Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 18: *~Chikan~* ---------------------- "Nur der Faule betrachtet die Pause als erstrebenswerten Lebenszustand. Der schaffende Mensch hingegen nutzt sie als Quelle für neue Leistungskraft. Und seine Entspannung zieht er aus dem Resultat, das die Seele mit Glück erfüllt." – Sigrun Hopfensperger Kapitel 18 - Chikan -Entspannung- *Bringt uns Ruhe und Entspannung nicht nur wieder zu dem Gedankengang, zu den Fragen zurück, die wir im Eifer des Gefechts verdrängten? Zurück zu Fragen, nach deren Antwort der wir uns so sehr sehnen? Oder zurück zu Gedankengängen, die nicht vollendet werden können? Stürzt uns dieser Zustand der Gelassenheit nicht in innerliche Unruhe und widersprüchliche Thesen? Verstrickt es uns nicht immer tiefer in Verzweiflung, die wir unlängst vergaßen, und Neugier, die nicht sein sollte?* ּ›~ • ~‹ּ "Wunderbar..." Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte sich Midoriko mit den Unterarmen auf den schmalen Rand des mit heißem Wasser gefüllten Holzpotts, bettete ihr Kinn darauf und schloss die Augen. Wie lange war es her, dass sie ein so angenehmes, entspannendes Bad genommen hatte? Das warme Nass lockerte ihre Muskeln, und der wohlige Geruch der Wasserzusätze verschafften ihr einen vollkommen klaren Kopf. Es war traumhaft... "Miko-sama, ist auch alles nach Eurem Belieben?" Die Stimme des jungen Mädchens kam vom Gang her, doch die Priesterin nahm es nicht so wirklich wahr, versank zusehends mehr in ihre eigenen Gedanken. Der Frage folgte bald ein leises Kichern, und das Dienstmädchen schob die Shouji einen Spalt breit auf. "Das Essen ist so gut wie fertig, Miko-sama, Ihr solltet Euer Bad bald beenden. Ich werde Euch Kuri schicken, damit sie Euch beim Ankleiden hilft." Sie verbeugte sich höflich, ehe sie die Schiebetür wieder leise schloss und sich auf den Weg zur Küche machte. Diese Reisenden waren ein merkwürdiges Gespann, aber gleichzeitig eine willkommene Abwechslung für die Mädchen in diesem Gasthof. Seitdem alle jungen Männer der Umgebung eingezogen und in den Krieg geschickt worden waren, herrschte eine gewisse Langeweile vor, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein schien. Doch die Ankunft der jungen Priesterin und dem vermeintlichen Kami, sowie dem kleinen Katzendämon, schien die Lebensgeister und den Fleiß der Dienstmädchen neu entfacht zu haben. Sie, Sakura, und ihre Schwester Kuri hatten das Glück, diesen Gästen zugeteilt worden zu sein, und das bedeutete für sie beide eine große Ehre. Wer konnte schon von sich behaupten, dass er über kurze Zeit einer Miko und einem Kami gedient hatte? Sakura lächelte in sich hinein, traf in der Küche die letzten Vorbereitungen für das Essen der Besucher. Deren Vorlieben hatten sie zunächst ein wenig verwirrt - während die einen das Fleisch von vornherein gänzlich ausschlugen, verlangten es die anderen ungewürzt und roh... aber was tat man nicht alles für die Kundschaft? Flúgar konnte die Schritte der Zimmermädchen und des Wirtspaares von denen Midorikos problemlos am Klang unterscheiden, und so regte er sich überhaupt nicht, als die Miko schließlich ohne Ankündigung die Tür des Zimmers aufschob und eintrat. Das Mädchen mit den gründlich zusammengefassten, kastanienbraunen Haaren, das sie begleitet hatte, verneigte sich noch einmal ausgiebig, bevor es zurück in die Küche zu seiner Schwester eilte. Flúgar saß auf der Veranda und beobachtete zusammen mit Kaneko den Garten, der von halbhohen Steinlaternen beleuchtet wurde. Das Wasser eines Teiches plätscherte leise über einen flachen Stein, und im sanft in der Nachtbrise wiegenden Gras zirpten die Zikaden. Der Geruch von Nussöl, Milch und Honig füllte den Raum, verleitete Flúgar dazu, sich doch einmal ansatzweise umzudrehen und Midoriko einen Augenblick lang wortlos anzuschauen. Sie trug nicht, wie sonst üblich, ihre Priesterroben, sondern einen rosafarbenen Baumwollkimono mit weißem Kirschblütenmustern und einem schmalen, kirschroten Obi, der ihre doch sehr feminine Figur zur Geltung brachte, die sonst durch die weite Kleidung und die Rüstung unterging. Das helle Rosa stand ihr gut, und erstmals wurde ihm richtig bewusst, dass Midoriko, entgegen ihrem Kleidungsstil und ihrer sehr eigenen Art, auch eine Frau war. "Eine wundervolle Nacht..." Die junge Frau ging neben dem Dämon in die Hocke und blickte in den Himmel. Außer den kleinen Lichtpunkten der Sterne, die das samtene Firmament überzogen und den knisternden, orangegelben Flammen der Laternen, die diesem entgegenzüngelten, erhellte nichts diese stockfinstere Nacht. Es war Neumond. Die junge Priesterin sah ihren Begleiter prüfend von der Seite an, vermeinte auch bei ihm eine gewisse Entspannung zu erkennen. Dann wandte sie sich ab, begab sich wieder ins Innere des Zimmers und betrachtete die aufwendig bemalten, mit kostbarer Seide bespannten Wandschirme, deren Motive ihr unsagbar gut gefielen. "Sag mal..." Fasziniert verfolgte sie jede einzelne der dargestellten Szenen, die immerwährend eine majestätische Gestalt mit edler Kleidung und langen, in unzähligen Blauschattierungen liegenden Haaren umfassten. Scheinbar hatte man diese besondere Person schon vor einiger Zeit hier verewigt, und deren Präsenz ähnelte der von Flúgar ungemein... "Ist das dein... ist das Gyousei-sama?" Der Angesprochene verharrte in seiner Position, nickte in seiner Abwesenheit. Sie hatte wohl bemerkt, dass Flúgar die Erwähnung seines Vaters missfiel, anscheinend stand hinter ihrer Beziehung kein gutes Verhältnis, sonst würde er sich in dieser Hinsicht anders betragen. Die meisten Männer erzählten mit Stolz von ihren Vätern und dem Handwerk, dass diese ausübten, aber Flúgar stellte sich nicht in diese Reihe. Es war eigenartig... Erneut bewunderte sie die Zeichnungen, die nicht immer einen Mann in erhabenen Gewändern, sondern auf manchen Bildern auch einen riesigen Drachen mit blau-weißer Färbung und zwei Flügelpaaren zeigten. Lag Yumeji mit ihrer Prognose richtig? War Flúgar wirklich ein Drache? ... konnte sie so einfach danach fragen? Es erschien ihr etwas dreist, aber ihr Interesse war geweckt, und mehr, als keine Antwort geben, konnte Flúgar schlussendlich nicht. ...oder? "Hatte Yumeji Recht?" Er wandte den Kopf leicht in ihre Richtung, gab einen missverständlichen Laut von sich, über dessen Bedeutung sie sich nicht sofort klar wurde. "Mit was?" Unsicher blickte sie zurück auf die Wandschirme, suchte einen Ansatzpunkt für die Frage, die sie ihm so unbedingt stellen wollte. Warum fiel ihr das nur so schwer? "Nun, sie meinte, du würdest der gleichen Rasse wie Shiosai angehören..." Ihm entfuhr unverkannt ein verächtliches Schnauben. "Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Miko." Ein gefährlicher Unterton schwankte in seinen Worten, ließ Midoriko die Luft anhalten. Hatte sie ihn verärgert? Oder gar mit ihrer Aussage beleidigt? "Wag es nicht, mich mit diesem niederträchtigen Verräter auf eine Stufe zu stellen." Die Miko unterdrückte einen Protestlaut, und ein fester Ausdruck erfasste ihre Gesichtszüge. "Woher soll ich solche Dinge wissen? Ich kannte ihn nicht, ich weiß nichts über die Gründe eurer Differenzen, geschweige denn, dass ich etwas über dich weiß! Ich habe keine Ahnung, wer du eigentlich bist..." Noch immer lehnte Flúgar schweigend im Rahmen der Shouji, den Blick in die dunkle Ferne, schier auf einen bestimmten Punkt im Nichts gerichtet. Was ging nur in seinem Kopf vor? "Möglicherweise ist es besser so." Midoriko schüttelte den Kopf, ließ kaum merklich ein leises "Iie." verlauten, ehe sie sich von ihm abwandte und sich auf einem der Tatami, die in der Mitte des Raumes ausgelegt waren, niederließ. "Warum?" Überrascht sah sie auf. "Warum interessiert es dich, ob ich lebe oder sterbe? Warum interessiert es dich, wer ich bin? Du bist ein Mensch - es sollte dir gleichgültig sein, du solltest mich für meine reine Existenz verachten... warum?" Seufzend erhob sich die junge Frau wieder, setzte sich neben ihrer eindeutig schwierig zu händelnden Begleitung auf die Veranda und starrte eine Weile, versunken in die eigenen Gedanken, in den Nachthimmel. "Die Antwort ist..." Langsam drehte sie den Kopf zur Seite, ein schwaches, aber dennoch ehrliches Lächeln auf den blassen Lippen. "... ich weiß es nicht!" Der Dämon schaute sie mit gewissem Unverständnis in den Augen an. Ein Mensch, der keinen Grund für sein Handeln hervorzubringen hatte? Nein, unmöglich... er vermutete, dass sie aus dem Bauch heraus entschieden und auf ihr Gefühl gehört hatte, denn nur sehr wenige Vertreter ihrer Spezies machten bei Entscheidungen solcherlei Grades wirklich Gebrauch von ihren rationalen Überlegungen. "Ich glaube, es war kein Zufall, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Es sollte so geschehen, aus welchem Grund auch immer, das bleibt sich gleich, und... um ehrlich zu sein, ich bereue es nicht!" Zusammen schlossen Midoriko und Flúgar die letzte Mahlzeit dieses Tages ab, allmählich rückte die Mitternachtsstunde näher, aber die Priesterin fand keinen Schlaf. Ihr Nachtlager ließ nichts zu wünschen übrig, und im Grunde spürte sie auch die Müdigkeit ihres Körpers, jedoch erschien ihr das letzte Gespräch mit Flúgar nicht als beendet. Soweit sie es mitbekommen hatte, saß er wieder draußen, hatte aber die Tür zugeschoben, denn vereinzelte kalte Böen zogen den riesigen Gebirgszug hinab und kühlten das Tal auf eine für einen Menschen nicht unbedingt angenehme Temperatur herunter. Vorsichtig tastete sie sich durch das dunkle Zimmer, an den Wänden entlang bis zu der Schiebetür, die auf die Holzveranda und in den Garten führte. Bedächtig schob sie die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurch passte und trat ins Freie. Suchend blickte sie um sich, jedoch in der tiefen Schwärze der vorangeschrittenen Nacht gelang es ihren Augen nicht, mehr als vage Umrisse auszumachen, denn das Feuer in den Steinlaternen war unlängst erloschen. "Flúgar?" Es war nicht nötig laut zu sprechen, denn er hörte sie ohnehin. Ein eisiger Windzug brachte sie zum Frösteln, und veranlasste sie kurz dazu darüber nachzudenken, ob sie nicht doch wieder zurück ins Haus gehen sollte. "Geh rein, wenn es dir hier zu kalt ist." Midoriko ging behutsam seiner Stimme nach, rieb sich die Oberarme, um die aufkommende Kälte aus ihrem Körper zu vertreiben. "Ich kann ohnehin nicht schlafen." Sie setzte sich auf den Rand der Veranda, sodass ihre bloßen Füße die Spitzen der Grashalme berührten. Vom Teich her, der genau vor ihr liegen musste, hörte man das Quaken eines Frosches. Ansonsten war es still. "Was für ein Dämon bist du wirklich, Flúgar?" Leider war es ihr nicht möglich, ihren Gesprächspartner in der Finsternis der Nacht zu erkennen, und genaugenommen behagte es ihr nicht zu wissen, dass er sie sehr wohl sah, aber sie ihn nicht. "Eine Leistung erfordert eine Gegenleistung; als Mensch solltest du das verinnerlicht haben." Sie schmunzelte. Scheinbar wusste er doch nicht allzu viel über die Menschen, oder er war wenig herumgekommen, zumindest ließ er einen Aspekt vollkommen außer Acht. "Ich bin eine Priesterin, ich werde für das, was ich tue nicht entlohnt, und darum geht es mir eigentlich auch nicht... außerdem: du weißt, dass ich ein Mensch bin, und ich wüsste nichts, was dich interessieren könnte." Flúgar atmete hörbar aus, und sie vermeinte dem ein Seufzen zu entnehmen. "Ich habe dir eine Frage gestellt." Spielte er auf das an, was er sie vor dem Abendessen gefragt hatte? Eine Antwort zu finden, erschien ihr schwierig, er stellte keine einfachen Fragen, so wie sie es tat. Die Sache stellte sich komplizierter dar, als er wahrscheinlich ahnte. Ein wenig ratlos zuckte sie die Schultern, schaute in seine Richtung. "Kein Wesen hat den Tod verdient, und das ist unabhängig von dem, was es in seinem Leben bereits getan hat. Am Anfang habe ich dich nur aus Mitleid nicht alleine zurückgelassen, aber jetzt..." Die junge Frau spürte den Blick des Dämons nur zu deutlich, jetzt führte wohl nichts mehr an einer klaren Aussage ihrerseits vorbei. "... du bist mir nicht mehr gleichgültig, und irgendwie liegt mir zwischenzeitlich etwas an dir..." Von ihm kam zunächst keine Reaktion, und während er schwieg, betrachtete sie verlegen ihre Füße, versuchte die einvernehmende Stille auf irgendeine Weise zu überbrücken. "Ich bin ein Loftsdreki." Verwundert blickte sie auf, denn es erstaunte sie doch, dass er ihr so rasch mit einer Gegenleistung in Form einer Antwort entgegenkam. "Loftsdreki? Dreki für Drache, und Loft für...?" Midoriko legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. "...das Element der Luft." Sie rief sich Flúgars Erscheinungsbild in Erinnerung, dachte an die Zeichnungen auf den Wandschirmen... "Du siehst nicht unbedingt wie ein Drache aus..." Midoriko war unsicher, ob sie weiter sprechen sollte. Sie wollte nicht, dass er es als Beleidigung auffasste, denn es sollte keineswegs etwas dergleichen sein. Es war vielmehr eine Tatsache, die sie sich nicht selbst erklären konnte. Ein Drache, der wie ein Mensch aussah? "Dieser Körper entspricht nun mal nicht meiner wahren Gestalt." Sie nickte leicht, mehr für sich selbst als sonst jemanden. Sie war mit dieser Auskunft zunächst zufrieden, aber gleichzeitig fiel ihr wieder etwas ein. Erneut wandte sie sich an Flúgar. "Also warst du es." Hätte die Priesterin die Möglichkeit gehabt, ihr Gegenüber anzuschauen, dann wäre ihr nicht entgangen, dass er den Kopf schief legte und ihr einen fragenden Blick zuwarf; eine Gestik, die ungemein typisch für ihn war, wenn er etwas nicht verstand. "Du hast diesen grünen Drachen getötet, den ich vor unserer Begegnung entdeckt habe... aber wozu?" Der Loftsdreki wusste, worauf sie hinauswollte, gab unwillkürlich ein leises Grummeln von sich, wenn er an diesen törichten Eitursdreki dachte. "Er hat die Territoriumsgrenzen verletzt." Das klang so, als würde sie sich mit einem Tier über sein erkämpftes Jagdrevier unterhalten. Aus solch einem simplen Grund hatte der andere Drache sterben müssen? Was für ein unnötiges Opfer... Eine ganze Weile verblieb es still, die Priesterin beobachtete den Himmel, am ganzen Leibe aufgrund der Kälte des Windes zitternd. Ich empfand es als angenehm, jedoch brachten die eisigen Böen, die zuvor die mit Schnee bedeckten Bergkuppen überquert hatten, nicht nur erfreuliche Nachricht mit sich. Für den Moment hielten sie sich noch im Verborgenen, aber ich spürte ihre Präsenz; die weißen Raben meines Vaters... wollte er den stupiden Versuch unternehmen, mich zu überwachen? Mein Blick wandte sich wieder der Menschenfrau zu, die weiterhin regungslos auf der Veranda saß und hinauf zu den Sternen blickte. Dann schaute sie in meine Richtung. "Du hast ein bestimmtes Ziel, oder? Erst ans Meer, jetzt in die Berge..." Sie überdachte ihre eigenen Worte, suchte mit den Augen nach den Umrissen des riesigen Gebirges, das über diesem Tal emporragte. "Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun." Richtig lag sie wohl, aber ich war nicht wegen Skýdis am Meer gewesen. Die Vatnsdrekar hätten ihr Heiligtum, die Lanze Sui No Rinrou, niemals aufgegeben, und auf eine Auseinandersetzung in der Größenordnung waren die Loftsdrekar nicht vorbereitet. Vielleicht war Afis Clan kampferfahrener und entschlossener, aber Uminaris Gefolge war in der absoluten Überzahl, es bestanden nur geringe Aussichten auf einen Sieg für uns, wenn es tatsächlich zu einer Konfrontation kommen sollte. Das war keine beruhigende Erkenntnis... Shiosai hatte durch sein eigenes Verschulden durch mich den Tod gefunden, obwohl mir seine wahren Hintergründe nicht geläufig waren. Diese interessierten mich auch nicht im Geringsten, es blieb sich letztendlich gleich. "Was hast du in den Bergen vor?" Sie bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, begab sich in eine stehende Position. Scheinbar wurde ihr endlich bewusst, dass es für einen Menschen hier draußen zu kalt war. Warum war sie um diese Zeit bei solchen Temperaturen überhaupt ins Freie gekommen? Ihrer Frage gehörte eine schlichte Antwort an... "Skýdis." Ich musste sie unbedingt reparieren lassen, und aus diesem Grund nahm ich auch die Begegnung mit diesem einfältigen Schmied auf mich. Zugegeben, ich kannte ihn nur vom Sehen, aber sein Verhalten sprach Bände... anfangs hatte ich das Können dieses zerstreuten Vollidioten angezweifelt, aber Skýdis war ohne Wenn und Aber ein Meisterstück. Ich konnte nur für ihn hoffen, dass er sie wieder in Ordnung brachte, denn ansonsten hatte Toutousai ausgedient. "Gute Nacht." Mittlerweile stand sie halbwegs in der Tür, warf mir noch einen letzten Blick zu, ehe sie wieder ins Innere des Hauses verschwand, die Shouji leise schloss und zu ihrem Nachtlager zurückkehrte. Es dauerte nicht lange, bis ihre Atemzüge tief und gleichmäßig wurden, bis sie schlief. Auf seine eigene Art und Weise beruhigte mich die momentane Situation vollkommen, die Umstände zeugten von uneingeschränktem Vertrauen. Sie vertraute mir... Mir war noch immer schleierhaft, was ich von diesen Gegebenheiten denken sollte, ich befand mich in einer abnormen Lage. Woher kam ihre Überzeugung, dass sie in meiner Nähe sicher war? Ein Mensch, der einem Dämon vertraute? Wie war ich nur hier hineingeraten? Das konnte kein gutes Ende finden, meine Erfahrung belehrte mich eines Besseren; ich würde diese Frau nie wieder aus meinem Gedächtnis bekommen, es war zu spät... Súnnanvindurs Späher waren nicht mehr fern - die weißen Raben, die im Auftrag meines Vaters als seine Augen und Ohren das gesamte Territorium des Clans auskundschafteten, näherten sich beständig... aber soweit ich es zu jenem Zeitpunkt wahrnahm, war das Alphatier der Sippe unter ihnen, und dieses weigerte sich seit Afis Tod strikt dagegen, dem Oberhaupt der Loftsdrekar zu gehorchen. Aber warum kam er dann zu mir? Ob er schlechte Neuigkeiten mit sich brachte? Das seichte Rauschen ihrer silbrigen Schwingen erstarb, als sie sich auf den dünnen Äste eines jungen Sakura niederließen und mit ihren schwarzen Augen die Bewegungen des ranghöchsten Tieres verfolgten, das vor mir auf der Veranda landete. Es drehte den Kopf zur Seite, musterte mich einen Moment ehe es schließlich näher kam und auf meine Schulter hüpfte. Die Raben hatten einen weiten Weg hinter sich; sie kamen vom Festland, und jetzt wusste ich auch, wer sie wirklich geschickt hatte... Ísvængur... Die Botschaft war keine erfreuliche; Unruhen an den Grenzgebieten breiteten sich aus, und ernstzunehmende Gerüchte kursierten nicht nur im Westen. Man musste damit rechnen, dass die Situation erneut eskalieren würde... ob es dieses Mal erneut mit solch fatalen Folgen zu rechnen war? ּ›~ • ~‹ּ Flúgar hielt still und ließ die Priesterin gewähren, die ein abschließendes Mal den Zustand der Wunde prüfte, die er sich im Kampf gegen Shiosai zugezogen hatte. Sie war verheilt und bereitete ihm keine Schmerzen mehr, aber er wusste seit geraumer Zeit, dass sich das Gewebe nicht vollständig regenerieren würde; es würde eine erkennbare Narbe zurückbleiben. Diesen Umstand vermochte er sich selbst nicht zu erklären, und es stimmte ihn nachdenklich, denn eigentlich war eine Entwicklung in diese Richtung undenkbar, ausgeschlossen. Im Grunde war es eine Verletzung gewesen, wie jede andere auch, die er in seinem Leben bereits davongetragen hatte. Also warum diese Reaktion? Er verstand es nicht, es war kein unterbewusster Reflex aufgetreten, und sein Körper wäre auf jeden Fall im Stande gewesen, die Wunde restlos zu heilen. Warum? Er kam allmählich zu dem Schluss, dass dieser Fakt nichts mit seiner körperlichen Verfassung und seinen Regenerationsfähigkeiten zu tun haben konnte, der Anlass war an einer anderen Stelle zu suchen. Welche jedoch war die richtige, die entscheidende? Lag es an der Waffe, die der Vatnsdreki gegen ihn eingesetzt hatte, Sui No Rinrou? An seinem Gegner, Shiosai? Den zu diesem Zeitpunkt gegenwärtigen Umständen? Oder musste er die Antwort vielleicht sogar bei sich selbst finden? Midoriko bemerkte seine Abwesenheit, ein leichter Seitenblick genügte. Es war jedoch nichts Außergewöhnliches, das der Loftsdreki eine ganze Weile schwieg und an einem ganz anderen Ort zu sein schien. Hinzu fügte sich noch, dass dieser Raum eine spezielle Anspannung in ihm auslöste, es war ihm sichtlich unangenehm hier zu sein, er fühlte sich in dieser Umgebung schlichtweg nicht wohl. Trotz dessen blieb er absolut ruhig und beherrscht, gab ihr jeglichen Freiraum bei ihrer letzten, gründlichen Überprüfung, die sie sich wünschen konnte. Der Bluterguss unter der Haut war gänzlich verschwunden, und letztlich sah man bloß noch einen blassen, ungleichmäßig gezackten Stern, der genau im Zentrum der verheilten Verwundung prangte. Und es würde sicherlich so verbleiben, mit dieser Narbe musste er sich wohl oder übel abfinden. Die junge Frau seufzte, verteilte eine fast farblose Salbe auf dem leicht veränderten Gewebe der Vernarbung. Die vorherrschende Stille wurde langsam drückend, und es behagte ihr immer weniger, Worte unausgesprochen verhallen zu lassen, zu vergessen, nur die bleibenden Überreste seiner Verletzung zu betrachten und sich in den Sinn zu rufen, wie es dazu gekommen war. Aber über was sollte sie mit ihm reden? Sie sah auf, begegnete einem der mit kostbarer Seide bespannten, aufwändig bemalten und verzierten Wandschirme, der Gyousei-sama und einen stattlichen Mann mittleren Alters - wahrscheinlich das Dorfoberhaupt dieser Ära - zeigte. Ob das vielleicht ein Ansatzpunkt war? Sie mussten ihn nicht auf seinen Vater ansprechen oder über seine Familie reden... "Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt, mir bot sich nie die Gelegenheit dazu. Er starb bevor ich geboren wurde und ich weiß nur so viel über ihn, wie mir meine Mutter immer erzählt hat." Midoriko hielt inne, drängte die Wehmut und den Kummer, die in ihr aufzusteigen drohten, zurück. Durch die offene Schiebetür blickte sie über die Holzveranda hinweg in den Garten und beobachtete eine der metallisch blau und grün schimmernden Libellen, die elegant über die Wasseroberfläche des Teiches kreisten und auf der Stelle zu schweben schienen. "Sie sagte immer, er sei ein starker und mutiger Krieger gewesen, aber gleichzeitig voller Barmherzigkeit und Güte. Er setzte sich für die schwachen Menschen ein, ohne sich davon etwas zu versprechen. Er war nicht wie die anderen Menschen, die von Egoismus und Gier besessen waren, deren Oberflächlichkeit und Unehrlichkeit ihr ganzes Wesen prägten..." Flúgar hörte ihr aufmerksam zu, nahm die Bitterkeit in ihren Worten nur zu deutlich wahr. Was sollte er von der Aussage der Priesterin halten, dass die Menschen egoistisch, verlogen und gierig waren...? Hatte sie den wahren Charakter ihres eigenen Volkes erkannt? Stand dahinter die Erkenntnis, die sich nach kurzer Zeit im Grunde unübersehbar auftat? "Meine Mutter schwärmte ihr ganzes Leben von ihm, und es war offensichtlich, dass sie seinen Tod nie ertragen hatte... ich glaube, sie starb nicht an ihren körperlichen Leiden, sondern an ihrem gebrochenen Herzen, der Agonie ihrer Seele..." Vollkommen unbewusst verlagerte sie ihre Position von Flúgars linker Flanke hinter seinen Rücken und fuhr durch sein langes, seidiges Haar, das bis weit hinab auf den Tatami fiel und sich dort zu den Spitzen hin in leichte Wellen legte. Aus einer alten Gewohnheit heraus ordnete sie sorgsam die einzelnen Strähnen und löste bedacht die Verwirrungen, die sich - wie sie aus eigener Erfahrung wusste - gern rasch in langen Haaren einbrachten, und selbst nur sehr schwierig wieder heraus zu bekommen waren. Manchmal entpuppte sich die hübsche Pracht nämlich als äußerst unpraktisch, zeitraubend und nervenaufreibend. "Nach dem Tod meiner Mutter hat sich meine ältere Schwester, Soreiyu, um mich gekümmert. Zugegeben, wir waren sehr unterschiedlich, aber Mutters plötzliches Ableben hat uns zusammengebracht... zumindest für einige Jahre." Flúgar konnte nicht leugnen, dass er mochte, was sie tat, denn selbst brachte er kaum einmal die Geduld auf, sich ernsthaft um die minimalen Irrungen in seinem Haar zu bemühen. Ansonsten war es Blævar, der sich dieser teilweise komplizierten Belanglosigkeit gerne annahm, aber wenn die Priesterin sich freiwillig dazu bereiterklärte, sollte es ihm Recht sein; er sah keinen Anlass es ihr zu untersagen. "Die Gesellschaft formte Soreiyu zu dem, was sie einen normalen Menschen nennen, einer Person, der Geld und Einfluss, das eigene Wohl, wichtiger waren als alles andere... ich konnte einfach nicht bleiben, ich musste gehen, das Ideal meiner Mutter konnte und kann ich nicht vergessen." War ihre Mutter wirklich... anders gewesen? Er kannte die wesentlichen Charakterzüge der Menschen sehr genau, und bis dato war ihm noch nie einer von ihnen untergekommen, der wahrhaft ehrlich und uneigennützig war. Gab es solche Ausnahmen? Die Priesterin war anders, sie hob sich sehr eindeutig von der aufwallenden Masse dieses Volkes ab... war sie die Sonderheit, die in der gewaltigen Menge von Menschen einfach so unterging? Diese eine Einmaligkeit, deren Existenz er bis jetzt immer bestritten hatte? ּ›~ • ~‹ּ [Anm.] Shouji - Schiebetür Tatami - Reisstrohmatte Ísvængur - Eisflügel ***>>> Kapitel 19: >"In der Atmosphäre von Entspannung und Vertrauen fällt ein feiner Lichtstrahl ins Dunkel, doch jene Tür wird rasch wieder geschlossen. Ein Unbekannter taucht auf, und es hat den Anschein, als würde er den undurchsichtigen Loftsdreki tatsächlich von früher kennen..." *» Bandalag Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)