Weihnachtsgeschichtensammlung 2004 von Elemmiire ================================================================================ Schneegestöber -------------- Schneegestöber (von Clemens Maier und Ernestine Weckend) Endlos schienen die Wolken ihre weiße Ladung über die Erde fallen zu lassen. Der Wind lies die Flocken in den verschiedensten Formationen durch den vorabendlichen Himmel gleiten. Irgendwo da draußen musste sie sein. Irgendwo da draußen, einsam und allein... "Ach Schwester...", nun wurden die Flocken dichter und einige blieben am Glas der Scheibe kleben. "Ach geliebte Schwester...", langsam stand er auf und löste seinen Blick vom Fenster. Er stellte seine Teetasse zu dem Silbergedeck auf dem kleinen Tischen und lies seinen Blick gedankenverloren durch das große Zimmer schweifen. Im Kamin an der Wand gegenüber loderte ein lustiges Feuerchen, welches den ansonst dunklen Raum spärlich mit Licht auskleidete. Eine grässliche Tapete und schwere Samtvorhänge zierten die Seitenwände. Außer zwei großen Lehnstühlen beim Feuer, und dem kleinen Teetisch beim Fenster gab es keine anderen Einrichtungsgegenstände. Ausgenommen dem alten Landschaftsbild über dem Kamin und den beiden Kerzenhaltern auf dem Sims. Er hätte den alten, modrigen Raum schon längst umgestalten lassen, wenn seine Schwester nicht so sehr daran gehangen hätte. Sie bestand darauf, diesen Raum unverändert zu lassen... Die Erinnerung an seine Schwester holte ihn von seinen Ausschweifungen zurück. Gestern Abend war sie verschwunden. Sie liebte die Nacht. Früher sind sie oft zusammen draußen unter dem alten Lindenbaum gesessen und haben die Sterne beim Aufgehen beobachtet. Er hatte sie liebevoll in seinen Armen gehalten und gewärmt, wenn die Nächte kühl wurden. Sehnsüchtig wünschte er die vergangenen Tage herbei. Dann musste sie weg. Schuljahr im Ausland. Weg. Soweit weg... Er hatte die Sekunden bis zu ihrem Wiedersehen gezählt. Er war der erste am Bahnhof. Doch als sie endlich wiederkam, hatte sich alles verändert. Seit sie aus dem Zug stieg, hatte er sie nie wieder Lächeln gesehen. Sie sah ihn nur traurig an. Ein junger Mann begleitete sie, ihr Freund. Sie haben sich in Paris getroffen und es hätte sofort gefunkt. In Paris... Er konnte es nicht fassen. Seine leibliche Schwester hatte ihn verraten. Wie konnte sie ihm das nur antun? Merkte sie nicht wie sehr sie ihrem Bruder wehtat? Merkte sie nicht, dass Luc sie täuschte? Er liebte sie nicht. Nein. Er nützte nur ihre Gutgläubigkeit aus. Er machte sie unglücklich. Nur er würde sie jemals ins ewige Glück führen können. Nicht dieser aufgeblasene Franzose, der es auf ihr Geld abgesehen hatte. Er schindet sie. Er macht sie kaputt. Gestern, als man ihm die Nachricht vom spurlosen Verschwinden seiner Freundin unterrichtete, lächelte er nur ungerührt. War er es? Hatte dieses Monster sie davongejagt? Er merkte wie sein Blutdruck erheblich stieg. Wenn Luc nur noch einmal zu Gesicht bekommen würde, er würde sich vergessen. Wieso hatte sie ihn sich nicht ausreden lassen? Er hatte es doch so oft probiert. Wieso konnte er ihr nicht seine ehrlichen Gefühle gestehen? Jedes mal wenn er dazu ansetzte konnte er die Worte nicht aussprechen. 3 Einfache Worte. Wieso brachte er es nicht zusammen? Sie war die Person der er am meisten vertraute, die er am Besten kannte. Wieso schaffte er es nicht? Vielleicht weil sie schon vergeben schien? Probierte der junge Bursche seine Frage zu beantworten. Und als er sie fragte was sie an Luc besonderes fände, antwortete sie mit ihrem traurigstem Lächeln: "Er liebt mich..." "Und ich lieb dich noch viel mehr", wollte er darauf antworten, konnte es aber erneut nicht über sein Lippen bringen. Nun war es zu spät. Nun war sie fort... Wer weiß ob sie jemals wieder zurückkommen würde? Sie war müde... so unsagbar müde. Ihre Augen schweiften zur Sonne, die langsam begann zu sinken um später hinter ein paar Bergen in blutrot zu verschwinden. Die Schneeflocken wehten ihr ins Gesicht und schien den Stoff ihres Mantels zu durchdringen. Es war kalt... und die Kälte kam nicht nur vom Schnee und der klaren, schneidenden Luft. Nein es war nicht der Winter, der sie mit kalten Händen umfangen hielt und ihr langsam die Luft abschnürte. Es war sie selbst. Von innen heraus kam dieses furchtbare Gefühl aus Angst, Einsamkeit und einer tiefen Traurigkeit. Ein sanftes, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über ihre Lippen. Ihr Bruder hätte sie jetzt bestimmt gewärmt, wie früher. So schön dieser Gedanke auch schien, wusste sie nicht ob er stimmte. Immerhin hatte sie seinen Ausdruck auf dem Gesicht gesehen als er sie abgeholt hatte vom Zug. Tieftraurig. Verletzt. Dennoch hatte er sie angelächelt, aber es war nur am Anfang echt, spätestens seit Luc besitzergreifend einen Arm um sie gelegt hatte, war es vollkommen falsch gewesen. Vorsichtig fuhr sie mit ihrer Zunge über die spröden, eiskalten Lippen und suchte den Horizont etwas ab. Nur schemenhaft erkannte sie das Gesuchte im dichten Schneegestöber vielleicht noch 500 Meter über ihr. Ihre Schritte waren langsam und nur schwer kam sie gegen den Wind an, der jetzt noch stärker zu sein schien, fast so als wolle er sie aufhalten, die rettende Jagdhütte ihres Onkels zu erreichen. Kaum noch ein anderer Gedanke von den vielen in ihrem Kopf schien so prägnant und wichtig als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst als sie gegen etwas Festes stieß, bemerkte sie, dass sie die kleine Hütte erreicht hatte und holte mit zittrigen Händen den Schlüssel hervor um aufzuschließen. Knarrend öffnete sich die starke Holztür und schneller als eigentlich gewollt trat sie ein. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen und vorsichtig stützte sie sich an der Wand ab. Erst nach etlichen Momenten fühlte sie sich bereit, wieder aufzusehen und die Tür mit Kraft wieder zu schließen, immerhin war schon genug von der weißen Pracht draußen in die Hütte gelangt. Schließlich schaffte sie es sogar ein kleines Feuer in den Kamin zu entzünden und wärmend sich die schon etwas tauben Hände dagegen zu halten. Ihr Aufbruch war viel zu überstürzt gewesen und eigentlich war sie nur stundenlang durch die weiße Winterlandschaft gelaufen ohne irgendein Ziel und irgendeinen Anhaltspunkt wo sie war. Nur eine schwache Erinnerung hatte sie hierher geführt. Eine Erinnerung an bessere Zeiten in ihrem Leben. An die Zeiten als noch alles so idyllisch und klein schien. Sie hatte ihre kleine Welt geliebt, immerhin hatte sie ihren großen Bruder immer an ihrer Seite gehabt. Niemand anderes hatte sie gebraucht und so erschreckend war der Wunsch gekommen von ihren Eltern ein Jahr im Ausland zu verbringen. Ein Jahr bei den Franzosen um etwas Kultur aufzunehmen und neue Kontakte zu knüpfen. Zuerst war ihr der Gedanke zuwider gewesen ihren Bruder zu verlassen. Beim ihm fühlte sie sich sicher und geborgen. Mehr hatte sie nie in ihrem Leben gewollt. Aber als ihr auffiel wie egoistisch sie damit doch war, hatte sie sich gefügt. Dann trat er in ihr Leben. Warb um sie. Beschenkte sie. War die ganze Zeit in der Nähe. Luc. Jeden Tag hatte er ihr wie ein Pfarrer gepredigt, dass er sie doch liebte und um ihre Gunst gekämpft. Schlussendlich war sie der Illusion erliegt, als sie bemerkte, wie sie anfing nur noch an ihren Bruder zu denken. Es waren falsche Gedanken gewesen. Gedanken die sich für sie nicht ziemte. Das war auch der Grund gewesen, warum sie zu Luc gerade zu geflüchtet war. Er bot ihr eine heile Illusion und eine Illusion war für sie besser gewesen als Nichts. Sie schluckte schwer und wischte sich einzelne Tränen aus dem blassen Gesicht. Er hatte sie nur belogen und betrogen. Eigentlich hatte sie es schon immer in ihrem Herzen gewusst, aber seit sie diese Briefe gesehen hatte durch Zufall, war die Illusion zerplatzt wie eine Seifenblase. Es stimmte... sie war nie glücklich an seiner Seite gewesen, aber was hatte sie sonst noch gehabt? Einen Bruder den sie liebte, wie es sich nicht gehörte, und deswegen nicht mehr in seiner Nähe verweilen konnte. Eine Mutter und einen Vater, die nie für sie da gewesen waren und ein altes Haus, welches nur noch verblasste Erinnerungen von einer glücklichen Familie kannte. Am Ende hatte sie sich selbst aus ihrem dunklen Loch getrieben, nur um jetzt in die Ungewissheit zu fallen. Und ein dennoch blieb der einzige Wunsch in den Armen ihres Bruder zu liegen... Langsam rollte sie sich auf dem Boden zusammen, drückte den Mantel fester an sich und fiel bald in einen traumlosen Schlaf... Wo? Wo bist du nur... Langsam fing er an in dem geräumigen Raum auf und ab zu gehen. Noch immer hatte man keine Spur von ihr gefunden. Wohin konnte sie nur gegangen sein? Wieso tat sie ihm das bloß an? Er konnte es einfach nicht verstehen. Schwester, wo bist du nur? Mit dem dumpfen Klicken der Türklinke, wurde er aus seinen Gedanken zurück in die Realität geworfen. Es war Meranda die Haushälterin, die gerade das Zimmer betrat. Wie immer trug sie ihr dunkelblaues Kostüm mit der weißen Schürze. "Sir. Die Herrschaften wünschen sie zum Nachmittagstee im Salon zu sehen.", verkündete sie mit einer leichten Verbeugung. Danach setzte sie an den Raum wieder zu verlassen, wurde jedoch von ihm zurückgerufen. "Meranda." "Ja, Sir?". fragte sie untertänig wie immer. "Sagen sie bitte meinen Eltern, dass ich noch eine Weile allein sein möchte." "Wie sie es wünschen.", sie verbeugte sich erneut und verlies dann das Zimmer. Wann würden seine Eltern bloß mit diesem total veralteten Adelsgetue aufhören? Schlimm genug schon, dass sie ihr hochrangiges Blut bis ins tiefste Mittelalter zurückführen konnten, aber mussten sie sich unbedingt an all die alten Traditionen mit Hausangestellten und 5 Uhr Tee halten? Kein Mensch außer ihnen leistet sich noch diesen unangebrachten und überheblich wirkenden Luxus. Es waren kaum 5 Minuten vergangen als Meranda erneut eintrat. Anklopfen war in diesem Haus seit jeher nie üblich gewesen und es würde sich wahrscheinlich nie einbürgern lassen. "Der werte Herr Luc Dablic möchte sie sprechen.", meldete sie gehorsamste. "Sagen sie ihm, dass ich keine Zeit für ihn habe.", antwortete er verärgert. "Ich werde es ihm sofort ausrichten.", verschwand das Hausmädchen durch die Tür. Es war nicht nötig dem Freund seiner Schwester die Botschaft zu überbringen, denn dieser betrat im selben Moment das Zimmer als die Angestellte es verlassen wollte. "Was willst du hier? Ich hab dich nicht gebeten einzutreten." fuhr er Luc barsch an. "Aber liebster Schwäger, du wirst mir doch nicht Zutritt zu meinen Gemächern verwehren wollen?", säuselte er mit gespielter Empörung. "Erstens, bist du nicht mit ihr verheiratet, und zweitens sind das hier nicht deine Gemächer.", antwortete er gereizt. "Wie voreilig von mir, natürlich. Noch sind sie es nicht..." "Was soll das bedeuten? Noch sind sie es nicht?", funkelte er ihn böse mit seinen smaragdgrünen Augen an. "Hast du es noch nicht gehört? Man hat ihren roten Mantel und ihren Lieblingsschal im Fischweiher gefunden. Wahrscheinlich hat sie sich aus Kummer darin ertränkt, weil du sie mit deiner brüderlichen Fürsorge in den Wahnsinn getrieben hast.", antworte Luc gelassen. "Wie du ja weißt, hat sie für den Fall, dass ihr was zustoßen sollte ein Testament für mich hinterlassen...", er grinste diabolisch und holte zum nächsten Schlag aus. "Wahrscheinlich konnte sie es einfach nicht mehr länger ertragen mit ihrem gefühlsdusseligen und vergangenheitsbezogenem Bruder in einem Haus zu leben." Obwohl er wusste, dass Luc ihn nur provozieren wollte, und er kein einziges dieser Worte glauben schenken konnte, verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Sie trafen ihn hart, und lösten ein komisches Gefühl in seiner Magengegend aus. Als Luc erneut den Mund öffnen wollte kam er ihm zuvor. " Wie kannst du es wagen meine Schwester in so schlechte Nachrede zu stürzen? Hinaus! Verschwinde! Verschwinde aus diesem Haus, verschwinde aus meinem Leben. GEH MIR AUS DEN AUGEN!", die letzten Worte brüllte er Luc ins Ohr um auch sicherzugehen, dass der unterbelichtete Volltrottel sie verstehen würde und ihn endlich in Ruhe lies. Sein Blut kochte nun, und wenn Luc nicht sofort verschwindet, würde er sich wohl oder übel vorgesessen und zuschlagen. Wenn nur seine Mutter nicht soviel auf den perfekten Schwiegersohn halten würde, hätte er ihn schon längst fortgejagt. Aber so musste er seine Beleidigungen dulden, und durfte ihm nicht mal mit dem Fehdehandschuh ins Gesicht schlagen, ohne aus dem Haus, und fort von seiner Schwester, verwiesen zu werden. "Nun reg dich doch nicht mal so auf, ich geh ja schon.", tadelte ihn Luc herablassend. "Schließlich werde ich ja zum Tee erwartet.", dann verschwand er aus dem Zimmer. Mit den Lippen formte sie lautlos den Namen ihres Bruders und starrte wie gebannt ins Feuer. Sie war erst vor wenigen Augenblicken wieder aufgewacht, aber ihr Gedanken umschlangen nach wie vor nur ihn. Selbst hier in der Einöde, schien er sich nicht vergessen zu lassen. Ihr Herz schmerzte, drohte zu zerspringen und langsam kamen ihr Zweifel ob sie nicht doch zurückgehen sollte. Zurück zu ihm... Sie könnte diesen Bastard, der sich ihren Verlobten nannte, aus dem Haus jagen. Aber was würde es am Ende nutzen? Wahrscheinlich fand ihr Bruder später oder früher eine passende Frau, heirate sie und gründete eine glückliche Familie. Am Ende würde sie zurück bleiben... einsam. Eine einzelne Träne lief ihre blassen Wangen hinab und verschwand im Stoff des schwarzen Schals, der dicht um ihren Hals geschlungen war. Der Schal der ihren Bruder gehörte und nach ihm roch. Genauso wie der Mantel... Er war ihr viel zu groß, weil er nun mal ihm gehörte, aber irgendwie hatte sie etwas von ihm mitnehmen wollen. Der Duft von dem Älteren hatte sie bisher immer beruhigt, diesmal nicht. Diesmal schien er sie mehr aufzuwühlen, verlocken zu wollen. Dennoch... nachgeben würde sie nicht. Auch wenn jetzt Zweifel an ihr nagten und sie sich wünschte doch ihren roten Mantel jetzt hier zu haben und nicht den großen Schwarzen. Ein Schauer jagte über ihren Rücken als vor ihrem Augen ein Bild erschien, was gar nicht mal so alt war. Vor ein paar Tagen waren sie beide allein spazieren gewesen. Zwar hatten sie so gut wie kein Wort miteinander gewechselt, aber allein seine Nähe hatte sie ruhiger gemacht, ihren dunklen Alltag etwas erhellt. Als sie dann am zugefrorenen See standen, der Wind eine Kühle Brise aus dem Norden schickte und sie zu ihm aufsah, war sie in dem Moment verloren gewesen. Seine hellbraunen, etwas längeren Haare waren vom Wind ganz zerzaust und seine smaragdgrünen Augen hatten, wie durch ein inneres Feuer, geleuchtet. Sie war viel zu fasziniert gewesen um den Blick von ihm zu nehmen und hatte zuerst nicht bemerkt, wie er ihren Blick gespürt und erwiderte hatte. Damals war sie fast bereit gewesen, sich in seine Arme zu schmeißen und ihn zu bitten, mit ihr wegzugehen. Einfach nur weg aus dieser kleinen Welt, die für sie, wie ihr es jetzt schien, einem Käfig gleich war. Aber es wäre einfach nur egoistisch gewesen. Damit hätte sie sein Leben... seine Zukunft zerstört. Deswegen war sie jetzt hier allein... allein in dieser Hütte geplagt von der Vergangenheit, die sie am liebsten nur noch vergessen wollte. Hol mich zurück... Nur dieser einzige Wunsch brannte sich in ihre Seele und immer mehr Tränen fanden ihren Weg aus den dunkelbraunen, fast schwarzen Augen. Wirsch wischte sie über ihre Augen, ihre Wangen... wollte das salzige Nass vertreiben. Doch es wollte nicht weg. Gehetzt sprang sie auf, sie musste hier raus. Der Wind... die Kälte würden sie schon vergessen lassen. Mit einiger Anstrengung öffnete sie wieder die Tür, ließ sich in den Schnee fallen. Vielleicht sollte sie unter einer weißen Decke begraben ihr Glück finden? Obwohl der Gedanke verlockend schien, raffte sie sich auf und lief weiter. Die Richtung schien egal. Nur weg... weg... Sie lief... Rannte... Versuchte zu vergessen... Alles um sie herum flimmerte... schien ihr höhnisch entgegen zu funkeln... Ihr Hals brannte... ihre Glieder schmerzen... die Kälte zog sich tief in ihre Haut... wollte sie vollkommen einnehmen... Ein verzweifelter Schrei rang aus ihren Mund. Sie konnte nicht mehr... Hilflos fiel sie auf die Knie. Noch immer war er da... noch immer sah sie ihn vor sich. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen... aus ihrem Kopf verbannen... Alles war so aussichtslos. Wie schaffte er das immer nur? Erneut hatte Luc seiner Mutter erfolgreich ins Gewissen geredet. Ist sie wirklich schon so alt? So alt, dass sie von all seinen Intrigen nichts mehr mitbekommt? Oder möchte sie ganz einfach nur ihre Ruhe und mit all dem nichts mehr zu tun haben? Er konnte nur Mutmaßungen anstellen. Der Verlobte seiner Schwester hatte erneut ihn, ihren leibhaftigen Bruder als den Schuldigen, den Verbrechen hingestellt. Angeblich soll sie sich nur aus Angst und Morddrohungen umgebracht haben. Er hätte sie auf dem Gewissen. Sie, die einzige Person, welche er seit jeher beschützte und ewig lieben würde. Seine Mutter hatte geschwiegen, aber ihre leeren Augen verrieten, dass sie Luc mehr als ihrem eigenen Sohn vertrauen schenkte. Er hatte seinen Tee so schnell wie möglich getrunken und hatte sich dann in dieses kleine Zimmer im Obergeschoss zurückgezogen. Er wollte nicht dabei sein, als sie begannen die Vorbereitungen für das Begräbnis seiner Schwester zu treffen. Sie konnte unmöglich tot sein. Niemand würde sie dazu bringen so etwas zu tun. Kein Mensch der Erde, wäre jemals in Stande ihre Vernunft soweit zu verwirren, dass sie sich freiwillig töten würde. Er kannte seine Schwester. Wahrscheinlich als einziger in diesem ganzen Haus. Sie war sich noch am leben, es ging gar nicht anders. Sie musste einfach noch leben. Ein resignierter Seufzer entrang seiner Kehle. Was wenn sie wirklich tot ist...? Wenn sie wirklich wegen ihm gegangen war...? Lucs gestreuter Samen des Zweifels begann nun in ihm zu Keimen. Vielleicht hatte sie ihn geliebt und war gesprungen, weil sie sich dafür schämte? Hatte sie nicht bei ihrem letzten Spaziergang nicht das erste Mal seit ihrer Rückkehr gelächelt, als er sie vor dem See in die Arme schloss? "Sei nicht dumm! Gibt dich keinen Illusionen hin!", funkte sein Verstand dazwischen. "Nur weil du sie liebst, heißt das noch lange nicht, dass sie dich auch lieben muss." Außerdem wäre es sowieso zu spät. Wenn sie ihn geliebt hatte, dann hätte sie sich wahrscheinlich wirklich umgebracht, war sie aber noch am Leben, dann wird sie wegen ihm gegangen sein. Schließlich hätte sie sich ihm anvertrauen können, wenn es wegen Luc gewesen wäre. Gemeinsam wären sie in das nächste Flugzeug gestiegen und schon säßen sie irgendwo anders auf der Welt. Weit, weit weg von all dem Kummer hier. Erneut begann er sich falsche Hoffnungen zu machen und sich eine utopische Zukunft auszumalen. Wo? Wo bist du nur? Total verzweifelt lies er sich auf den alten Stuhl im Eck fallen. Er hatte sich schon oft hier in dieses kleine Zimmer zurückgezogen. Man hatte es schon vor Jahrzehnten zugemauert, und nur er und seine Schwester wussten, wie man es noch durch einen Geheimgang erreichen konnte. Hier war er vorerst mal sicher, dass ihn keiner aus seinen Gedanken riss. Früher hatten sie sich hier oben oft gemeinsam versteckt. Er und sie... Alleine... Waren das noch Zeiten. Als sie noch miteinander Sprachen und sich allen Kummer anvertrauten. Eine einsame Träne bahnte sich ihren Wag über sein Gesicht. Hier konnte er weinen, ohne dass ihn jemand sah, hier musste er nicht den starken Spielen. Hier konnte er so sein wie ihm zumute war und seine Schwester hatte ihn hier immer verstanden. Hier im alten Jagdzimmer ihres längst verstorbenen Onkels. Einzeln hingen noch Trophäen des alten Jägers an der Wand. Er war ihr Lieblinksonkel gewesen. Als sie noch 5 oder 6 waren, wohnte er ebenfalls in dem Anwesen. Gemeinsam mit seiner bösen Frau, Tante Irma. Seine Schwester und er waren sich sicher, dass sie es war wieso der sonst so lebensfrohe Onkel auf einmal still und krank wurde. Sie hatte ihn unter ihrer Kontrolle, plante sein Leben und stelle sich über alles andere. Nur durch seine alte Leidenschaft, das Jagen bekam er etwas Freiheit aus diesem einschnürenden Leben. Er hatte ihnen auch von diesem Zimmer erzählt und ihnen den geheimen Zugang verraten. Erneut verlor er eine Träne. Er hatte seinen Onkel gemocht. Er hatte ihm die Liebe geschenkt, welche er niemals durch seine Eltern erhalten hatte. Wieso musste er so früh, so jung, sterben? Würde er wissen wo sich seine Schwester nun aufhielt? Zum Glück wurde seine Frau sofort nach dem Tod ihres Mannes aus dem Haus geworfen. Er hätte es sichern ich ausgehalten mit so einer schrulligen, heimtückischen und durchtrieben bösen Frau in einem Haus zu leben. Noch dazu besaß sie großen Einfluss auf seinen Vater und hätte ihn sicher unter ihre Gewalt gebracht wenn sie geblieben wäre. Er konnte den Onkel gut verstehen, wenn er sich immer auf seiner Jagdhütte zurückzog um seine Ruhe ... Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Jagdhütte im Wald. Wie konnte er sie nur vergessen? Aufgeregt sprang er aus dem Sessel und lief zum kleinen Waffenschrank am anderen Ende des Zimmers. Er öffnete ihn und ein erleichtertes Japsen drang aus seinem Mund. Der Schlüssel! Er war weg! Dass konnte nur heißen, dass sie zur Jagdhütte wollte. Schließlich hatte der Onkel sie beide einmal mitgenommen und ihnen den weg erklärt. Nur sie beide wussten von der Hütte und nur sie beide wussten wo der Schlüssel dazu aufbewahrt wurde. Schnell verließ er das Zimmer, um sich sofort auf den Weg zur Hütte zu machen. Schwester, geliebte Schwester, bald sind wir wieder vereint. Guter alter Onkel, wie kann ich dir jemals dafür danken? Erneut erhellst du meine dunklen Tage. Danke. Sie hatte sich nicht mehr bewegt, saß noch immer dort. Ihre Augen vollkommen ausdruckslos und leicht gerötet von den Tränen, die ihre Wangen immer noch hinunter liefen. Der Wind umwehte sie und langsam begann der Schnee sie zuzudecken. Sie wusste nicht was sie machen oder tun sollte. Als sie ging war alles so einfach gewesen... Durchs Schneegestöber zum Haus ihres Onkel, dort sich ausruhen und dann weiter hinunter ins Dorf und dort in einen Zug steigen. Egal wohin, egal wieweit... nur weg. Dem Käfig entfliehen und von neuem beginnen. Sie hatte ihr Erspartes in einem Schließfach am Bahnhof, sowie den Abschiedsbrief für ihre Familie mit ihrem Siegel und einem Foto von ihrem Bruder mit sich. Warum schien so etwas einfaches nur so schwer? Ihr Finger waren schon steif gefroren, als sie diese hob und zur ihrer Wange führte, die warmen Tränen berührte und sich fragte, wie sie diese noch vergießen konnte. Nun nahm sie auch die andere Hand, fuhr über ihre Wangen und wollte den Strom stoppen. Es brachte nichts, machte es nur noch schlimmer. Jetzt erst bemerkte sie, wie sie doch eigentlich erbärmlich fror. Ihre Sachen waren durchnässt und klebten schon an ihrem Körper. Sie versuchte aufzustehen, aber erst nach einigen Anläufen klappte es. Ihre Lage wurde ihr nach und nach mehr bewusst: sie stand allein im Wald, halb erfroren. Aber sterben wollte sie nicht. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Was brachte es einfach aufzugeben und sich damit selbst zu verraten? Ganz langsam setzte sie einen Schritt vor dem anderen. Wo sie war, wusste sie nicht, genauso wie sie nicht wusste, wohin sie musste. Alles schien besser als am Boden zu liegen und in Selbstmitleid und Erinnerungen zu zerfließen. So ging sie weiter, ohne ein Zeitgefühl, dennoch wurde ihr immer kälter und die Aufsicht auf ein Wunder kleiner. Sie kam erst aus dem Tritt als sie ein lautes Bellen hörte. Verschreckt drehte sie sich so schnell es ging um, verlor das Gleichgewicht und landete ziemlich unelegant auf den Hintern. Leise fluchte sie und fand den Auslöser für ihr Ungeschick in Form eines grau-weißen Hundes, der immer schneller angerannt kam und sie schließlich ganz umwarf. Ein leises Lachen entfloh ihren Lippen als der Hund begann sie abzulecken. "Schon gut... ich lebe noch...", brachte sie nach Luft ringend hervor und drückte das Tier von sich. Dessen braune Augen schienen besorgt auf sie herab zu sehen. "Was machst du hier überhaupt, Frechdachs?!", fragte sie nach einigen Augenblicken und strich über das feine Fell. Der Mischling gehörte ihrer Familie und müsste jetzt eigentlich faul vor irgendeinem Kamin im Haus liegen und sich ausruhen. Aber anscheinend hatte er es interessanter gefunden ihr hinterher zu laufen. Das jedenfalls hoffte sie. Sie liebte ihren Frechdachs, wie sie ihn betitelte, über alles, war sie doch bei seiner Geburt dabei gewesen und hatte damals dieser kleine Welpe gleich sie als seine Herrin angenommen. Ja... damals war er ihr immer hinterher getapst, mehr schlecht als recht und hatte leise gejault, war sie mal aus seinem Blickfeld verschwunden. Selbst ins Bett war er ihr gefolgt, auch wenn das ihre Eltern nicht gerne gesehen hatte. Langsam setzte sich sie sich wieder auf und zog den Hund zu sich, der sich sofort zu ihr legte und leise wimmerte. Anscheinend spürte er, dass es ihr nicht besonders gut ging. Obwohl ihr einerseits furchtbar kalt war, war ihr auch heiß. Wahrscheinlich hatte sie Fieber. Ihre Hände verloren sich in dem dichten Fell und vorsichtig bettet sie ihr Gesicht nah an ihm. Irgendwie war sie vollkommen ausgelaugt und müde. Der warme Körper neben ihr lockte sie leise sich auszuruhen und etwas zu schlafen. "Wachst du über mich, Frechdachs?", leise glitten die Worte über ihr Lippen und sie schloss die Augen. Der Hund jedoch stupste sie mit der Nase an, wollte sie wach halten. "Es tut mir leid...", flüsterte sie leise und der Hund begann zu jaulen, wollte Hilfe rufen, versuchte sie immer energischer wach zu halten, sie zum aufstehen zu bringen. Ihre Kräfte reichten dafür nicht mehr, auch wenn sie wieder die Augen öffnete. Das Jaulen wurde immer lauter und ängstlicher. Ihre Augenlieder wurden immer schwerer und eine verlockende Taubheit machte sich in ihrem Innern breit, rief ihr zu sich treiben zu lassen. Nur noch ein verzweifeltes ,Bruder' kam über ihr Lippen, bevor sie nachgab. Leise knirschend zerberste die Schneeschicht unter seinen schnellen Tritten. Keuchend vor Erschöpfung beschloss er sein Tempo etwas zu mäßigen, als er vom Wald her Frechdachs Geheule wahrnahm. Konnte es sein? War es denn die Möglichkeit, dass der Hund sie gefunden hatte? Nur keine falschen Hoffnungen. Er war bereits erleichtert, als sie Rauch aus dem Hütten Schornstein hatten steigen sehen. Anscheinen waren sie aber zu spät gekommen. Sie war weg. Einfach weg. Nicht mehr dort. Vielleicht gerade gegangen, vielleicht bereits seit Stunden verschwunden. Jetzt ärgerte es ihn, dass er nicht auf das Feuer im Kamin geachtet hatte. War es bereits heruntergebrannt, oder loderte es noch munter. Vielleicht hatte sie eine Nachricht in der Hütte zurückgelassen. Wieso war er nur sofort, als er merkte, dass sie nicht mehr dort war, mit dem Hund zurück ins Freie gelaufen? Sicher war es toll, dass Frechdachs sofort die Fährte seiner Herrin gewittert und ihr gefolgt war. Dennoch hatte es auch einiges an Leichtsinnigkeit an sich, einfach so Hals über Kopf in ein Schneegestöber davonzulaufen. Es war der helle Wahnsinn. Andererseits waren jetzt die Spuren noch zu sehen, wer weiß wie es in einer Stunde aussehen würde? Vielleicht wäre es trotzdem besser die Rettung oder die Polizei einzuschalten. Ob ein Suchtrupp mit dem Helikopter sie schneller finden könnte? Gedanken und Zweifel überschlugen sich mehrmals in seinem Kopf und drängte von neuem immer und immer wieder in sein Bewusstsein. Verdammt noch mal. Was dachte er eigentlich soviel darüber nach? Sie ist seine Schwester, sie ist alleine hier in der bitteren Kälte. Es war seine Pflicht als Bruder sie zu finden und ihr beizustehen. Sie könnte sich verlaufen haben, oder gar verletzt sein. Er musste sie finden. Um jeden Preis. Sie ist seine Schwester, sie ist seine Liebe. Erschöpft kam er zu der Stelle an welcher der Hund sein Geheule veranstaltete. Er konnte es kaum glauben, aber dort lag sie. Eingebettet in Schnee. Ihr Dunkles Haar hob sich von der weißen Schneeschicht etwas ab, aber ansonsten waren ihre Konturen schon merklich mit ihrer Umgebung verschmolzen. Erleichtert, dass er sie gefunden hatte und gleichzeitig besorgt, sie nur noch tot bergen zu können, lies er sich neben ihr auf seine Knie fallen. Er zog seine Handschuhe aus, und wischte ihr ein paar Flocken aus dem wunderschönen Gesicht. "Schwester...endlich habe ich dich gefunden!" Es war warm... so schön warm. Langsam stieg sie aus ihrem traumlosen Schlaf auf. War sie tot? Leise hörte sie im Hintergrund das Knistern von einem Feuer, neben ihr lag ein warmer Körper, presste sie fest an sich. Leise seufzte sie und kuschelte sich näher an ihre Wärmequelle. Sie fühlte sich in diesem Moment vollkommen beschützt und frei. So sollte es für immer bleiben. Etwas Nasses war auf einmal an ihrer Hand uns sie hörte ein leises ,Wau' von einem ihr sehr bekannten Wesen. Widerwillig öffnete sie die Augen und sah in die großen dunklen Augen von ihrem Frechdachs. Vorsichtig streckte sie die Hand mit Hundesabber aus um ihn über das Fell zu streicheln. "Na wie geht's dir?", fragte sie heiser. Ihre Stimme war fast nicht vorhanden und ein stechender Schmerz ging von ihrem Hals aus. Ein starker Husten stieg auf und sie krümmte sich leicht unter dem Schmerzen, die jetzt auf sie eindröhnten. Ihr Kopf tat schrecklich weh, nebenbei war ihr auch noch schwummerig und sie konnte nicht genau ausmachen, was ihr noch alles weh tat oder besser gesagt nicht wehtat. Neben ihr war ein leises sorgenvolles Geräusch zu hören und vorsichtig drehte sie sich zum Verursacher von diesem um. Etwas ungläubig sah sie ins Gesicht ihres Bruders. Kurz schien alles andere vergessen und stumme Tränen stiegen in ihren Augen auf. Rein aus Reflex zog sie sich näher zu ihm und weinte leise an seiner Brust, immer wieder stieg dabei ein leises schmerzvolles Schluchzen aus ihrer Kehle auf. Es tat weh. Eigentlich wollte sie doch ihren Gefühlen für ihn entfliehen und jetzt wurde sie von ihnen übermannt. Dennoch... nie wieder würde sie ihn verlassen... verlassen können. Das wurde ihr schlagartig klar. Nie wieder... Er hatte sie in seine Arme genommen, und drückte sie nun fest gegen seine Brust. Langsam wischte er ihr mit einer Hand die Tränen aus dem zerbrechlichen Gesicht. Dann legte er ihr eine Hand an die Wange und sah ihr tief in die Augen. Er schien sich schon fast endgültig darin verloren zu haben, als er langsam aber klar und deutlich zu sprechen begann. "Von nun an, werde ich immer bei dir sein. Ich werde auf dich aufpassen, dir zur Seite stehen und dich von weiteren Dummheiten bewahren. Nicht nur wie ein Bruder, sondern...", seine Stimme geriet langsam ins Stocken. Man konnte in seinen Augen lesen, wie schwer ihm die nächsten Worte fielen. Er rang mit sich selbst. Mit all dem Ekel und den Einwänden seines Verstandes. Er verdrängte sie alle bis nur noch eine Gedanke übrig blieb. Und selbst diesen konnte er nur schwer formulieren. Langsam öffnete er seinen Mund. Seine Lippen formten Wörter. Leise, im Flüsterton kaum vernehmbar, aber laut genug für ihre Ohren. Diese Worte waren nur für sie bestimmt. "Nicht nur wie ein Bruder, sondern auch wie dein Geliebter. Ich werde dich immer lieben, egal... egal was die Zukunft uns bringt." Jetzt war es heraus. Hoffentlich hatte er sie nicht damit erschreckt. Aber er konnte es unmöglich noch länger verschweigen. Jetzt wo er mit sich selbst im Klaren war, musste er es wissen. Hatte sein Leben noch einen Sinn, oder würde sie ihn mit Abscheu von ihr stoßen. Sie lächelte leicht und versank langsam in seinen Augen. Vorsichtig strich sie ihm eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht und hauchte einen federleichten Kuss auf seine Lippen. "Danke...", flüsterte sie leise, hauchte noch einen Kuss auf die Lippen vor sich. "Ich liebe dich auch.", fügte sie dann mit festerer Stimme hinzu und schmiegte sich nur noch enger an ihn. Arm in Arm schliefen sie langsam ein, nur beobachtet von einem grau-weißen Hund und ein paar Sternen... ~Ende~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)