From Snow and Light von _Delacroix_ ================================================================================ VI. --- „In fünfzig Metern rechts abbiegen“, quakte eine elektronische Frauenstimme und Kaoru stapfte zuverlässig weiter die Straße hinunter. Joe folgte ihm, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. „Hör mal“, versuchte er es ein weiteres Mal, „Ich glaube nicht, dass das der Weg zum Shuttle Bus ist.“ Kaoru drehte sich noch nicht einmal zu ihm um. „Natürlich ist das der richtige Weg“, entgegnete er. „CARLA hat ein hochmodernes Satelliten-Navigationssystem. Sie kann sich beim Navigieren gar nicht irren.“ Joe war sich da nicht so sicher. Er hätte schwören können, er hatte schon vor Längerem ein kleines unscheinbares Holzschild mit einem Bus darauf gesehen. Und es hatte ganz klar in die andere Richtung gezeigt. Aber Kaoru wollte nichts von Schildern hören. Er wollte noch nicht einmal einen Blick auf sie werfen. Er vertraute einfach voll und ganz auf das Urteil seiner elektronischen Assistentin. Schlimmer noch, er beschleunigte sogar seinen Schritt, fast so, als wollte er beweisen, dass hinter dem nächsten Gebäude ganz sicher ihre Busstation zu finden war. Joe stieß einen resignierten Seufzer aus. So hatte er sich seinen Ausflug nach Hokkaido nicht vorgestellt. Er hatte an Ramen-Restaurants gedacht, an heißen Sake und an eindrucksvolle Eisskulpturen. Er hatte nur Letztere bekommen. Und jetzt? Jetzt war er drauf und dran, in einem Hinterhof zu landen, nur weil Kaoru nicht in der Lage war, ein einziges Mal zuzugeben, dass sein Spielzeug nicht so perfekt war, wie er es gerne hätte. Unwillkürlich lief er ebenfalls ein bisschen schneller. „Wenn wir wegen dir das Abendbrot verpassen, mache ich dir keinen Mitternachtssnack.“ „Gut“, schnappte Kaoru zurück, „Das musst du auch gar nicht, denn wir sind in einer Minute da.“ Joe zog die Augenbrauen hoch. „Ach, ja?“, fragte er, während Kaoru mit hoch erhobenem Haupt um die Ecke bog. Er wollte noch etwas ergänzen, doch CARLAs „Sie haben ihr Ziel erreicht“, nahm ihm die Worte aus dem Mund. Kaoru blieb mitten in der Kurve stehen und starrte mit großen Augen um die Ecke. Langsam trat Joe näher. Sie mochten sich häufig streiten, doch es war ihm sehr wohl bewusst, dass das ein schwieriger Moment für seinen Freund war. Seine Assistentin hatte sich geirrt, sogar schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Das musste er sicher erst einmal verarbeiten. „Komm“, versuchte er ihn vorsorglich zu beruhigen. „Das kann selbst dem Besten mal passieren. Dann stehen wir jetzt eben in einem Hinterhof und –“ „Kojiro“, unterbrach Kaoru ihn und zeigte mit einer schwachen Geste um die Kurve. Joe folgte seinem Fingerzeig, blickte um die Ecke und beinahe wäre ihm der Mund offen stehen geblieben. Das musste ein Witz sein. Das musste einfach ein Witz sein.   Tausende kleine Lichter erhellten einen Tunnel im Schnee. Sie funkelten so hell wie die Sterne und hätten so in ziemlich jedem seiner letzten Dates ausnehmend gut gefallen. Und Kaoru? Der sah aus, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nicht wegen des Tunnels, da war sich Joe sicher. Unauffällig blickte er zu dem Armband, mit dem sein Freund seine K.I. zu steuern pflegte. Er hatte keine Ahnung, was mit CARLA nicht in Ordnung war, doch irgendwas war definitiv im Argen. Vielleicht hatte die dämliche Blechbüchse sich einen Virus eingefangen, oder Kaoru hatte sie versehentlich mit gewaschen. Was auch immer es war, wenn er es nicht schnell unterband, würde es Kaoru den ganzen restlichen Aufenthalt vermiesen. Er würde in seinem Hotelzimmer verschwinden, die Tür abschließen und nicht wieder herauskommen, bis er die K.I. einmal von oben bis unten durchleuchtet hatte. Und er würde den Rückflug umbuchen und den Eltern der Jungs irgendeine Ausrede auftischen müssen. Nein, nein, nein. So durfte ihr Ausflug auf keinen Fall zu Ende gehen. Er musste etwas unternehmen. Er musste … Joe räusperte sich umständlich. „Äh … Überraschung“, improvisierte er und erntete dafür einen besonders schrägen Seitenblick. „Überraschung?“, wiederholte Kaoru. Joe beeilte sich zu nicken. „Ja, äh klar“, flunkerte er, „Du glaubst doch nicht, dass CARLA das da mit einem Shuttle Bus verwechseln würde, oder?“ „Ich glaube auch nicht, dass du das da mit einer Überraschung verwechselst.“ Joe zwang sich zu einem Grinsen. „Nicht?“, fragte er und versuchte möglichst nonchalant dabei auszusehen. „Ich fand einfach, nach den vielen Schriftzeichen heute, hast du dir auch mal etwas Schönes verdient.“ „Und dann bringst du mich zu einem Tunnel aus Licht?“ „Ja, wäre dir ein Ramen-Restaurant denn lieber gewesen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)