Wetten, dass ...? von yamimaru ================================================================================ Kapitel 20: #20 --------------- Dreißig Minuten vor Mitternacht schlug Kaoru den letzten Akkord an, der sich im tosenden Kreischen ihrer Fans verlor. Er spürte, wie sich ein zufriedenes Schmunzeln auf seine Lippen schlich, während in der Halle die Deckenbeleuchtung angeschaltet wurde, sodass er die Menschenmassen im Zuschauergraben richtig erkennen konnte. Es war ein erhebendes Gefühl, die Freude und Ausgelassenheit in den vielen Gesichtern zu sehen, viel zu lange war es her, dass sie ein Konzert ohne jegliche Einschränkungen hatten spielen dürfen. Kyos Mikrofon gab einen letzten, klagenden Laut von sich, als der Sänger es auf den Boden fallen ließ, bevor er sich schwer atmend auf seine Box hockte. Auch er sah über das Meer ihrer Fans hinaus, ebenso wie Toshiya und Die. Selbst Shinya hatte sich schneller als sonst von seiner Verkabelung befreit und sich hinter seinem Schlagzeug hervorgekämpft. Kaoru kam näher, bildete mit seinen vier Kollegen einen losen Halbkreis in der Bühnenmitte. Dies Strahlen traf ihn trotz seiner eigenen Freude unerwartet, ebenso wie der Arm, der sich plötzlich um seine Schulter legte. „Na, Leader?“, rief Toshiya nah gegen sein Ohr, damit er ihn auch über den Lärm der Fans verstehen konnte, „halten wir uns an unseren Plan und beenden das Konzert voll retro oder lassen wir es lieber?“ Er konnte nicht anders. Bei dem Wort ‚retro‘ musste er an Toshiya herabschauen und das Kleidchen mustern, dessen kurzer Saum kaum unter dem Bandshirt hervorlugte, welches der Bassist sich, wie sie alle, während der letzten Pause übergeworfen hatte. Toshiya hatte seine Ankündigung wahr gemacht und war tatsächlich in voller Gothic-Lolita-Montur auf die Bühne gekommen. Irgendwann würde Kaoru ihn fragen müssen, welche ihrer Stylistinnen Überstunden machen musste, um sein altes Kostüm für seine jetzige Figur rechtzeitig für die Show abzuändern. „Ziehen wir es durch!“, rief er, bevor sich die abwartenden Blicke seiner Kollegen noch tiefer unter seine Haut brennen konnten. Toshiya lachte, ehrlich erfreut, wie es schien, Dies Grinsen wurde nur noch breiter, Shinya rollte mit den Augen und Kyo zuckte lapidar mit den Schultern, obwohl sich auch auf dem Gesicht des Sängers ein zufriedenes Schmunzeln nicht verstecken konnte. Das Jubeln der Fans schwoll zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, als sie sich in einer Reihe aufstellten. Kaoru stand neben Toshiya, Kyo in der Mitte, darauf folgte Shinya und am anderen Ende Die. Sie fassten sich an den Händen, den Blick nach vorn gerichtet, gingen in die Knie und auf sein Zeichen sprangen sie alle gleichzeitig in die Luft. Kaoru lachte ausgelassen. Ausnahmsweise war es ihm egal, was die Fans von ihm dachten oder dass er ein Image aufrechtzuerhalten hatte, schließlich feierten sie nur einmal im Leben ihr fünfundzwanzigstes Bandjubiläum. Kaum hatten sie alle wieder festen Boden unter den Füßen und warfen eifrig ihre Plektren und in Shinyas Fall Drumsticks in die Menge, wurden am hinteren Ende der Halle die großen Türen geöffnet. Die ersten Zuschauer kehrten ihnen den Rücken und strömten nach draußen, während der Jubel in den vordersten Reihen noch immer nicht nachgelassen hatte. Sie hatten absichtlich vor Mitternacht ihre Show beendet, zum einen, weil sie den Fans die Möglichkeit geben wollten, sich das große Feuerwerk der Stadt anzusehen und zum anderen, weil Toshiya und selbst Shinya deutlich gemacht hatten, dass sie das neue Jahr nicht auf der Bühne begrüßen wollten. „Komm mit.“ Wieder berührte ihn jemand an der Schulter, aber diesmal war es Dies Stimme, die nahe an seinem Ohr erklungen war und ihm einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt hatte. „Wohin?“ Er stellte diese Frage, ein Automatismus, nicht mehr, denn keinen Moment später folgte er seinem Freund von der Bühne. Seine Gitarre war er vorhin schon losgeworden, doch nun drückte ihm Kenichi vom Staff seinen Parka in die Arme, kaum war er vom Zuschauerraum aus nicht mehr zu sehen. „Ehm, danke, aber …“ „Komm schon, wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Ohne darauf zu achten, wer sie sehen konnte und wer nicht, ergriff Die erneut seine Hand, verflocht aber diesmal auch ihre Finger miteinander und zog ihn hinter sich her. Kaoru war so verblüfft, dass er sich nicht einmal darüber beschweren konnte, so herumgeführt zu werden, außerdem war ihm gerade ganz warm ums Herz geworden. Die schien es ehrlich nicht zu scheren, ob irgendwer ihr Verhalten seltsam oder unangebracht finden könnte. Das war ein gutes Zeichen, oder? Kaoru wollte daran glauben. ~*~ „Wir brauchen einen Schlüssel, um aufs Dach zu kommen“, merkte er an, nachdem er Die mehrere Treppen nach oben gefolgt war und nun alles daran setzte, nicht wie ein Sterbender nach Luft zu japsen. Was hatte der andere auch so rennen müssen? Und noch viel wichtiger war die Frage, was Die hier überhaupt wollte? „Tja, gut dass ich den Schlüssel hier habe, nicht wahr?“ „Woher …?“ „Stell nicht so viele Fragen.“ Die drehte sich zu ihm herum, besagten Schlüssel in der Hand, und musterte ihn. Da war er wieder, der warme Glanz in den dunklen Augen, dem Kaoru schon seit ihrem ersten Treffen vor so vielen Jahren verfallen war. Lange Finger strichen ihm eine vorwitzige Strähne aus der Stirn, bevor sie sich an seine Wange legten und sein Kinn zärtlich ein Stückchen nach oben drückten. „Du bist nicht der Einzige mit guten Kontakten.“ „Ah, gut zu wissen“, nuschelte er gegen die weichen Lippen, die ihm plötzlich ganz nahegekommen waren. Sofort kehrte das wilde Kribbeln in seinen Körper zurück, welches er über die letzten fünf Tage tatsächlich zu vermissen gelernt hatte. Himmel, wie sehr er sich nach diesem Mann gesehnt hatte. Ohne sein bewusstes Zutun hatten sich seine Arme gehoben, sich um Dies Hals gelegt, um ihn noch näher gegen sich zu bringen. Ihr Kuss geriet so schnell außer Kontrolle, dass er hinterher nicht hätte sagen können, ob er seinen Freund gegen die Wand neben der Tür gepresst hatte oder ob Die selbst dagegen gesunken war, weil ihn seine Beine nicht mehr getragen hatten. Immer wieder löste er sich für Sekunden von dem süßen Mund, haschte mit den Zähnen nach der Unterlippe oder riskierte einen Blick in diese wunderschönen Augen, in denen nun ein Feuer wie flüssige Lava loderte. „Kaoru“, nuschelte Die gegen seinen Mund und umschloss sein Gesicht mit beiden Händen, um ihn wenige Zentimeter auf Abstand zu bringen. Doch selbst, als er dieser offensichtlichen Aufforderung folgeleistete, kam sein Freund ihm hinterher, sprach seine nächsten Worte so nah an seinen Lippen, dass er jede Silbe erspüren konnte. „Wir müssen aufs Dach, ich will das neue Jahr mit dir gemeinsam begrüßen und das Feuerwerk sehen.“ „Na klar, ich halte dich nicht auf“, murmelte er ebenso leise zurück und haschte, ganz entgegen seiner Aussage, erneut nach Dies Lippen. „Kaoru~!“ „Schon gut, schließ die Tür auf, bevor wir hier im Treppenhaus noch Wurzeln schlagen.“ Mehr als zufrieden bemerkte er, dass sich die Finger seines Freundes recht unkoordiniert an die Arbeit machten. „Mmmh, schnurrte er, etwas auf den Zehenspitzen stehend, um an Dies Ohrläppchen heranzukommen. „Irgendetwas sagt mir, dass deine Finger nicht vor Überanstrengung zittern.“ Er küsste die weiche Haut direkt hinter Dies Ohr und grinste, als sein Freund knochentief erschauerte. „Du bist unfair.“ „Ansichtssache.“ „Ha! Endlich offen. Komm schon, sonst verpassen wir alles.“ Mit einem leisen Glucksen ließ Kaoru sich erneut dirigieren und fand sich keine Minute später zwischen Abluft- und Lüftungsanlagen auf dem gekiesten Dach der Konzerthalle wieder. Vereinzelt stiegen bereits Raketen in die Luft, aber im Großen und Ganzen war die Nacht noch ruhig. „Zwei Minuten bis Mitternacht“, verkündete Die nach einem schnellen Blick auf sein Handy und ging weiter bis zur Umzäunung, die nun als Einzige zwischen ihnen und dem dreißig Meter entfernten Boden stand. Kurz wurde Kaoru beim Blick nach unten schwindlig, sodass er sein Augenmerk lieber wieder auf den Mann an seiner Seite richtete. „Ich hab dich die letzten Tage über vermisst“, sagte sein Freund in genau diesem Moment und drehte sich zu ihm. Kaoru tat es ihm gleich und kaum standen sie sich gegenüber, ergriff Die beide seiner Hände, zog sie gegen seine Lippen und küsste seine Fingerknöchel. „Wäre es an mir gewesen, wäre ich am gleichen Tag wieder zurück zu dir gefahren.“ „Dann war es ja gut, dass wenigstens einer von uns einen kühlen Kopf bewahrt hat.“ Die schnaubte und rollte mit den Augen, was eine so typische Reaktion war, dass Kaoru lachen musste. „Jetzt komm schon, so schlimm war es doch gar nicht. Außerdem … wenn es dich beruhigt …“ Kaoru stockte – er war nicht der Typ für große Gefühlsbekundungen, aber … „Du hast mir auch gefehlt.“ „Es tut gut, das zu hören, danke.“ Das Lächeln, welches Die ihm daraufhin schenkte, war es wert gewesen, über seinen Schatten zu springen, das stand definitiv fest. „Was machst du?“ Kaoru sah mit gerunzelter Stirn dabei zu, wie Die seinen roten Schal – ja, es war der Schal, den er ihm vor Tagen zurückgegeben hatte – von seinem Hals wickelte, nur um ihn im nächsten Augenblick um Kaorus zu legen. „Ich wollte nicht nur des Feuerwerks oder des neuen Jahrs wegen mit dir hier oben sein.“ „Nein?“ Die schüttelte den Kopf. „Ich will mir etwas wünschen.“ „Das ist nicht unüblich zum Jahresbeginn, aber dafür brauchst du mich nicht.“ „Doch.“ Kaorus rechte Braue wanderte fragend ein Stück nach oben. „Na ja, du bist der Einzige, der mir diesen Wunsch erfüllen kann.“ „Okay, jetzt bin ich neugierig, raus damit.“ „Kannst du dich noch an die Worte erinnern, die du vor sechsundzwanzig Jahren auf einem Dach fast wie diesem hier zu mir gesagt hast?“ Kaorus Augen weiteten sich und er musste schwer schlucken, bevor er auf irgendeine Weise agieren konnte. Seine Reaktion fiel daher auch eher minimal aus, als er zu nicht mehr imstande war, als zaghaft zu nicken. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als diese Worte noch einmal von dir zu hören.“ „Warum?“ Die Frage war nicht mehr als ein substanzloses Hauchen, aber Die hatte ihn verstanden. Eine Hand legte sich gegen seine Wange, ein Daumen zeichnete die Kontur seines Wangenknochens nach und dunkle Augen hielten ihn in ihren Tiefen gefangen. „Weil ich nach all dieser Zeit endlich so auf deine Worte reagieren möchte, wie ich es mir seither wieder und wieder erträumt habe.“ „Die, ich …“ Hunderte Explosionen um sie herum läuteten den Beginn eines neuen Jahres ein. Lichtblitze tauchten ihre Gesichter in einen Regenbogen aus Farben, zeichneten Schatten und warfen ihre Konturen in so starken Kontrast, dass die Spuren der Zeit wie weggewischt wirkten. Plötzlich waren sie wieder jung, in ihren Zwanzigern und standen am Beginn einer Karriere, die das nächste Vierteljahrhundert ihres Lebens bestimmen würde. Kaoru fühlte sich so aufgeregt, wie damals, als er Dies Geste spiegelte, seine Hand zwischen Wange und Hals ruhen ließ. Er konnte den wilden Puls seines Freundes fühlen und schöpfte Mut aus der Tatsache, dass Die ebenso aufgeregt wie er zu sein schien. „Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Du bist mir in den wenigen Monaten zu einem so guten Freund geworden …“ Kaoru hielt inne, schüttelte den Kopf und schenkte Die ein schiefes Lächeln. „Ich glaube, das passt so einfach nicht mehr, hu?“ „Nicht wirklich, aber ich hätte auch nichts dagegen, es noch einmal im Original zu hören.“ Erneut schüttelte er den Kopf. „Manche Stücke haben es verdient, neu aufgelegt zu werden, findest du nicht auch?“ „Ich würde meinem Leader nie widersprechen.“ Er schnaubte, ließ sich durch das freche Grinsen auf dem Gesicht seines Freundes jedoch nicht aus dem Konzept bringen und fuhr fort: „Vom ersten Augenblick unseres Kennenlernens an hatte ich das Gefühl, als hätte ich in dir den Menschen gefunden, den ich immer vermisst habe, ohne es bis dahin bemerkt zu haben, weißt du das? „Mir ging es nicht anders.“ „Ich weiß, dass es meine Schuld war, dass wir uns in den letzten Jahren auseinandergelebt haben und das tut mir …“ „Kaoru, nicht.“ Dies Lächeln war zärtlich geworden, genau wie der Kuss, den er ihm auf die Stirn drückte. „Es braucht keine Entschuldigungen.“ Kaoru nickte, gönnte sich einen Moment der Stille zwischen ihnen und spürte, wie er mit einem Mal ganz ruhig wurde. Fort waren die Nervosität und die Aufregung, die seinen Magen zum Verrücktspielen brachten. Plötzlich wusste er genau, was er sagen wollte, wusste, dass nach all der Zeit endlich der richtige Moment gekommen war. „Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal den Mut aufbringen würde, dir zu sagen, was ich empfinde, aber deine Beharrlichkeit und vor allem diese absolut dämliche Wette …“ Die kicherte und auch er konnte nicht anders, als breit zu grinsen, „... haben mir gezeigt, dass manche Dinge es wert sind, sie noch einmal zu versuchen. Die, ich empfinde noch immer so viel mehr als nur Freundschaft für dich; und mir ist klar geworden, dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben.“ Die Augen seines Freundes schimmerten verräterisch feucht. Kaoru konnte nur einen kurzen Blick auf sie erhaschen, bevor sie sich schlossen und Die sich mit der Stirn gegen die seine lehnte. „Ich liebe dich auch, Kaoru. Ich habe so oft davon geträumt, es dir zu sagen, mutig zu sein und zu meinen Gefühlen zu stehen. Es tut mir so unendlich leid, dass es bei mir immer etwas länger dauert.“ Kaoru lachte, ein befreiter wie gleichermaßen erstickter Laut, bevor er seinen geliebten Dummkopf in einen Kuss zog, der besser als alle Worte beschreiben konnte, wie wertvoll Die und dieser Moment für ihn waren. „Frohes Neues, Die.“ „Dir auch.“ „Ich möchte mir jetzt auch etwas von dir wünschen.“ „Ja? Dann raus damit.“ „Ich wünsche mir, dass du den ersten Tag des neuen Jahres mit mir verbringst.“ „Nichts lieber als das.“ „Und viele Tage danach.“ Ihre Blicke verhakten sich ineinander, als Die langsam nickte und gegen seine Lippen wisperte: „Jeden Einzelnen, Kaoru, jeden Einzelnen.“ ~ The End ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)