Spiel ohne Limit von Lady_of_D ================================================================================ Kapitel 64: ------------ Kaum war sie in den Fahrstuhl gestiegen, klingelte ihr Telefon. Sie war gerade auf dem Weg ins Chefbüro, nachdem Kaiba zweimal den Termin geändert hatte (das macht er doch mit Absicht!) und Rin deshalb den ganzen Tag über in der Firma zubringen musste, dass ihre Laune nicht gerade auf dem besten Stand war als das Handy bereits zum zehnten Mal zu klingeln begann. Grummelnd nahm sie es aus der Hosentasche. Wie lange will mich Industrial Illusions noch auf die Palme bringen? Gestern hätte sie beinahe abgenommen. Aber auch nur fast, und nur, weil sie denjenigen auf der anderen Leitung gehörig die Meinung sagen wollte. Wer rief schon sechs Uhr morgens an und erwartete auch noch, dass der Angerufene ans Telefon ging? Rin, die gerade von einem weniger verworrenen Traum geweckt worden war und panisch das Bett nach ihrem Smartphone abgesucht hatte, da sie glaubte, es wäre etwas Schlimmes passiert, hätte beinahe ihr Handy an die Wand geknallt, nachdem das Zeichen für >unbekannte Nummer< erschienen war. Bereits den Daumen auf den roten Knopf gelegt, hielt sie inne. Das war keine unbekannte Nummer. >Mutter< stand überdeutlich auf dem Bildschirm, dass Rin den Daumen vom Display weg bewegte. Sie hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder ignorierte sie den Anruf und wartete, bis ihre Mutter tatsächlich vor ihrer Tür erscheinen würde oder sie biss jetzt in den sauren Apfel. Wenn das Gespräch in eine unangenehme Richtung abdriftete, hatte Rin immer noch die Ausrede, dass sie noch arbeitete und könnte das Telefonat vorzeitig beenden. Tief eingeatmet drückte sie auf annehmen. Ihr wurde jetzt erst so richtig bewusst, dass sie den Anruf viel zu lange hinausgezögert hatte. Vielleicht war es doch keine gute Idee, ausgerechnet heute mit ihrer Mutter zu telefonieren. Yukiko Yamamori war nicht gerade die Art von Gesprächspartner, die man sich nach einem zehnstündigen Arbeitstag voller unterqualifizierter Duellstatistiker und eingebildeter Analysten wünschte. Allen voran stand morgen ihr nächstes Duell gegen Masato Kaeji an, das sie auf keinen Fall vermasseln durfte. Wong und Kaeji hatten bisher keinen einzigen Sieg einfahren können, dass Rin in die engere Auswahl um das finale Ticket gekommen war. Wenn sie alles so umsetzen konnte, wie sie geplant hatte, würde nach diesem Duell niemand mehr die junge Frau unterschätzen. Dann konnte sie sich ganz auf Hii Yuta konzentrieren, der bisher jeden seiner Gegner ausgemerzt hatte. Seine letzten Worte, nachdem er einen haushohen Sieg gegen Vivian Wong eingefahren hatte, waren direkt an Rin gerichtet gewesen: Diesmal würde er sich nicht zurücknehmen. Dabei hatte er nicht gelächelt, nur die Augen hatten stechend in die Kamera gefunkelt. Nein, jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um Diskussionen über die Zukunft zu führen. Rins und Yukiko Yamamoris Vorstellungen waren zu weit voneinander entfernt, dass es nur wieder zu hitzigen Streitereien käme, welche keine der beiden Frauen gebrauchen konnten. Um ihre Meinung zu ändern, war es jedoch zu spät. Das Telefon ans Ohr gehalten, grüßte sie höflich - wobei ihre Lippen zu einem einzigen geraden Strich wurden, dass ihr ehemaliger Chef aus dem Callcenter wohl eine Predigt über Ausstrahlung am Telefon gehalten hätte. Ein Glück liegen diese Zeiten hinter mir. "Rin, Schatz, wie schön", drang die hohe Stimme ihrer Mutter aus der anderen Leitung. Sie schien den kühlen Unterton ihrer Tochter nicht gehört, und wenn, dann hatte sie ihn schlichtweg ignoriert. "Wie geht es dir? Die Tage schlägt wieder eine fiese Grippewelle zu, ich hoffe, du hast immer schön deinen Schal um-" Erleichtert atmete Rin aus. Ihre Mutter klang fröhlich, das war immer ein gutes Zeichen. Die Fahrstuhltür öffnete sich und Rin betrat die Chefetage. "Mach' dir keine Gedanken", entgegnete Rin - eine Standarderöffnung ihrerseits. Es schadete nie, ihre Mutter darauf aufmerksam zu machen, dass Rin auf sich aufpassen konnte. Zudem passte die Floskel in fast jeden Satz ihrer Mutter, dass die junge Frau gar nicht anders konnte als ihr immer wieder auf dieselbe Weise zu antworten. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, das sich augenblicklich auflöste, als das Büro in Sichtweite erschien. Sie war wieder einmal zu früh dran. Eine halbe Stunde, um genau zu sein. Es war keine Absicht, es passierte einfach, dass Rin schon selbst die Augen verleierte, wenn sie auf die Wanduhr gegenüber der Tür sah. Abgesehen davon, dass Kaiba nie früher als zur verabredeten Zeit die Bürotür öffnete. Er war pünktlich auf die Minute, dass Rin sich manchmal vorstellte, wie er mit verschränkten Armen vor der Brust einfach nur im Raum stand und den kleinen Zeiger der Wanduhr beobachtete, bis dieser auf die Sechs umschwenkte. So etwas kam dabei heraus, wenn Rin nicht wusste, womit sie sich die Zeit totschlagen sollte. Den Blick abgewandt steuerte sie eines der Seitenfenster an. Die Glasscheiben reichten vom Boden bis an die Decke, dass man eine perfekte Aussicht auf die Innenstadt hatte. "Ich hoffe, ich störe dich nicht", sagte Yukiko ihren klassischen Spruch, der das Gespräch nicht selten in unangenehmere Richtungen lenkte. Diesmal jedoch war ihre Stimme weich, weniger anklagend als sonst. "Ehrlich gesagt", entgegnete Rin und fuhr sich durch die offenen Haare, "bin ich noch auf Arbeit. Zurzeit ist es etwas stressig-" "Achso", ihre Mutter machte eine längere Pause, "obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was an deinem Job so anstrengend sein soll." Da ist sie wieder. Mutter wie sie leibt und lebt. Rin hatte sich schon gefragt, wann die alte Leier ihrer Mutter wieder losginge. Jetzt brauchte sie nur noch darauf warten, dass Yukiko um die alten Zeiten trauerte - als Rin noch brav und gehorsam gewesen war und aus ihr sicher eine Ärztin oder Anwältin hätte werden können. "Aber ich will dich nicht lange stören, Rin." Wie jetzt? Yukikos Stimme klang versöhnlich, geradezu schüchtern, als meinte sie, was sie gesagt hatte. "Ich würde mich gerne mit dir in Ruhe unterhalten. Aber nicht am Telefon. Irgendwann demnächst, wenn du Zeit hast. Du warst lange nicht mehr bei uns Essen. Vielleicht koche ich uns Sukiyaki, das gab's schon lange nicht mehr." "Sobald ich Zeit habe, gerne", erwiderte Rin. "Wie schön", Yukikos Stimme klang geradezu entzückt, "es gibt so Vieles zu bereden. Es wäre schön, wenn du bald Zeit fändest." Nachdem Rin aufgelegt und das Smartphone zurück in die Hosentasche gesteckt hatte, ließ sie noch einmal den Blick über die einzigartige Aussicht schweifen. Vielleicht - aber nur vielleicht - wollte ihre Mutter nicht über Rins - in ihren Augen - verkorksten Lebensplan reden. Sie erinnerte sich an die Unterhaltung mit Makoto; die Braunhaarige hatte ihr von dem Artikel erzählt, der neulich in einem der Frauenmagazine erschienen war. Dort hieß es, dass Rins vermeintliche Affäre von damals als Betrüger und Erpresser entlarvt worden war. Scheinbar hatte es eine Reihe von Rückmeldungen gegeben - hauptsächlich von Frauen, die den besagten Mann identifizieren konnten. Neben Rin hatte es mehrere hunderte Opfer gegeben, die mit derselben Masche hereingelegt worden waren. Die junge Frau hatte keine Ahnung, wie der Kerl oder all diese unschuldigen Frauen ausfindig gemacht worden waren. Dabei hatte sich die PR-Abteilung der Kaiba Corporation daran gehalten und kein Wort über Rins Geschichte verloren. Der Täter selbst war es schließlich, der ein mehrseitiges Statement abgegeben hatte, indem er die Gerüchte über Rin und die vermeintlichen Nacktfotos als Lüge entlarvte. Rin konnte es nicht so wirklich glauben. Nach all den Jahren hatte dieser Mistkerl nun doch seine Strafe bekommen? Wie war es der Polizei überhaupt gelungen, diesen Mann aufzuspüren? Als Rin kurz vor dem Schulabschluss den Mut gefasst und mit Luminas Unterstützung Anzeige erstattet hatte, war sie von den Beamten bloß müde belächelt worden. Dass solche Betrügereien ständig passierten und Rin hätte vorsichtiger sein müssen - mehr hatten sie nicht zu sagen gehabt, dass Rin selbst einen Schlussstrich ziehen musste, ohne die Chance bekommen zu haben, jemals in Frieden damit abschließen zu können. Die junge Frau lehnte sich an die Fensterscheibe. Das kühle Glas an ihrem Gesicht tat gut. Kaiba Corps. gesamtes Firmengebäude war von all den technischen Geräten und dem stetigen Menschentrubel so aufgeheizt, dass nicht einmal die Klimaanlagen etwas dagegen unternehmen konnten. Möglicherweise waren die Meldungen zu ihrer Mutter durchgedrungen; Rin erschien dieser Gedanke nicht abwegig. Seitdem die junge Frau aus dem Haus war, verbrachte Yukiko viel Zeit damit, die gesamte Bandbreite an Magazinen und Zeitschriften durchzublättern. Wenn selbst die Klatschpresse Rins Unschuld beteuerte, dann würde ihre Mutter nicht länger dagegen steuern können. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen, wollte die Anschuldigungen der letzten Jahre bereinigen. So sanft hatte Yukiko schon lange nicht mehr mit ihrer Tochter gesprochen, und Rin gefiel der Gedanke, dieses Kapitel ihrer Vergangenheit endgültig begraben zu können. Es hatte stets wie ein Damoklesschwert über den beiden gehangen. Nach dem ganzen Trubel rund um den Worldcup würde sich Rin mit ihrer Mutter zusammensetzen - das nahm sie sich fest vor. Langsam wandte sie sich vom Fenster ab. Noch hatte sie Zeit, bis der junge Firmenchef aus seiner Festung heraus marschiert käme. Bei dem Gedanken überkam sie ein leichtes Schmunzeln. Sie stützte sich von der Glasscheibe ab und ließ sich im Wartebereich nieder. Sie war die einzige im Flur. Nicht einmal die Sekretärin passte sie mehr ab. Nur noch sie und eine handvoll Mitarbeiter, die zur Spätschicht verdonnert worden waren und sich lediglich in ihrem Arbeitsbereich aufhielten, dass Rin sie nie zu Gesicht bekäme. Geradezu verlassen wirkte die Kaiba Corporation. Nur die milchigen Glasscheiben auf der gegenüberliegenden Seite ließen sie immer wieder vergegenwärtigen, dass Rin nicht alleine war - wenn sie auch felsenfest davon überzeugt war, dass er ihr keine Sekunde Beachtung schenkte. Ist es dir lieber zu denken, er würde dich die ganze Zeit anstarren? Ohne es zu merken schüttelte Rin den Kopf und legte ihren Trenchcoat ab. Aus der Seitentasche zog sie ein kleines schmales Buch heraus, in dem sie das Foto aus ihren Zeiten im Maidcafé aufbewahrte. Sie hatte es wegen Mokuba mitgebracht, nach mehrmaligen Diskussionen darüber, dass er sich nicht vorstellen könnte, dass sich Rin jemals dazu herablassen würde. Gestern Abend war sie unter ihr Bett gekrochen und hatte das Foto aus einer ihrer Erinnerungskisten hervorgeholt. Sie hoffte, den Schwarzhaarigen damit zufriedenstellen zu können und das Thema endlich vom Tisch zu haben. Es war schon peinlich genug darüber zu reden. Das Bild auch noch den ganzen Tag in ihrem Trenchcoat mit herum zu schleppen und dabei ständig daran zurückdenken zu müssen, wie sie im extra knappen Kleidchen umher gehüpft war - es war eindeutig zu viel für Rin, die genug anderes um die Ohren hatte als sich über eine Monsterkarte aufzuregen. Zu allem Übel war der Jüngere der Kaiba Brüder zu einem Außeneinsatz gerufen worden, dass Rin ihn nicht zu sehen bekommen hatte. Jetzt hatte sie dieses dämliche Foto und fragte sich, weshalb sie sich das eigentlich hatte antun müssen. Dann hat Mokuba eben Pech. Ich werde mir irgendwas einfallen lassen müssen, damit er mir damit nicht mehr in den Ohren hängt. Vielleicht muss ich nur- "Dass du wirklich noch Zeit zum Lesen findest..." Die Stimme ließ sie hochfahren. Kaibas plötzliche Präsenz hatte sie so erschreckt, dass sie das Buch mitsamt Foto fallen ließ. Rin sah zu dem aufgeschlagenen Buch. Kurz bevor es den Boden erreicht hatte, war das Bild aus einer der Seiten hinaus geflattert. Klasse. Das hatte mir gerade noch gefehlt Sofort bückte sich die junge Frau herunter. Das Foto lag auf dem Rücken, dass nur das Datum der Aufnahme zu lesen war. Sie schnappte sich das Stück Papier. Ein Schatten bedeckte ihr Gesicht. Es war Kaiba. Er hatte sich ebenfalls herunter gebeugt und griff nach dem Buch. Seine Augen wanderten über den Titel. "Dem Glück auf der Spur. Dein Geschmack lässt zu wünschen übrig." "Das ist nicht mein Buch." Wieso rechtfertige ich mich? "Du schienst mir sehr vertieft darin." Ausgerechnet darüber wollte er mit ihr reden. Sonst war er nie der Typ für lockeren Smalltalk. Das Timing hätte nicht unpassender sein können. "Ich-", Rin sah zu ihrer Hand herunter, "brauchte das Buch nur als sicheres Transportmittel." "Für ein Foto." "Mokuba wollte es unbedingt sehen." Warum habe ich das gesagt?! Sobald der Name seines kleinen Bruders gefallen war, bemerkte selbst Rin, wie etwas in dem jungen Firmenchef zu arbeiten begann. Wie er es als seine Pflicht sah, über sämtliche Belange des Jüngeren informiert sein zu müssen. Innerlich seufzend resignierte sie. "Er war bloß neugierig, wie ich zu meinen weißen Drachen gekommen bin." "Ich dachte, ich hätte ihm deutlich gemacht, dass er die Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken soll", der junge Firmenchef verschränkte die Arme vor der Brust. "Schon in Ordnung", entgegnete Rin, die das Gefühl hatte, den Jüngeren stellvertretend in Schutz nehmen zu müssen, "wir haben uns bloß ein wenig unterhalten und sind dabei zufällig auf dieses Thema gestoßen." "Er kann es einfach nicht lassen", murmelte Kaiba. Rin wusste, dass der junge Firmenchef es nicht gerne sah, wenn sich Mokuba mit den Angestellten seiner Firma verstand. Auch wenn er wohl bis zu einem gewissen Grad resigniert hatte, blieb das Thema ein strittiger Punkt, den Rin von beiden Seiten zu spüren bekam. Während Seto Kaiba durchsickern ließ, dass er keinen Kontakt zwischen seinen Duellanten und seinem schwarzhaarigen Wuschel wünschte, ließ sich der Jüngere der Kaiba Brüder öfter darüber aus, wie ernst sein großer Bruder das Verhältnis zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten nahm. Wenn Mokuba wüsste- "Mein kleiner Bruder hat dich ganz schön weich gekriegt", sagte der junge Firmenchef schließlich, wobei ihm die Worte ein schiefes Lächeln entlockten. "Er weiß zumindest, wie man beharrlich ist. Ich kann es ihm nicht verübeln. Die Geschichte hat mir bisher keiner abgenommen." Rin musste schmunzeln. Kaibas Blick sprach Bände. Das umgedrehte Foto in der Hand hatte sein Interesse geweckt - und gerade versuchte er seinen Bruder als Ausrede vorzuschieben. Möglich, dass er sich schon mal gefragt hatte, wie Rin zu ihren Karten der Rarestufe zwei gekommen sein könnte. Schließlich wusste der mächtige CEO, dass Rin nicht zu den oberen Schichten zählte, die einfach so hunderttausende von Yen hinblättern konnten. Sie kam nicht umhin, sich über den jungen Firmenchef zu amüsieren, dessen eiskalter Blick nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie ihn neugierig gemacht hatte. Allein die Vorstellung war so verlockend, dass ihr Ärger über das Foto verflog. "Aber ich wollte diese Karten um jeden Preis." "Das kann ich mir denken", entgegnete er in jenem überlegenen Ton, der so typisch für ihn war. Er hielt ihr das Buch hin. Als Rin es entgegen nahm, hatte sie Mühe, dabei ihrer beider Hände nicht zu berühren. Vorsichtig hielt sie es an dem Buchrücken fest; sie klappte das Buch auf. "Dabei war es einfacher als die meisten denken. Mit Oberflächlichkeit lässt sich eben immer gutes Geld verdienen." Langsam ging das Fotos zurück in die Seiten. Ihre Worte kamen nur noch als leises Murmeln herüber. "Als ob es so schwer sei, gut auszusehen. Jeder kann mit zwei Tonnen Make Up als Fashionmodel auftreten." Sie wusste nicht, warum die Worte ihren Mund verlassen hatten. Noch dazu gegenüber ihres Bosses, den es wohl am wenigsten interessierte, was Rin zu sagen hatte. Das Fotos hineingelegt war das Bild einer sechzehnjährigen Rin zu sehen. Die blonde, wilde Mähne, dazu eine fette Schicht Schminke, ließen sie alles andere als kindlich aussehen. Die Aufnahme zeigte die junge Frau bis zu den Hüften, dass ihr Miniröckchen verborgen blieb. Natürlich hatte sie noch weitere Bilder, auf denen Rin in voller Magierinnenmontur abgelichtet worden war, aber das schien ihr gegenüber Mokuba nicht angebracht. Außerdem war der schwarzhaarige Wuschel noch eindeutig zu jung für solch aufreizende Fotos. Ein völlig fremder Mensch begegnete ihr, sobald sie das Bild betrachtete. Man musste schon genau hinsehen, um Ähnlichkeiten zwischen ihrem eigentlichen Aussehen und dieser künstlich geschaffenen Maskerade zu finden. Für Sekunden lag das Foto frei, - Sekunden, in denen sich die Augen des jungen Firmenchefs kaum merklich geweitet hatten - dann klappte Rin das Buch zu. Zurück in den Trenchcoat verstaut, nahm sie ihr Kleidungsstück vom Sofa. "Leider ist das Ergebnis des Umkehreffekts nicht immer genauso zufriedenstellend." Kaibas Stimme brannte sich in ihren Kopf. Verdutzt richtete sich auf, doch der junge Firmenchef hatte sich bereits abgewandt und steuerte das Chefbüro an. Wie meint er denn jetzt das? Wortlos folgte sie ihm. Soll das heißen, mein Aussehen lässt zu wünschen übrig? War ja klar, dass er wohl lieber auf solche Frauen steht. Männer sind alle gleich. Ihr Blick schweifte nach unten. Die Hände zur Faust geballt hasste sie es, dass sie sich von so einem Satz aus der Bahn bringen ließ. Wie alt bist du, Rin? Zwölf?! Fang' jetzt nicht deswegen an, Komplexe zu kriegen! Das wäre ja lächerlich. Ohne Umschweife ging es in den Fahrstuhl. Rin lockerte die Fäuste. Vielleicht meint er damit auch etwas anderes. Als ob Kaiba damit hinterm Berg halten würde, wenn er etwas an mir auszusetzen hätte…mal davon abgesehen, dass wir Sex hatten und er sicher nicht nötig haben wird, mit seinen Angestellten rumzuvögeln. Kaiba war der Letzte, der sich in das Innere des Lifts hinein gezwängt hatte. Er drückte einen Knopf und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Ich hab mich ihm schließlich nicht aufgedrängt Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, keinen Gedanken mehr an jene Nacht zu verschwenden. Sobald die Fahrstuhltüren zu gingen und Rin von Kaibas Statur geradezu in Beschlag genommen wurde, kehrten die Bilder von ganz allein zu ihr zurück. Sein Körper so nahe an ihrem war nicht gut für ihre Nerven. Seinen Duft so intensiv um sich zu haben und keine Chance, dem zu entkommen, machten die Fahrtsuhlfahrt zu einer geistigen Folter. Ein leichter Hauch von Frische umwehte ihn, die Haare waren noch nicht ganz getrocknet, dass er wohl vorher unter der Dusche gewesen sein musste. Es war Dienstag und Seto Kaiba hatte sicher die Badeanstalten seiner Firma aufgesucht. Von Mokuba hatte sie den Grund erfahren, weshalb die Schwimmhalle Dienstags und Freitags zwischen zehn und vierzehn Uhr gesperrt wurde; anfangs war das Schwimmbecken eigens für die Familie Kaiba eingebaut worden - zum Abschalten und der sportlichen Betätigung. Nachdem der Jüngere der Kaiba Brüder die alleinige Nutzung als Verschwendung angesehen hatte, wurde die Halle erweitert und für einen ausgewählten Personenkreis freigegeben. Rin hatte sich schon immer gefragt, wie der junge Firmenchef seinen durchtrainierten Körper aufrechterhalten konnte, wenn er von morgens bis abends nur in der Firma war. Die Vorstellung von Seto Kaiba, der mehrere Bahnen umrundete, dabei seinen Rücken durch streckte, die Schultern anspannte, die Oberarme durch das Wasser zog… nicht gerade die Vorstellung, die ihr gut tat; das wusste sie. Aber wenn kaum eine Hand zwischen die beiden passte, war es unmöglich, seine Gedanken unschuldig zu lassen. Im Geiste atmete sie tief ein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Kaiba gar nicht seinen weißen Mantel anhatte. Er trug ein dunkelblaues Hemd, von dem die obersten zwei Knöpfe ausgespart worden waren, dazu die schwarze Hose und einen passenden silbernen Gürtel. Rin wusste nicht, wieso, aber sie hatte eine Schwäche für Gürtel. Das Geräusch, das er auslöste, wenn er aus den Schlaufen gezogen wurde, liebte die junge Frau. Schau bloß nicht auf seinen Gürtel. Ihre Augen wanderten nach oben. Kaiba hatte sie bereits mit seinem eiskalten Blick ins Visier genommen. Ihre jadegrünen Seelenspiegel erwiderten ihn. Das passierte zuweilen öfter, wenn er und Rin mit dem Fahrstuhl fuhren. Möglich, dass ihre Augen seinen Fixpunkt bildeten. Wo hätte der junge Firmenchef auch sonst hinsschauen können? Genau wie Rin blieben dem mächtigen CEO nicht viele Optionen. Wie sie in seine tiefblauen Augen blickte, wurde ihr erstmals bewusst, dass sie einem Mann noch nie so lange in die Augen geblickt hatte wie Seto Kaiba. Sie war immer zu schüchtern gewesen - oder zu feige. Jetzt gerade in die Augen des Mannes zu sehen, dessen Blicke als angsteinflößend galten, grenzte für Rin schon fast an Ironie. Dabei ließen Kaibas Blicke sie nicht kalt. Sorgten eher dafür, dass Hitze sich in ihr ausbreitete. Ihr Magen zog sich zusammen. Ob Sex im Fahrstuhl wirklich so geil ist, wie man es sich vorstellt…? Oh Mann, ich muss definitiv aufhören zu denken. "Das letzte Duell", Kaibas Stimme brachte sie dazu, sich zu konzentrieren. Rin konnte sich nicht erinnern, wann er sie jemals im Fahrstuhl angesprochen hatte. Bevor sie die geheimen Anlagen erreichten, bevorzugte es der junge Firmenchef zu schweigen. Dass er sie heute bereits zweimal angesprochen hatte, grenzte an ein Wunder. Obwohl beide in der Lage waren eine ordentliche Unterhaltung zu führen, sprachen sie nicht oft miteinander. Zumindest nicht über Themen, die nichts mit ihrer gemeinsamen Arbeit zu tun hatten. Ohne seinen Blick von ihren Augen abzuwenden, sagte er: "Derart die Fassung zu verlieren…das sieht dir gar nicht ähnlich." Sie blinzelte ihn an. "Ich habe mich etwas hinreißen lassen", erwiderte Rin, "das wird nicht wieder vorkommen." "Und das alles wegen einer billigen Monsterkarte." Jetzt fängt Kaiba auch noch damit an! Was ist denn hier nur los? "Hast du etwa ein Problem mit Magierkarten?" "Nein, überhaupt nicht. Die Karte an sich stört mich nicht, ich-" Sie hielt inne. Ihre Augen verengten sich, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen (sie wusste noch nicht, wie sie ihr Lächeln einordnen sollte). "Kann es sein, dass du mich gerade ausfragst, und dass deine Fragen etwas mit deinem System zu tun haben?" Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. So abwegig dieser Gedanke war - dass er nur mit ihr Plaudern wollte, konnte er ihr nicht weismachen. Seine Mundwinkel begannen zu zucken. "Möglich", antwortete er lediglich. Am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt - wenn sie dabei nur nicht Kaibas Oberkörper streifen würde. "Hm", Rin wagte sprichwörtlich einen Schritt nach vorne, "denkst du, ich verrate dir so einfach etwas über mein Privatleben?" Ihr Lächeln wurde breiter. "Worauf willst du hinaus", entgegnete der Chef der Kaiba Corporation. "So eine Unterhaltung sollte immer auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn du also etwas über mich wissen willst, möchte ich im Gegenzug auch eine Frage stellen." "Ganz schön frech", Kaiba durchdrang sie mit seinen Augen. Dabei wirkte er nicht halb so gefährlich wie an manch anderen Tagen. "Wer sagt mir, dass deine Informationen mir von Nutzen sein werden?" "Niemand. Darum geht es doch bei so einer Unterhaltung…oder hast du Angst, meine Frage könnte dich brüskieren?" Rin ließ nicht von seinen Seelenspiegeln. So tobend wie das Meer, wurden sie für Rin zu einem immer stärker werdenden Magneten. "Also schön", sagte er schließlich. Die junge Frau hätte nicht verblüffter sein können. "Sei aber vorsichtig. Die falsche Frage könnte dich womöglich einiges kosten." "Denkst du, ich würde eine derart persönliche Frage stellen?" Sie schüttelte den Kopf. "Ich verspreche dir, meine Frage ist deiner gleich gestellt." "Gut." "Warum hast du nach dem Battle-City-Turnier aufgehört dich zu duellieren?" Sein Blick verriet keine Emotionen. Er tat einen tiefen Atemzug und drehte sein Gesicht zur Wand. "Das ist deine Frage?" "Ich weiß, dass du im Viertelfinale gegen Yugi Muto verloren hast. Was ich nur nicht begreife, ist, warum du danach beschlossen hast, aufzuhören. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du jemand bist, der nach einer Niederlage einfach das Handtuch wirft." Seine Mundwinkel wurden zu einem einzigen geraden Strich. "Wer sagt, dass ich aufgehört habe, mich zu duellieren?" Jetzt war es Rin, welche die Augen aufriss. "Ich habe einfach keine Lust, mich mit diesem schwachen Gesindel von Duellantenabschaum abzugeben - von denen kann mir keiner das Wasser reichen. Es wäre pure Zeitverschwendung, selbst wenn ich noch so viele Titel einfahre." Sie hörte es knacken. Rin vermutete, dass er die Fäuste geballt hatte, traute sich nur nicht, den Blick von ihm abzuwenden und nachzusehen. "Es gibt nur eine Person, die es Wert ist, gegen sie anzutreten…und sobald ich mein neues System an den Start gebracht habe, werde ich mich endlich für die Blamage von vor sechs Jahren rächen können." Er hatte so ruhig gesprochen, dass es seinen Worten zusätzlich Gewicht verlieh. Die junge Frau konnte sich vorstellen, was es bedeutete, von einer bestimmten Person besiegt worden zu sein. In Seto Kaibas Karriere war Yugi Muto der erste und einzige, der ihm einen Kratzer in seine ungeschlagenen Historie verpassen konnte. Für jemanden, der es gewohnt war, zu gewinnen, sicher eine der schwersten Lektionen, die er erteilt bekommen hatte. Seine Worte beruhigten sie - auf unerklärliche Weise. Mit einem leichten Ruck kam der Fahrstuhl zum Stehen. Die Lider gesenkt unterdrückte Rin ein Lächeln. "Ich kann es nicht ausstehen, das schwarze Magiermädchen auf dem gegnerischen Feld zu sehen", sagte sie und wartete Kaibas nächsten Schritte ab, nachdem der Lift seine Türen geöffnet hatte, "nicht nur, dass sie mich an alte Zeiten erinnert, die ich gerne verdrängen möchte." "Du sagtest, du siehst sie nicht gerne auf der gegnerischen Seite", erwiderte der junge Firmenchef, der Licht in den Flur gebracht hatte. Ihm entgeht aber auch nichts "Es ist schon eine Weile her, da gehörte mir diese Karte." Ihr Vordermann hielt inne. "Irgendein Pack von damals hatte das schwarze Magiermädchen in seiner Kartenliste", Rin erinnerte sich beim besten Willen nicht, welche. "Was könntest du mit einer Karte wie dieser anfangen?" "Naja", Rin setzte ein breites Grinsen auf, "wenn dein Gegner mit einem Magierdeck spielt, kann das eine sehr amüsante Sache sein." "Inwiefern", entgegnete Kaiba, an dessen Tonfall herauszuhören war, dass >amüsieren< nicht in seinem Wortschatz zu finden war. "Dann", antwortete Rin, "wenn ein weißer Drache mit eiskaltem Blick den ersten Magier erledigt hat. Auf einen schwarzen Magier folgt nicht selten ein zweiter", Rin hob Zeige- und Mittelfinger an, "der wiederum mithilfe einer Zauberkarte den weißen Drachen erledigt. Sobald der richtige Augenblick gekommen ist und dunkles Magiermädchen gegen den schwarzen Magier antritt, geht der Spaß erst richtig los." "Ich kenne die besondere Fähigkeit des Monsters", Kaiba stand Rin direkt gegenüber. Seine Augen sahen auf sie hinab - funkelnd, wie ein Aquamarin, schoss es Rin durch den Kopf. "Sie bekommt dreihundert Punkte für jeden schwarzen Magier auf dem Friedhof", sein herablassender Blick galt nicht ihr. Wieder einmal blieben ihr Kaibas Gedanken verschlossen. "Damit bleibt sie schwächer als der dunkle Magier, selbst mit einem Weiteren auf dem Friedhof." "Du hast eine Sache außer acht gelassen", säuselte Rin, die sich an die Duelle mit ihrer Freundin erinnerte. Die Hasstiraden, sobald die junge Frau ihren Joker ausgespielt hatte. "Schwarzes Magiermädchen bekommt nicht nur für jeden schwarzen Magier zusätzliche Angriffspunkte. Da gäbe es noch den schwarzen Magier des Chaos." Kaibas Augen weiteten sich. Dann schüttelte er den Kopf und lachte auf. "Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen." Seine Worte schienen an sich selbst gerichtet, bevor er sich wieder Rin zuwandte und die Hände in die Hüften stemmte. "Ich vergesse manchmal, wie boshaft du sein kannst." Perplex sah sie ihn an. Seine Direktheit traf sie wie ein Schlag. "Das war keine Beleidigung, Yamamori", fügte der junge Firmenchef hinzu und drehte sich um, "deine vielschichtigen Seiten verblüffen mich einfach immer wieder." Sie vergaß beinahe weiterzulaufen, so sehr irritierten sie seine Worte. Dass er so von ihr dachte - womöglich, wenn Rin so darüber grübelte, hatte er wohl recht. Die junge Frau eilte ihm hinterher. Durch die große Tür, die in das Zentrum seiner geheimen Anlagen führte. Von da ging es weiter durch eine Nebentür, die weitere Räumlichkeiten mit komplexer Technik bereithielten. Sobald die Pforten von ihnen durchschritten waren, legte sich bei den beiden ein Schalter um. Rin, die soeben noch überrascht von Kaibas lockerer Art war, merkte nicht, wie sie ebenfalls die Hemmungen ablegte. Dieser Raum, der von der Außenwelt vollkommen abgeschottet war, stellte Rin fast auf dieselbe Stufe wie den jungen Firmenchef. Wenn Kaiba dieses >fast< auch überdeutlich zum Ausdruck brachte. "Ich habe deiner Disc ein Update verpasst", sagte Kaiba, während Rin ihren Trenchcoat über den Schrank mit den diversen Ersatzteilen legte, "du hast jetzt Zugriff auf siebzig Prozent meines virtuellen Programms. Ich will sehen, was es mit dem System während eines Duells anstellt." "Sagtest du nicht, dass fünfzig Prozent vollkommen ausreichen?" "Ich habe meine Meinung geändert." "Etwa wegen der gestrigen Duellsimulation?", säuselte Rin und lief langsam in Richtung des jungen Firmenchefs. Der mächtige CEO hatte einige Mikrochips in den Händen, die er in seine eigene DuelDisc steckte. Rin wusste nicht, wofür sie gut waren - Kaiba erklärte ihr lediglich das Nötigste. Dabei verstand ihn die junge Frau sehr gut. Vor einigen Tagen hatte er ihr erst eine Einführung in die Grundlagen seiner Arbeit gegeben. Rin hatte gespannt zugehört. Die vielen Begriffe, mit denen er um sich geworfen hatte, erinnerten sie an ihre liebsten Science-Fiction-Serien; als wären die Phantasien aus dem Anime direkt in Kaibas System eingeflossen. Ihre gierigen Blicke, die ihrer Bewunderung gegenüber dieser grenzenlosen Technologien galten, hatten dem Chef der Kaiba Corporation ein Lächeln entlockt. Dabei wollte sie ihm keine Bewunderung zukommen lassen, scheiterte jedoch immer wieder, sobald er von seinem Projekt zu sprechen begann. Auf Rins Frage schwieg der junge Firmenchef. Die junge Frau hatte nichts anderes erwartet und lächelte breit. "Mit ist schon klar, dass du Einblick in meine Aktivitäten, die meine DuelDisc betreffen, hast…und sicher von Zeit zu Zeit herauszufinden versuchst, wie ich diese Effekte hinbekomme…mir machst du eben nichts vor." Den Blick an die Decke bemerkte sie nicht, wie Kaiba sich umgedreht hatte. Zwei starke Arme hatten Rin binnen Sekunden an die Wand gedrückt, dass die junge Frau keine Zeit zu reagieren hatte. "Hm", Kaiba sah auf sie herab. Ihr Gesicht lag zwischen seinen Händen. Einzelne Strähnen seines Ponys berührten ihre Stirn. Rin hielt den Atem an. Seine Augen so herausfordernd über sich zu haben, ließen ihren eigenen Blick schwach werden. In Rin stieg ein Gedanke auf. Kaiba, dessen Atemzüge Rin dazu bewegten, ebenfalls wieder mit atmen anzufangen, ließ die Arme sinken. Sein Gesicht drehte er weg von ihr, dann lief er zurück in Richtung Tür. "Das werden wir ja sehen", sagte er abschließend, bevor er seine Arbeit fortsetzte als sei nichts gewesen. Schon das zweite Mal, dass sich Rin eingebildet hatte, er würde sie küssen. Sie ärgerte sich, es auch nur für einen Moment angenommen zu haben. Alles, worüber sie nachdenken sollte, war die Arbeit und nicht irgendwelche Annahmen, die sie sich bei dem jungen Firmenchef doch eigentlich sparen konnte. Die Miene zu Eis erstarrt folgte sie Seto Kaiba - das einzig Richtige, das sie im Moment tun konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)