Kurzgeschichten feat. MiKu von MSK (Archiv für Ficlets/Drabbles/Shortstorys) ================================================================================ Lieben/Brauchen --------------- Lieben/Brauchen Schon zum fünften Mal diesen Monat... Träge legte Rod den Kopf weit in den Nacken, so dass er kaum mehr Muskelkraft brauchte, um seine Augen zu öffnen und die Lider sich fast von selbst hoben. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, als er gewartet hatte. Einige Male ließ er seinen Arm Anschwung nehmen, bevor er ihn auf die Höhe hob, auf der er das Ziffernblatt der Armbanduhr an seinem Handgelenk sehen konnte. 15 Uhr... Er wollte gar nicht versuchen, auszurechnen, wie lange er hier ausgeharrt hatte. Sein Blick schwenkte mit seinem halb von der Sofalehne baumelnden Kopf zum Esstisch. Spaghetti. Kalt. Seit gestern Abend. Rodrigo wollte nicht daran erinnert werden. Und doch, seinen eigenen Gedanken konnte er nicht entkommen. Er rollte sich etwas auf dem Sofa zusammen, schloss die Augen. Zuerst war er noch voller Vorfreude gewesen. Ob es ihm schmeckt? Ob er es bemerkt? Ob er überhaupt Hunger hat? Trotz dieser Fragen war er sich doch siegesgewiss gewesen. Eine halbe Stunde später nicht mehr... Nach zwei Stunden hatte er sich in eine warme Decke gewickelt, auf ihr gemeinsames Sofa gesetzt, und fern gesehen. Bald hatte er gelegen. Bald war der Fernseher wieder aus... Und dann schlief er ein... Das leise Klingeln eines Schlüsselbundes lies Rodrigo zusammen zucken, als wäre es ein Gong gewesen, direkt neben seinem Ohr. Eine verdammte Nacht lang hatte er auf dieses Geräusch gewartet, war am Anfang regelrecht nervös gewesen, wenn nur Nachbarn im Haus ein und aus gegangen waren. Und nun? Nun war er sich nicht mal sicher, ob er ihn überhaupt hier haben wollte. Rod seufzte leise, vergrub die Nase in den Polstern, schloss die Augen. Kurz darauf hörte er, wie die Tür seiner Wohnung schwungvoll aufgerissen und wieder halb zu geknallt wurde. Er wurde misstrauisch. War er schon wieder in Eile? Trotz der Verwunderung beschloss er, sich schlafend zu stellen. Tap. Tap. Tap. Er kam näher, allein das Geräusch seiner Schritte war Rodrigo vertraut genug, um das sicher bestätigen zu können. Nahe vor ihm blieb er stehen. Er spürte ein Lächeln auf sich, dem folgten ein sanfter Daumen auf seiner Wange und ein Kuss auf seiner Stirn. Er roch nicht nach Alkohol. Er roch nach Zahnputzcreme und Rasierwasser. Also doch. Rod verbot sich im letzten Moment noch selbst ein Seufzen. Der Andere richtete sich auf und streifte weiter durch die Wohnung. Nun beinahe lautlos. Ganz genau lauschte er, hoffte, eventuell heraus hören zu können, wo sein Freund nun schon wieder hin wollte. Man beteuerte doch um ihn herum stets, dass er dieses ach so wundervolle absolute Gehör besaß. Zu irgendetwas außermusikalischem musste das ja auch von Nutzen sein... Geraschel von Taschen und Jacken an der Garderobe. Kühlschranktür auf. Eine Flasche heraus. Klack. Zwei Schluck. Die Flasche zu und zurück in den Schrank. Tür zu. Dann wieder der Schlüsselbund. Nun schlug Rodrigo doch die Augen auf. Wollte er tatsächlich einfach so gehen? Das allerdings wollte er selbst wirklich nicht. Wenigstens eine kleine Standpauke wollte er ihm halten, weil er ihn versetzt hatte. So setzte er sich auf, streifte die Decke ab, gähnte noch einmal laut. In den Augen des Anderen war er ja gerade erst erwacht... Mit wenigen, bewusst etwas plumpen Schritten war er im Flur angelangt. Da stand Bela B. vor ihm, den Rücken ihm zu gedreht und fingerte in einer schwarzen Schatulle herum, die stets auf der Flurkommode stand und von der nur sie beide wussten, was sie vor Besuchern versteckte. Das verwirrte Rodrigo. Zugleich machte es aber klar, wo Bela nun hin wollte... schon wieder... Seine Schultern sanken und fast im Flüsterton murmelte er: „Wo willst du hin?“ Der vermeintliche Vampir zuckte zusammen wie ein verschüchtertes Kaninchen, drehte sich dann aber eher langsam und gelassen zu Rodrigo um. Das Cap hatte er tief in die Stirn gezogen, darunter zauselten ein paar wirre schwarzbraune Haare hervor. Ein ruhiges Lächeln lag auf seinen Lippen. Seine Augen leuchteten verhalten, wie die eines Kindes. Innerlich spürte Rodrigo erneut fast resigniert, wie chancenlos verliebt er war... „Du bist wach... Morgen.“ Bela lehnte sich nach vorn, hauchte ihm erneut einen noch zärtlicheren Kuss auf den Mund. „Ich dachte, du wolltest wieder kommen, gestern...“ Murmelte Rod, ohne auf die Geste einzugehen. Seine rechte Hand aber umfasste Belas linke. Er deutete mit einem Seitenblick auf den nach wie vor gedeckten Esstisch. Der Drummer starrte die Tafel an, als hätte er sie bis dahin nicht einmal bemerkt. „Oh... das... sorry...“ Belas Augen wurden noch größer, seine weichen Lippen kräuselten sich bedrückt. „Ich wusste nicht, dass du was vorbereitest... ich dachte, du musst arbeiten...“ Der weiche, entschuldigende Ton in seiner Stimme lies Rodrigos Gliedmaßen erweichen, trotzdem seufzte er. „Ich hatte mir doch die Tage extra frei genommen, für uns...“ Sein Gegenüber küsste ihn federleicht und beflügelnd in den Satz hinein, hauchte noch darin: „Tut mir Leid, Rod... ehrlich...“ Seine großen Hände strichen Rods Unterarme hinauf, „Ich mach es wieder gut... versprochen... Morgen Abend?“ Die Nackenhaare des Chilenen hatten sich aufgestellt. Er konnte ihm während dieser Art der Nähe normaler Weise nichts abschlagen, auf seine letzte Frage ermattete sein Gefühlszustand allerdings schlagartig wieder. „Dirk... da muss ich nach Frankfurt, zur Musikmesse, das weißt du auch...“ Belas Zähne beknabberten Rodrigos trockene Lippen, seine weiche Zunge folgte bald. Schon immer hatte Rod geglaubt, das eben jene etwa heilsames an sich haben musste. Er spürte seinen warmen, Halt gebenden Griff an den Hüften, den Oberkörper der sich an ihn schmiegte. „Dann bald... sobald es nur geht... sobald ich dich für mich haben kann...“ Ein bitteres Gefühl kroch nun den Rachen des Jüngeren hinauf. Er fragte sich ernsthaft, ob Bela sich bewusst war, wie er ihn verletzte, in dem er die Schuld umdrehte und Rod bedeutete, er sei nicht oft genug für ihn da. Der Chilene löste sich mit einem Schritt nach hinten von Bela, jedoch nicht von seinen Augen, nickte kurz: „Heute Abend.“ Bela, der bis dato seine Hände noch erhoben hatte, ließ jene, zugleich mit seinen Schultern, sinken. „Aber heute möchte ich bei Jan sein...“ Natürlich. Wie aus einem Traum, an dessen Ende er bereits geahnt hatte, dass er bald erwachen würde, ließ Rod sich von der Realität einholen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Nicht aggressiv, eher wie zur Abwehr, nickte dennoch. Bela machte erneut einen Schritt, Rod ebenso. „Bitte, Rod... das ist die Abmachung... das weißt du...“ Der Jüngere sah sein Gegenüber an, die braunen Augen verletzt auf ihn richtend. Schon wieder hatte er den Spieß sprichwörtlich umgedreht, schon war Bela wieder der belehrende, der Seufzer, der Ertragende. Und Rodrigo musste einsehen, beipflichten. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Ton wurde fast energisch... fast. „Ja, sicherlich... Dann geh...“ Aus dem Augenwinkel sah er das erleichterte, sanftmütige Lächeln Belas. Er ließ ihn näher kommen, ließ ihn die Arme um ihn legen und ihn seinen Hals küssen. „Glaub mir, ich liebe nur dich allein... aber ich brauche Jan.“ Mit diesen Worten im Kopf sah Rod zu, wie Bela seine Jacke zuknöpfte, ihm noch einen Abschiedskuss gab und mit klingelndem Schlüsselbund die Treppen hinab eilte. Verschwand... Er selbst blieb zurück, ging bald in die Küche um sich einen Tee zu machen. Von dort konnte er Bela zusehen, wie er in sein Auto stieg. Seine Lippen waren zu einem O geformt. Er piff vor sich hin. Und wieder musste Rodrigo lächeln und sich selbst beteuern, wie verliebt er war. Wie unheimlich verliebt. So sehr verliebt war er, dass er sogar zugestimmt hatte, als Bela diese Abmachung in den Sinn gekommen war. Er liebte Rodrigo. Aber er brauchte Jan. Und Jan brauchte ihn. Und darum hatte Rodrigo der Glückseeligkeit der beiden, besonders der Belas, nicht im Weg stehen wollen und geschworen, ihnen so viel Zeit zu lassen, wie sie eben bekommen mussten. Zunächst hatte Bela diese Möglichkeiten überhaupt nicht genutzt. Er war stets mit beiden gemeinsam ins Kino gegangen, oder weg gefahren. Niemals mit Jan allein. Dann hatte Jan irgendwann angefangen, auf dieses Vorrecht, Bela bei sich zu haben, zu bestehen. Sie waren zusammen auf Konzerten gewesen, hatten in Clubs sogar ein wenig gefeiert. Aber auch das war nie Regelmäßigkeit geworden. Routine wurden erst die langen, ausgedehnten Spaziergänge der beiden, auf denen sie sich unterhielten, sich umarmten, sich küssten und miteinander schliefen. Sie verrieten Rodrigo nie, wo sie waren. Und er wollte es gar nicht wissen. Was sie dort machten aber, erzählte ihm Bela mit neutraler Stimme und stets unter Bekundungen, in dieser einen Art und Weise doch nur Rod selbst zu lieben. Monatlich hatten sie sich bald getroffen, um solche Ausflüge zu unternehmen. Dann zwei mal im Monat, drei mal... Und nun war es schon das sechste Mal diesen Monat, obwohl es erst der 19. war... Rod schloss die Augen, eine Träne fiel in seine Tasse dampfenden Tees. Er erinnerte sich an einen Satz, den seine Mutter einmal gesagt hatte, nachdem sie monatelang im sterbenskranken Zustand im Krankenhaus gelegen und die Redereien und Mitleidsbekundungen anderer hatte hören müssen. Sie hatte ihn angelächelt und gesagt: „Mancher sagt lieben und meint brauchen... und Mancher sagt brauchen und meint lieben.“ Es war doch erst der 19. Mai. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)