er ließ sich auf den Stuhl fallen. Seine Finger huschten wieder über die Tasten. Bass, Gitarren und Schlagzeug zogen sich langsam zurück und überließen zum Abschluss wieder dem Klavier das Feld. Elias' Stimme klang sanft und beruhigend, als er die letzten Zeilen sang. "Mundus vult decipi but I won't make it easy I'm here just telling the truth" Applaus brandete hoch. Elias' Augen suchten Tristans. Als sich ihre Blicke trafen, erkannten sie darin jeweils die Zufriedenheit, die sie selbst verspürten. Egal, ob dieser Erfolg hier nur ein Strohfeuer war oder der Beginn einer neuen, großen Karriere, egal, ob das hier nur ein kurzer Moment des Fliegens vor dem endgültigen Fall war - sie waren zufrieden. Endlich konnten sie tun, was sie wollten. Und wenn sie schon dabei waren, dann wollten sie der Welt doch wenigstens vor Augen führen, wer sie waren. Und dass die Welt dazu neigt, betrogen werden zu wollen. Schließlich ist es so leicht, einer netten Fassade zu glauben... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)