Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 31: *~Áttir~* --------------------- "Fortschritt besteht nicht darin, dass wir in einer bestimmten Richtung unendlich weiterlaufen, sondern dass wir einen Platz finden, auf dem wir wieder eine Zeit lang stehen bleiben können." – Gilbert Keith Chesterton Kapitel 31 – Áttir -Richtungen- *Wie weit, wie lange führen uns dieselben Pfade als Weggenossen durch das Leben, sodass wir nicht alleine auf unserer Reise verweilen? Trennen sie sich an einer Gabelung, die in zwei gegensätzliche Richtungen mündet, endgültig? Oder begeben wir uns ohne Kenntnis darüber zuweilen auf Irrwege, die uns zurück zum Anfang geleiten? Ist unsere begrenzte Zeit auf Erden nicht das Wandeln auf unsicheren Wegen durch ein mystisches Labyrinth, dessen Wände sich unbemerkt immer wieder verschieben, unser Tod nicht mehr als ein befreiender Austritt aus der Illusion?* ּ›~ • ~‹ּ „Bundori-sama, ich überbringe Euch im Auftrag von Eldsvoði-sama eine Nachricht.“ Der Angesprochene verharrte in seiner unbeweglichen Position, starrte von seinem erhöhten Aussichtspunkt auf die spiegelglatte Meeresoberfläche hinab, die sich vor ihm bis zum Horizont ausdehnte und so weit das Auge reichte auch kein Ende fand. „Sprich.“ Ehrfürchtig verneigte sich der Diener abermals bis auf den steinernen Untergrund, wagte sich nicht einmal einen Versuch zu unternehmen, den Drachenfürsten des Ostens genauer zu mustern. Er konnte nicht leugnen, dass er neugierig war, doch er hing an seinem Leben, und nach den Schauergeschichten zu urteilen, die ihm über Bundori zu Ohren gekommen waren, wollte er sein Glück nicht auf die Probe stellen. „Eldsvoði-sama lässt Euch wissen, dass ihr Eure Vorbereitungen abschließen und Euch bereit zum Aufbrechen machen sollt. Neisti-sama ist eingetroffen und wird gerade eingeweiht; er wird an Eurer Seite stehen.“ Eine Reaktion seitens des Sonnenweberdrachen blieb aus, und der Bote verließ nach einer weiteren, tiefen Verbeugung eilig das Felsplateau an der äußersten Flanke der ein wenig verloren im Ozean liegenden Vulkankette. Der Fürst der östlichen Ländereien war zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Das Oberhaupt der Eldursdrekar vertraute ihm bedingungslos, und schöpfte nicht einmal einen Verdacht, dass er von Anfang an andere Pläne gehabt hatte und ihn nur für seine Zwecke ausnutzte. Eldsvoði war nicht einfältig oder gar dumm, aber seine lasterhafte Neigung, sich öfters in Rauschzustände zu versetzen und auf diese Weise der Realität zu entfliehen, führte dazu, dass Vieles an ihm vorbeiging und er sich nicht darum bemühte, Bundori stetig zu überwachen. Ein Fehler, den er früher oder später bereuen musste. Die langen, in der mittäglichen Sonne rotgolden schimmernden Haare des Drachen in humaner Gestalt wehten sachte in der salzigen Meeresbrise, und ein boshaftes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Die Mühen, die er zum Schein für die Eldursdrekar auf sich genommen hatte, lohnten sich, und er würde endlich das bekommen, was ihm zustand. Er hatte alles so geschickt eingefädelt, dass kaum etwas schief laufen konnte, und wenn doch, dann würden die Betroffenen dafür mit ihrem Leben bezahlen. Zudem bot sich ihm die Gelegenheit, etwas, das er vor einiger Zeit begonnen hatte, zu beenden. Der Herr des Westens würde ihm nicht noch einmal einen Strich durch die Rechnung machen, denn die Angelegenheit mit Sou’unga ließ ihn noch immer säuerlich aufstoßen. Dieses Mal würde er sich allerdings nicht damit begnügen, sich an dem seelischen Leid des räudigen Köters zu weiden, er würde dem Hundesohn eigenhändig die Kehle aufschlitzen. Bis dahin galt es sich noch in Geduld zu üben, denn wenn er aufflog, würden ihn die aggressiven Feuerdrachen in der Luft zerfetzen. Im Grunde war ihm Eldsvoðis vergnügungssüchtiger Clan zuwider; zumeist waren sie träge und faul, so berauscht, dass sie in einen komaartigen Schlaf fielen und sich ihren Halluzinationen hingaben. In ihrer Nüchternheit wurde der Großteil von ihnen reizbar und angriffslustig, und ihre Unberechenbarkeit war bereits mehreren seiner Untergebenen zum Verhängnis geworden. Einen Streit konnte sich der Drachenfürst jedoch nicht leisten, daher hatte er diese Vorfälle als selbstverschuldet abgetan und nicht weiter ausgeführt, innerlich jedoch köchelte er vor Wut über diese Bilanz. Schon mehr als einmal waren in ihm Zweifel aufgestiegen, ob Eldsvoði wahrhaft so ehrlich war, wie er vorgab. Bundori entschied, dass es im Endeffekt gleichgültig war, und sein hinterhältiges Grinsen verbreiterte sich, das kleine, maskenartige Gesicht auf seiner Stirn schmunzelte ebenfalls. Etwas Besseres als der Pakt mit den Eldursdrekar hätte ihm wohl nicht widerfahren können… Für Eldsvoði war das Scheitern seiner jüngeren Schwester keine Überraschung gewesen, und er hatte ihr schon im Vorhinein prophezeit, dass ein Vorhaben wie ihres nicht unbedingt Erfolg versprach. Er hatte Recht behalten, und ihre Niederlage akzeptierend beugte sie sich nun dem Willen ihres älteren Bruders. Dieser maß Gehorsam einen besonderen Wert bei, und seinen Geschwistern war sehr bald nach seiner Erhebung zum Oberhaupt des Clans bewusst geworden, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte und seinen Anordnungen Folge leistete. Wer sich als kooperativ erwies, konnte sich leicht einen Weg an die Spitze der strikten Hierarchie bahnen und seinen Einfluss vervielfachen. Wenn man ihn nicht kannte, beschlich einen rasch das Gefühl, Eldsvoði wäre mit Haut und Haar seiner Sucht verfallen, aber dem war nicht so. Der ranghöchste der Feuerdrachen besaß einen wachen Verstand und einen untrügbaren Instinkt, die man beiderseits nicht unterschätzen sollte. Es hatte ebenso wenig einen Sinn ihn anzulügen wie zu versuchen, ihn zu hintergehen. Bis jetzt hatte er noch jeden erwischt, der ihm gegenüber in seiner Loyalität oder Untergebenheit nachlässig gewesen war. Eldsvoði traute Bundori nicht weiter als er ihn sehen konnte, und ihm war klar, dass er äußerste Vorsicht walten lassen musste. Der Eldursdreki hatte nicht vor, auch nur ein winziges Stückchen Land an die Sonnenweberdrachen abzutreten. Soweit würde es noch kommen, dass er mit einem niederen Lindwurm seine Beute teilte. Ihm schwebte etwas anderes vor, denn wenn er Súnnanvindur und seinen lästigen Clan erst einmal vernichtet hatte, würde eine Feuersbrunst über alle Gebiete der Insel fegen, vor der es kein Entrinnen gab. Auf seinen Bruder konnte er sich in dieser Hinsicht guten Gewissens verlassen, Neisti würde ihm keine Schande bringen. Der Jüngere folgte ihm aufs Wort, und von einem wie Bundori ließ er sich sicherlich nicht beschwatzen. Der Drachenfürst des Ostens war nur ein Mittel zum Zweck gewesen, und gewissermaßen brauchte er ihn schon jetzt nicht mehr, war ihm unlängst überdrüssig geworden, doch die Umstände waren ein wenig ungünstig. Eine direkte Konfrontation mit dem Herrn der Hunde konnte er nicht offen befürworten, auf eine Auseinandersetzung dieser Größenordnung waren sie gegenwärtig nicht ausgelegt, und die Konsequenzen sich mit einem so mächtigen Dämon zusätzlich zu verfeinden, waren für ihn als Oberhaupt zurzeit nicht tragbar. Um ihn herum ward es still, die Luft flimmerte vor Hitze. Er konnte das allmähliche Erwachen des Vulkans, das zaghafte Brodeln des Magmas tief unter der Erde, spüren. Nicht mehr lange, und der Feuerberg würde wieder, für das ignoranteste Wesen sichtbar, seine ursprüngliche, wahre Natur offenbaren… „Leiðtogi?“ Sein Blick verfing sich mit dem seines Bruders, Silber traf auf bläulich durchwirktes Gold. „Sei vorsichtig, Neisti, ich verlange nicht von dir, dass du dein Leben gefährdest. Du weißt, was du zu tun hast. Lass Bundori verfahren, wie es ihm beliebt – so lange er dich zufrieden lässt, soll es mir gleich sein. Provoziere ihn nicht. Halte dich von Inu No Taishou fern, und konzentriere dich auf deinen Auftrag.“ Der jüngere Drache bejahte nickend, blickte seinem Bruder aufmerksam ins Gesicht. Dieser stand nun auf, schritt auf Neisti zu und barg behutsam dessen Gesicht in seinen Händen. „Mach dem Clan Ehre, Neisti.“ Eldsvoði küsste ihn erst auf die Stirn, dann auf die Lippen und zog ihn dann in eine brüderliche Umarmung. „Das werde ich, Eldsvoði. Verlass dich auf mich.“ Neisti hielt viel auf seinen Bruder, genoss dessen uneingeschränktes Vertrauen, doch er konnte nicht gutheißen, dass der Ältere seiner Sucht so aktiv betrieb. Selbst konnte er sich davon auch nicht lossagen, aber er schaffte es, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten und bei Sinnen zu bleiben. Wie oft er Eldsvoði besinnungslos in seinen Gemächern aufgefunden hatte, wollte er sich gar nicht in Erinnerung rufen. Er übertrieb es, und das nicht bloß ein klein wenig. Wenn er Pech hatte, würde ihn womöglich dieser fragwürdige Bundori in einem solch schwachen Moment zwischen seine Fänge bekommen und er wollte sich nicht ausmalen, was dann mit ihm geschehen würde… ּ›~ • ~‹ּ Die Nacht brach bereits herein, als mich Flúgars dürftige Richtungsvorgabe schlussendlich an den Fuß des Orakelbergs führte, der finster und bedrohlich im vorherrschenden Dämmerlicht vor mir aufragte. Besorgt schaute ich zum Himmel auf, betrachtete die rundende Scheibe des Mondes, die langsam hinter den schwarzen Umrissen des Berges zum Vorschein kam. Mir war unbehaglich zumute, etwas an diesem Ort war eigenartig. Ich wusste es nicht zu benennen, doch ich spürte eine ungestalte Anomalie, die mich nachdenklich werden ließ. Hier existierte eine besondere Macht, deren Ursprung mich brennend interessieren würde… Ein ungeduldiges Krächzen veranlasste mich zum Aufhorchen. Der weiße Rabe hüpfte ruhelos auf einem dünnen Ast hin und her, ersuchte meine und Kanekos Aufmerksamkeit. Wollte er uns seine Hilfe anbieten und uns den Weg weisen? Der Vogel schlug mit den Flügeln, geleitete uns zu einem schmalen Serpentinenpfad, der sich steil den Berghang empor wand, umsäumt von krumm gewachsenen Bäumen und kniehohen, dörren Sträuchern. Der Weg selbst war staubig, von vereinzelten Felsbrocken und Steinen übersät, schlichthin unwegsames Gelände. Der Aufstieg gestaltete sich daher lang und anstrengend, sodass wir bald eine kurze Rast einlegen mussten, um erst einmal wieder Atem zu holen. Auch die Kräfte der Dämonenkatze schwanden, und sie musste sich zurück in ihre normale Form verwandeln, um ihren Körper nicht überzustrapazieren. Ich nahm sie auf den Arm, und gönnte ihr die wohlverdiente Ruhe. Sie hatte ihr Leistungspensum für heute mehr als erfüllt, indem sie mich die Stunden zuvor auf ihrem Rücken hierher getragen hatte. So dauerte es eben eine schiere Ewigkeit, bis ich die Steigung bewältigte und schließlich zum Tempel gelangte, der von knorrigen alten Eichen und Buchen umringt war, sich versteckt vor der Außenwelt in einem kleinen Laubwäldchen befand. Misstrauisch blickte ich mich um. An jedem zweiten Baum etwa war ein Papiersiegel befestigt, die alle zusammen einen Bannkreis schufen, der sich schützend um und über die Tempelgebäude spannte. Für mich würde er es nicht weiter problematisch sein, diesen so zu beeinflussen, dass ich hindurch kam, doch was wurde dann aus Kaneko? Ich wollte sie nicht zurücklassen, vor allem nicht in einer Gegend, die weder mir noch ihr geläufig war, und in der es möglicherweise von Youkai nur so wimmelte. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als es plötzlich in einem der vertrackten Gebüsche vor mir raschelte, und ein schwacher Lichtschein die Schwärze der Nacht erhellte, sich beständig näherte. „Wer ist dort? Gebt Euch zu erkennen!“ Sehr herzlich wurde man hier anscheinend nicht willkommen geheißen… Andererseits konnte ich es der – der Stimme zufolge eindeutig - weiblichen Person, die wahrscheinlich wie ich eine Schreinjungfrau war, nicht verübeln, dass sie so reagierte. Für gewöhnlich trieb man sich im Dunkeln rein aus Höflichkeit nicht in der Nähe eines heiligen Ortes herum. „Entschuldigt bitte mein unerlaubtes Eindringen, aber ich suche ein Lager für die Nacht. Könnt Ihr mir weiterhelfen?“ Das spärliche Kerzenlicht der Laterne bewegte sich weiterhin auf mich zu, und hinter dem unsichtbaren Bannkreis wurde eine Gestalt sichtbar, die sicheren Schrittes das üppig bewachsene Waldstück durchquerte und erst stehen blieb, als sie nur noch eineinhalb Schrittlängen von mir trennten. „Wer seid Ihr, Miko-sama? Ihr solltet wissen, dass Mononoke auf geheiligtem Grund nichts verloren haben.“ Sie war noch jung, jünger als ich, und nahm ihre Pflicht als Priesterin unheimlich genau. Der Ernst, der in ihrem fast tadelnden Ton nachklang, gefiel mir trotz dessen nicht. „Mein Name ist Midoriko, und ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass es Kaneko nicht erlaubt ist, mir bis zum Tempel zu folgen.“ Ohne ersichtlichen Grund entglitt die Laterne dem Griff der jugendlichen Miko, fiel zu Boden und erlosch augenblicklich. Damit ward es wieder stockduster, und es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die lichtkargen Umstände gewöhnten. Sie warf sich auf die Knie, neigte das Haupt bis zur Erde. „Bitte verzeiht mein unangebrachtes Benehmen, Midoriko-sama, mir war nicht bewusst, dass Ihr es seid… ich… ich dachte nicht, dass Eki-samas Voraussage so schnell eintreffen würde…“ Eki-sama? Eine Voraussage…? Etwas musste diesem Berg ja seinen Titel eingebracht haben, und Eki-sama war vermutlich das dazugehörige Orakel, dass Pilgern und Wanderern ihre Zukunft vorhersagte. Normalerweise hatte ich nicht viel für solche Leute übrig – die meisten waren Heuchler, Scharlatane, die ihre gutgläubigen Opfer um all ihre Ersparnisse erleichterten und sinnlose Verse erfanden, um unbehelligt davon zu kommen. „Der Sprössling des Grüns der Bäume, der in seiner Seele nichts als die Tugend der Reinheit trägt, durchbricht auf einsam wandelndem Pfade den Schein in der Dunkelheit. die pure Maid in Begleitung der flammenden Kreatur der Finsternis, die lebenslang unter dem Schutz des ewig währenden Windes steht, ersucht nichtsahnend die Weisheit des Orakels. Das waren Eki-samas Worte.“ Ich geriet ins Grübeln. Handelte es sich hier um einen glücklichen Zufall? Oder war Eki-sama wahrhaft ein Orakel, das dieser Bezeichnung würdig war? Die erste Zeile spielte auf meinen Namen an, die zweite auf meine Fähigkeit der Läuterung, und in der vierten war von Kaneko die Rede… Um ganz ehrlich zu sein beschrieb dieser Vers meine derzeitige Lage ganz gut, auch, wenn mir Manches nicht sofort einleuchten mochte. „Midoriko-sama, wenn Ihr mir dann bitte folgen würdet?“ Ich nickte, beobachtete neugierig, wie sie sich an einem der Siegel zu schaffen machte und damit die Barriere für einige Momente schwächte, sodass Kaneko und ich ohne Schwierigkeiten hindurch kamen. Etwas wie Skepsis regte sich in mir, als mir in voller Intensität bewusst wurde, wie stark dieser Bannkreis wirklich war… „Wozu diese Barriere?“ Die junge Priesterin drehte sich nicht um, suchte in der Dunkelheit zwischen den halbhohen Farnen und Büschen nach dem Pfad, den sie zuvor benutzt hatte um zu mir zu gelangen. „In der Nähe des Orakelsberges halten sich viele Dämonen auf, und zurzeit treibt sich hier ein überaus mächtiger herum. Eki-sama wies uns an, die Siegel so drastisch zu verstärken.“ Wieder erwähnte sie diesen Eki-sama… wer verbarg sich nur hinter diesem geheimnisvollen Namen? Ob ich besagte Person noch kennen lernen sollte? Denn ich nahm nichts dergleichen wahr, keine auffälligen Energien, keine außergewöhnlich starke Aura, nichts. Entweder existierte dieser Dämon nicht, oder aber, Eki-sama besaß erstaunliche spirituelle Kräfte, die die meinen noch weit überschritten… Der prunkvolle Tempel, zu dem mich Nikkou geleitete, beherbergte ein ganzes Dutzend blutjunger Priesterinnen, die sich allesamt dem Dienst und der Verehrung Eki-samas verschrieben hatten. Um diese späte Stunde hätte der Großteil von ihnen bereits schlafen sollen, doch die meisten waren noch hellwach, und im Tempelgebäude selbst herrschte emsige Geschäftigkeit. Die Wachskerzen in den Laternen brannten nach Nikkous Auskunft die Nacht über bis zum Morgen, und mindestens zwei der Mädchen waren als Wachposten eingeteilt, was laut der jungen Miko eine Vorsichtsmaßnahme war, um rechtzeitig reagieren zu können, wenn die dunkle Präsenz eines Dämons sich dem Bannkreis näherte. Bis jetzt war es zu keinen Vorfällen gekommen, doch Eki-sama hatte ihnen befohlen, Vorsicht walten zu lassen; der machtvolle Dämon, der durch die umliegenden Wälder streifte, musste ein bedeutender Vertreter seiner Rasse sein, und das wohl nicht umsonst. Ich erntete aufgrund von Kanekos Anwesenheit einige schiefe Blicke, aber als sie erfuhren, dass ich diejenige war, deren Ankunft ihr Orakel vorausgesagt hatte, baten sie, sich auf den Boden werfend, inständig um Verzeihung. Die Mädchen waren jung, daher sah ich es ihnen nach… Nikkou, und eine weitere Priesterin namens Tsubomi eskortierten mich zu dem Raum, den sie auf Geheiß ihrer Führungskraft Kagayaki, die ungefähr so alt war wie ich, mir alleine zur Verfügung stellten. Es war ein bescheidenes, kleines Eckzimmer; schlicht, und ohne überflüssigen Luxus. Die beiden Jüngeren verneigten sich höflich, schoben die Tür halbwegs zu. „Ruht Euch bis zum Morgengrauen aus, Midoriko-sama, denn sobald die Sonne aufgeht, werden wir Euch zu Eki-sama führen.“ Mit diesen Worten verschwanden sie leise miteinander tuschelnd in Richtung der großen Haupthalle. Unschlüssig setzte ich mich auf den ausgelegten Futon, betrachtete die simplen, schmucklosen Zeichnungen von Vögeln und Kirschbäumen auf den Wandschirmen. Ich fühlte mich einsam, obschon der Nekoyoukai sich mit einem tröstenden Schnurren in meinem Schoß zusammenrollte. Ja, ich vermisste Flúgar, und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Er war fort, und in mir festigte sich der Verdacht, dass er nicht so schnell zurückkehren würde. Nur zu gerne hätte ich gewusst, warum er so abrupt gehandelt hatte. Denken war nicht unbedingt seine Stärke, dass er seinen Verstand jedoch gar nicht gebrauchte, wollte mir nicht in den Kopf. Sicherlich hatte dieser andere Youkai etwas damit zu tun… Mir fiel es unsäglich schwer, nicht an den Loftsdreki zu denken. Über wen oder was sollte ich mir denn sonst Gedanken machen? Ich wollte nicht alleine sein… war diesem Idioten überhaupt klar, was er mir antat? Dieser anti-emotionale Steinklotz scherte sich einen Dreck um die Empfindungen anderer, also warum sollte es für ihn von Interesse sein, wie ich mich fühlte? Mir entwich ein Seufzen, als ich den Kopf gegen die Wand lehnte. Es fehlte nicht mehr viel, dass ich in Tränen ausbrach, und binnen kurzer Zeit ertappte ich mich bei der Überlegung, ob ich mich mit Kaneko nicht besser an Flúgars Fersen geheftet hätte… Ich war machtlos gegen meine innere Verzweiflung, spürte das penetrante Brennen in meinen Augenwinkeln, das zusehends an drängender wurde und schließlich die Oberhand gewann. Meine Hoffnung, dass mein Warten an diesem Ort irgendwann belohnt werden würde, schwand, rückte immer weiter von mir fort. Warum sollte er hierher kommen? Aus welchem Grund sollte er mich abholen…? Nicht einmal dafür konnte ich ihn verachten oder sogar hassen, es funktionierte einfach nicht, obwohl es auf diese Weise so viel leichter geworden wäre – für uns beide. Auf was lief das alles letztendlich hinaus? War das der Weg, den uns das Schicksal beschieden hatte? Und was war, wenn ich mich damit nicht einverstanden erklärte? Schluchzend biss ich mir auf die Unterlippe, wischte mir mit dem Ärmel meiner Baykue die Tränen aus dem Gesicht. Nein, so konnte und würde es nicht enden, keinesfalls! Dieses Mal würde ich mich mit aller verfügbaren Kraft wehren, mich gegen so einen ungerechten Zug sträuben. Ich ließ es mir nicht länger gefallen, dass das Schicksal mit mir spielte wie der Wind mit einem verdorrten Blatt. Und ebenso hätte ich nicht erlauben dürfen, dass Flúgar mit mir umsprang wie es ihm gerade beliebte. Selbst er durfte das nicht… doch warum konnte ich ihm sogar das nicht nachhaltig übel nehmen? Wenn ich mich genauer entsann, so gelangte ich rasch zu dem Schluss, dass ich in keinem Sinne fähig war, ihm ernsthaft etwas nachzutragen. Auch nachdem er mir gebeichtet hatte, dass er wahrscheinlich meinen Vater getötet hatte, war ich nicht einmal in Erwägung gezogen, ihm deswegen mit Hass zu begegnen oder ihn anderweitig zu behandeln. Er hätte es nicht sagen müssen… aber aus welchem Grund hatte er es dann getan? Dachte er sich vor mir rechtfertigen zu müssen? War ihm das widersinnige Bestreben inne, ehrlich mit mir zu sein? Oder plagte ihn ein schlechtes Gewissen, wenn er mich anschaute und ihn meine Augen an die meines Vaters erinnerten? Ich hatte ihn nie kennen gelernt, und wusste nur das, was meine Mutter mir erzählt hatte. Sie hatte mich nicht belogen, doch ich konnte mir ebenfalls nicht vorstellen, dass Flúgar ihn völlig grundlos ermordet hatte. Das war nun mal nicht seine Art; mein Vater musste ihn zumindest bedroht haben, anders war das Verhalten des Loftsdreki nicht zu erklären. Ob sich dieses Problem seinerseits dadurch erledigt war, dass er mir seine Tat gestanden hatte? Ich war ratlos, blickte auf, und just in diesem Moment realisierte ich das Fehlen des weißen Raben. Das Tier war wie vom Erdboden verschluckt, unauffindbar, und wenn ich mich der letzten Ereignisse jener Nacht entsann, so musste der Vogel zu der Zeit abhanden gekommen sein, als ich Nikkou begegnet war. Unbewusst zuckte ich die Achseln. Vielleicht war es dem Raben auch nicht möglich, die Barriere zu durchdringen… Ich seufzte, schloss die Augen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre mir ein erholsamer Schlaf verwehrt geblieben. Müdigkeit und Erschöpfung drohten mich seit geraumer Zeit zu überwältigen, doch ich machte kein Auge zu, wälzte mich unruhig auf meiner Bettstatt umher. Ein paar Mal begrub ich um Haaresbreite Kaneko unter mir, die verärgert fauchte und warnend ihre Krallen ausfuhr. Der Katzendämon war reizbar, wenn es um seine ihm gebührende Ruhepause ging, und wenn man nur ein wenig Grips hatte, billigte man das ohne Einmischung. Ansonsten konnte man sich warm anziehen… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 32: >“Während in den Bergen die rätselhafte Botschaft der Zukunft offenbart wird, kehrt das verlorene Kind in die Arme des besorgten Vaters zurück. Doch die vermeintliche Ruhe dauert nur einen Moment an, wird von etwas Unheilvollem gebrochen, das den ersten Schritt in das Kommende ankündigt…“ *» Batsuro Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)