Das Licht im Meer von minKeminKesaKumo (Eine Weihnachtsgeschichte in Arendelle) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Lichter im Meer – eine Weihnachtsgeschichte in Arendelle Arendelle bereitete sich auf das Weihnachtsfest vor, und alle freuten sich auf die Feiertage. In den Straßen der Stadt banden die Menschen Tannenzweige an die Laternen und bunte Papiersterne an die Giebel ihrer Häuser. Jedes Schiff im Hafen war mit Bändern, Zweigen und Lichtern geschmückt worden, und schon drei Tage vor dem Fest glitzerte das Hafenbecken des Nachts heller als der Sternenhimmel. Selbst auf den Berghängen konnte man bunte Laternen erkennen, die im Wind schwangen und in langen Reihen hinab an die Küste führten. Elsa genoss jede einzelne Stunde, die sie im Trubel der Stadt verbringen konnte. An jeder Ecke erschuf sie Schneemänner, die niemals schmolzen, Schneebahnen zogen sich über die Hauptstraßen und bildeten ein Rodelbahnnetz durch ganz Arendelle und auf jedem Springbrunnen thronte ein Engel aus Eis. Doch auf die Abende freute Elsa sich besonders, denn dann schlossen sich, nur für die Nacht, die Türen des Schlosses und sie hatte Anna, und Kristoff, Sven und Olaf ganz für sich allein. Dann versammelte sich ihre Familie vor dem großen Kamin, zusammengedrängt auf einem alten Sofa, die Füße unter warmen Decken versteckt, und plauderte Stunden lang oder spielten Scharade. An diesen Abenden fühlte Elsa, wie Ruhe einkehrte, nicht nur im Schloss sondern auch in ihr. Dann quoll ihre Kraft nicht länger unkontrolliert aus ihr heraus, und keine Stimme rief sie in den Wald. Es war der letzte Tag vor Heilig Abend, und die Vorbereitungen für das große Fest waren fast abgeschlossen. Es war ein sonniger Tag, kalt, aber hell und windstill. Die ganze Stadt roch nach frisch gebackenen Kuchen, nach Braten und Orangen. Elsa saß seit einer halben Stunde auf einer Holzbank, aufgewärmt von den orange-roten Strahlen der untergehenden Sonne, hoch oben am Rande von Arendelle, und sah dem Treiben in den tiefer gelegenen Straßen zu. Hin und wieder legten sich ihre Finger auf das raue Holz der Bank, oder sie schloss kurz die Augen, um sich ganz auf die würzigen Gerüche und die Sonnenwärme zu konzentrieren. Langsam wurden ihre Füße kalt, und auch wenn ihr die Kälte nichts ausmachte, beschloss sie, bald ins Schloss zurück zu kehren. Sie zog den dunkelblauen Stoff ihres Mantels enger um sich und stand auf. Langsam ging sie den gepflasterten Weg entlang, hin zu den hoch aufragenden Türmen ihres Zuhauses. Zuhause – das war es immer noch, auch wenn sie jetzt einen großen Teil ihrer Zeit im nicht länger verwunschenen Wald verbrachte. Auch dort fand sie ihre Ruhe, doch war es stets kalt, und obwohl die Northuldra ihr jede Freundlichkeit entgegenbrachten, hatte Elsa das Gefühl, dass sie sie mehr als eine Göttin betrachteten denn als ein Mitglied ihres Stammes. Obwohl sie die höfliche Zurückhaltung verstand, war Elsa stets froh, nach Arendelle zurück zu kehren, und sie freute sich besonders darüber, die Feiertage mit den Menschen verbringen zu können, die ihr wirklich nah standen. Sie kicherte leise, als sie an den vergangenen Abend dachte. Anna und sie waren in einem Spiel gegen Kristoff und Olaf angetreten, es ging darum, wer die meisten Schleifen in Svens langes Winterfell flechten konnte, ohne dass Sven davon etwas mitbekam. Sie alle hatten großen Spaß, doch am meisten mussten die anderen lachen, als Sven Elsa erwischte, als sie gerade eine Schleife an sein Hinterbein flechten wollte, und sich einfach mit seinem wolligen Rentierpo auf sie setzte. Zu keinem Zeitpunkt hatte Elsa das Gefühl gehabt, etwas Besonderes oder Anderes zu sein. Wenn sie mit Anna, Kristoff, Olaf und Sven zusammen war, dann war sie eine ganz normale Frau, ohne Zauber und Einsamkeit. Viele Menschen grüßten Elsa auf ihrem Weg, und sie ließ sich Zeit, um mit allen ein paar Worte zu wechseln, doch die letzten paar Schritte zum Nebeneingang des Schlosses rannte sie fast. Als das schwere Holz die freudige Unruhe der Stadt hinter ihr ausschloss, atmete sie tief durch. Plötzlich roch sie – Schokolade! Elsa lief los, den mit Teppichen ausgelegten Flur entlang und eine gewundene Steintreppe hinab zur Küche. Ohne sich anzukündigen, betrat sie den Raum und überraschte Anna gerade dabei, wie sie gemeinsam mit der alten Köchin eine gewaltige Schokoladentorte aus dem Ofen hob. „Schokoladenkuchen“, rief sie begeistert, und erschreckte ihre Schwester dabei so sehr, dass diese fast ihre Seite des Kuchens losgelassen hätte. Anna drehte sich, noch immer das frische Gebäck tragend, zu Elsa um. Ihr Gesicht und die Vorderseite ihres Kleides waren mit Mehl verschmiert, und aus ihrer Hochsteckfrisur hatten sich einige Strähnen gelöst, aber trotzdem fand Elsa an Anna etwas Neues, fast damenhaftes, das im Abendlicht erstrahlte. Die neue Seite war ein Nebeneffekt der Königskrone, und obwohl Elsa ihrer Schwester den Stress, den diese Position mit sich brachte, nicht wünschte, war sie insgeheim froh, sich endlich wieder frei und ungebunden bewegen zu können. Wie um sich daran zu erinnern, wackelte sie mit den nackten Zehen auf dem fleckigen Steinboden hin und her. Sie lächelte Anna an, und die juchzte begeistert. „Elsa, wie schön, dass du jetzt schon hier bist! Ich hatte schon befürchtet, Kristoff und ich müssten den hier ganz allein essen.“ Anna deutete wild auf die Torte und hätte dabei beinah mit ihrem Finger in das Auge der Köchin gestochen. Diese hievte lachend die Torte auf den Küchentisch, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und verschwand dann in einer der Vorratskammern, die an die Küche angrenzten. „Ich dachte mir, wir könnten heute Abend vielleicht etwas früher mit dem Spiel anfangen, und dann früh ins Bett gehen, damit wir morgen den ganzen Tag feiern können“, erwiderte Elsa und umarmte Anna dabei kurz. „Also eigentlich bin ich ja vollkommen dagegen, früher als unbedingt nötig aufzustehen“, überlegte Anna, „aber da ja morgen das große Fest ansteht, ist das wirklich eine gute Idee!“ Abrupt drehte Anna sich um, packte ein großes Messer und begann, die Torte in verschieden große Stücke zu zerteilen. Elsa bekam dabei einen Dutt roter Haare ins Gesicht, und lächelnd schob sie ihre Schwester ein Stück zur Seite, drehte sich nach den Tellern um und nahm drei vom Regalbrett. „Dann ist das also abgemacht! Ich gehe und suche Kristoff und die anderen, und du bringst den Kuchen nach oben?“, rief Elsa noch über die Schulter, schon halb die Treppen zu den Wohnräumen hinauf. Wo Anna wie ein farbenfroher Wirbelwind war, da stand Elsa ihr mit stürmischem Enthusiasmus in Nichts nach – zumindest, wenn es darum ging, die Familie um sich herum zu versammeln. Bald hatte sie Olaf und Kristoff gefunden, und auch Sven wurde mit Kristoffs Hilfe aus dem Rübenlager gezogen und in das warme Wohnzimmer geschoben. Anna war gerade dabei, einen kleinen Beistelltisch mit der Schokoladentorte, Tellern und Bechern voll heißem Tee zu decken. Elsa beeilte sich, um einen der Eckplätze auf dem großen Sofa zu ergattern und sich dann dort unter einer Decke zusammenzurollen. Kristoff reichte ihr eine der Tassen. „Also, Königin vom Walde, was ist heute der Plan?“ „Kristoff, nenn sie nicht so!“, ermahnte Anna ihren Mann schnell. „Ist ja nicht böse gemeint.“ „Nein, schon in Ordnung“, erwiderte Elsa und zog die Decke etwas enger um ihre Schultern, „ich bin dir nicht böse, Kristoff.“ Elsa meinte, was sie sagte, doch Kristoffs Worte krochen ihr kalt den Nacken hinauf. Versonnen pustete sie in ihren Tee, auf dem sich eine dünne Eiskruste bildete. Wenn sie wirklich die Königin des verwunschenen Waldes war, dann würde sie den Wald niemals ganz abschütteln können. Dann wäre sie dort mehr zuhause als hier. Dann wäre der Wald alles, ihre ganze Welt… Etwas zwickte sie ins Knie, und Elsa schreckte aus ihren Gedanken auf. Ihre Schwester stand vor ihr, in jeder Hand einen feinen, aus Stroh und bunten Fäden geformten Stern, und stupste sie mit der Schuhspitze an. „Elsa, wo bist du gerade? Das ist eine wichtige Frage!“, sie erhob die rechte Hand mit einem Stern in dunklem Pink und sattem Grün. „Onkel Wolframs Stern?“, dann hob sie die Linke mit einem Stern aus hellgrünem Stroh mit silbernen Fäden, „Oder der von Großmutter Lisbeth?“ Elsa gab sich einen Ruck und betrachtete beide Optionen aufmerksam. Dann besah sie sich den geschmückten Weihnachtsbaum, auf dem nur noch der Weihnachtsstern fehlte. „Ich finde, in diesem Jahr passt der von Großmutter besser. Und Wolframs Stern hängen wir dann an den Kamin?“ Anna hüpfte von einem Bein aufs andere und strahlte begeistert. „Das ist die perfekte Lösung, danke Elsa!“ Kristoff knuffte sie in die Schulter, und Elsa ließ sich lächelnd in die weichen Kissen zurücksinken. Jeder dunkle Gedanke war vergessen, sobald sie von so viel Freude umgeben war. Eingekuschelt beobachtete sie, wie Anna sich auf einen wackeligen Hocker stellte, um den Stern am Baum zu befestigen, und Kristoff ihr halb lachend, halb entsetzt zu Hilfe sprang, bevor sie herunterfallen konnte. Auf dem Teppich vor dem Sofa saßen Olaf und Sven aneinander gekuschelt, beide mit ihren eigenen Gedanken oder Weihnachtswünschen beschäftigt, und Elsa hielt diesen Moment ganz fest, schloss ihn in ihrem Herz und ihrer Erinnerung ein. Wie besprochen blieben sie nicht bis tief in die Nacht auf. Als ein Kammerdiener leise an die Wohnzimmertür pochte und sich dann bei Anna für die Nacht abmeldete, erhob sich auch ihre Schwester und zog Kristoff mit sich auf die Füße. „Nun, so gemütlich das auch ist, ich weiß, dass ihr euch alle sehr auf morgen freut, und je früher wir schlafen gehen, desto eher können wir auch unsere Geschenke auspacken! Gute Nacht, Elsa.“ Elsa zwinkerte ihrer Schwester zu, schob sie und Kristoff aus dem Raum und drehte sich dann noch einmal nach dem Weihnachtsbaum um. Als erstes fielen die glänzenden Kugeln aus dünnem Glas ins Auge, die in allen Farben schillerten. Nur wenn man so nahe an den Baum herantrat, dass man den Duft von Nadeln und Harz in der Nase hatte, bemerkte man die vielen kleinen Anhänger, die beinahe jeden Ast schmückten. Sie waren Geschenke, von Anna und Elsa, aber auch von ihren Eltern und anderen Verwandten, die Arendelle in der Weihnachtszeit besuchten, und alle waren einzigartig. Gleich auf Augenhöhe hing ein kleines Schaukelpferd mit blauem Sattel und schief aufgemalten Augen, das hatte Elsa gemeinsam mit einem der Diener des Schlosses zu ihrer fünften Weihnacht angemalt. Direkt daneben fand sie einen winzigen Schlitten, vollgestopft mit Geschenken aus glänzendem Papier und einem unförmigen Klumpen in Rot und Weiß, der wohl den Weihnachtsmann darstellen sollte. Elsa konnte sich noch gut daran erinnern, dass Anna wütend geworden war, als Elsa ihr sagte, dass niemand diesen Klumpen erkennen könnte. Zu jener Weihnacht hatte ihre Mutter den Schlitten an einen der längsten Äste gehängt, so dass er immer gut zu sehen war. Kaum zu glauben, dass sie sich früher über solche Sachen gestritten hatten. Langsam schritt sie um den Weihnachtsbaum herum und strich mit ihren Fingern über die gesammelten Erinnerungen. Ganz unten an einem Ast, fast verborgen in der Zimmerecke, fand sie einen kleinen, moosbedeckten Stein, der mit einem pinken Seidenband umschlungen war. Den hatte Anna in dem Jahr mitgebracht, in dem sie und Elsa zum ersten Mal die Geschichten über die Trolle von einem alten Mann aus der Stadt gehört hatten. Sie waren beide davon überzeugt gewesen, Anna hätte ein Trollbaby entführt, und den Stein tagelang auf einem kleinen Kissen auf der Fensterbank verwahrt, ihn zugedeckt und Kekskrümel neben ihm verstreut, für den Fall, dass das Baby erwachte und hungrig war. Sie hatten so ein schlechtes Gewissen gehabt, aber da Anna sich nicht daran erinnern konnte, woher sie den Stein hatte, konnten sie ihn auch nicht zurückbringen. Ihre Mutter hatte laut gelacht, als Elsa ihr das Leid klagte, und sich den Stein dann ernsthaft eine Weile besehen. Schließlich erklärte sie, dass es sich um einen außergewöhnlich runden Stein handeln würde, dass daraus aber wohl kein Troll werden würde. Dann hatte sie eines der Bänder aus ihren Zöpfen gelöst, es mehrmals um den Stein geschwungen und ihm dann gemeinsam mit Anna einen schönen Platz am Weihnachtsbaum gesucht. Wie von selbst schlossen sich Elsas Finger um den kühlen, runden Stein. Sie zog ihn von der Astspitze und ließ ihn in die tiefe Tasche ihres Kleides gleiten, die Finger der Linken immer noch darum geschlossen. Dann sog sie noch einmal tief den Duft des Baumes, des Holzfeuers und des Kuchens ein und machte sich ebenfalls auf den Weg in ihr Zimmer. Es war nicht die Vorfreude, die Elsa in der Nacht unruhig schlafen ließ – es war ein Ziehen und Zerren, in ihrer Bauchmitte und an ihren Fingerspitzen, die sich schon ganz kribbelig anfühlten. Elsa träumte von einem Wald aus Eis, einem unendlichen Winterwald, durch den sie wandelte, immer im Kreis. Und sie träumte von einem klingenden Ton, der sie rief. So hell war dieser Ton, dass er all die schönen Kristallbäume, an die er stieß, zum Zerbersten brachte. Splitter fielen um Elsa herum zu Boden, zart wie Vogelflügel, und klingelten leise, wenn sie das Eis berührten. Und dort, wo sie niederfielen, bildeten sich Risse im uralten, ewig währenden Eis. Elsa rannte, immer dem Ton entgegen, ihre Ohren klingelten und um sie herum zerbrach die Welt. Rotes Glühen wartete unter dem Eis, es fraß sich nach oben, wo der Ton ihm einen Weg bildete, lauter, immer lauter. Sie war fast da! Dann sah Elsa ihn endlich – den Ursprung des Tones. Vor ihr türmte sich ein Kristallberg auf, turmhoch und durchsichtig, so dass sie bis in seine Mitte blicken konnte. Der ganze Berg vibrierte und bewegte sich, wie sich kein Berg bewegen sollte. Seine Eingeweide schlugen hin und her, angefüllt mit rotbeißendem Magma, das Löcher in das Fleisch des Berges fraß. Das Ungetüm zitterte vor Angst und Schmerzen, brachte die Erde zum Beben und schrie seinen Tod hinaus, und Elsa hatte es gehört! Hinter ihr lag die Welt in Trümmern, sie konnte nur nach vorn. Vorsichtig ging sie die letzten Schritte auf den Berg zu, erstaunt darüber, dass er keine Hitze abstrahlte. Zögerlich streckte sie eine Hand aus und legte sie auf den glatten Kristall. Sie spürte jetzt das Zittern, fühlte es in ihre eigenen Knochen übergehen, und der helle Ton des Berges erfüllte sie. „Du musst es aufhalten!“, schien er zu rufen, und Elsa wusste, dass sie nicht mehr träumte, denn so eine wunderbare Stimme hätte sie sich niemals erträumen können. Zitternd wurde sie wach. Es war Nacht. Vor den Fenstern war der Mond noch nicht ganz vorbeigezogen. Es konnten also nicht mehr als zwei Stunden vergangen sein, seit sie zu Bett gegangen war. Warum war sie wach? Ein Kribbeln in ihrer rechten Hand ließ sie herabblicken: ihre Fingerspitzen leuchteten! Doch war es nicht das Leuchten des Eiszaubers, bläulich-weiß, sondern das Glimmen von Kohle, die Farbe einer offenen Wunde. Und noch während Elsa sich ihre Finger besah begann das Rot, sich auszubreiten. Sie musste handeln, sofort! Elsa hielt sich nicht mit einem Mantel oder mit Winterstiefeln auf, nur einen kleinen Beutel nahm sie von der Kommode, bevor sie eilig das Zimmer verließ. Die Flure des Palastes waren verlassen, trotzdem bewegte sie sich vorsichtig, bis sie die hohen Mauern hinter sich gelassen hatte. In der Stadt vermied Elsa die großen Straßen mit ihren festlichen Lichtern, die gerade in der Nacht wie helle Sterne schienen. Sie wandte sich dem Gebirge entgegen, diesem unwegsamen Kamm, der Wunder und Schrecken barg und ihr schon oft eine Zuflucht gewesen war. Statt der grün-violetten Corona, die sonst in Winternächten über dem Gebirge zu schweben schien, wirkten die hohen Berge nun fast wie von der Sonne angestrahlt. Der Schnee auf den Hängen leuchtete rötlich, und zu jedem anderen Zeitpunkt wäre der Anblick hübsch gewesen. Doch die Sonne war noch viele Stunden von ihrem nächsten Aufgang entfernt, und so wirkten die Farben nur bedrohlich, wie ein heraufziehender Sturm. Elsa lief schneller, sobald sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte und flog bald nur so auf dem Eis dahin. Vor ihr richtete sich das Gebirge auf, füllte ihre Sicht immer weiter aus, bis alles, was sie noch sehen konnte, von einem roten Glimmen erfüllt war, das immer tiefer zu werden schien. Mit rasendem Herzen und Eis an den Händen suchte sie den Kamm ab. Da! Links von sich entdeckte sie die Formation, die sie in ihrem Traum besucht hatte. Und dort lag auch die Ursache des Glimmens. Elsa kam ihr näher, näher, bis sie abrupt stehen blieb. Vor ihr tat sich der Boden auf in einem Riss, der wenige Tage zuvor noch nicht dagewesen war, und am Boden – oder da, wo der Boden sein sollte – wälzten sich orange-rote Massen. Elsa folgte dem Riss mit dem Blick, und sah die tiefe Wunde, die in den Berg gerissen worden war, und aus der nun Lava quoll wie dickflüssiges Blut. In die andere Richtung ging der Riss bis an den Waldrand. Elsa näherte sich diesem Ende und bemerkte erleichtert, dass die Lava an dieser Stelle wieder in der Erde zu verschwinden schien. Zwar waren die Tannen am Rande des Waldes auf der Höhe des Risses vertrocknet von der Hitze, doch das war ein tragbarer Schaden. Elsa sammelte ihre Kräfte und beschwor mehr Eis herauf, um die Wunde zu schließen, aber ihre Fingerspitzen leuchteten immer noch rot, und als sie den Eisstrahl auf den Riss richtete, erzitterte die Erde. Elsa fühlte es mehr in den Knochen, als dass sie es unter ihren Füßen spürte. Doch das Ergebnis war ein eindeutiges: der Riss verlängerte sich, und der Lavaspiegel im Inneren stieg an. Elsas Arme wurden schwer, und als sie auf ihre Hände blickte sah sie, wie die Röte aus ihnen gezogen wurde, ganz so, als würde die Lava ihr das Leben entziehen. Endlich erstrahlten ihre Finger wieder im eisigen Blau! Ihre Arme ausbreitend rief Elsa alle Kraft, die noch in ihr wohnte und die ihr das Eis um sie herum verleihen konnte, herbei und schleuderte sie den Kanten des Risses entgegen. Binnen Sekunden bildete sich eine steinharte Eiskruste über der Lava. Elsa war erschöpft. Den Riss zu schließen kostete sie zu viel Kraft. Und anstatt zu erstarren grub sich die Lava weiter durch den Boden, und sie schien schneller zu werden. Wenn sie weiter diesen Weg nahm, dann würde sie die oberen Viertel der Stadt und einen großen Teil des Hafenviertels mit sich reißen. Es war viel zu spät, um die Anwohner zu evakuieren! Fieberhaft überlegte sie, schoss immer weiter Eisstrahlen auf den sich fortsetzenden Riss und spürte, wie der Schnee unter ihren Füßen und das Eis in den Tannen und der Luft ihr Kraft spendeten. Doch egal, wie viel Kraft sie aus der Umgebung zog, sie würde den Lauf der Lava nicht verhindern können. Verzweiflung ergriff sie, klammerte sich um ihr Herz und unterbrach den Eiszauber. Ohne Mut blickte sie ins Tal hinunter, auf die schlafende Stadt und den Riss, der sich immer schneller in diese Richtung verlängerte. Wie ein roter Faden zog er sich bereits durch den gesamten Wald, und nur Elsas Eis war es zu verdanken, dass die Bäume nicht in Flammen standen. Sie durfte nicht aufgeben! Egal wie, aber sie musste verhindern, dass die Lava die Stadt erreichte! Wieder entschlossen atmete sie durch, spürte den Schnee zwischen ihren Zehen und das Eis in ihrem Haar, fühlte, wie die Haut ihres Gesichts durch die Kälte spannte und rieb ihre Hände aneinander, um sich für einen erneuten Versuch zu sammeln. Da stieß ihr Ellbogen gegen den kleinen Beutel. Darin befand sich nichts außer dem runden Stein, Annas Stein, den Elsa erst vor wenigen Stunden – es kam ihr so viel länger vor – vom Weihnachtsbaum genommen hatte. Er war eine Erinnerung an ihre geliebte Schwester, aber jetzt war er noch etwas anderes: eine Lösung! Aufgeregt begann Elsa wieder, zu rennen, weg vom Riss. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht schon zu spät war. Schweiß rann über Elsas Stirn und gefror sofort in ihren Augenbrauen. Ihr Herz und ihr Atem bebten um die Wette, und obwohl sie sich in ihrem natürlichen Terrain bewegte, hatte sie das Gefühl, kaum einen Schritt voran zu kommen. Wie in einem Albtraum schien ihr Ziel – die Lichtung der Trolle – kaum näher zu kommen. Der Schnee drängte zu ihren Seiten hin, türmte sich in ihrem Rücken auf und schob sie vorwärts, als ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie fiel mehr, als dass sie lief, in die Lichtung hinein, und für eine Sekunde war alles still: der Wald, der Wind, ihr Herz. Ihr Atem legte sich in einem dichten Schleier um ihr Gesicht. „Grand Pabbie – bist du da?“ Elsa sah sich verzweifelt um. „Wo seid ihr? Ich brauche eure Hilfe!“ Die Kiesel um sie herum regten sich. Kleine Steine schossen um ihre Füße und ein großer, bemooster Felsbrocken zitterte kurz, bevor der alte Troll sich in einer unerwartet geschmeidigen Bewegung aufrichtete. „Nun nun, mein Kind. Warum die Hektik?“ „Grand Pebbie, der Wald ist in Gefahr. Ganz Arendelle ist in Gefahr!“, Elsas Stimme brach. „Was redest du denn da? Wo ist deine Schwester?“ In dem Moment wurde Elsa klar, dass nicht nur die Menschen unten in der Stadt in Lebensgefahr schwebten. Auch am Schloss würde die Lava nicht spurlos vorüber gehen, und wer wusste schon, in welche Dummheit Anna sich stürzen würde, um die anderen zu retten?! „Wir haben keine Zeit! Ein Riss hat sich aufgetan, oben in den Bergen. Du musst mir helfen. Der Riss geht immer weiter auf, und er wird gleich die Stadt erreichen. In ihm brennt die Erde, und mein Eis reicht nicht, um ihn zu schließen oder die Erde zu gefrieren!“ Die Augen des alten Trolls wurden groß, und um sich her hörte Elsa ein Murren und Wispern. Ohne dass sie es gemerkt hätte, waren mehr und mehr der Trolle erwacht. Dann kam eine Bewegung in die Gruppe, die einem Erdbeben glich. Kleine Trolle rollten über große hinweg, Kiesel und Findlinge bewegten sich in einem mahlenden Strom dem Tal entgegen. Bevor Elsa Pebbie fragen konnte, bevor sie sich überhaupt umdrehen konnte, kam auch der Boden unter ihr ins Rollen und trug sie gemeinsam mit den Trollen dem Bäume-verschlingenden Riss entgegen. Es war nicht nötig, den Trollen den richtigen Weg zu zeigen, denn der Riss hatte eine breite Schneise in den Wald gegraben, die sich wie ein roter Faden den Berghang hinunterzog. Wie Blut quoll die Lava daraus hervor, nun kaum noch eingegrenzt durch die Erde, und wälzte sich zähflüssig der Stadt zu. Sie musste sich beeilen! Doch noch bevor Elsa ihren verzweifelten Kampf gegen die Urgewalt wieder aufnehmen konnte, änderte sich etwas. Es war kaum merklich, aber wenn sie lange genug auf das hellrote Glühen starrte, dann konnte sie beobachten, wie sich der Riss wegbewegte von seinem direkten Weg ins Tal und auf die Stadt zu. Immer noch trugen die kleinen Trolle Elsa der Lava entgegen, während der Großteil der Gruppe sich vor ihr den Berg hinabwälzte. Jetzt konnte sie erkennen, dass es die Trolle selbst waren, die den Weg des Risses langsam von der Stadt weglenkten. Wo die Erde auseinander brach, rollten sich die großen Alten in ihre steinerne Form zusammen und bildeten einen niedrigen aber breiten Wall, der die Lava dazu zwang, sich einen anderen Weg zu suchen. Und dort, wo sie die Trolle berührte, verschmolzen die Steinkugeln miteinander und erstarrten. Elsa schossen Tränen in die Augen. Die Trolle opferten sich für ihr Volk! Das konnte sie nicht zulassen! Elsa hob wieder die Hände und ließ einen Strahl aus Eis aus ihnen hervorbrechen, um die Lava zu erkalten, doch schon wie beim ersten Mal schien es das Unglück kaum abwenden zu können. Die kleinen Kiesel, die sie immer noch über den Boden trugen, brachten sie weg von dem Riss und den größeren Trollen. Höher, immer höher den Berg hinauf, bis zu einer Plattform, von der aus Elsa einen Blick über das gesamte Tal werfen konnte. Unter ihr schlief die Stadt, und die Bewohner von Arendelle waren gerettet. Die Lava bewegte sich zwar noch in Richtung des Tals, doch jetzt beschrieb sie einen weiten Bogen um die Häuser und das Schloss. Träge wälzte sich die Masse den Steinwall entlang am Hafenbecken vorbei ins Meer. Wie ein Feuerteppich breitete sie sich dort über den Boden aus, und wenn ihr Herz nicht so von Trauer erfüllt gewesen wäre, hätte Elsa den Anblick wohl schön gefunden: die gesamte Bucht wurde vom ersterbenden Glühen der Lava erleuchtet. Fast schien es, als wäre das Meer aus Licht gemacht, und während sich an der Oberfläche unruhige Wellen bewegten und Schaumkronen aufwarfen, breitete sich darunter das rot-gelbe Leuchten immer weiter aus und begann dann endlich, zu erkalten. Elsas Augen ruhten auf dem Lichtermeer, welches sich in den Laternen, die farbenfroh auf den Hügeln rund um die Stadt glühten, spiegelte. Tränen rannen ihre Wangen hinab und Elsa hob die Hand, um sie weg zu wischen. Da bemerkte sie den kleinen, runden Stein, von einem pinken Band umwunden, der immer noch in ihrer Handfläche lag. Er war so warm, und schien auf ihrer Haut zu pulsieren. Und wenn sie ihn ganz nah vor ihr Gesicht hielt, meinte sie fast, eine Bewegung zu erkennen, ein Zittern, das das kleine Ding durchlief. Elsa schaute durch ihre Tränen lächelnd auf. Am Horizont erhob sich die Sonne, und ihr feuriges Strahlen vermischte sich mit dem des Lichtermeeres und der Laternen. Diese Nacht hatte viele das Leben gekostet, und niemals würde sie diese Schuld begleichen können. Doch jetzt war Weihnachten, und die ganze Welt war Licht, und sie wusste, dass neues Leben folgen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)