Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 38: *~Kunsoku~* ----------------------- "Die Erinnerung an alte Liebe erwacht gar schnell, wenn man sich in der Nähe des Wesens befindet, das sie einst in uns entzündete, die Begierden werden unwiderstehlich, wenn die Illusion nicht durch die Abwesenheit aller Reize gestört wird." – Giacomo Girolamo Casanova Kapitel 38 – Kunsoku -Nähe- *In welcher Relation stehen körperliche und seelische Nähe zueinander? Ist es auf Dauer möglich, ohne die eine weiterhin in Einklang mit sich und seinem Umfeld zu leben? Oder schadet es uns jener vermeintliche Mangelzustand? Stellen die beiden viel mehr eine Einheit dar, die in einem ausgewogenen Verhältnis existieren muss, um das Individuen im Gleichgewicht zu halten? Sind Zuneigung und Berührungen gleichwertig essentiell für uns, obwohl das eine nichts mit dem anderen gemein haben muss?* ּ›~ • ~‹ּ Bitte? Flúgars entgleiste Gesichtszüge verrieten anschaulich, welche Gedanken ihm wohl gerade durch den Sinn geisterten, dazu, dass er ihre Aufforderung nicht als einen ernstzunehmenden Befehl einstufte. Skepsis prägte seine Miene, Unverständnis und Ablehnung. So dominant und rigoros hatte er sie nicht in Erinnerung. Woher rührte dieses unverschämte Verhalten? Als ob sie in der Position wäre, ihm Kommandos zu erteilen. Was bildete sich dieses närrische Menschenweib ein? Und wen meinte sie, vor sich zu haben? Niemals. Das konnte sie getrost in den Wind schreiben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sein Ausdruck wurde kühl. „Vergiss es.“ Unverwandt blickte sie ihn an. „Tu es, oder ich helfe nach.“ Sollte das eine Drohung sein? Damit beeindruckte sie ihn nicht, sie hatte weder die Macht noch die Mittel, ihre warnende Ansage zu bewahrheiten. Muskelkraft war da ebenso aussichtslos wie permanentes Gerede, gefährlich werden konnte sie ihm ohnehin nicht ernstlich. Lächerlich. Flúgar fixierte sie, den Hauch eines überlegenen Lächelns auf den Lippen. Gegen ihn kam sie so gewiss nicht an. Dem entgegen faltete die junge Frau lediglich die Hände in ihrem Schoß, nickte ihm zu. Seelenruhig begegnete sie seiner unangemessenen Selbstsicherheit, begutachtete aus der Ferne seinen blutgetränkten Haori. Eine bedenklichere Verwundung, als sie angenommen hatte… „Los jetzt.“ Je länger sie noch warteten, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit einer Infektion; warum weigerte er sich nur so hartnäckig gegen sie? Es würde sich an ihm rächen, baldigst, und das schmerzhaft. Idiot… Dachte er denn grundsätzlich über gar nichts nach? Wozu diesen Dickschädel, wenn er sowieso keine Verwendung für seinen beschränkten Verstand darin hatte? Ihre Geduld war endgültig erschöpft, er wollte es ja nicht anders. „Selbst Schuld…“ Beinahe wäre Flúgar wohlig in sich hinein seufzend der Erlösung verfallen, hätte die süße Wonne der Entspannung, die sowohl seinen Körper als auch seinen Geist wohlwollend einlullte, willkommen geheißen und ausgekostet, die Priesterin jedoch hatte mit ihrem Murmeln keine Resignation kundgetan. Im Gegenteil, jetzt wurde die Situation erst richtig brisant, denn diese Unaufmerksamkeit schuf ihr die passende Gelegenheit. Ohne Rücksicht auf Verluste stürzte sie sich im nächsten Augenblick, bevor er auch nur einen Protest dagegen in Erwägung ziehen konnte, buchstäblich auf ihn, wobei der Schwung ihres gewagten Sprungs den Dämon vollends unvorbereitet traf und ihn rittlings umriss. Zu perplex um etwas gegen diese Attacke aus dem Nichts zu unternehmen, lag er zunächst still, unfähig, mehr zu tun, als Midoriko, die nun weitestgehend auf ihm saß und entschlossen an seinem Haori zerrte, verwirrt anzustarren – was zur Hölle sollte das werden? Im Allgemeinen hatte er nichts gegen eine direkte und offene Art im Umgang, Kabbeleien und Dominanzkämpfchen war er ebenso wenig abgeneigt, aber das …? Irgendetwas stimmte mit dieser Menschenfrau einfach nicht. Ansonsten hemmte sie ihr Hang zur Schüchternheit und Zurückhaltung, bewahrte ihr Umfeld vor spontanen Anwandlungen wie dieser - das jedoch war jetzt in Ordnung und nicht wider ihre natürliche Einstellung, oder wie hatte er sich das vorzustellen? Einerseits weckte jenes absonderliche Betragen seine Neugier, belebte ein reges Interesse an dem, was sich daraus entwickeln könnte, wenn er es herausforderte; andererseits entfachte seine Konfusion über ihre Beweggründe, ihr nächstes Vorhaben, eine Gefahr bergende Unsicherheit in ihm. Konsterniert und uneinig mit sich selbst, formte sich vernehmlich ein schwierig zu definierendes Knurren in seiner Kehle. In den Ohren der Schwarzhaarigen klang es weder überzeugend bösartig noch abweisend, eigentümlich, ja gar… spielerisch? Konnte es sein, dass er seine Lage gehörig missverstand? War er nervös? Oder verbarg er so sein Unwissen darüber, was hier im Gange war? Vielleicht auch nicht. Die Tiefe seiner Lautäußerung schwankte erheblich, denn dem Drachen schwante Unheil, und sein Beschluss, dass es keine akzeptable Strategie war, sie widerstandslos gewähren zu lassen, festigte sich. Demgemäß begann er sich unter ihr zu winden wie ein Fisch im Netz, umschloss ihre schmalen Handgelenke mit den Fingern, um dem Treiben ihrer Hände, die sich zielstrebig unter seine Kleidung schoben, Einhalt zu gebieten. Soweit würde es noch kommen, dass sie, ohne eine ausdrückliche Erlaubnis, über ihn herfiel. Selbst er beherrschte sich, trotzte seinem Begehren, dem Drang, den Spieß umzudrehen, sie unter sich in die Matratze zu drücken und… Um die aufdringliche Miko abzuschütteln, reichte diese seichte Gegenwehr jedenfalls nicht aus, und binnen kürzester Zeit artete die kleine Meinungsverschiedenheit der beiden in ein Gerangel aus, das brüsk in einen verlegenen Stillstand überwechselte, als es klopfte und daraufhin die Schiebetür aufgezogen wurde. Nire, eines der Zimmermädchen, gehörte nicht zu der Sorte von Bediensteten, die zum Lauschen tendierten oder absichtlich in zweideutige Geschehen hineinplatzten, um Gäste in Verlegenheit zu bringen. Unglücklicherweise war es dieses Mal unvermeidlich. Vor lauter Schreck wie zur Salzsäule erstarrt, verharrte die Dienerin im Türrahmen, das Tablett entglitt ihrem Griff und fiel klirrend zu Boden. Was in aller Götter Namen…?! Die hoch gepriesene Schreinjungfrau, in deren strahlender Reinheit jede andere Priesterin verblasste, und der Sohn eines mächtigen Dämonenfürsten, in einem Raum beisammen, einander viel näher und zugetaner, als sie es jemals gedurft hätten… „Entschuldigt bitte, Miko-sama, ich wollte nicht…“ Mit hochrotem Kopf verbeugte sie sich mehrmals, sammelte hastig die Scherben der zerbrochenen Schälchen und Becher auf, säuberte die vom verschütteten Tee nassen Holzbohlen. „Es ist nicht so, wie es aussieht!“ Sichtlich in Erklärungsnot wedelte die unglückliche Midoriko wild mit den Armen in der Luft, versucht, der Zofe zu vermitteln, warum und wie sich das alles ergeben hatte. Ja, sie räumte ein, dass die Szenerie etwas Anrüchiges an sich haben mochte, aber der zwangsweise daraus zu folgernde Schluss war der falsche. Sie wollte lediglich sicherstellen, dass seine Verletzung versorgt wurde, nichts weiter! Bei allem, was ihr heilig war! Flúgar hingegen konnte dem nicht beipflichten, verengte die Augen und schickte einen vorwurfsvollen Blick zu ihr nach oben. „Und ob es so ist, wie es aussieht.“ Die trockene Feststellung des Fürstensohns nährte die peinliche Berührtheit, die die Wangen der beiden Frauen rot färbte, sie verstummen und angestrengt auf einen imaginären Punkt an der Wand stieren ließ. Einzig ihm war nicht bewusst, was das dämliche Getue sollte. Menschenweiber… Eilends verschwand Nire wieder in Richtung Küche, beteuernd, dass sie nichts verraten würde und inständig hoffte, dass man ihr die unangebrachte Störung verzeihen könnte. Danach kehrte Ruhe ein, das Requiem des Schweigens füllte das Zimmer, begleitet vom monotonen Prasseln und Tröpfeln des anhaltenden Regens, dem leisen Rauschen des Windes, der wie eine wispernde Geisterstimme um die Ecken der Residenzgebäude säuselte. Betrübnis und Schwermut überschatteten Midorikos Gemüt, als sie sich wieder Flúgar zuwandte, der mittlerweile reglos unter ihr verweilte, mit geschlossenen Augen beschwerlich Atem schöpfte. Warum hatte er nicht auf das Ansinnen seines Körpers gehört? Ein kreuzdummer Fehler, der nun seinen Tribut forderte. Das Bedürfnis nach physischer Erholung wurde unerträglich, verdammte ihn zum bedingungslosen Stillhalten… Er litt, und sie bedauerte ihn aus vollem Herzen, doch wenigstens verhielt er sich jetzt einigermaßen kooperativ – unfreiwillig; um seinen Zustand zu verbessern und ihm zu helfen aber offenkundig notwendig. Bedacht streifte sie seine Kleidung beiseite. Diese Narbe in Form eines unregelmäßig gezackten Sternes… trug nicht sie die Schuld daran? Gedankenverloren strich sie über den Flecken heller schimmernden Gewebes, der unübersehbar seine linke Seite brandmarkte… Shiosai hatte ihn ausfindig machen können, weil sie bei ihm gewesen war. Sie war nicht mehr als eine Bürde für ihn, unnötiger Ballast, der zusätzlich auf seinen Schultern lastete und ihm das Leben erschwerte, ihm Schmerzen und Probleme bereitete; ihr gewissenlose Agieren hatte ihn mehr als einmal an den äußersten Rand der Klippe des Todes gestoßen. Verantwortungslos, ungerecht, egoistisch… waren das etwa die Eigenschaften eines guten Menschen? Nein, wahrlich nicht. Die Leute sagten ihr allerlei nach, rühmten das Sinnbild der Perfektion, das sie für sie figurierte, lobten ihre seelische Makellosigkeit als Jungfrau und Priesterin. Überdies war sie, ihres außergewöhnlichen Talentes der Läuterung wegen, im ganzen Reich wohlbekannt, auf die oberflächliche Anerkennung, den wertlosen Ruhm und die falsche Bewunderung jedoch, die sie dafür erntete, hätte sie liebend gern verzichtet. Die Dämonen, die sie aufgrund dessen so sehr fürchteten und hassten, bildeten die glanzlose, nahezu kongruente Opposition, eine düstere Fraktion, die nach ihrem Blut gierte. Neben Zweifeln und geistiger Verlorenheit bescherte ihr dieser Status hauptsächlich Einsamkeit, die chronisch an ihr nagte. Ihr Seelenwohl war niemandem ein Anliegen – war es nun soweit mit ihr gekommen, dass sie jene Gesinnung unterbewusst teilte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen empfand…? Aber… Midoriko stockte, erschüttert über ihre eigene Vergesslichkeit. Wie hatte ihr das nur entfallen können? „Flúgar?“ Ihre Anfrage entlockte ihm lediglich ein desinteressiertes Murren; die präsente Konstellation der Begebenheiten verfehlte seinen Geschmack weitestgehend – Midorikos unmittelbare Nähe war erträglich, jedoch zunehmend lästig und allmählich verging ihm jegliche Lust daran. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Frieden lassen? War das zu viel verlangt? Erschwerend fügte sich hinzu, dass er weder imstande war, sich begreiflich zu artikulieren noch sich einigermaßen zu bewegen. Wie sollte er ihr da verständlich machen, was ihm missfiel und was nicht? Obschon ihr aufgefallen sein müsste, dass ihm der Sinn nicht unbedingt nach ihren - sehr speziellen - Praktiken stand. „Es ist wichtig, dringlich, und es betrifft neben dir und mir noch andere Personen.“ Er spürte, wie sie sich leicht nach vorn, über ihn, beugte, die eine Hand auf seine Brust, die andere neben seinen Kopf stützend. „Würdest du mir bitte…“ Ihre Stimme versiegte. Flúgar blinzelte, warf ihr einen vagen, erwartungsvollen Blick zu. Ja, und was weiter? Sollte er sich den Rest selbst zusammen reimen, wie es ihm gerade passte oder wie? Oder hatte sie vergessen, was sie ihn fragen wollte? Der neuerliche Misslaut, der zwangsläufig in ihm aufstieg und zum Ausdruck seiner Verstimmung bestimmt war, blieb ihm sprichwörtlich im Halse stecken, als die Fingerspitzen der Miko seine Kehle berührten, der lange Ärmel ihres Kimonos seinen Hals streifte. Er hielt den Atem an, seine Muskeln verkrampften sich. Ob sie wusste, was für eine Botschaft sie ihm dadurch vermittelte? Für gewöhnlich war ihre Geste ein klares Zeichen für Überlegenheit, eine Demonstration dafür, dass sie von anerkannt höherem Rang war als er und frei über ihn verfügen durfte. Da er ihr offen die Kehle darbot, lag es in ihrem Ermessen, wie sie mit ihm verfuhr – er, als Niederrangiger, hatte kein Recht, sich zu wehren oder irgendetwas zu äußern. Jeder Umstimmungsversuch war ein Frevel, der mit Verbannung oder gar Tod bestraft wurde. An und für sich waren strenge Regelungen dem Drachen schon immer zuwider gewesen, und in diesem Fall ganze besonders. Dagegen zu rebellieren wagte er sich jedoch nicht – die Menschenfrau mochte keine Kenntnis von den ungeschriebenen Gesetzen der Loftsdrekar besitzen, nichtsdestotrotz milderte es die gegenwärtige Sachlage nicht. Sie hatte ein Maß an Gewalt über ihn, über sein Leben, dessen Tragweite er nicht auf die Probe stellen wollte. Verurteilt zum Gehorsam, schluckte er hart, und atmete er erst wieder auf, als die Priesterin ihre Hand ruckartig, als ob sie sich verbrannt hätte, zurückzog, registrierte, welche Auswirkungen ihre auf Besorgnis fundierte Berührung trug. Wie ein beinahe Ertrunkener nach Luft ringend, drehte Flúgar den Kopf zur Seite weg, fokussierte die Wand. „Entschuldige bitte, ich…“ Sie brach ab, sie musste nicht auch noch Salz in die Wunde streuen. Tatsache war, dass er unheimliches Glück gehabt haben musste; der Schnitt war nicht tief, ein oberflächlicher Kratzer, aber ein kleines Bisschen mehr und es hätte anders geendet… Midoriko senkte den Kopf, fuhr sich durch das schwarze Haar. Ein Themenwechsel war hier angebracht, ansonsten wuchs und gedieh die akute Gefahr, dass von Flúgar überhaupt nichts mehr Brauchbares kommen würde. Als übermäßig konstruktiv konnte man ihn nicht bezeichnen, und destruktiv brachte es auf den Punkt. Wenigstens blieb er darin konsequent. „Hör mir zu, Flúgar, ich kann nicht riskieren, es zweimal zu sagen.“ Obgleich er keine Zustimmung – oder etwas dem Gegensätzliches – verlauten ließ, vermeinte sie, seine Aufmerksamkeit zu fühlen. „Der Tennô gibt den Dämonen die Schuld an der derzeitigen Lage des Reiches, und um ihre Aktivitäten zurückzudrängen - unterbinden wird er es nicht können - plant er ein Attentat.“ Unmerklich horchte der Luftdrache auf. „Auf wen im Einzelnen ist mir nicht bekannt, der Verdacht auf Inu No Taishou und Súnnanvindur liegt nahe. Dich würde ich ebenfalls nicht ausschließen.“ Wie hatte sie das in Erfahrung gebracht? Und was hatte die Angelegenheit mit ihr zu tun? Sie schien seine Fragen erraten zu haben, denn als er beiläufig ihren Blick auffing, um sie zu einer Antwort zu animieren, setzte sie bereits dazu an, ihre Stimme auf ein für menschliche Ohren unvernehmbares Flüstern reduziert. „Er verlangt meine Beihilfe um jeden Preis – er hat mir eine Bestechung unterbreitet. Sobald er bemerkt, dass ich sein großzügiges Angebot ablehne, wird er mich anderweitig zu seinem Vorhaben zwingen, oder aber für Beistand von außerhalb sorgen und mich töten lassen…“ Angst, das war es, was er roch, sie bangte um ihr Leben – ein eigennütziges Motiv dahinter zu vermuten, war allerdings ein Trugschluss. Selbst unter Bedingungen wie diesen würde sie sich nicht trauen, zu lügen, allgemein nicht, gegenüber ihm noch weniger. Dazu hatte sie nun mal keinen Anlass. In seiner Mimik zeichnete sich keinerlei Regung ab, in seinem Inneren hingegen tobte ein Chaos unbändiger Wut, das ihm jeden vernünftigen Gedanken verwehrte. „So?“ Aus welchem Grund war ihnen das vor dem Tennô nicht ersichtlich geworden? Wie hatte er es geschafft, ihnen die Täuschung einer Lüge als Wahrheit glaubwürdig zu verkaufen? Für wen hielt sich dieser nichtswürdige Sterbliche? Mühselig unterdrückte er die heftig in ihm aufwallende Rage, die ihn kurzweilig zu übermannen drohte, krampfte die Finger in den Futon. Die Schwarzhaarige nickte gewichtig. „Mir ist das nur bekannt, weil der Tennô es mir offen darlegte. Er mag nicht den Anschein erwecken, doch seine spirituellen Fähigkeiten sind enorm. Er kann sein wahres Sein vollständig verbergen, seine Kräfte miteinbegriffen, und jemand, der dieses Vorwissen nicht besitzt, ist schlichtweg nicht in der Lage, sich dem gewahr zu werden.“ Vorsichtig blickte sie ihm ins Gesicht, strebte den Kontakt zu seinen farblosen Augen an, in denen sich im Augenblick nichts als eine ungestalte Leere spiegelte. „Ich möchte dich in diesem Zusammenhang um einen Gefallen bitten. Sprich mit Inu No Taishou und Súnnanvindur, kläre sie über die wahren Absichten des Tennô auf. Und – bitte – unternimm nichts auf eigene Faust.“ Kaum spürbar strichen ihre Fingerkuppen über die Wunde an seiner Flanke. „Ich möchte nicht, dass dir wegen mir noch einmal so etwas widerfährt.“ Stille. Flúgar schloss die Augen, und zum Erstaunen der jungen Miko gewährte er ihr tatsächlich freies Handeln während der ernsten Phase der Wundversorgung. Dass er sich derart… brav und fügsam gebärden konnte und würde, hatte sie nicht gedacht. Welch ein aparter, launischer Geselle… ּ›~ • ~‹ּ Wie und wann mir letztendlich das Bewusstsein entglitten und ich eingeschlafen war, konnte ich bei bestem Willen nicht mehr sagen, als ich jedoch aus meinem traumlosen Schlummer erwachte, fand ich mich alleine in meinem Zimmer wieder. Geraume Zeit lag ich noch unbeweglich auf dem Futon, betrachtete geistesabwesend das engmaschige Netz dunkler Linien, dass die Sonnenstrahlen, die durch das netzartige Geflecht des Fensters fielen, auf den Boden vor mir malten. Benommen und in Gedanken versunken setzte ich mich schließlich auf und rieb mir über die Augen, ordnete meine Haare. Ein angenehmes Gefühl der Erholung durchströmte meinen gesamten Körper und ebenso erfüllte mich mein wiederhergestellter Tatendrang mit Wohlbehagen und Zufriedenheit. Ich streckte mich ausgiebig, hieß die Lebensgeister, die ihre Rückkehr angekündigt hatten, mit einem freudigen Quieklaut willkommen, den ich mir partout nicht untersagen konnte. Ein kurzer Seitenblick aus dem halbgeöffneten Shouji genügte, um meinen aufkeimenden Verdacht zu bestätigen; ich musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn die späte Nachmittagssonne tauchte das Meer in Richtung des Horizonts bereits in ein warmes Farbenspiel aus Gelb und Rot. Flúgar war fort. Sicher, damit war zu rechnen gewesen, dennoch… Mit einem Seufzen zog ich die Beine an, bettete mein Kinn auf die Knie. Und jetzt? Ich brauchte unbedingt eine Beschäftigung, eine Ablenkung, sofort, denn mir schien, als würde die Langeweile, und ein Anflug verdrießlicher Gedanken, schon in diesem Moment wie ein unsichtbarer Schatten hinter mir lauern, um jede Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, zu nutzen und dann gnadenlos auf mich zu stürzen. Entsprechend ziellos schweifte mein Blick durch den schmucklosen Raum, verweilte einen Moment auf der Stelle an der Wand, der Flúgar vorhin den primären Vorzug - das zuvorkommende Angebot meines Futons ausschlagend - zugebilligt hatte und somit, mehr oder minder geschickt, meiner ärztlichen Obhut entkommen war. Offenbar schätzte er meine Dienste in dieser Hinsicht wenig oder eher gar nicht. Womöglich fehlte mir das nötige Talent für das Amt einer Heilerin; ob ungeeignet oder nicht, was kümmerte es mich? Undankbarer Idiot… Kaneko miaute zaghaft, vertrieb meine zusehends trüber werdenden Überlegungen und lenkte meinen Fokus auf etwas anderes um. Ich rutschte ein Stück näher an sie heran, legte erwägend den Kopf schief. Worauf saß der Katzendämon da? Gelber Stoff? Hm, seltsam… Irgendwie konnte ich mich nicht daran erinnern, etwas in dieser Farbe zuvor im Zimmer entdeckt zu haben. Oder hatte ich es einfach übersehen? Möglich, denn viel Zeit hatte ich hier noch nicht zugebracht. Von der Neugierde beflügelt, schob ich mich weiter zu dem fremden Objekt vor, hob Kaneko auf meinen Schoß und betrachtete das sorgfältig zusammengefaltete Etwas eingehend. Es war eindeutig als Kleidung zu identifizieren, ein Sommeryukata, um es präzise zu beschreiben, mit buntem Schmetterlingsmuster und hellgrünem Obi; was ich jedoch davon halten sollte, wusste ich nicht recht. Ja, eine ausgesprochen nette Geste war es allemal, doch wer innerhalb der Mauern dieser Residenz würde eine solche Idee hegen und verwirklichen, gerade mir ein wertvolles Besitztum aus reinster Seide wie dieses zu schenken? Und warum? Prüfend musterte ich den Yukata mehrmals von allen Seiten, aus jedem erdenklichen Winkel, erpicht, einen Hinweis auf den scheinbar anonymen Absender zu erkennen; vergeblich, wie ich feststellen musste. Ratlos zuckte ich die Achseln, tippte etwas unschlüssig gegen meine linke Wange. Die Wahl stand mir offen, entweder blieb ich wo ich war und zermarterte mir das Hirn über das Geschenk und den mir unbekannten Verantwortlichen dafür, oder aber ich nutzte die letzten hellen Stunden dieses Tages, um die Wärme des langsam endenden Sommers noch einmal auszukosten. Angesichts dieser beiden Möglichkeiten fiel mir die Entscheidung alles andere als schwer… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 39: >“Eine Beziehung voller Missverständnisse ist dazu verdammt, schwerwiegenden Auseinandersetzungen mit sich zu bringen und jeden der Beteiligten in seiner ganz eigenen Weise zu verletzen. Derweil erwacht andernorts der blutrünstige Geist einer Kreatur, die bloß noch ein Schatten ihrer selbst ist, aber nichtsdestotrotz keinen Grad ihrer Macht eingebüßt hat…“ *» Leyndarmál Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)