Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 49: *~Blekking~* ------------------------ "Der Krieg ist ein Weg der Täuschung." – Sun Tse Kapitel 49 – Blekking -Täuschung- *Nichts ist so, wie es scheint, und wer kann mit absoluter Sicherheit behaupten zu wissen, welches Übel hinter der Fassade einer Absicht lauert? Ist Intuition oder eine instinktive Eingebung das einzige, was uns in einer solchen Lage rettet? Oder gelingt es mit Logik allein, die Wahrheit zu enttarnen? Doch was ist, wenn unsere Erkenntnis zu spät kommt? Wenn wir wichtige Zeit verloren haben, und damit das Leben eines anderen aufs Spiel setzen, müssen wir dann unsere Schuld anerkennen?* ּ›~ • ~‹ּ „Logi, ein Glück…“ Matt, und der samtenen Schwärze der Bewusstlosigkeit nahe, sank der verwundete Jungdrache – nunmehr wieder in seiner menschlichen Gestalt - in die Knie, akzeptierte dankbar und erleichtert die Schnauze des Feuerdrachen unmittelbar vor seiner Brust, die ihm einen soliden Halt versprach. Warm… Atemlos lehnte Neisti die Stirn an den harten Widerstand, der entgegen seiner unnachgiebigen Textur Wohlwollen und Geborgenheit signalisierte, und schloss die Augen. Noch niemals in seinem bisherigen Leben hatte er eine derartige Verletzung aus einer kämpferischen Auseinandersetzung davongetragen, das Niveau seiner Fähigkeiten, entsprungen aus natürlichem Talent, für seine Gegner unerreichbar. Nicht bei Súnnanvindur… „Er ist stark, nicht wahr?“ Grummelnd gebot er dem Zittern seines zerschundenen Leibes Einhalt. „Wohl eher unheimlich clever.“ Dabei stammte die Stichwunde in seinem Abdomen nicht einmal von ihm, sondern von einem Menschen – dennoch verschwieg er dies bewusst, und Eldsvoði würde die beschämende Wahrheit allenfalls durch eine explizite Aufforderung erfahren. Elender Bastard von einem Schwertkämpfer… Er wollte hier weg, so schnell wie möglich, und zurück zu seinem Bruder, zurück nach Hause… Und Logi begriff durchaus, dass er jenes Thema nicht vertiefen sollte, wenn ihm nicht unbedingt an einer Züchtigung für redselige Dreistigkeit gelegen war. „Ich habe meinen Auftrag soweit erfüllt, leiðtogarsbróðir. Und durch Bundoris Trick mit dem Fuyoheki wurde ich nicht einmal bemerkt. Keine Komplikationen. Allerdings…“ Der Angesprochene verbat sich das gequälte Keuchen, das ihm zu entfleuchen drängte, presste dementgegen wirkend ein leises, kaum verständliches „Was…?“ heraus; Logis mentale Stimme hallte unangenehm laut und befremdlich durch seinen schmerzenden Kopf. „Dieses Menschenmädchen… ich nehme an, sie ist eine Priesterin, aber ihre Präsenz ist… überwältigend. Unbeschreiblich, ich… ich konnte nicht anders, als… ich meine, können wir sie mitnehmen?“ Anstatt zu antworten, gestikulierte der Jugendliche zu Logis breitem Rücken. Der deutete gehorsam ein Nicken an, bevor er der stillen Bitte Folge leistete und Neisti aufhalf. Trotz der Unterstützung hievte sich der Eldursdreki schwerfällig auf die Beine, erklomm mit diversen Schwierigkeiten die Schulter seines Artgenossen; als er letztlich die Ausbuchtungen der Wirbelsegmente unter seinen Fingerkuppen spürte, rollte er sich auf den Rücken, und versuchte vehement, das Stechen in seiner linken Seite zu ignorieren. „Ist es sehr schlimm?“ Zunächst erhielt er darauf keine Antwort, erntete lediglich ein entnervtes Seufzen und einen halbherzigen Ellbogenstoß in den Nacken. „Ich glaube nicht, dass es mich umbringen wird…“ … was nicht bedeutete, dass sein körperlicher Zustand stabil oder gar einigermaßen erträglich war. Während sich Neisti für einen Moment ausruhte, um seinen verkrampften, beanspruchten Muskeln etwas Entspannung zu gönnen, und die Frequenz seiner Atemzüge sich allmählich normalisierte, setzte sich Logi in Bewegung, wohlweislich in den tieferen Schatten wandelnd. Nach einer Weile richtete sich der junge Feuerdrache wieder auf, musterte die beiden unbekannten Wesen, die unweit von ihm etwas misslich, doch unversehrt, zwischen Logis Dornenpanzer weilten, ohnmächtig. Das eine war ein männlicher Loftsdreki, etwa in seinem Alter, der seinem Vater, dem ClanOberhaupt, bezüglich der Gesichtszüge sehr ähnelte, und dann lag da dieses Mädchen… Ihm wurde flau zumute, seine Sicht verschwamm und er fiel beinahe, fing sich erst knapp, aus purem Reflex, vor dem vermeintlich unvermeidbaren Sturz wieder – dank der Umsicht seines wachsamen Gefährten, wohlbemerkt. „Bizarr, oder?“ Ratlos, mehr oder minder überfragt, zuckte der Junge die Schultern. „Sie… ist sie wirklich ein Mensch? Dieses Gefühl…“ Eine derartige Anziehungskraft, wie ein Feuer die Motten anlockt… Logi warf ihm einen bestätigenden Seitenblick zu, die kohlefarbenen Augen in der allgegenwärtigen Finsternis leicht verengt. „Ich weiß, was Ihr meint.“ Daraufhin hüllten sich die Feuerdrachen geflissentlich in Schweigen. Neisti beobachtete mit gewisser und ebenso absurder Faszination das Menschenmädchen, das gleichmäßige Heben und Senken ihrer Brust, die Kaskade von pechschwarzem Haar, die sich über Logis scharlachrote Rückenpartie ergoss, im Kontrast zu ihrer blassen Haut… Wie lange er sie ungeniert angestarrt hatte, vermochte er im Nachhinein nicht zu sagen, und umso bewusster erfuhr er, dass das nicht genügte. Kurzerhand verlagerte er sein Gewicht, winkelte die Beine an und kniete sich somit hin, seine intakten Schienbeine belastend, um sich vorsichtig immerzu ein kleines Stückchen näher an sie heranzuschieben. Zaudernd beugte er sich über ihre regungslose Erscheinung, hob die linke Hand und berührte mit den Fingerspitzen prüfend und gleichsam vage eine verirrte Strähne, die dem lockeren Zopf entwichen war. Neugier und höchste Konzentration vereinten sich in dem gebannten Ausdruck des Jungdrachen. Schließlich, nachdem er durch den ersten, glimpflichen Kontakt Mut gefasst hatte, wagte Neisti seine Handfläche behutsam auf ihren Oberarm zu legen. Ein fremdes Empfinden jagte ihm die Wirbelsäule auf und ab, verursachte Wellen wohliger Schauer, die in seinen Nervenbahnen kribbelten und den Schmerz seiner Verwundung mit sich hinweg trugen. Ihm schwanden die Sinne, in süßer, wonniger Manier, und die Realität entschwand in Vergessenheit, als hätte er sich willentlich in einen ekstatischen Rausch begeben, wie es Eldsvoði gerne tat, wenn er nachdachte… Logi hielt abrupt inne, und Neisti sah auf. Benommen, wie in Trance, zog er die Hand zurück und ging wieder auf Distanz. Interessant. Sein Bruder würde sich über ein solches Mitbringsel mit Sicherheit freuen, und Logis putativen Scharfsinn würdig belobigen; er verkannte die Gefahr, die es in sich barg… „Was ist mit Bundori?“ Aus den Bahnen seiner Überlegungen geworfen, blinzelte Neisti verwirrt und suchte mit den Augen nach einem Anhaltspunkt der Orientierung in der Düsternis um ihn herum, ehe er sich besann. „Lebt er noch?“ Der Hals des Feuerdrachen wölbte sich, bildete einen perfekten Bogen. „Mehr oder weniger. Die Ausstrahlung seines Youki ist schwach… so gerne ich ihn hier seiner Verdammnis überlassen würde, ich fürchte, wir können ihn auf dem Rückweg nicht entbehren.“ Abwägend, welche Alternativen und Konsequenzen aus ihrer jeweiligen Handlung resultieren würden, nickte der Jüngere gewichtig. „Ich mag ihn zwar nicht besonders, aber ich denke auch, wir sollten ihn mitnehmen.“ Wenig begeistert stieß der Eldursdreki einen seufzenden Laut aus. Das aggressive Youki des Sonnenwebers, und sein diabolischer Charakter beunruhigten ihn, riefen Nervosität und zweifelndes Misstrauen in ihm hervor; ein unheimlicher Zeitgenosse, dem man besser nicht begegnete – besonders dann nicht, wenn seine Laune den Gefrierpunkt unterschritt, was bei Bundori permanent der Fall zu sein schien. Im Laufe ihrer zeitaufwendigen Anreise hatte er mehrmals befürchtet, von ihm an Ort und Stelle in Fetzen gerissen zu werden – aufgrund banaler Begebenheiten, über die Neisti nicht ansatzweise gemurrt hätte. Und welchen Narren er an dem Hundegeneral, immerhin einem der mächtigsten Dämonen in Japan, gefressen hatte, wollte Logi nicht ernstlich seinem Erfahrungsschatz hinzufügen. Vermutlich aus subjektiver Aversion heraus. „Wie Ihr wünscht, leiðtogarsbróðir.“ Neisti kicherte verhalten, auf den lädierten Part seiner Flanke achtend. „Niemand hört uns zu. Du musst nicht so verdammt förmlich sein, Logi. Ich ertrage es nicht, wenn andere von mir im Plural sprechen…“ Unwillig schüttelte der Drache den massiven Schädel. „Es gehört sich nicht, den Rang seines Gegenübers zu vernachlässigen. Respekt ist eine Tugend, und Euer Bruder misst dem einen hohen Wert bei – und das wisst Ihr.“ Schmunzelnd und mit einem vernehmlichen Ausatmen wälzte sich der Jugendliche lax auf den Bauch. „Du machst mir keinen Spaß, Logi. Ich mag dich, aber dein steifer Ethos ist furchtbar nervig.“ Die Schar der Hinezumi teilte sich, schuf bereitweillig eine Gasse für den großen Feuerdrachen, sodass dieser bequem passieren und seinen Weg fortsetzen konnte; sie erkannten ihn durch seine Zugehörigkeit zum Element des Feuers, gebärdeten sich jedoch aufgrund der fehlenden Ausstrahlung von Youki starr und beängstigt. Logi kümmerte sich nicht darum, bemüht, gründlich und bedachtsam Ausschau nach Bundori zu halten. Wo steckte der dämliche Kerl, wenn man nach ihm suchte? Brummend stieg er über einen weiteren zerstörten Mauerabschnitt hinweg, ließ seinen Blick schweifen. Nichts. Nichts, und wieder nichts… Indessen döste Neisti mehr oder minder delirös vor sich hin, schweigsam und apathisch, wie es ansonsten nicht seiner Art entsprach. Seit seinem, nach Logis Meinung, etwas unangebrachten Kommentar über eben dessen Pflichtbewusstsein hatte er sich nicht erneut verbal geäußert. Offenbar fiel es ihm schwerer, sich mit der Wunde und dem damit verbundenen Schmerz zu arrangieren, als er vermutet hatte. Was erwartete er? Der Kleine war ein Kind, und definitiv noch kein Krieger. Was hatte sich Eldsvoði bloß dabei gedacht, seinen jüngeren Bruder zusammen mit einem wahnsinnigen Fremden wie Bundori in das Territorium der Luftdrachen zu entsenden? Ihn mit Súnnanvindur zu konfrontieren, was ihm beinahe das Leben gekostet hätte… Verantwortungslos. Gleichgültig, wie viel Talent für das kriegerische Handwerk in ihm schlummern mochte und ungeachtet seines beachtliches Potentials durch die Verbindung mit der Alten Generation, es rechtfertigte keinesfalls Eldsvoðis nachlässiges Verfahren mit einem unentbehrlichen Bestandteil des Clans der Eldursdrekar. Immerhin kaschierte Neistis zuweilen naives Auftreten und seine Jugendlichkeit, dass sich in ihm das wahre Erbe Hraunars verbarg – und sollte dies bekannt werden, gerieten sie allesamt in Schwierigkeiten. Ob Súnnanvindur Verdacht schöpfte? Missmutig schnaubend schüttelte Logi den gewaltigen Kopf, vertrieb die nagende Skepsis aus seinem Verstand, denn in einer Position wie der seinen konnte er sich weder Ungehorsam noch eine Beschwerde leisten. Was das Oberhaupt beschloss, musste er fügsam akzeptieren; sogar, wenn es ihn geradewegs in den Tod befahl… Dann nahm er eine vage Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Unverzüglich wandte er sich zu seiner Linken, in Richtung des stetig rauschenden Meeres, und spähte über die Trümmer einer ehemaligen Lagerhalle. Das Dach war eingestürzt, die Wände von einer gewaltigen Krafteinwirkung nach innen gedrückt worden und letztlich unter der Last zusammengebrochen. Ein ähnliches Bild vermittelte der immediate Umkreis; zerstörte Gebäude, geschwärzte Erde, und eingeebnete Arealflächen, die stummen Zeugen eines unerbittlichen Gefechtes zwischen zwei verfeindeten, dämonischen Mächten. Inmitten dieser nunmehr schwarzen Monotonie von Zerstörung regte sich etwas, eine schemenhafte Gestalt, die sich vor den Halbschatten des Zwielichtes abhob, kauerte in einiger Entfernung auf dem Schlachtfeld. „Leiðtogarsbróðir. Bitte, versiegelt Eure Wunde und nehmt danach das Fuyoheki an Euch.“ Zu mehr als einem Murmeln fühlte Neisti sich nicht imstande. „Versiegeln…?“ Der Feuerdrache fixierte die unscheinbare Silhouette, die sich mühevoll auf die Beine kämpfte. „Brennt sie aus. Wir müssen so viel Zeit wie möglich schinden, um wenigstens einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Gelingt es den Loftsdrekar, uns über dem Ozean abzufangen, sind wir ihnen schutzlos ausgeliefert, und der Plan scheitert unweigerlich.“ Solange es sich als möglich erwies, sollten sie die wahren Begebenheiten verschleiern – mit dem Wissen, dass sie hier von Anfang an zu dritt agiert hatten, würden die Luftdrachen bald erraten können, welches Szenario sich hinter ihrem Rücken zugetragen haben musste, und dass Blævars Verschwinden unvermeidlich mit ihrem plötzlichen Rückzug zu verknüpfen war. Dazu bedurfte es keiner höheren Intelligenz. Und deshalb durfte sich der Geruch von Neistis Blut nicht weiterhin ungehindert ausbreiten, um das Risiko, dass es sie vorzeitig verriet, einzudämmen. Logi würde die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ehe er Bundori zu seinem Glück zwingen und schlussendlich die Flucht ergreifen würde. „Beeilt Euch bitte.“ Diverse Witterungen, allen voran die von Dämonenblut, vermischten sich in seinen Nüstern und geboten Eile; der Inu no Taishou trieb sich in ihrer Nähe herum, und falls der einen Blick auf die Geißeln erhaschte… Neisti tat derweil wie ihm geheißen, zwar widerwillig und zögerlich, doch mit der notwendigen Präzision presste er die rechte, von einem bläulichen Flämmchen umhüllte Hand auf die beiden Austrittswunden, vernünftig dosiert und ohne das Gewebe dauerhaft zu schädigen. Das von Schmerz geprägte Japsen konnte er nicht unterdrücken, trotz fest zusammengebissener Zähne. „Ich danke Euch, leiðtogarsbróðir. Ich schätze Eure bedingungslose Kooperation.“ Desinteressiert griff der Jungdrache nach der violetten, faustgroßen Sphäre, wiegte sie in den Handflächen hin und her. „Ja, ja, was auch immer…“ Soweit, so gut… Gefasst streckte der Eldursdreki seine Schwingen und wuchtete seine gesamte Körpermasse auf die Hinterläufe, positionierte die Pranken der Vorderbeine auf einem stabilen Felsabsatz, dem intakten Überbleibsel der Grundfeste des Lagerhauses. Dann brachte er seine Kiefer auseinander, schluckte einen gewaltigen Schwall lauwarmer Luft, und rieb die rauen Längskanten seiner Zunge an den Innenflächen der Zähne, wodurch er winzige Funken erzeugte, die sogleich übersprangen und das Gasgemisch entzündeten. Begleitet von einem dumpfen Grollen riss er das Maul auf und stieß einen grell leuchtenden Feuerball in die Düsternis hinaus. „Bundori…“ Ein plötzlicher Bewegungsimpuls durchzuckte daraufhin die Muskeln des Eldursdreki, und er stürzte vorwärts, ungeachtet jedweden Hindernisses, sprang mit entfalteten Flügeln von der Kante des Granitblocks ab, um in einen, zugegeben, etwas unsicheren Segelflug überzuwechseln, sodass er wie ein lautloses Gespenst rasch über die graue Einöde hinweg glitt. Widerstrebend verringerte er dabei seine Flughöhe und senkte den Kopf, packte den perplexen Sonnenweberdrachen an der Schulter – hinreichend fest, um diesem sämtliche Knochen zu brechen, falls er Gegenwehr erwiegen sollte… ּ›~ • ~‹ּ „Ich fasse es nicht! Das ist doch zum…! Wieso zur Hölle hat er dieses Monster einfach entkommen lassen?! Ich… das ist doch die Höhe!” Wutentbrannt wirbelte der Krieger herum, seine vorherige Paralyse vergessend, warf dem am Boden sitzenden Drachensouverän einen vernichtenden Blick zu. Dieser jedoch schwieg, und der aufgebrachte Menschenrechtler gestikulierte wild mit den Armen in der Luft, setzte zu einer neuen Schimpftirade an, als das Souga-Oberhaupt sich von der Szene am aufklarenden Himmel abwandte und ihm in ungewohnter Schwere eine Hand auf die Schulter legte. „Akaihoshi-san.“ Trotz der deutlichen Warnung, die in der höflichen Anrede mitschwang, ließ sich Akaishoshi nicht beirren. Unwirsch entriss er sich dem Griff des Provinzfürsten und trat näher an den offensichtlich erschöpften Drachen heran, mutig, da er um dessen momentane Schwäche wusste; doch Súnnanvindur kam ihm zuvor, denn ehe der Mensch den Mund öffnen konnte, erhob er die Stimme, ruhig und leise. „Hüte deine Zunge, Akaihoshi, oder ich werde persönlich dafür sorgen, dass du sie eben das letzte Mal benutzt hast.“ Dem Angesprochenen blieben die boshaften Worte förmlich im Halse stecken und er wich einige Schritte zurück - es war nicht die Erscheinung des Loftsdreki, die ihm nunmehr Angst einflößte, sondern die verborgende Drohung in seinem Befehl, die unterschwellige Autorität, und die unbehagliche Kälte, die er ausströmte. Widerwillig, entkräftet, erleichtert, verfielen die beiden Menschen und der Dämon in absolutes Schweigen. Über ihnen brach derweil die dunkle Wolkenfront auf und die Nachmittagssonne sandte ihre blendend hellen Strahlen durch die ungleichmäßigen Risse hindurch auf die Residenzruine hinab, enthüllte das gesamte Ausmaß des von den Youkai verursachten Schadens. Eine verheerende Bilanz präsentierte sich hier dem Beobachter: das weitläufige Terrain glich einem Trümmerfeld, mehrere Feuerherde vernichteten die letzten intakten Holzbauten, und die Hinezumi tummelten sich noch immer zu Hunderten in den geschützten Ecken und Winkeln, voller Angriffslust und Feindseligkeit. Wenn Súnnanvindur nicht alsbald auf die Beine kommen sollte, würden sie ihre Deckung verlassen und ihn zweifellos attackieren; Feuerratten mochten simple Kreaturen sein, aber keineswegs dumm. Müde hob er den Kopf, betrachtete die Verwüstung das erste Mal mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Und langsam wurde er sich seiner eigenen Naivität bewusst, seiner Unbesonnenheit bezüglich des Bündnisses mit dem Tennô – hatte er tatsächlich geglaubt, es würde so einfach werden? Vielleicht war er derjenige, dem man eine Lektion erteilen musste. Ausgeträumt… Unter der Asche dieses Ortes lag das Traumgefüge einer Allianz ohne Schwierigkeiten begraben, eine Fata Morgana in der Wüste der Verzweiflung, die Frieden verspricht und Krieg und Tod über die Unwissenden bringt. Wie vertrauensselig er in die Falle getappt war! Existenzangst und die Furcht vor dem Versagen hatten sein Urteilsvermögen getrübt, und nun verstand er, dass dem Grundsatz seines Vaters etwas Wahres anhaftete. „Urteilt man anstatt nach rationalen Argumenten nach Gefühlen, wird über kurz oder lang ein Unglück geschehen, und zumeist leidet darunter nicht der, der die Entscheidung verantwortete.“ Sich selbst Fehler einzugestehen, schmeckte bitter. Lethargie senkte sich über das Gemüt des Drachen, und er presste die Lippen aufeinander, versiegelte somit jedweden Laut im Ursprung. In sich gekehrt mahnte er seinen Leib zur Ruhe, wirkte dem raschen Herzschlag und seiner beschleunigten Atmung entgegen. Seine Gedanken kreisten indes um etwas Anderes, das ihn weitaus mehr beunruhigte und gleichermaßen irritierte. Neistis Auftauchen, und der Eindruck, den er von dem Jungdrachen während ihrer Auseinandersetzung erworben hatte, bereiteten ihm Sorgen. Hraunars wahrer Erbe… Was ging hinter der Front der Eldursdrekar vor sich? Beabsichtigten sie einen neuen Krieg? Warum banden sie Bundori, einen Außenseiter, in ihre Rachepläne ein? Und wie hatten sie den Tennô für ihre niederen Zwecke gewinnen können…? Zusammen ergaben die Fakten keinen Sinn… „Súnnanvindur-sama…?“ Eine möglichst neutrale Miene wahrend, schaute der Drachensouverän auf. Vor den Umrissen der zerstörten, inneren Ringmauer zeichnete sich eine hochgewachsene Gestalt ab, die sich sichtlich mühsam einen Weg durch die Horde der Feuerratten bahnte, die sich quietschend um sie scharte. „Wenn ich mit euch Mistviechern fertig bin, ziehe ich euch das Fell ab und mache mir einen Mantel daraus!“ Súnnanvindur horchte auf, begab sich in eine formalere, knieende Position. Meigetsumaru… Die Stimme des Hundedämons klang ungewohnt rau und heiser, und die plumpen Bewegungen, mit denen er sich der lästigen Plagegeister entledigte, zeugten von einer zumindest angeschlagenen, wenn nicht gar außerordentlich miserablen körperlichen Verfassung. Unsicher grüßte der Luftdrache den Inu no Taishou mit einem nonchalanten Wink, den dieser mit einem knappen Nicken quittierte. „Bist du halbwegs in Ordnung?“ Jene Härte, die die Züge des silberhaarigen Dämons überlagerte und seine bernsteinfarbenen Iriden beherrschte, gefiel ihm nicht. Tiefrote Flecken verunzierten die weißen Gewänder, über dem rechten Wangenknochen färbte sich die Haut violett. „Der Bastard und sein Freund sind abgehauen. Ich habe meine Gelegenheit vertan, dem Wahnsinn ein Ende zu setzen…“ Frustriert knurrend verschränkte er die Arme vor der Brust, bedachte die abseits stehenden Menschen mit einem kritischen Seitenblick. „Weißt du, was mit dem Tennô ist? Oder meinen Söhnen, meinen Untergebenen…? Mein Youkispiegel ist derart niedrig, dass ich die weißen Raben nicht halten kann, ich bin mehr oder minder blind.“ Dass die Schuld daran ein Kind trug, behielt er wohlweislich für sich. Der Herr der Hunde schüttelte jedoch den Kopf. „Den Tennô hat Bundori erfolgreich, und dauerhaft, kalt gestellt. Mehr kann ich dir auch nicht berichten… Erzähl du mir nicht, der kleine Feuerdrachen hat dich so zugerichtet.“ Zerknirscht verbat sich Súnnanvindur eine flapsige Antwort. In diesem Fall nagte es ernstlich an seinem – für gewöhnlich eher rudimentär vorhandenen – Kriegerstolz, dass er Neisti nicht hatte in die Ecke drängen und besiegen können. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nie und nimmer gelungen, den Jugendlichen zu töten. Dennoch erschien der weiße Hund nicht ansatzweise amüsiert, der Ausdruck bar jeglicher Emotion; offenbar befand er die Hilflosigkeit des DrachenOberhauptes ebenfalls als bedenklich. „Neistis Talent übersteigt das von Hraunar bei Weitem, er ist gefährlich und eventuell bereits über das Level von Eldsvoðis Fähigkeiten hinaus… Er war verletzt. Ich bezweifle allerdings, dass er deshalb den Rückzug angetreten hat.“ Dem fehlte die Logik. Ohne Aussichten auf einen Erfolg, gleichgültig, wie gering der ausfiel, akzeptierte niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, ein dermaßen hohes Risiko. Eldsvoðis Intentionen gaben Rätsel auf. Wo saß der vermeintliche Haken? Wo? „Trotzdem. Was wollen die mit einem wie Bundori? Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Kaze. Irgendetwas ist mir entgangen, und meine Intuition trügt mich selten.“ Obwohl es ihm missfiel, seine Unaufmerksamkeit und die daraus resultierende Beklemmung, die seinen Verstand marterte, anzuerkennen, stimmte er dem japanischen Hundeyoukai leise zu. „Dass sie sich auf dem Kontinent formieren und eine Offensive vorbereiten, ist kein Geheimnis. Ob sie eine zweite hier im Osten planen…?“ Wozu? Wollten sie Japans Inseln ihrem Territorium einverleiben? Zum einen würde sich Bundori damit wohl kaum einverstanden erklären, und zum anderen widersprach das Neistis Äußerungen über die Wiederherstellung der Ehre des Clans – und seines Bruders Hraunar. Nein, unwahrscheinlich. „Mit Bundori als einheimischen Landesführer? Vorstellbar. Aber was sollte dann diese vollends unterbesetzte Aktion? Zufall war das nicht, und Kundschafter vermeiden es, in Gefechte verwickelt zu werden, um ihre Missionen nicht zu gefährden.“ Wie konnte bloß ein stupides Unterfangen wie eben jenes den Feuerdrachen zum Vorteil gereichen? Nachdenklich schloss der Inu no Taishou die Augen, und erst jetzt bemerkte Súnnanvindur, dass sich sein Gegenüber dem Seelendieb aus der Hölle wieder angenommen hatte, die temporären Versiegelung aufgehoben; glücklicherweise bewies sich die unheilvolle Aura des Schwertes als ausnahmslos verloschen, die unmittelbare Gefahr als zunächst gebannt. „Also ein Ablenkungsmanöver?“ Daraufhin zuckte der Drache die Schultern. „Ablenkung? Von was? Einem Großangriff andernorts? Das ist unmöglich. Sie kennen unseren Hort nicht, so etwas wäre reine Zeitverschwendung und ziemlich dumm.“ Ratlos blickten die Dämonen einander an. Ihre Unwissenheit beschwor Nervosität herauf, und die klammheimliche Frage, ob die Möglichkeit bestand, längst vom Regen in die Traue geraten zu sein, schwirrte ihnen im Hinterkopf umher. Aus Ungewissheit geborenes Zaudern tötet… Nach einer Weile der Stille straffte sich plötzlich die Haltung des Hundedämons und sein Blick wanderte zum Himmel. Gehörte die Nekomata nicht eigentlich zu der Priesterin, der er in der Nähe des Orakelberges begegnet war…? Von der Präsenz der sympathischen Menschenfrau spürte er gegenwärtig nichts. Gar nichts. Auf dem Rücken des sich nähernden Katzenyoukai befand sich eine einzelne Person, sein Sohn Sesshoumaru, unversehrt, und offensichtlich verstimmt, wenn man nach dem säuerlichen Gesichtsausdruck urteilte. Etwas ungeschickt rutschte der Junge schließlich an der Flanke des Feuerdämons hinab, musterte die Anwesenden – seinen Vater natürlich ausgenommen – abschätzig aus den Augenwinkeln, ehe er das Haupt neigte und gehorsam auf die Erlaubnis zu sprechen wartete. „Sesshoumaru.“ Das Schmollen des Welpen vertiefte sich. „Sie haben mich alleine gelassen… Ihnen gebührt eine Strafe, ebenso wie dem blöden Gaul und den Ratten, die mich umbringen wollen.“ Súnnanvindur beobachtete mit einem Anflug von Erstaunen, wie abrupt sich die Mimik des Hundedämons veränderte, die Milde und die Wärme wiederkehrten, die er zuvor, als überflüssiges Hindernis im Kampf, aus seinem Bewusstsein verbannt hatte. Die unterschwellige Schwermut, die diesen Wandel trübte, erkannte er nicht. „Wen meinst du, Sesshoumaru? Wer hat dich begleitet?“ Tonlos seufzend billigte der junge Hund die kosende Hand in seinem Haar, verfluchte simultan die verräterische Röte, die ihm in die Wangen stieg. „Die unverschämte Miko und der Drachenjunge. Der rothaarige Youkai ohne Youki hat sie mitgenommen.“ Unwillkürlich zuckte der Loftsdreki zusammen. „Blævar…?“ Ein Unbekannter hatte Blævar… entführt…? Augenblicklich zwang sich der Drachenfürst auf die Beine, ungeachtet dem Schwindel, der in ihm aufwallte; die Panik in seinem Innersten überschattete seine Vernunft restlos. Welcher Feigling vergriff sich an einem wehrlosen Kind? Männlich, ausgewachsen, rothaarig, ohne Youki… Weder Neisti noch Bundori, die beiden konnte er gewiss ausschließen, die Beschreibung passte schlicht und einfach nicht auf sie, die Eigenmacht, die sie ausstrahlten zu auffällig. Demgemäß bestach eine der alternativen Schlussfolgerungen förmlich durch ihre Plausibilität: Bundori und Neisti hatten von Beginn an einen Komplizen gehabt, der mit ihnen angekommen war und sich danach von ihnen getrennt hatte. Perfekte Taktik… Während sie ihn und den Hundegeneral in eine halbherzige Konfrontation verstrickt hatten, war der Dritte im Bunde hinterrücks auf seinen persönlichen Beutefang gegangen… „Die Eldursdrekar haben Blævar in ihrer Gewalt…?“ Fassungslos starrte Súnnanvindur ins Nichts. Für einen Augenblick fürchtete der Inu no Taishou, der Drache würde an Ort und Stelle kollabieren oder einen Nervenzusammenbruch erleiden, und infolgedessen atmete er durchaus erleichtert auf, als eben dieser die Handfläche gegen seine Stirn presste und sich besann. „Bleib ruhig, Kaze. Sie wollen, dass du die Nerven verlierst.“ Nein, das war bloß die halbe Wahrheit. Sie wollten ihn erpressen - mit dem leiblichen und seelischen Wohl, mit dem Leben seines Sohnes. Soviel grausame Hinterlist hatte er den Feuerdrachen genau genommen nicht zugetraut. Bundoris Skrupellosigkeit hatte er nie bestritten. „Ich hole sie zurück.“ Die Nekomata spitzte die Ohren. Schemenhaft jagte eine bläuliche Energiekugel an ihnen vorbei, die Konturen verschwommen und verzerrt, bis sich gegen die Sonne ein definierter Schattenriss abbildete; ein schlanker Leib, das charakteristische doppelte Schwingenpaar… „Nicht, Fleygur!“ ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 50: >“Während das Meer sehnsüchtig rauscht, intensiviert sich die Hitze des Feuers unaufhaltsam. Was sich unter der Oberfläche der schwelenden Glut verbirgt, kann einzig der in Erfahrung bringen, der in ihre Fänge geraten ist. Doch die Motive dahinter verbleiben rätselhaft…“ *» Unki Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)