Die Weiße Schlange von MorgainePendragon ================================================================================ Kapitel 32: Visionen -------------------- Die Visionen hatten begonnen, als sie vielleicht eine halbe Stunde durch die Schatten des Waldes gegangen waren. Keiner von ihnen sagte etwas. Ihre Schritte und das Knacken eines hin und wieder brechenden Gehölzes waren lange Zeit die einzigen Geräusche, die die erschöpfte und dennoch immer weiter vorantaumelnde Gruppe begleiteten. Den Wagen hatten sie in den Wald nicht mitnehmen können, da das Gelände einfach zu unwegsam für so etwas wie einen Karren war, und so hatte Yasha sich kurzerhand den wieder in gnädige Bewusstlosigkeit gefallenen Sayan-san auf die Schultern geladen, trug ihn nun durch das Dickicht als würde er die zusätzliche Last überhaupt nicht spüren. Madoka folgte wie benommen Yasha und der Yosei immer tiefer hinein in das Dunkel des Waldes. Der Wald bedeutete Schutz und zugleich Zuflucht vor eventuellen Verfolgern - doch Madoka fühlte sich, vielleicht das erste Mal überhaupt in ihrem Leben, plötzlich nicht mehr wohl, wenn sie an die Dunkelheit unter den dicht an dicht stehenden Bäumen dachte. Das Rauschen und Wispern des Windes in den Zweigen schien sie zu verhöhnen und ihr böse, uralte Worte zuzuflüstern; die Blätter hoch über ihr schienen nicht das wohlbehütende Dach zu sein, das sie einmal für sie dargestellt hatten, sondern sie erdrückten sie regelrecht, machten ihr jeden Atemzug schwerer und ließen beinahe klaustrophobische Gefühle in ihr wach werden, etwas, womit sie zuvor noch nie Probleme gehabt hatte. Hinzu kam, dass seit sie den Wald vorhin betreten hatten, seit sie sich von der Stadt entfernten, ein ständig intensiver werdendes Unbehagen in ihr heranwuchs, das jedoch nichts mit ihrer momentanen Umgebung zu tun hatte. Etwas... machte sie unruhig, ließ ihr Herz rascher schlagen, obwohl sie sich nicht wirklich anstrengte oder schnell lief. Sie fühlte fein perlenden Schweiß auf ihrer Stirn. Und je weiter sie sich von der Stadt entfernten, umso heftiger wurde dieses Gefühl. Sie konnte es noch immer nicht genau benennen, aber es nahm zu. Und es wurde konkreter, mit jedem Schritt den sie tat. Sie ließ sich nichts anmerken und folgte den anderen schweigend, aber es fiel ihr immer schwerer überhaupt klar zu denken, zu atmen und Ruhe zu bewahren. Etwas kam. Etwas näherte sich ihr mit der Unaufhaltsamkeit eines Schnellzuges - und auch genau so rasch. Sie FÜHLTE es. Und als es vor ihnen merklich heller wurde, sie anscheinend auf eine Lichtung zukamen, da schlug dieses Gefühl in nackte Angst um. Aber wovor? Warum? Sie stolperte, fing sich mit einer Hand an einem Baustamm ab und hielt kurz inne, schloss die Augen, versuchte die jähe Panik die sie befallen hatte mit Macht niederzukämpfen. Dann zuckte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Das Blitzen von Metall. Schwerter? Dann Funken, als zwei Klingen aufeinander prallten. Der wilde, unmenschliche Schrei eines abgrundtief bösen Lebewesens. Es war vorbei, noch bevor das Bild deutlicher werden konnte, aber sie hatte dennoch Schwerter und den Schimmer dunkelroten Haares ausmachen können. Panik schlug in schweren, alles verschlingenden Wogen über ihr zusammen, ließen ihren Herzschlag für eine Sekunde aussetzen und dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterjagen. Aurinia hatte sich herumgedreht. Die Yosei sah sie besorgt an. "Madoka? Halte durch, es ist nicht mehr weit." Die Angesprochene schüttelte den Kopf, wie um einen wirren Traum loszuwerden. Sie atmete tief ein. Was sie gesehen hatte konnte nichts anderes als Einbildung gewesen sein. In ihrer Angst um den geliebten Menschen bildete sie sich ein, dass er auf Leben und Tod kämpfte. Wahrscheinlich gingen ihre Nerven langsam mit ihr durch bei all dem, was sie bislang erlebt hatte. Sie versuchte zu lächeln und fühlte wie es kläglich misslang. Dann folgte sie der Yosei, die sie nicht mehr aus den Augen ließ, hinaus auf eine wunderschöne, kleine Lichtung. Ein Bachlauf schlängelte sich durch fast kniehohes Gras. Madoka blinzelte und blieb so abrupt stehen, als wäre sie vor eine Wand gelaufen. Das... Das… konnte doch nicht sein!? War das wirklich..? "Ja, Madoka, ich denke wir haben sie endlich gefunden. Die Lichtung. Hier bist du erwacht als du hierher gekommen bist, in diese Zeit.", sagte Aurinia ruhig. Die Yosei sah hinaus auf die Wiese und ganz im Gegensatz zu gerade eben wich sie Madokas Blick nun aus. Der Tonfall ihrer Stimme war auch recht merkwürdig. "Aber... wie ist das möglich...", hauchte Madoka vollkommen überrascht. "Wir... haben doch so lange gesucht und jetzt..." "... stoßen wir zufällig auf diesen Ort, ja. Das ist wirklich erstaunlich, nicht wahr? Aber nach all dem Leid das wir erfahren haben, das DU erfahren hast, ist dies wohl das Mindeste, was das Schicksal für uns tun kann." Aurinia klang... seltsam. Nicht sehr überzeugt. Verbarg sie etwas vor Madoka? Nicht zum ersten Mal hatte Madoka diesen Gedanken und sah die zierliche, elfenhafte Yosei neben sich forschend an. Madoka hielt die Tatsache, dass sie jetzt, nach so relativ kurzer Zeit, auf diese Lichtung gestoßen waren (und das obwohl sie nicht einmal nach ihr gesucht hatten) jedenfalls für alles andere, nur nicht für einen Zufall. Nur... wenn dies so war, warum hatte die Yosei sie dann zu der Zeit, als sie gemeinsam immer wieder nach der Lichtung gesucht hatten, zurückgehalten? Hatte sie vielleicht gewusst wo die Lichtung war und aus einem bestimmten Grund nicht gewollt, dass Madoka sie vor dem heutigen Tag fand? Hatte sie sie bewusst in die Irre geführt? Sie beobachtete, wie Yasha Shigeru am Rande des Bachlaufes niederlegte. Der Regen hatte nun endgültig aufgehört und leichter Nebel lag über dem Gras. Doch bis auf das leise Murmeln des Wasserlaufs war nicht ein Geräusch zu hören, nicht ein einziger Vogel sang. Nicht einmal der Wind war noch zu hören. Diese Lichtung... Wieder hatte Madoka den Eindruck etwas ungemein Altem und... ja, beinahe Magischem gegenüber zu stehen. Dieser Ort war etwas Besonderes, hatte etwas Übernatürliches an sich. Und wenn sie selbst dies schon fühlen konnte, dann musste es für Yasha und auch für Aurinia überdeutlich zu spüren sein. Die Yosei hatte ihr gegenüber einmal erwähnt, dass sie solch magische Plätze aufspüren konnte, wo immer sie sich auch befanden. Sie musste zumindest GEAHNT haben, wo sich diese Lichtung befand. Warum also hatte sie Madoka nie hierher zurückgeführt? Warum erst jetzt? Als sie hinaus auf die Lichtung traten ließ Madoka diesmal Aurinia nicht mehr aus den Augen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Yosei sie absichtlich in die Irre geführt haben sollte. Andererseits... Sie kannte Aurinia eigentlich gar nicht richtig. Wer konnte schon sagen, was in diesem so viel älteren Wesen, als sie selbst es war, vorging? Doch sie verschob all ihre Bedenken und eventuelle Anschuldigungen auf später - denn die Angst in ihr, lauernd und jederzeit darauf aus sie wie ein wildes Tier aus der Dunkelheit ihrer Seele heraus anzufallen, war nach wie vor da und verdrängte beinahe jedes andere Gefühl in ihr. Es war nicht wichtig, dass sie nun tatsächlich hier war. 'Takeo...', dachte sie schmerzlich. 'Hoffentlich geht es dir gut...' In dem Moment, wo sie bewusst an ihn dachte, blitzte erneut eine Vision in ihr auf, klarer diesmal und sehr viel eindringlicher. Es war tatsächlich Takeo, den sie dort kämpfen sah. Er schwang seine zwei Kodachi mit der gewohnten Geschicklichkeit eines wahren Samurai-Kriegers, doch sie konnte sehr wohl erkennen, dass er ob seiner schweren Verletzungen immer langsamer in seinen Reaktionen wurde. Denn sein Gegner, ein... Wesen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Menschen zu haben schien, drang unbarmherzig und immer verbissener auf ihn ein. War es ein Dämon? Madoka konnte es nicht richtig erkennen. Und sie hörte auch nichts. Es waren nur Bilder. Bilder die, gleich Fetzen einer längst vergangenen Erinnerung, in ihr aufleuchteten. Nur, dass sie genau wusste, dass dies keine Erinnerung war, sondern JETZT gerade passierte! Sie war sich ganz sicher, obwohl sie nie zuvor so etwas erlebt hatte: Dies war ein Blick auf etwas, dass sich in diesem Augenblick zutrug. Oder in naher Zukunft... Madoka keuchte und krümmte sich gequält als die Vision sie endlich, nach scheinbar endlosen Sekunden, wieder freigab. Diesmal war Aurinia an ihrer Seite, als sie wieder klar sehen konnte - und Madoka hatte nicht einmal gemerkt dass die Yosei neben sie getreten war. Aurinia stützte die junge Frau, half ihr zu einem knorrigen, alten Baum hinüber unter dem es halbwegs trocken geblieben war. Sie setzten sich. "Was ist los?", fragte die Yosei gerade heraus, aber Madoka schüttelte nur stumm den Kopf. Sie WOLLTE nicht darüber sprechen. Sie hatte Angst, wenn sie den Bildern Namen gab würde sich ihre Wahrheit nicht mehr verleugnen lassen. Vielleicht, hoffentlich, war dies alles ja doch nur Einbildung und ihrem erschöpften Zustand zuzuschreiben. Aber eine beharrliche, durchdringende Stimme in ihrem Inneren behauptete das Gegenteil. Und im Grunde wusste sie auch, dass sie sich bloß gegen etwas Unabwendbares wehrte. Aurinia runzelte die Stirn. "Vielleicht bist du einfach nur erschöpft.", sagte die junge Frau dann langsam, als hätte sie einmal mehr Madokas Gedanken gelesen. Aber Aurinia spürte eine unsichtbare Mauer zwischen sich und der Freundin entstehen, oder auch einen unüberwindlichen Graben. Es wäre ihr, selbst wenn sie es tatsächlich gewollt hätte, in diesem Moment nicht möglich gewesen in ihr Bewusstsein einzudringen. Und sie wusste, dass dieses Misstrauen, das Madoka ihr entgegenbrachte, sehr wohl auch ihr selbst zuzuschreiben war. Doch noch hatte sie nicht vor irgendeine Erklärung abzugeben. Madoka litt. Das konnte sie deutlich sehen. Sie wollte sie jetzt nicht bedrängen und auch nicht noch mehr verwirren. "Ruh dich einfach ein wenig aus.", riet die Yosei der jungen Frau und erhob sich, um zu Yasha hinüberzugehen. Madoka hatte gar nicht richtig gehört, was ihre Freundin gesagt hatte und auch nur am Rande registriert, dass sie nun wieder gegangen war. Denn mit gelinder Überraschung (eigentlich durfte sie hier, in dieser Zeit, ÜBERHAUPT nichts mehr überraschen...) hatte sie nun festgestellt, dass dies genau der Baum war, unter dem sie vor, wie es ihr vorkam, so langer Zeit in dieser Welt, in dieser Vergangenheit, erwacht war. Vielleicht lag es an diesem Ort, an dieser kaum zu ignorierenden mystischen Kraft auf dieser Lichtung, dass sie nun so plötzlich für so etwas wie Visionen empfänglich war. Sie hatte keine Ahnung - und es war ihr auch alles gleich. Sie wünschte nur noch, dass Takeo lebend zu ihr zurückkam. War das zu viel verlangt? Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Doch die nächste Vision ließ nicht lange auf sich warten. Und sie war noch heftiger als alle davor. ~~~oOo~~~ Kanzaki Shido war ein gebrochener Mann. Er trauerte um die Liebe, die er nicht leben durfte, und um die Freundschaft zu dem besten Freund, den er je gehabt hatte, und die er wohl für immer verloren hatte - selbst wenn Takeo diesen Wahnsinn überleben sollte. All das war so... Es kam ihm vor wie ein böser Traum, nicht wie die bittere Realität. Takeos nachtschwarzes Pferd war in ein langsames Schritt-Tempo gefallen, sobald sie die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten. Es war so, als würde selbst Akuma trauern und sich nur widerstrebend immer weiter von seinem Herren entfernen. Mit hängenden Schultern über die Leiche Mamorus gebeugt saß Shido-san da und hätte sich nicht einmal mehr gewundert, hätte sich in diesem Moment der Boden aufgetan und Satan leibhaftig ausgespieen, der kam um ihn zu holen. Er machte sich Vorwürfe. War es wirklich richtig gewesen seinen Freund allein zurückzulassen? Hätte Takeo ihn wirklich angegriffen, wenn er sich geweigert hätte zu gehen? Er wusste es nicht. Sein Freund war in einem solch merkwürdigen Zustand gewesen, dass er ihm buchstäblich alles zugetraut hätte. Aber nicht Takeos Drohung hatte ihn schließlich nachgeben und umkehren lassen. Auch nicht Takeos Bitte sich um Mamoru zu kümmern. Einzig seine Sorge um Madoka und die Tatsache, dass er das Mädchen daran hindern musste eine Dummheit zu begehen, sollte Takeo WIRKLICH etwas zustoßen, hatten ihn schließlich kapitulieren lassen. Langsam näherten sie sich dem dunklen Rand des nahen Waldes. Und als sie nach einer Weile die ersten Bäume erreichten war Shido nicht einmal wirklich überrascht die Yosei Aurinia dort stehen zu sehen. Geschmeidig trat sie ihm aus den Schatten entgegen. Entweder war sie gleich zurückgeblieben, um den Nachzüglern den Weg zu weisen, oder sie war noch einmal allein zum Waldrand zurückgekehrt, als sie schon ihren Unterschlupf erreicht hatten. Jedenfalls konnte Shido keine Spur von Madoka oder dem Halbdämon ausmachen. Er zügelte Akuma direkt vor der jungen Frau, die ihm mit undeutbarem Blick entgegensah, und schwang sich aus dem Sattel. Die heftige, ruckartige Bewegung rief einen scharfen Schmerz in seiner Seite hervor, der ihn nachhaltig daran erinnerte, dass er selbst auch nicht unerheblich verletzt war. Er hielt mit zusammengebissenen Zähnen die Luft an und führte die Bewegung etwas langsamer zu Ende, gab jedoch keinen Laut von sich. Aurinia warf einen langen, forschenden Blick auf Mamorus Leichnam. "Und Takeo?", fragte sie leise. Shido senkte den Kopf. Seine Finger schlossen sich so fest um die Zügel des Pferdes, dass das Leder knackte. "Er ist noch dort, nicht wahr?" Noch immer antwortete Shido nicht. Er nickte nur. Aurinia trat vor und legte leicht eine Hand auf seine Schulter, wobei sie sich sehr strecken musste. Shido-san überragte sie um gut zwei Köpfe. "Du hast dir nichts vorzuwerfen, Kanzaki-san.", sagte sie ruhig. "Es musste so kommen. Glaub mir. Es war so... Es war unvermeidlich..." Shido war sich sicher, dass sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, aber er beließ es dabei. Er hatte eine Bitte zu erfüllen. Genaugenommen sogar zwei. "Wo ist Madoka?" Aurinia seufzte. "Folge mir." Und während sie ein weiteres Mal in die Schatten des Waldes eintauchten dachte sie nur immer und immer wieder dasselbe: 'Ich habe nicht gewollt, dass es SO endet. Ich wollte das nicht. Nicht so...' ~~~oOo~~~ Yamazaki Takeo stand mit dem Rücken zum Hafenbecken, nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von dem Schritt ins Nichts, von dem Sturz in das blutgefärbte Wasser. Er atmete rasch, seine Brust hob und senkte sich sehr schnell und der Verband zeigte Spuren von frischem Blut. In seinen Händen hielt er die beiden Kodachi. Die Klingen wiesen nach hinten und Blut klebte an ihnen - ebenso wie an dem langen Katana seines Gegenübers. Saito Hajime war in der heraufziehenden Dämmerung nur noch ein Schatten seiner selbst. Doch sein Kampfgeist schien ungebrochen. "Ich bin deine Nemesis, Attentäter.", flüsterte er nun. "An mir gibt es keinen Weg vorbei." Takeo bewegte nicht einen Muskel. "Lass den Hitokiri zu Ende bringen, was der Vagabund nicht geschafft hat! Du wirst mich töten müssen." Saitos Stimme wurde wieder lauter. Die letzten fünfzehn Minuten hatten sie im Kampf verbracht, einem wilden, rücksichtslosen Hin und Her aus Saitos erbarmungslosen Angriffen und Takeos ruhigem und dennoch effektivem Parieren. Trotzdem hatte der "Wolf" es sich nicht nehmen lassen, immer wieder gehässige Kommentare abzugeben und Takeo immer weiter zu verunsichern. Und auch wenn der junge Mann es bisher nicht wirklich an sich herangelassen hatte, so musste er doch zugeben, dass ihn Saitos Worte zwar noch nicht wirklich ablenkten, aber doch seine Gedanken in Bahnen zwangen, die er nicht kontrollieren konnte. Seine Gedanken, vor allem seine Gefühle, schienen sich selbstständig zu machen. Saito lachte leise, als wüsste er genau, was in Takeo vorging. Er begann ihn langsam und lauernd zu umkreisen. Takeo trat seitlich vom Ufer zurück, folgte der Bewegung und ließ Saitos Hände nicht eine Sekunde aus den Augen. Der "Wolf", oder wer auch immer es nun war, der vom Körper des Shinsengumi-Kommandanten Besitz ergriffen hatte, trieb ein grausames Spiel mit ihm. Schon viele Male hätte er die Möglichkeit gehabt Takeo wenn schon nicht tödlich, dann jedoch zumindest so verheerend zu verletzen, dass der junge Samurai kampfunfähig gewesen wäre. Warum tat er es nicht? Warum? Und Takeo selbst kämpfte auch nur aus der Defensive. Dieser Kampf konnte, auf diese Weise fortgeführt, noch Stunden andauern, bis sie eben beide vor Erschöpfung zusammenbrachen. Auch wenn Takeo argwöhnte, dass Saito, der alles Menschliche längst hinter sich gelassen zu haben schien, von einer seltsamen Kraft beseelt war, die ihn bis in alle Ewigkeit auf diese Weise weiterkämpfen lassen konnte. In diesem Fall würde er, Takeo, eindeutig verlieren. Die Frage war nur: Wann? "Du bist ein erbärmlicher Feigling, weißt du das?", sagte Saito nun lauter. "Auch du hättest mich doch längst besiegen können wenn du es gewollt hättest. Aber nein, du wählst ja lieber den langen, schmerzhaften Weg." "Ich würde eher sterben als noch einmal dem Attentäter zu erlauben Macht über mich zu gewinnen.", antwortete Takeo ruhig. "Ich werde ihn besiegen. Und ich werde dich dazu zwingen aufzugeben OHNE dich zu töten." Saito spuckte aus. "Worte. Nichts als schöne Worte. Wie willst du das anstellen: Mich zur Aufgabe zwingen ohne mir mit dem Tod zu drohen? Ich sage dir, du wirst mich nicht ohne den Hitokiri in dir besiegen. Ihr seid eins. Du KANNST ihn nicht aufhalten!" Und abrupt machte er einen Schritt voran und zur Seite, sein Schwert zuckte so schnell nach vorn, dass es nur als verschwommener Schemen wahrnehmbar war - doch Takeo parierte auch diesen Angriff mit Leichtigkeit. Er nahm Anlauf und sprang. Er drehte sich in der Luft über Saito und kam hinter ihm zum stehen, das alles in nur einer einzigen, langen Sekunde. Und noch währen der "Wolf" sich zu ihm herumdrehte schwang Takeo die Kodachi und ließ ihre Klingen mit Macht auf dem Boden aufschlagen. "DORYU-SEN!" Diese Technik machte sich die umgebende Luft zunutze. Durch den doppelten Aufprall entstand ein Vakuum, das die Erde wellenförmig anhob und aufbrach. Die Energiewelle raste auf Saito zu - eine weniger machtvolle Version der Technik Tessaigas, aber bei menschlichen Gegnern normalerweise mehr als verheerend. Nicht so bei Saito. Noch während die Welle heranraste und die Splitter der zerbrochenen Kodachi-Schwerter in weitem Umkreis zu Boden regneten, hatte Saito sich bereits zum Sprung gespannt. Er stieß sich in dem Moment vom Boden ab, als die Welle unter ihm entlangdonnerte. Sie hätte ihn unweigerlich zerrissen oder zumindest nachhaltig außer Gefecht gesetzt. Doch Saitos Sprung hatte diesem das Leben gerettet. Noch nie zuvor hatte Takeo einen Menschen - Menschen? - so hoch springen sehen. Einmal mehr sah der junge Schwertkämpfer seine Gedanken bestätigt, dass kaum noch etwas Menschliches an Saito sein konnte. Takeo schleuderte die nutzlosen Handgriffe der zerbrochenen Kodachi ins Meer. Er fasste nach dem wiedererlangten Katana an seiner Seite, das er zuvor aufgelesen und nach der Auseinandersetzung mit Mamoru hier verloren hatte. Doch auch dieses Schwert zog er so, dass die stumpfe Seite nach vorn wies. Er wollte um keinen Preis der Welt töten. Und wenn der Kampf ewig so weiterging. Er würde nicht nachlassen. Er würde ein für alle Mal die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen bringen. Er würde die Vergangenheit hinter sich lassen und den Attentäter besiegen. Endgültig. Und wenn es das Letzte war, was er tat. Er tat es nicht nur für sich. Er tat es für Madoka. Er tat es für Shido, ja sogar für Aurinia und Yasha, für Kanoe und Shigeru. Und er musste siegen - auch wenn es sein Leben kosten sollte. 'Madoka...', dachte er, während er sein Schwert hoch über den Kopf hob. 'Verzeih mir ein weiteres Mal. Ich muss kämpfen.' ~~~oOo~~~ Mit einem Ruck setzte Madoka sich auf. Sie war tatsächlich vor Erschöpfung ein wenig eingenickt, wie sie mit leiser Verwunderung feststellte. Doch jetzt, gerade eben, hatte sie ganz deutlich Takeos Stimme gehört. Ein Widerhall seiner hervorgestoßenen Worte, kurz vor einem neuen Schlagabtausch mit jenem fürchterlichen, kaum erkennbaren Gegner, den sie schon in ihren Visionen gesehen hatte. Und dies Bild glitt mit ihr hinüber ins Wachsein: Takeo mit hoch erhobenem Schwert und wehendem, roten Haar. Und das Gefühl, das etwas herannahte, unaufhaltsam, unabänderlich, war NOCH eindringlicher geworden. Voll innerer Unruhe stand sie auf, schlug sich geistesabwesend den Dreck aus dem ohnehin hoffnungslos mit Blut und eingetrocknetem Schlamm besudelten Kimono. Und noch bevor sie sich ganz erhoben hatte sah sie auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung Aurinia und Shido aus dem Wald treten. Shido führte Akuma am Zügel. Und auf dem Pferd... Madoka riss die Augen auf. Nein. Das war unmöglich. Das konnte nicht Takeo sein. Bei all den Visionen die sie in der letzten Stunde gequält hatten, hätte sie es mit Sicherheit gesehen oder zumindest gespürt, wenn Takeo nicht mehr lebte. Sie lief auf die kleine Gruppe zu und wunderte sich kurz, warum Aurinia mit Shido gekommen war, obwohl sie hier mit ihnen auf der Lichtung gewartet hatte. Vielleicht war sie eventuellen Nachzüglern vorsorglich entgegen gekommen. Es war auch unwichtig. Madoka erreichte Shido und Aurinia mit wild jagendem Herzen. Ohne ein weiteres Wort trat sie an den beiden vorbei und streckte die Hand nach dem Gesicht des Toten auf Akumas Rücken aus, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende. Das Haar war so glutrot wie das von Takeo, jedoch nicht so lang wie das des jungen Samurai. Sie brauchte das Gesicht unter dem gnädigerweise herabgefallenen Vorhang aus roten Haarsträhnen gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich bei der Leiche um Yamazaki Mamoru handelte. Und DASS er tot war, war offensichtlich. Die zerschundene Haut, die unter dem, was von der Kleidung übrig geblieben war, hervorsah, war schneeweiß, das Blut bereits eingetrocknet. Er rührte sich nicht und sein Brustkorb hob und senkte sich auch nicht mehr. Vielleicht hätte Madoka in diesem Augenblick wenn schon nicht verhaltene Freude, so dann doch zumindest Gleichgültigkeit empfinden sollen. Aber sie empfand nichts anderes als tiefe Trauer. Jetzt, wo sie den Menschen tot vor sich sah, den sie am Meisten hassen sollte nach all dem, was er ihr und vor allem seinem eigenen Bruder angetan hatte, jetzt, wo sich deutlicher als je zuvor der Gedanke in sie einbrannte, dass Takeo seinen einzigen noch lebenden Verwandten, seinen Bruder, verloren hatte, der ihm so ähnlich war, jetzt verspürte sie einen tiefen, allumfassenden Schmerz in sich, der dem von Takeo wohl kaum nachstehen konnte. Es war, als hätte sie selbst einen Bruder verloren. Und das war, nach allem was sie von Mamoru gehört hatte und auch selbst an ihm kennengelernt hatte, wirklich erstaunlich. Er tat ihr einfach nur Leid. Sie verstand plötzlich, warum Takeo den Leichnam hatte zurückholen wollen. Mamoru sollte Ruhe finden. Wenn er es schon nicht zu Lebzeiten gekonnt hatte, dann sollte zumindest seine Seele Frieden und Ruhe finden, indem man seinem Körper ein richtiges Begräbnis zukommen ließ. Auf die flüchtige Erleichterung Madokas, dass es nicht Takeos Leichnam war, den Shido dort mitgebracht hatte, folgte nun eine jäh auflodernde Angst. "Wo ist Takeo?" Sie drehte sich Shido-san zu, der es bislang vermieden hatte sie anzusehen. Doch nun wich er ihrem Blick nicht mehr aus, sah ihr fest in die dunklen, großen Augen, die beinahe ebenso traurig schauten wie die von Takeo vorhin. Er ließ Akumas Zügel fallen und näherte sich ihr. "Madoka. Ich..." Er schluckte. "Er hat mir gesagt, dass du zurückkehren sollst in deine Welt. Hier wirst du kein Glück finden..." "Du hast ihn... allein gelassen? Du hast ihn MIT DIESEM MONSTER ALLEIN GELASSEN?!", schrie sie ihn an. "Wie konntest du nur? Warum..." Doch noch während sie wieder einmal heiße Tränen, diesmal des Zorns, in sich aufsteigen fühlte, da wusste sie die Antwort. Sie konnte die Szene beinahe vor sich sehen, in welcher Takeo seinen Freund darum bat, Mamorus Leichnam fortzubringen, und in der er ihn bat, auch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Der Hitokiri in ihm hatte ihr Angst gemacht. Aber der selbstlose Takeo tat es beinahe noch mehr... "Hat er... den Verstand verloren...?", flüsterte sie entsetzt. Shido hatte die Stirn gerunzelt und sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den haselnussbraunen Augen an. Er sagte nichts, aber er fragte sich ernsthaft, woher die junge Frau wissen konnte, mit wem Takeo zur Zeit kämpfte und in welcher Gefahr er womöglich schwebte. Madoka schüttelte den Kopf, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass das alles nicht wahr sein konnte. "Er ist... allein zurückgeblieben? In seinem Zustand..." Wie ein Pfeil durchdrang ihr Blick den Shidos. "Du hättest ihn aufhalten sollen!" "Ich habe es versucht, verdammt nochmal! Ich hätte mein Leben gegeben, damit er mir folgt! Ich war bereit dazu sogar mit ihm zu kämpfen, um ihn zur Rückkehr zu zwingen! Allerdings... nun... ER hatte das Schwert..." 'Und ich nur meine Fäuste...', fuhr er bitter in Gedanken fort. Madoka wandte sich von ihm ab. "Madoka... Er weiß genau, worauf er sich einlässt, glaub mir. Er will es so..." Das war nicht unbedingt das Tröstlichste, was er hätte sagen können - und Madoka zeigte auch keine sichtbare Reaktion. Aber unbeholfen wie er nun einmal war, versuchte er es erneut. "Er wird es schaffen. Er kommt zurück..." "Das kannst du nicht wissen!", fauchte sie und fuhr zu ihm herum. Jetzt trat Aurinia, die bislang schweigend zugehört hatte, dazwischen. "Madoka, beruhige dich bitte. Ich bin sicher..." Aber die junge Frau hörte gar nicht hin. Sie alle konnten nicht wissen, was sie gesehen hatte, was für Visionen sie plagten. Dies war ein Kampf ums nackte Überleben. Takeos Gegner hatte nichts mehr zu verlieren. Shido streckte nun seine Hand aus und hielt ihr etwas Kleines, Silbernes hin. Madoka blinzelte. Es war die Kette, die sie Takeo gegeben hatte. Die kleine, silberne, aufgerichtete Schlange schien sie angreifen zu wollen. "Was..." "Er hat sie mir gegeben. Ich sollte sie dir zurückbringen, damit du sie für ihn verwahrst, bis er... zurückkehrt..." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Aber er konnte die Verzweiflung in ihrem Blick nicht mehr ertragen. Er wollte, dass sie wenigstens die Hoffnung nicht aufgab. Madoka hob ihre Hand und er ließ die Kette in sie hineingleiten. Fest schlossen sich ihre Finger um sie, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Und in dem Moment, wo sich ihre Hand um die Kette schloss, suchte sie eine derart heftige Vision heim, dass sie erschrocken zurücktaumelte, sich krümmte und nur mit äußerster Mühe noch auf den Beinen halten konnte. Schmerz. Ihr ganzer Körper bestand aus einem einzigen, brennenden und qualvollen Schmerz. Sie keuchte, wehrte sich und konnte dennoch nicht verhindern, dass Bilder auf sie einstürmten, die sie zum Schreien brachten, die sie ihres Verstandes berauben wollten. Aurinia war sofort neben ihr, doch der glasige Blick ihrer Freundin verriet der Yosei, dass diese kaum merkte, was um sie her vorging. Madoka weinte. Sie schrie. Sie gebärdete sich wie wild in den Armen der Yosei. Und sie sah... Sie sah Takeo fallen. Sie sah Blut. Zu viel Blut diesmal, um es noch überleben zu können. Und sie hörte das grausame Lachen des unmenschlichen Gegners, der eigentlich keine Existenzberechtigung mehr hatte. 'Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!', hämmerte es immer und immer wieder in ihrem Kopf. Und doch spürte sie seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. Der Ruck, mit dem sie beinahe schon brutal in die Wirklichkeit zurückgeworfen wurde, ließ sie erneut taumeln. Aber schon wenige Sekunden später riss sie sich aus den Armen ihrer Freundin los. Sie begann zu laufen, stolperte und fiel beinahe, fand dann jedoch in einen gleichmäßigen Laufschritt. Sie erreichte das nachtschwarze Pferd in dem Moment, wo sie ihre gerade zurückgekehrten Kräfte erneut zu verlassen drohten. Mühsam, aber mit einer entschlossenen Kraftanstrengung, zog sie sich schnell, wenn auch alles andere als elegant, auf den Rücken des Tieres. Aurinia sog scharf die Luft ein und setzte augenblicklich zur Verfolgung an - sie ahnte, was nun kam - und auch Shido setzte sich in Madokas Richtung in Bewegung. "Madoka! Nein!" Yasha kam mit einem unwilligen Gesichtsausdruck auf den Zügen ebenfalls mit großen Sätzen hinter ihr her. "Was hast du vor? Glaubst du, du hilfst ihm, wenn du jetzt Hals über Kopf zu ihm rennst?", bellte der Halbdämon ungehalten. Aurinia hatte sie fast erreicht. "Madoka, lass es sein. Bitte!", rief sie aufgeregt. "Ich glaube nicht, dass es das ist, was Takeo möchte. Er will, dass du hier in Sicherheit bleibst. Sei doch vernünftig!" Ihre Stimme klang eindringlich. Aber Madoka antwortete nicht. Ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken gab sie dem Pferd die Zügel und jagte Sekunden später in einer Gischt aus aufgewirbelten Regentropfen und Erde hinein in das lichtschluckende Dunkel des Waldes. Schon wenig später war sie den Blicken der vollkommen verblüfften Freunde entschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)