Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 50: *~Unki~* -------------------- "Durch Bewegung überwindet man Kälte. Durch Stillhalten überwindet man Hitze. Der Weise vermag es, durch seine Reinheit und Ruhe alle Dinge der Welt ins Gleichmaß zu bringen." - Laotse Kapitel 50 – Unki -Hitze- *Wie lautet unser letzter Wunsch, bevor uns das Inferno verschlingt? Bitten wir schamlos um unser nichtiges Leben? Akzeptieren wir stumm das, was wir Schicksal nennen, und beugen uns? Oder flehen und betteln wir um das Fortbestehen unserer Liebsten, ungeachtet unseres Stolzes? Opfern wir unsere Existenz für die, die uns lieb und teuer sind? Und wenn wir es tun, verbergen wir dann hinter unserer selbstlosen Fassade wirklich keinerlei egoistische Hintergedanken?* ּ›~ • ~‹ּ Sanft spielte der Wind mit dem marineblauen Haar des Drachen in humaner Gestalt, verfing sich in den langen Strähnen wie die schüchternen Finger einer Geliebten, die am Morgen heimlich und von Neugier beflügelt deren weiche, seidene Beschaffenheit zu ergründen versucht. Das raue Gras der Hochebene wog in der salzigen Brise, und das Kreischen von Möwen erfüllte die Luft, stetig untermalt vom allgegenwärtigen Rauschen des Meeres, dem Brechen der Wellen an den Steilklippen. Seit einigen Tagen wartete er hier, regungslos, und übte sich in der Geduld, die er für gewöhnlich nicht besaß. Er hatte keine Wahl. Abermals ließ er seinen Blick schweifen, nahm die Kulisse von Landschaftimpressionen und Geräuschen bewusst in sich auf, prägte sich die kleinsten Details ein. Sinnlos, das wusste er natürlich, aber eine ihm durchaus willkommene Abwechslung neben der Eintönigkeit seines einsamen Verharrens. Da er sich jedoch beabsichtigt in diese Situation gebracht, sie gar eigens gewählt hatte, verbat er sich jedwede mentale Beschwerde. Ich vermisse dich… Im Grunde sollte er sich für seine Präsenz an diesem Ort schämen, für die tiefgehenden Empfindungen, die sein Verhalten nachhaltig beeinflussten – ein irrationaler Charakterzug, der seinem Sein als Drache spottete und das gefährliche Potential barg, ihn letztendlich aus seinem Innersten heraus zu zerstören. Dennoch lächelte er, unverhohlen. Konnte etwas, das ihn glücklich machte, ihn mit Wärme erfüllte, vollkommen falsch sein? „Das Risiko ist es mir wert…“ Denn der schwärende Schmerz in seiner Brust rührte definitiv nicht von einer berstenden Seele, sondern von Sehnsucht her – ein Gefühl, das über die Jahrhunderte, in denen er sein Gesicht nicht einmal hatte sehen können, rapide an Intensität gewonnen, ausdauernd und immer stärker seinen Verstand infiltriert hatte. Erzählt hatte er davon niemandem, nicht einmal Shiosai; anfangs aufgrund von Scham, und dem Wunsch, die penetranten Gedanken zu verdrängen, später aus der Überzeugung heraus, seine Privatsphäre somit zu schützen. Mittlerweile interessierte ihn das weniger. Zirruswolken wanderten träge über das ansonsten eisblaue Firmament, und die helle Scheibe der Sonne, die ihren Zenit dieses Tages bereits überschritten hatte, sandte ihre Strahlen glitzernd auf die ruhige Oberfläche des Ozeans, der sich bis zum Horizont dehnte. Ruhe und Einklang verbanden ihn mit den gigantischen Wassermassen, vereinigten sich in seinem Geiste zu einem identischen Bild eines einzigen Organismus, der atmete und lebte, das zweite Element. Dann streifte eine eisige Böe seine Wangen und Hände, drang mühelos bis unter den Stoff seiner Kleidung, und seiner Unempfindlichkeit Temperaturdifferenzen gegenüber zum Trotz, spürte er die Kälte wie Nadelstiche unter der Haut. Der Geruch von Kamille und wilden Bergkräutern stieg ihm in die Nase. Eigenartig… Verunsichert blickte er gen Westen, dem Inland des Kontinents entgegen, wo sich bis in weite Ferne zerklüftete Gebirgskämme und Felszüge erstreckten, ab und an von grünen Vegetationstupfen abgelöst, brillant schimmernden Formationen fragiler Flora inmitten schieferfarbener Kanten und Ecken. Beiläufig strichen seine Fingerspitzen über das pinke, rechtsläufige Muschelhorn, das er an der Hüfte trug, während meeresgrüne Iriden aufmerksam den Himmel studierten, erwartungsvoll nach der geringsten Bewegung suchend. Anspannung bemächtigte sich seiner Haltung – er spürte das Youki eines anderen Drachen. Kurzum festigte sich sein Griff, und er befreite die Muschel, ein uraltes Kriegsrelikt, aus der ledernen Fixierung, hob sie an die Lippen. Dumpf, aber markant und unverkennbar schallte der Klang des einstmaligen Signalhornes über die Ausläufer und Gipfel des Massives, vom wirren Raunen der Echostimmen verzerrt. Die Weißkopfmöwen verstummten, und nach einem vollkommenen Moment der Stille durchbrach das silbrige Schlagen unzähliger Schwingen das rhythmische Meeresrauschen; weiße Silhouetten lösten sich aus dem Panorama eines mäßig bewölkten Himmels, während die sonoren Rufe von Raben die kalte Luft färbten. Und ehe der Wasserdrachen den feinen Hauch des ihm wohlbekannten Youki erfasste, klärten seine Gesichtszüge auf, und eine vorfreudige Woge der Euphorie wühlte sein normalerweise überaus diszipliniertes Wesen auf. Das Meer hingegen schwieg dazu. Er hat nicht gelogen… Schließlich ertönte ein glockenheller Schrei, der nur von einem Luftdrachen stammen konnte, und ein schlanker, bläulich geschuppter Leib schob sich zwischen der Wolkendecke hervor. Wie gebannt starrte er empor. Das helle Sonnenlicht skizzierte das verzweigte Adernetzwerk in den Drachenschwingen als rötliche Linien gegen einen pergamentfarbenen Untergrund. Mit atemberaubender Geschwindigkeit näherte sich das Ungetüm der Küste, verringerte nach und nach seine Flughöhe. Doch je kontrastierter seine Sicht wurde, desto herber erfuhr seine muntere Erregung die dämpfende Wirkung der Erkenntnis; auf dem Rücken des Loftsdreki in seinem Hennyou saßen zwei Personen, und eine von ihnen war definitiv weiblich… Elegant segelte das große Reittier gen Boden, setzte sicher auf dem Plateau auf. „Kyouran…“ Dieser ahnte, befürchtete eine baldige Bestätigung seiner schlimmsten Prognose, seiner innigsten Furcht… ּ›~ • ~‹ּ Fahle Schatten flackerten geisterhaft über die Wände des unterirdischen Ganges, als er unsicheren Schrittes an den fluoreszierenden Kristallen, die mit dem spärlichen Licht, das sie aussandten, kaum zur Beleuchtung taugten, vorbei streifte. Dunkel erinnerte er sich an das entsetzte Gesicht des jungen Feuerdrachen, der ihm und dem Rest der Vorhut, in panische Hysterie verfallen, zu erklären versucht hatte, warum man im Inneren des Vulkans keinesfalls mit Feuer hantieren durfte, der Vielzahl an hochentzündlichen Gasen wegen. Ingenieur hatte er sich genannt – ein neumodischer Titel, mit dem er so gar nichts zu assoziieren vermochte – und darauf bestanden, ihre Arbeit penibel zu prüfen. Er selbst hatte für sich rasch den Schluss gefasst, dass der Kleine ein übereifriger Tunichtgut und wohl ein Menschenfreund war, dieses schier unbegrenzte Wissen über synthetische Sprengpulver und explosive Mixturen sowie seine vermaledeite Redseligkeit hatten ihn alsbald überzeugt. Zum Soldaten hätte es für den wirren Burschen niemals gereicht. Geistesabwesend fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund, verfluchte ächzend den bitteren Geschmack, der ihm noch immer penetrant an Zunge und Gaumen haftete. Nein, er war nicht bei Eldsvoði oder Aska gewesen, um den Missionsbericht zu erstatten; seit ihrer Ankunft auf der Vulkankette hatte er seine Zeit damit zugebracht, am Fuße des Felsplateaus zu kauern und sich zu übergeben. Wie lange, das konnte er nicht sagen, aber er bereute es ungemein, in seiner Not Salzwasser getrunken zu haben, denn sein Magen hatte es ihm übel vergolten. Dass der Flug über den Ozean im Endeffekt eine solche Strapaze für seinen Körper darstellen würde, hatte er nicht vermutet. Nun konnte er nachempfinden, wie es einem seekranken Kameraden vor Jahren auf der turbulenten Schiffsfahrt über das Schwarze Meer ergangen war. Ihn hatten das raue Wetter und der Wellengang damals nicht tangiert. Spötteleien rächen sich also doch… Unstet durchquerte er eine der großen Gewölbehallen, die Begrüßung einiger Genossen ebenso ignorierend wie das höhnische Gelächter anderer aus den hinteren Reihen. Ob dies ihm galt, oder den beiden halbstarken Idioten, die sich in ihrem Hennyou lärmend um einen Fisch stritten, interessierte ihn dabei wenig. Rangeleien unter den niederen der Loftsdrekar standen auf der Tagesordnung, und Verletzte waren keine Seltenheit. Man begegnete dem zumeist mit Gleichgültigkeit und schätzte sich glücklich, nicht involviert zu sein… Dennoch bezweifelte er, dass die schwarzen Flecken auf dem Boden von ihnen stammten, die Spur führte in die tiefer gelegenen Quartiere. Der metallische Geruch von Blut hing schwer in der warmen Luft, und wahrscheinlich versetzte das die ungeduldigen Gemüter in Aufruhr. Seufzend bog er um die nächste Ecke. Dort, im Kreuzgang zwischen dem schmalen Verbindungsschacht und einer abgegrenzten Kammer, drang ihm alsbald eine wohlbekannte Stimme an die Ohren, die in beachtlicher Lautstärke Zeter und Mordio schrie. Bundori… Mehr tot als lebendig, und dennoch zehrte die Präsenz dieses Bastardes unablässig an seinen Nerven. Wenn sich in der Nacht niemand erbarmte und dem Sonnenweber den Gnadenstoß gewährte, würde er persönlich dafür sorgen, dass der Lindwurm den nächsten Tag nicht erlebte. Der verquere Drachenfürst hatte wie ein Schwein geblutet als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, und Neistis Urteil nach unerbittlich mit unseligen Flüchen um sich geworfen. Insgeheim hoffte er, dass Bundori krepierte. Grummelnd schüttelte er den Kopf und stolperte voran, vermied halbherzig die besudelten Areale des Untergrunds. Die Erschöpfung lastete bleiern auf seinen Gliedern, er fühlte sich benommen und musste sich zeitweise an den Felswänden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; es dauerte, und er verlief sich mehrmals in dem Labyrinth aus querstrebenden Hohlwegen und weitläufigen Gewölberäumen, bis er den eigentlichen Ort seiner Bestimmung erreichte. Das glockenhelle Schimpfen, dass er nach einer Weile des fruchtlosen Herumirrens allzu deutlich vernommen hatte, war ihm auffallend vertraut vorgekommen. Zwischen oberflächlicher Schadenfreude und Anteilnahme schwankend, schlich sich ein gequältes Grinsen auf die Züge des Eldursdrekar, als er durch den Durchgangsbogen in eine der abgeschiedenen Räumlichkeiten spähte. „Verdammt, Neisti, halt endlich still!“ Hrafntinna, eine zierliche, attraktive Person mit eigenwilligem Haarschnitt, ihres Zeichens Heilerin, kniete neben, nein, eher über einem sehr unglücklichen Neisti, der sich in ihrem Griff um seine Handgelenke wand wie ein Aal, sich gegen ihre Behandlung vehement zur Wehr setzte. „Du tust mir weh!“ Mit dem Knie und einem Großteil ihres Gewichtes, fixierte der weibliche Drache den rechten Oberschenkel des Jugendlichen, ihr linkes Schienbein glich die Balance aus, während ihre freie Hand nach der abdominalen Wunde tastete. „Kein Wunder, bei dem Gezappel.“ Neisti bäumte sich keuchend unter ihr auf. „Hrafntinna…“ Der Kleine übertrieb, mit Absicht; er spielte seinen Kredit bei ihr maßlos aus, und sicherte sich auf diese Weise eine Entschädigung. Schmunzelnd lehnte sich der heimliche Beobachter an die angenehm temperierte Höhlenwand, musterte die leichtbekleidete Heilerin, die nachgiebig auf das klägliche Jammern ihres Patienten einging und sich an dessen Seite hockte, lediglich die Handfläche auf seinen Bauch legte. „Ist gut, verstanden. Als ob es meine Schuld wäre, dass ihr zwei Chaoten nicht den Hauch einer Ahnung von Wundversorgung habt… ne, Logi?“ Das vorwurfsvolle Funkeln in ihren Augen blieb ihm nicht verborgen, und seine Stimmung versank im Bodenlosen. „Es tut mir ehrlich leid, aber ich hatte keine Wahl, und bei allem Respekt, als Krieger ist meine medizinische Kompetenz beschränkt… Um jemanden zu töten reicht es.“ Ihm war bewusst, dass er sich auf dünnes Eis wagte. Sie hatte ihn nie sonderlich gemocht, nicht ausschließlich aus Gründen seiner Position und Einstellung, und die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war ihm ein Rätsel, wie Hraunar die Sticheleien und ihr ununterbrochenes Gemecker hatte ertragen können. „Jemanden auseinander zu nehmen ist auch wesentlich einfacher, als ihn nachher wieder zusammen zu flicken. Sprich in meiner Gegenwart nicht so verherrlichend von deinesgleichen.“ Zu seinem Verdruss verdankte er gerade dieser Frau sein Leben. Daher erduldete er ihre Beleidigungen, und hütete sich, den Namen ihres verstorbenen Gatten, der ebenfalls ein vollblütiger, ambitionierter Krieger gewesen war, zu erwähnen. „Die Stärksten überleben. Du hast keine Vorstellung davon, was auf einem Schlachtfeld abläuft; wenn du nicht weißt, wohin mit deiner Wohltätigkeit, leb sie an Bundori aus. Der brüllt sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib.“ Logi vermied ihren Blick, verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Keine Chance, selbst wenn er eine besäße. Der Sturkopf lässt nicht einmal seine eigenen Leute an sich heran. Solange er noch Kraft zum Schreien hat, mache ich mir da keine Sorgen.“ Ohne ihn eines weiteren Quäntchens ihrer Aufmerksamkeit zu würdigen, kehrte sie ihm den Rücken zu und überhörte gekonnt das unverständliche Murmeln aus Logis Munde. Wie kleine Kinder… „Könntet ihr damit aufhören?“ Um ein versöhnliches Lächeln bemüht – was, nebenbei bemerkt, fürchterlich misslang, und die verschwörerischen Intentionen dahinter nicht im Geringsten verschleierte – beugte sie sich über den schmollenden Jungdrachen; Logis verkappte Entschuldigung vermisste jegliche Überzeugung. „Sei du froh, dass du noch lebst, Neisti. Die Klinge hat nur knapp einen der zentralen Youkipunkte verfehlt. Reines Glück, mein Lieber.“ Eine abstruse Kombination aus Kopfschmerzen und einem dumpfen Hungergefühl in der Magengegend rief mich aus den Untiefen der Bewusstlosigkeit empor, geleitete, langsam aber sicher, meine Sinne zurück in die Wirklichkeit. Diese empfing mich mit unerwarteter Wärme, einer drückenden Schwüle, aus deren hitziger Umarmung es kein Entrinnen gab. Schweiß rann über meine Haut, überall, an meinen Schläfen, meinem Rücken hinab, und alsbald wurde mein Durst zu einem überwältigenden Bedürfnis, das mich die widrigen Umstände zunächst einmal vergessen ließ. Mühevoll hob ich die Lider, fühlte den warmen, pulsierenden Boden unter mir, erfuhr das massive Gewicht der stickigen Luft, die mich niederdrückte; wo in aller Götter Namen befand ich mich? Hatte ich unwissentlich die Gefilde der Unterwelt betreten…? Von leiser Panik befallen kämpfte ich mich schlussendlich mit einigen Schwierigkeiten in eine sitzende Position. „Ah… wo…?“ Orientierungslos und verwirrt blickte ich umher. Der Dämmerschein von blauen Wandkristallen tauchte den großen, offenen Raum in schummeriges Licht – hohe Wände, bestehend aus schwarz geädertem Gestein, umgaben mich, und die Decke verschwand zusammen mit den Konturen des Gewölbeverlaufes in leerer Finsternis. Unwohlsein stieg in mir auf, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich mir der zahlreichen Präsenzen in der unmittelbaren Umgebung gewahr wurde, die Schwingungen von Youki und die gedankliche Impression von Flammen und Rauch. Feuerdrachen… Eine schlimme Ahnung beschlich mich, und die Angst begann meinen Verstand zu vernebeln. Wie war ich in die Fänge der Eldursdrekar geraten? Und aus welchem Grund hatten sie mich hierher gebracht? Was war geschehen…? Ich erinnerte mich an den Anblick der Unmengen von Hinezumi und das Dämonenpferd, den Sturz, dann allerdings setzte mein Gedächtnis aus... Ob sich die Umstände in der Residenz des Tennô zum Schlechten gewandt hatten? Waren Flúgar und Kaneko, der Inu no Taishou womöglich…? Nein, nein, diese Überlegung verbannte ich postwendend aus meinem Kopf, ballte unterbewusst die Hände zu Fäusten. Das konnte, das durfte nicht sein. Tränen brannten in meinen Augenwinkeln, doch ich weigerte mich, mir die Blöße zu geben und zu weinen, sträubte mich gegen die Verzweiflung, die mich zu befallen drohte. Noch konnte ich die vermeintliche Ausweglosigkeit meiner Lage nicht gänzlich beurteilen, noch blieb ein Funken Hoffnung bestehen, denn die Unbekannten in meiner mentalen Rechnung verlangten nach Auflösung, bevor ich ein mögliches Resultat zu kalkulieren vermochte. Mit tiefen Atemzügen zwang ich mich zur Ruhe. Doch das Nachdenken erwies sich als erfolglos, ich wusste keinen Ausweg. Was sollte ich jetzt nur tun? Mutlos schloss ich die Augen und zog die Beine an, umfasste meine Knie mit den Armen. Was sollte nun werden…? Starr, von Hilflosigkeit übermannt, verstrich eine unbestimmte Weile, bis mich ein geplagter Laut, ein schwaches Husten zu meiner Rechten aufschreckte. Meine Augen weiteten sich vor Unglauben. Das war… „Blævar…?“ Was…? Was bedeutete das? Perplex starrte ich den Jugendlichen an, blinzelte mehrere Male, doch die Anwesenheit des Luftdrachen entpuppte sich, entgegen meiner Erwartungen, nicht als Traum. Zögerlich streckte ich die Hand nach ihm aus. Blævar reagierte nicht, weder auf Worte noch auf Berührungen; er lag reglos auf der Seite, sein Atem beunruhigend schwer und flach. „Oi, Blævar, kannst du mich hören? Bist du verletzt?“ Sachte, mit zittrigen Fingern fasste ich ihn ein wenig beherzter an der Schulter und drehte ihn auf den Rücken, sein leichter, nahezu fragiler Körperbau auffallend, wie zerbrechliches Porzellan, strich ihm das feuchte Haar aus dem bleichen Gesicht. „Blævar…“ Die verzerrten Züge des Jungdrachen beschrieben bildhaft, wie bedenklich seine Verfassung wahrhaft sein musste. Hilflos wohnte ich seinem leidvollen Ringen nach genügend Sauerstoff bei, heimgesucht von Schuldgefühlen und der Gewissheit, mit meinem Nichtstun, meiner Passivität womöglich meinen Beitrag zu der unweigerlichen Konsequenz zu leisten… Was quälte ihn so sehr? Keine Blutergüsse, er hatte keine erkennbaren äußeren oder ertastbaren Verletzungen – wie sollte ich ihm helfen, wenn ich nicht feststellen konnte, woran er litt? „…“ Seine Lippen bewegten sich, unmerklich, formten lautlose Worte, deren Klang und Zusammenhang mir alsgleich wieder entglitten. „Was hast du gesagt?“ Er öffnete die Augen, die Iriden verklärt und unfokussiert, starrte an mir vorbei an die Höhlendecke, oder ins Nichts. Ich vermochte es nicht zu interpretieren. „Oi, Miko-sama.“ Erschöpft - von der anhaltenden Wärme, dem Stress der ungeklärten Situation, und Blævars Atemnot - hob ich den Blick. Aus der dumpfen Schwärze löste sich eine menschliche Silhouette, eingehüllt vom schwachen Schein eines Leuchtkristalls und dem steten Hall gemächlicher Schritte. Blævar schlief, einigermaßen ruhig. Nach einigem Zaudern hatte ich seinen Kopf auf meinem Schoß gebettet, damit zumindest ein Teil seines Leibes nicht schutzlos dem aufgeheizten Untergrund ausgesetzt war. „Miko-sama. Eldsvoði möchte dich jetzt sehen.“ Verständnislos schaute ich den sich nähernden Feuerdrachen an, meine aufkeimende Unsicherheit und Ängstlichkeit verdrängend, und aufgrund von Blævars Befinden unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Ansonsten wäre ich vor der Intensität der Aura zurückgewichen. Das Youki des Eldursdreki kursierte in entspannten Wellen, ohne jedwede aggressive Tendenzen, doch die Macht, die gewaltige Feuerenergie, die dieser Drache in sich vereinte, schimmerte deutlich, und warnend, durch jene friedfertige Fassade hindurch. „W-was wollt… wieso? Und wer, was…?“ Stammelnd brach ich ab, verstummte, und die Beschämung färbte meine Wangen rot. „Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Er stand nunmehr zwei Schrittlängen von mir entfernt, und in diesem Moment wurde ich mir seiner Jugend gewahr, dem noch nicht gefestigten Schwingen seiner ausgeprägt knabenhaften Stimme. „Ich heiße Neisti, und ich möchte, dass du mit mir kommst. Bitte.“ Machte er tatsächlich gute Miene zu bösem Spiel? Oder hatte ich mich tatsächlich geirrt? Entgegen der Einschätzung meiner Wahrnehmung bekundete mir meine Rationalität konträres; die Milde seiner Worte und Gestik, die Nachgiebigkeit in den wachen Augen, und der weiche, undefinierte Ausdruck eines unbedarften Kindes… Mein beabsichtigter Protest erwies sich als unbegründet. Hinter seinem Antlitz lauerte keinerlei Hinterlist, dafür Aufrichtigkeit und die für Drachen offenbar charakteristische Reinheit der Seele. Jedoch empfindsamer, als ich die von Flúgar erlebt hatte. „Was ist mit Blævar…? Ich kann ihn nicht…“ Der Junge bot mir die rechte Handfläche dar. „Niemand wird ihm etwas tun, das verspreche ich dir.“ Zagend willigte ich ein und nickte, durchaus nicht von allen Zweifeln befreit, die durch meinen Verstand geisterten. Welche Wahl blieb mir letztendlich? Ich wollte keine gewalttätige Gegenwirkung provozieren, und so manövrierte ich den Loftsdreki vorsichtig von meinen Beinen und richtete mich auf, ließ mich widerstandslos von dem Jugendlichen aus dem Raum eskortieren. Die Decke der Gewölbekammer war niedriger als ich gedacht hatte, und die provisorische Gefängniszelle mündete in einem engen Gängegeflecht, das mich unvermeidlich an meine Stunden in Askas unterirdischem Verlies erinnerte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ob sie das hier mitveranlasst hatte? Immerhin stammte sie ebenfalls aus dem Clan der Eldursdrekar… Gesenkten Hauptes folgte ich dem Feuerdrachen, bemerkte lediglich am Rande, dass uns alsbald einer seiner Artgenossen begleitete. Und da dieser ein Schwert am Waffengurt trug, musste ich nicht lange grübeln, welcher Profession er sich wohl verschrieben hatte. Ein Wächter, Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen – besonders unter den hiesigen Konditionen. Ohnehin wusste ich nicht annähernd, wo ich mich befand, wohin hätte ich also fliehen sollen? Je weiter wir gingen, desto heißer wurde es, und ein beständiges Rumoren erschütterte den gemusterten Fels. Das Geräusch kam mir vertraut vor… Während ich in nebulöse Reflexionen versank, erreichten wir eine halbmondförmige Halle und bahnten uns einen Weg ins Zentrum, wo sich ein flaches Podest erhob. Exotische Aromen umströmten meine Nase, ein beständiges gedämpftes Murmeln drang an meine Ohren, die unerträgliche Gluthitze resultierte allmählich in vagem Schwindel. Dunstschwaden beeinträchtigten meine Sicht, schemenhaft rauschten Farben und Formen, Gestalten an mir vorüber. Ich fühlte mich benommen. Bronzene Leiber räkelten sich auf dem nackten Gestein, unanständig, lasziv, glänzende, schweißbedeckte Haut inmitten von lustvollem Stöhnen, und obszönen Praktiken, die mir die Schamesröte abermals ins Gesicht trieben. Rasch schlug ich die Augenlider nieder und fixierte angestrengt meine ineinander verkrampften Hände. Mit bunten Süßigkeiten gefüllte Schälchen säumten unseren imaginären Pfad, ab und an ein edles, aber wesentlich zu durchsichtiges Stück Stoff, und meinem Unwohlsein zum Trotz schwankte ich vorwärts, dem Ursprung des Irrsinns, der sich um mich zu entfalten schien wie eine Blüte in der Sonne, entgegen. Dass mich der jugendliche Feuerdrache indessen stützte, und ich ihn willig als Führung anerkannt hatte, wurde mir erst begreiflich, als er seinen Griff lockerte und ich beinahe stürzte. Verwirrt schaute ich auf. Auf der sanften Erhöhung, um die sich die ekstatischen Feuerdrachen in ihrem hedonistischen Treiben drängten, saß einer von ihnen, ein männlicher Drache mit tiefrotem Haar und unleserlichen Iriden. Er musterte mich, schier desinteressiert, ehe er in erstaunlich zärtlicher Manier mit den Fingerkuppen über meine Wangenknochen und meine Stirn fuhr. Schwielen von der Tsuka eines Schwertes… „Was…?“ Ich wehrte mich nicht, gestattete ihm, mich an sich zu ziehen, seine Präsenz lullte meinen Geist ein, verscheuchte jeglichen negativen Gedanken aus meinem Bewusstsein. Meine Furcht, meine Ungemach, alle meine Sorgen verblassten im Angesicht dessen, was er mir offenbarte, ehrlich und ohne Zurückhaltung; eine überwältigende Erfahrung wurde mir zuteil, nicht zu benennen, ähnlich der, die mir Flúgar ermöglicht hatte. Bloß entspannter, und gleichgültiger. Eldsvoði… Verschwommene Bilder der Vergangenheit, Krieg und Tod, in einem fremden Land, Feuer, der Kampf ums Überleben zwischen Brutalität und dem Rausch des Vergnügens, Ungerechtigkeit, familiäre Schwierigkeiten, insgesamt eine Flut von Eindrücken und Empfindungen, die nicht die meinen waren. „Midoriko.“ Eh? Er kannte meinen Namen? Konnte er etwa ebenso viel von meinen Erinnerungen erhaschen, wie ich von den seinen…? Wahrscheinlich. Abwesend lauschte ich dem gleichmäßigen Herzschlag, eingenommen von den vergangenen Wahrnehmungen aus dem Leben eines anderen Geschöpfes, vertrauensvoll an der Brust des Kriegers lehnend. Er roch nach Rauch und Alkohol, nach Opium. Der Jugendliche kniete derweil vor mir, zu meinen Füßen, sein Kinn ruhte auf meinen Oberschenkeln, neben ihm der bewaffnete Wächter, ein Eldursdreki mit kohlschwarzen Augen und der einzige, der sittsam, mit mehr als einem ledernen Waffenrock bekleidet war, ein düsterer Geselle, dessen Dämonenenergie nicht im Einklang floss, verschlossen, abgeneigt. Dennoch übermannte mich der Rausch der Masse, die sich in der Glorie ihres Oberhauptes sonnte, und er riss mich mit sich, unbarmherzig, in die Tiefen einer falschen Euphorie… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 51: >“Wenn die Umstände außer Kontrolle geraten, das Chaos über einen hereinbricht und der Himmel einem buchstäblich auf den Kopf zu fallen beginnt, geht es plötzlich nur noch um Leben oder Tod. Jeder kämpft auf seine Weise dagegen an, ob erfolgreich oder nicht…“ *» Stigmögnun Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)