Die Sünde in der Sünde von abgemeldet (Teufels Segen und Gottes Fluch) ================================================================================ Kapitel 5: Nemesis ------------------ Noel atmete erleichtert auf. Er hatte es geschafft... er hatte es tatsächlich geschafft. Müde ließ er sich in das weiche Gras sinken und ließ es sanft durch seine Finger gleiten. Wie friedlich es hier war. Keine donnernden Schritte einer Armee, kein metallisches Klingen von Schwertern oder Lanzen. Nur diese Stille. Sein Blick richtete sich auf den klaren See vor ihm und er versank für einen kurzen Moment in dem süßen Traum der Erinnerung. Diese Erinnerung galt Kiara. Wie er sie hier das erste Mal gesehen hatte. Er konnte sich an jedes kleinste Detail erinnern: Ihr wehendes pechschwarzes Haar, die schmale zierliche Gestalt, eingehüllt in weicher Seide und die zwei Saphire, die in zuerst ängstlich, dann neugierig angeschaut hatten. Ja, seit diesem Augenblick hatte er sie geliebt. Und er würde sie immer lieben, da war er sich sicher. Niemand, weder Engel noch Dämon, würde sie jemals so sehr lieben, wie er es tat. Seufzend ließ er sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Es war noch reichlich früh. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell hier sein würde und sicherlich würde es auch noch eine Weile dauern, bis Kiara hier ankam. Durch die Stille konnte er seinen eigenen Herzschlag hören. Das regelmäßige Pochen beruhigte ihn ein wenig und ließ ihn zur Ruhe kommen. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis Kiara hier war... Als Noel das nächste mal die Augen aufschlug war es bereits tiefschwarze Nacht. Nur der Mond über ihm und die Sterne spendeten noch Licht. Verwirrt rieb er sich die Augen. War er etwa eingeschlafen? Wo war er überhaupt? Noch etwas dösig setzte er sich auf und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Er war am See. Am Ort ihrer Verabredung. Aber wo in Teufelsnamen war Kiara? Er ließ seinen Blick über das hohe Gras wandern, doch außer der Finsternis konnte er nichts entdecken. War sie schon hier gewesen? Oder war sie erst gar nicht gekommen? Schnell verwarf er den letzten Gedanken wieder. Natürlich war sie gekommen. Sie hatte ihn nur nicht wecken wollen und jetzt... ja wo war sie jetzt? "Scheisse!" krächzte er mit verschlafener Stimme. Warum war er auch eingepennt?? Vielleicht hatte sie ihn ja auch gar nicht gesehen, nach ihm gerufen und als er nicht geantwortet hatte... Vielleicht dachte sie, ER wäre nicht gekommen. Seine Sinne waren wieder völlig beisammen und er konnte aufstehen. Er ließ noch einmal seinen Blick schweifen, doch auch dieses mal erregte nichts seine Aufmerksamkeit. "Kiara?" Die stille Atmosphäre und die Dunkelheit ließen ihn nur flüstern. "Kiara?!", schon etwas lauter... "KIARA?!" Ein verzweifelter Schrei hallte über den See, aber nur das Echo antwortete. Noel spürte, wie all seine Hoffnungen in sich zusammenfielen. Irgendetwas war schief gegangen. Und zwar gründlich. Was sollte er jetzt bloß tun? Einen Plan B gab es nicht. "Scheisse noch mal, Noel... Man macht immer einen Plan B", schalte er sich in Gedanken, gab sich einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und murmelte: "Das fördert das Denkvermögen." Unruhig durchkemmte er das hohe Gras, rief dabei immer wieder lauthals ihren Namen, doch alles um ihn herum blieb stumm. Noel fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff und es fest umklammerte. Sein Puls raste, seine Atmung war flach und der Schweiss stand ihm auf der Stirn. Nichts. Nicht der kleinste Hinweis deutete darauf hin, dass Kiara hier gewesen war. Zum allerersten Mal in seinem Leben verspürte er so etwas wie Angst. Was war, wenn sie es tatsächlich nicht geschafft hatte? Ihr Körper irgendwo zerstümmelt zwischen den vielen Leichenbergen lag, die sich sicherlich bereits auf dem Schlachtfeld stapelten? Im Traum war ihm kurz so gewesen, als hätte Kiara ihn zu sich gerufen. Sie hatte geschrien. War das nur ein Traum oder hatte er in dem Moment ihre Seele gespürt? Noel ließ sich verzweifelt auf die Knie fallen. So hilflos hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. "Verdammt...." Seine Faust schlug auf den Boden auf. "VERDAMMT! WO BIST DU?? KIARA!" Kracks. Ein Ast brach. Noel fuhr herum. "Kiara?" "Nein. Ich bin es." Noels Hoffnung sank. "Was willst du hier... Dobiel?" "Dich zurückholen. Wenn nötig mit Gewalt." Er sah sich um. "Ist sie nicht gekommen? Hat sie dich versetzt?" "Halt´s Maul!" Noel sprang auf, packte Dobiel am Kragen und stieß ihn unsanft gegen einen Baum. "Was weisst du schon?? Kiara würde mich niemals sitzen lassen!" Dobiel sah ihn kalt und ausdruckslos an. Die Augen seines Herrn sprühten vor Zorn und Temparament. Es war dieses Feuer, dass alle in seinen Bann zog und nie wieder los ließ. Auch ihm war es so ergangen. Damals, vor so vielen Jahren, als ein kleiner Junge ihn zurück ins Leben geholt hatte. Er konnte nicht zulassen, dass Noel etwas zustieße. Er wollte ihn nicht vor seinen Augen zerbrechen sehen, so wie er einst zerbrochen war. Es gab Wunden, die selbst die Zeit nicht wieder heilen konnte. Doch solange nur Noel ihm sein ungezwungenes und ehrliches Lachen schenkte... solange konnte er damit leben. "Noel... lass uns nach Hause gehen." Sanft strich er seinem Schützling durch das blonde Haar. Noel zitterte. Seine Kraft hatte ihn nun endgültig verlassen. Heisse Tränen strömten über seine Wangen. Die Zärtlichkeit des anderen ließ ihn seinen Schmerz nur noch deutlicher spüren und er presste sein Gesicht schutzsuchend an die Brust seines Mentors. Sie war nicht gekommen... Aus welchem Grund auch immer... Sie war nicht hier. "Komm." Dobiels Umarmung lockerte sich. "Dein Vater macht sich Sorgen." Noel schüttelte leicht den Kopf. "Ich kann nicht." "Sie wird nicht mehr kommen. Du wirst vergeblich warten." "Ich werde sie suchen. Und ich werde sie finden." "Das...." Dobiel rammte seine Faust ihn Noels Magen, "...kann ich leider nicht zulassen." Noel riss die Augen weit auf und sah den Älteren ungläubig an, bevor seine Sicht verschwamm und es dunkel um ihn wurde. "VERDAMMT!" Ein donnernder Schlag hallte durch das tiefe Gewölbe des dämonischen Palastes, dass jeden in der Nähe zusammenzucken ließ. Achat ließ seine Fäuste immer wieder gegen die grobe Mauerwand krachen, an der bereits das Blut hinunterlief. Doch scheinbar schien der stolze Heerführer dies gar nicht zu bemerken und hämmerte immer weiter auf die Mauer ein. "Achat. Lass gut sein. Es ist nicht deine Schuld." Der König saß zusammengesunken in seinem Thron und starrte mit trüben Augen auf den jungen Krieger. "Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen...", brachte dieser gepresst hervor und ließ erschöpft von der Mauer ab. "Ich hätte an ihrer Stelle sterben müssen!" "Für Selbstvorwürfe ist jetzt nicht die Zeit. Es war Kiaras eigene Entscheidung in diese Schlacht zu ziehen... Ich als ihr Vater hätte wissen müssen, dass sie nicht untätig rumsitzen würde. Dafür war sie schon immer zu stolz." Ein trauriger, aber doch stolzer Glanz lag in seinen Augen. "Doch auch das ändert nichts daran, dass nun auch mein zweites Kind den Tod gefunden hat. Ich möchte nur noch eines wissen: Durch wessen Hand ist sie gestorben?" In den Augen des Königs lag nun ein gefährliches Blitzen und es war glasklar, was dieses ausdrückte: Rache. "Verzeiht mein König", Achat schüttelte betreten den Kopf, "doch ich konnte den Mörder nicht erkennen. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug einen schwarzen Mantel samt Kapuze. Als ich mich endlich durch die fielen Engel durchgeschlagen hatte, war er verschwunden. Nur Kiara selbst hat ihm noch in die Augen geblickt, bevor sie..." Der König legte den Kopf in die Hände. "Ich verstehe... Nicht einmal Rache wird mir vergönnt sein. Im Moment sehe ich nichts lebenswertes mehr, dass meine müden Glieder wieder zum Leben erwecken könnte." Achat betrachtete seinen Herren mit abschätzendem Blick. Er hatte dem einst stolzen und kühnen, aber auch liebevollen Herrscher stets seinen Respekt entgegengebracht und jeden seiner Befehle mit größter Loyiallität ausgeführt. Doch wieviel konnte er ihm jetzt noch sagen? Würde ihm die letzte Nachricht, die er zu übermitteln hatte, auch noch den kleinsten Funken Lebenswillen rauben? Doch seine Loyiallität war ungebrochen und Achat wusste über seine Pflicht, dieses wichtige Detail seinem Herrn nicht zu verschweigen. Er räusperte sich kurz und seine Stimme klang fest als er sprach: "Es gibt noch etwas, was ich Euch sagen muss." Eine kurze Pause entstand, in der der König den Blick hob, um seinen Gefolgsmann anzusehen. "Der unbekannte Mörder ist nicht der Einzige, der spurlos verschwunden ist. Wir... wir konnten auch Kiaras Leichnam nirgendwo entdecken." Die letzten Worte wurden nur unter größter Anstrengung hervorgebracht. Achat musste all seine Kraft zusammennehmen, um die Wut zu unterdrücken, die in ihm brodelte. Der König starrte ihn fassungslos an. Seine Hände hatten sich krampfhaft an die Lehne gekrallt. "Was sagst du?" Als Achat sprach, klang seine Stimme beherrscht und ruhig, doch die Gefühle, die in seinem Inneren tobten, drohten jeden Moment zum Ausbruch zu kommen. "Diese Bastarde werden ihr den Kopf abschlagen, ihn auf einen Speer spießen und ihn als Symbol des Triumphes mißbrauchen. Es tut mir Leid. Ich habe versagt." Der König war erblasst. Ohne den Körper der Toten konnten sie die Beerdigungszeremonie nicht durchführen und das hieße, dass Kiaras Seele auf immer verloren war. Sie konnte nie wiedergeboren werden. Ein letzter Hoffnungsschimmer erhellte plötzlich das Gesicht des Königs: "Wenn ihr Körper verschwunden ist, dann... dann ist es doch möglich, dass Kiara noch lebt!" In Achats Gesichtszügen spiegelten sich Trauer und Verzweiflung. "Ich wusste, Ihr würdet diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Auch ich habe mich diesem Gedanken für einen kurzen Moment hingegeben. Aber... ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie von hinten erstochen wurde. Es gibt keine Hoffnung mehr. Die ist verloren in diesem Land." "...Bringt sie mir. Bringt mir den Leichnam meiner geliebten Tochter wieder." Dem König lief eine Träne über die Wange. "Ich kann es nicht ertragen zu wissen, dass mein Kind ewige Qualen erleidet." Achat zögerte keinen Augenblick mit seinem Entschluss, als er vor dem König niederkniete. Er würde Kiaras Leichnam holen... und er würde den Mörder finden ... und ihn dann zur Rechenschaft ziehen. Achat trat hinaus aus der großen Halle und schloss das riesige Tor hinter sich. Der Saal, der sich nun vor ihm erstreckte, war übersät mit verletzten Männern und Frauen. Auch Kinder waren dabei. Manche weinten und wurden von ihren Eltern fast schon heldenhaft getröstet, obwohl sie sich selbst kaum wach halten konnten. Sein Blick fiel auf einen kleinen Dämonenjungen, der auf den ersten Blick neben einer schwer verletzten Frau, vermutlich seiner Mutter, saß. Auf den zweiten Blick erkannte man, dass die Frau tot war. Achat pfiff eine der vielen Schwestern herbei und deutete zu der Frau. Sie musste hier weggeschafft werden, ehe Seuche und Krankheit sie befallen konnten. Achat legte die Hand auf die Schulter des Jungen, der unter der Berührung erschrocken zusammenzuckte und mit großen Augen zu dem Mann hinaufstarrte. "Nimm Abschied von deiner Mutter. Sie ist zu einem anderen Ort gegangen, zu dem du ihr noch nicht folgen solltest." Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. "Ma....ma...." Er umklammerte die Hand seiner Mutter noch fester und als die Schwester kam, um den Leichnam fortzuschaffen, da weigerte er sich immer noch sie loszulassen. Achat kniete sich zu ihm nieder und strich ihm über den Kopf. "Du musst sie jetzt gehen lassen. Sonst wird sie den Frieden nicht finden können, der ihr zusteht. Deine Mama hat dich sicher sehr lieb gehabt und du liebst sie doch auch oder?" Der Junge nickte und ein paar Tränen kullerten ihm über die schmutzigen Wangen. Dann ließ er die kalte Hand der Frau los. "Gut so... Weisst du, auch ich habe jemanden verloren, den ich sehr geliebt habe. Ich verstehe deinen Schmerz. Die Zeit für deine Rache wird bald gekommen sein..." Achat wollte sich gerade umdrehen, als er einen Ruck am Umhang spürte. Er drehte sich um und sah, dass der Junge ihn festhielt. Seine Augen waren getrocknet und schwarz wie die Nacht, ebenso wie sein Haar. Sein Blick glitt zu der Frau hinüber und das erste mal konnte er ihr Gesicht richtig sehen. Es vergingen einige Sekunden der Stille, bis Achat wieder seinen Blick auf den Jungen richtete. "Komm." Er hielt ihm seine ausgestreckte Hand hin. "Der Schmerz über den Verlust wird dich stark machen. Und die Starken werden überleben, um dieses Land in eine bessere Zukunft zu führen." Ohne zu zögern ergriff der Junge die Hand und stand auf. "POLIZEI! STEHEN BLEIBEN ODER ICH SCHIESSE!" "Scheisse...", war das einzige, was der blonde junge Mann noch rausbrachte, bevor er unter dem Kugelhagel des uniformierten Mannes in das dichte Buschwerk am Wegrand sprang. Er spürte, wie ihm die Dornenzweige die Haut aufschnitten und seine Kleidung in Fetzen rissen, doch er kümmerte sich nicht darum und stürzte weiter. Von seinem Adrenalin gepackt, setzte er mit einem riesen Satz über den hinterliegenden tiefen Graben, sprang im Nu wieder auf die Beine und rannte weiter. Er hörte das böse Fluchen des Polizisten auf der anderen Seite der Hecke und preiste sein Glück, von einem alten, eingerosteten, scheinbar fast blinden Bullen verfolgt zu werden. Sein Blick fiel auf die vielen Steine, die weit aus dem Boden ragten und sich scheinbar in endlosen Reihen dahinstreckten. Er war also auf dem Freidhof gelandet. Kein gutes Omen, wenn er es sich Recht überlegte. Aber es hätte schlimmer kommen können. Und so langsam ging ihm die Puste aus. Hey, das kommt ganz sicher nicht vom vielen Rauchen... schliesslich war er ja nicht irgendsoein schwuler Spitzensportler in engem Höschen. Plötzlich kam ihm der rettende Einfall. Er schlug einen kleinen Haken um die Gräber, lief auf die rechts liegende Seitenstrasse zu und schlüpfte dort durch das künstlich getretene Loch in der Hecke. Jetzt befand er sich in einer schmutzigen Hinterhofgasse, die ihm nur all zu vertraut war. Er konnte nur hoffen, dass sein alter Freund sich gnädig erweisen und ihm aus der Patsche helfen würde. Mit schnellen Schritten, bloß nicht zu auffällig, ging er auf die graue Metalltür zu und klopfte zögernd einmal kurz, dreimal lang und einmal wieder kurz. Ihr Zeichen. Er musste einige Minuten warten und wäre fast schon wieder umgedreht, als sich die Tür öffnete und er in ein süffisant grinsendes Gesicht blickte. Sofort wünschte er sich, nie hierher gekommen zu sein. "Yue..." Die Stimme klang fast ein weng belustigt. "Was in Teufels Namen treibt dich in meine bescheidenen vier Wände?" "Ach, weisst du... das Übliche halt." Er warf einen nervösen Blick nach hinten. "Soso... das Übliche. Das hat nicht zufällig etwas mit der Handtasche zu tun, die du da mit dir rumschleppst? Oder stehst du neuerdings auf son Zeug?" "Lass die dummen Scherze. Dafür is keine Zeit." "Weisst du... das war schon immer ein Schwachpunkt von dir. Nie hast du Zeit. Machst dich immer schnell aus dem Staub... Yue." Yue schluckte. "Hey, komm schon Koji. Wie lange ist das jetzt her? Zwei, drei Jahre?" "Zwei. Du hast Recht. Eine lange Zeit für Spinner wie uns." Der Braunhaarige trat zur Seite. "Also... komm rein." Yue stieß einen leisen Seufzer aus und schloss die schwere Eisentür mit einem leisen Quitschen hinter sich. "Danke, man." Bevor sie das Wohnzimmer betraten, drehte Koji sich mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen noch einmal um. "Du hast doch sicher nichts dagegen,..." "Yue?!" Ein junges Mädchen, ihre nackte Blöße nur mit einem schmutzigen Laken bedeckend, erschien im Flur und starrte den blonden Jungen fassungslos an. "... dass ich mich solange um deine Schwester gekümmert habe?", schloss Koji den Satz und legte den Arm um die nackten Schultern des Mädchens, deren blondes volles Haar sich in sanften Locken über ihren Rücken ergoss. Klonk. Die Handtasche war Yues Händen entglitten. Er stolperte, wie unter einem festen Kinnhieb, ein paar Schritte zurück und starrte seine 14-jährige Schwester wie gefesselt an. Das Bild brannte sich in Sekundenschnelle in sein Hirn. Wie sie da stand. Mit ihrem vollen, zerzausten Haar, ihren leicht geschwollenen Lippen, den geschminkten Augen und leicht geröteten Wangen. Wie sie mit dem zerschlissenen Laken krampfhaft versuchte, so wenig wie möglich von ihrem Körper preiszugeben. Doch daran scheiterte sie kläglich. Durch den dünnen Stoff zeichneten sich deutlich ihre kleinen runden Brüste ab, ihre schmalen Hüften und die schlanken Beine. Yue glaubte sich gleich übergeben zu müssen. "Du...DU ARSCHLOCH!" Im nächsten Moment sprang er einen Satz nach vorn und einen Atemzug später hatte er Koji mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Das Mädchen kreischte auf, Koji handelte blitzschnell, packte Yues Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken. "Was denn, alter Freund? Bekomm ich kein Dankeschön, dass ich mich zwei Jahre um sie gekümmert habe, während du unauffindbar warst?!" "Du Bastard...", Yue stöhnte vor Schmerz auf, als Koji seinen Arm weiter drehte. "Du wusstest ganz genau, dass ich untertauchen musste.", presste er mühsam hervor. Dann richtete er seinen Blick auf seine Schwester, die völlig geschockt und unfähig sich zu bewegen da stand und die Szenerie mit ansehen musste. "Miori... ich konnte dich damals nicht mitnehmen. Verstehst du? Es war zu gefährlich. Aber... ich bin nur wegen dir... Nur wegen dir bin ich zurück gekommen!" "Und glaubst du, du kannst ihr jetzt etwas bieten? Glaubst du, du kannst sie jetzt vor deiner eigenen Dummheit beschützen und für sie sorgen?!" Koji ließ seinen Ellenbogen auf Yues Nacken krachen und dieser stürzte zu Boden. "YUE!" Miori war aus ihrer Starre erwacht. Sie stürzte zu ihrem Bruder und warf sich schützend über ihn. "Bitte! Tu ihm nichts, Koji... Bitte... Ich tue alles... aber bitte tu meinem Bruder nicht mehr weh!" "...Verpisst euch. Alle beide." Koji spuckte noch einmal auf den Boden, bevor er sich umdrehte. "Mit Verrätern will ich nichts zu tun haben." Miori traten die Tränen in den Augen. "Koji..." "VERPISS DICH, HAB ICH GESAGT!" Er schmetterte ihre Klamotten vor sie auf den Boden. "Aber zieh dir vorher etwas an. Du siehst aus wie ne Straßennutte." RUMS. Die Tür knallte unsanft hinter ihm ins Schloss. Miori zog sich an. "Es tut mir Leid, Yue... Es ist meine Schuld." "Was redest du da?" Yue setzte sich unter Schmerzen auf. "Dieser Arsch hat deine Lage eiskalt ausgenutz..." Yue ballte die Hände zu Fäusten. "Das wird er mir büßen." Noel wusste nicht genau, was ihn aufgeweckt hatte, aber er verfluchte es bereits jetzt. Widerspenstig öffnete er langsam seine Augen, während ihn das unangenehme Gefühl überkam, sich gleich übergeben zu müssen. Die Ereignisse des heutigen Tages hatten Spuren hinterlassen und am liebsten hätte er sich wieder umgedreht und weitergeschlafen. Mühsam setzte er sich auf. Um ihn herum war es stockdunkel. Orientierungslos tastete er den Untergrund ab, auf dem er geruht hatte und fühlte etwas weiches, federndes. Ein Bett, schlussfolgerte er und tastete weiter. Dabei versuchte er seine Gedanken zu ordnen, was in diesem Moment aber kläglich scheiterte. Seine Finger erforschten seine Umgebung weiter und bald erfühlte er eine glatte Oberfläche, vermutlich ein Tisch. Seine Finger glitten weiter, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er knipste den Schalter um und sofort wurde der Raum von einem sanften Licht erhellt. Jetzt erkannte er auch, wo er war: In seinem Zimmer. Sein Blick fiel auf die Splitter der zerbrochenen Vase, die immernoch unverändert auf dem Marmorboden lagen. Irgendetwas wichtiges hatt er vergessen. Aber was? Noel schüttelte benommen seinen Kopf, was wieder eine Welle der Übelkeit auslöste. Warum war er denn hier? Hatte er geträumt? Erneut versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen und schloss für einen Moment die Augen. Die Erinnerungen trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Alles war schief gelaufen. Kiara war nicht gekommen und Dobiel hatte ihn wieder nach Hause geschafft. Eine hoffnungslose Leere ergriff Besitz von ihm. So viele Fragen spukten in seinem Kopf herum. Warum war sie nicht gekommen? Wo war sie jetzt? War sie verletzt? Was zum Henker war schief gelaufen? "AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHH!! Das glaub ich alles nicht! Scheisse, scheisse SCHEISSEEEEE!" Krach. Eine weitere Vase landete an der Wand, Stühle wurden umgekippt, Gemälde wurden von den Wänden und die Bettdecke in Fetzen gerissen, bis Noel sich schließlich erschöpft und keuchend auf den Rücken fallen ließ. Die schneeweiße Decke löste in ihm aber nur noch weitere Aggressionen aus, also drehte er sich kurzerhand auf den Bauch und schloss die Augen. Er fühlte sich nicht viel besser, aber er musste zugeben, dass der Wutausbruch eine gewisse Befriedigung nach sich zog. "Ganz ruhig, Noel," flüsterte er mit beherrschter Stimme. "Denk nach. Denk einfach nach, was du jetzt als nächstes tun musst." Stille. "VERDAMMT, ICH HAB DOCH KEINE AHNUNG!!" Wütend biss er in sein Bettlaken, bis der Kiefer schmerzte. Er war es einfach nicht gewohnt so hilflos und untätig herumzusitzen. Seufzend setzte er sich wieder auf, legte den Kopf in die Hände und massierte sich die Schläfen. Wo steckte überhaupt Dobiel? Es war überhaupt nicht seine Art, Noel mit einer Moralpredigt zu verschonen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Vielleicht hatte er sich aber einfach nur dem Wutausbruch Noels entziehen wollen und würde ihn später mit einem langen Vortrag zutexten. Noel konnte das momentan nur Recht sein. Resigniert stand er auf und schritt zu der geschlossenen Tür, in der Erwartung sie verrammelt und verriegelt vorzufinden. Doch als er seine Hand auf dem Türgriff plazierte und ihn hinunterdrückte, ließ sich die Tür zu seiner großen Überraschung ohne Probleme öffnen. Manchmal verstand er Dobiel wirklich nicht. Erst schleppte der Depp ihn mit Gewalt hierher und dann ließ er ihm wieder ohne jegliche Überwachung die Gelegenheit zur Flucht. Andererseits kannte er Dobiel mittlerweile so gut, dass er wusste, dass dieser meistens nichts dem Zufall überließ. Also, was will er von dir? Noel schloss die Tür grübelnd hinter sich und ging den leeren Korridor entlang. Plötzlich hielt er inne und lauschte. Da waren doch Schreie zu hören. Irritiert versuchte er die Quelle dieser Schreie auszumachen und folgte den Tönen, so gut es ging. Als er schließlich in einen gänzlich dunklen Korridor einbog, wusste er sofort, woher die Schreie stammten. Am Ende dieses Korridors lagen die Kerker und Folterkammern. Aber wer sollte dort gefoltert werden? Es waren in den letzten Tagen keine Gerichtsverhandlungen anberaumt worden und auch wenn sie sich im Krieg befanden... für gewöhnlich wurden keine Dämonen gefangen genommen, sondern auf der Stelle getötet. Plötzlich erschrak er. Dobiel. Hatte vielleicht Kyriel ihn und Dobiel aufgrund seiner Abweisung verraten? Noel rannte los. Am Ende des Korridors angekommen, riss er die schwere Eisentür auf und stürzte die lange steinerne Wendeltreppe hinunter. Es war eiskalt in diesen Gemäuern und die einzigen Lichtquellen waren die an den Wänden angebrachten Fackeln. Es gab keine Fenster und die Luft roch muffig und verbraucht. Am Ende der Treppe lauschte er erneut auf die Schreie, wandte sich nach links und rannte weiter. Hinter den Gitterstäben konnte er verwahrloste Engel erkennen, die man nicht mehr von Toten unterscheiden konnte. Sie hätten nicht mehr die Kraft gehabt zu schreien. Er hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was er unternehmen wollte, falls sie wirklich verraten worden waren, aber er würde Dobiel sicher nicht sich selbst überlassen. Dieser Trottel würde doch lieber sterben, als irgendetwas zu tun, was ihm, Noel, schaden würde. Die Schreie wurden mit jedem Schritt zunehmend lauter und wieder ergriff Irritation von ihm Besitz. Das waren doch eindeutig die Schreie einer Frau. Oder täuschte er sich? Als er um die nächste Ecke bog, blieb er abrupt stehen. "Dobiel...?" Noel riss die Augen auf. Dobiel war zwar hier unten im Kerker, jedoch wurde er nicht gefoltert, sondern stand mit dem Rücken zu ihm einer Zelle zugewandt und schaute mit betrübtem Gesicht in eben diese. Noels Blick riss sich von Dobiel los, als der nächste Schrei ertönte und wäre vor Schreck fast hintenüber gefallen, wäre die Wand nicht hinter ihm gewesen. Hinter den Gitterstäben war ein weiblicher Engel an eine von den an der Decke hängenden Ketten gefesselt. Er hatte sofort das lange blonde Haar und die zierliche Gestalt der Frau erkannt. "Kyriel..." Seine Stimme klang auf einmal so fremd und seine Beine fühlten sich taub an, als er näher an das Gitter herantrat. Sie sah grauenvoll aus. Eine Blutlache hatte sich um sie herum und zahllose Blessuren sich an ihrem Körper gebildet. Ihre Augen starrten ausdruckslos zu Boden. "Nein...". Noel schüttelte fassungslos den Kopf. "Dobiel, was ...?" Dobiel wandte seinen Blick nicht einen Moment von der gefolterten Kyriel ab, als er anwortete: "Kannst du dir das denn nicht denken?" Noel beschlich ein ungutes Gefühl. "Doch nicht etwa, weil...." "Doch, genau deshalb. Nachdem du verschwunden warst, fand man sie scheinbar schlafend in deinem Zimmer vor." Dobiel sah Noel jetzt direkt in die Augen. "Was hast du geglaubt, was mit ihr passiert, wenn man sie schlafend vorfindet und du spurlos verschwunden bist?" "Ich...ich weiß nicht..." "Sie hat ihren Auftrag nicht ausgeführt. Als der König von deinem Verschwinden erfahren hat, war er nicht mehr zu halten. Ich habe versucht ihm die Situation zu erklären, aber..." Dobiel deutete mit einem Nicken Richtung Kyriel. "... Es war nicht ihre Schuld..." Noel lehnte verzweifelt den Kopf an die Gitterstäbe. "Sie kann überhaupt nichts dafür." Er schrak hoch, als Kyriel erneut einen Schrei ausstieß. Der Folterknecht war zurückgekehrt und presste ihr ein glühendes Eisen auf die Brust. Dampf stieg hoch und der Geruch von verbranntem Fleisch stieg Noel in die Nase. "STOP!" Noel stieß sich von dem Gitter ab. "AUFHÖREN!" Er wollte gerade die Kerkertür aufreißen, als ihn Dobiel am Arm festhielt. "Noel, nein!" Fassungslos starrte Noel seinen Mentor an. "Was... was ist los mit dir?? Siehst du nicht, wie sie leidet?! Sie wird sterben, wenn wir nichts unternehmen!" "Darüber hättest du lieber vorher nachdenken sollen." In Dobiels Stimme schwang Wut mit. "Wenn wir jetzt nichts unternehmen, überlebt sie vielleicht. Aber wenn du da jetzt reingehst, um sie zu retten, werden sie euch beide töten." "Aber..." "Ich werde nicht zulassen, dass du ihr Leben erneut aufs Spiel setzt, nur um dein Gewissen zu reinigen, Noel." Dobiel wandte seinen Blick wieder Kyriel zu. "Du musst endlich begreifen, dass deine Handlungen Konsequenzen haben." Noel taumelte zurück. Tief in seinem Inneren spürte er, dass in diesem Augenblick etwas in ihm gestorben war. Er war nicht nur Schuld, dass Kyriel diese Qualen erleiden musste, es wäre ebenfalls seine Schuld, falls Kiara etwas zugestoßen sein sollte. Alles nur wegen seiner verdammten Selbstsucht. Er hatte nicht mit dem Gedanken leben können, Kiara zu verlieren und hatte mit seinem Verhalten auch noch andere in Gefahr gebracht. Dobiel. Kyriel. Personen, die ihm wichtig waren und die ihn nur beschützen wollten. Sein Blick ruhte auf Kyriel, die jetzt von ihren Ketten befreit wurde und zu Boden sank. Der Folterknecht ließ sie dort achtlos liegen und verschwand wieder in seiner Kammer. "Noel, ich möchte, dass du wieder auf dein Zimmer gehst." Dobiels Ton verriet, dass er keinen Widerspruch duldete. Noel sah ihn skeptisch an. "Was hast du vor?" "Ich werde mit einer Heilung versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Falls sie dahinterkommen, möchte ich dich in Sicherheit wissen." Noel schüttelte den Kopf. "Ich kann auf mich selbst..." "Geh jetzt!", unterbrach ihn der Ältere unsanft. "Du bist unsere einzige Hoffnung, den Himmel zurück ins Licht zu führen. Dir darf nichts geschehen." Noel sah ihn verblüfft an, was Dobiel ein wenig schmunzeln ließ. "Du brauchst gar nicht so zu gucken. Was glaubst du, warum ich dich immerzu beschütze?" Noel ließ ein leichtes Grinsen über sein Gesicht huschen. "Gib doch einfach zu, dass du mich liebst." Auch Dobiel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Sieh zu, dass du Land gewinnst." Noel drehte sich um und machte sich auf den Rückweg, den langen Gang entlang. Er hatte keine Zweifel mehr, dass Kyriel überleben würde. Trotzdem war es unverzeihlich, was er ihr angetan hatte und es konnte durch nichts in der Welt wieder gut gemacht werden. Er hatte die lange Wedeltreppe gerade erreicht, als ihm zwei bewaffnete Soldaten entgegenkamen, die sich scheinbar über etwas sehr amüsierten. Noel beschloss die beiden einfach zu ignorieren und setzte den Fuß auf die erste Stufe. Als sie an ihm vorübergingen, konnte er die tiefe dröhnende Stimme des einen vorfreudig rufen hören: "Sie ist ein richtiges Prachtstück! Ich wette, sie bettelt geradezu darum, dass mans ihr besorgt." "Sind doch alles Flittchen diese Dämonenweiber. Aber die Prinzessin ist schon was Besonderes." Noel wirbelte herum. "Was habt ihr gerade gesagt?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)