Charmante Courage von Varlet ================================================================================ Kapitel 9: Shuichis erster Fall: Therapeut ------------------------------------------ Laura saß mit verschränkten Armen im Wagen ihres Partners und beobachtete den Verkehr. Sie war vieles, aber nicht erfreut. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, wollte Shuichi wissen. Die Agentin seufzte leise. „Shuichi“, fing sie an. Es war das erste Mal, dass sie seinen Vornamen in einem Gespräch erwähnte. „Wir sind Partner, wir müssen einander vertrauen und uns auf den Anderen verlassen können.“ „Die Standpauke hast du mir schon einmal gehalten“, erwiderte Akai. „Ich dachte, wir waren uns einig, dass ich das Meeting leite.“ „Darum geht es doch nicht“, sagte Laura. „Ich hasse es, dass ich mich wie eine nörgelnde Frau verhalten muss, aber damit müssen wir beide jetzt leben. Als wir den Fall besprochen und die Aufgabenverteilung durchgeführt haben, wurden keine Videoaufzeichnungen erwähnt. Es ist gut, dass du daran gedacht und die Bänder bekommen hast, aber du hast es vor mir geheim gehalten. Das ist keine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Ganz im Gegenteil…es zeigt, dass bei uns etwas nicht stimmt.“ „Du solltest das nicht so düster sehen“, entgegnete Shuichi. „Ja, wir arbeiten zusammen, aber wir arbeiten auch erst seit einigen Tagen miteinander und müssen zuerst einen gemeinsamen Rhythmus finden. Wahrscheinlich hätte ich dir von den Videoaufzeichnungen erzählen sollen, aber als wir uns zum Austausch getroffen haben, wusste ich nicht, was auf ihnen drauf ist. Die Bänder selbst habe ich erst kurz vor unserem Meeting mit Pierce und Fries gesehen. Dadurch gab es für mich keine Möglichkeit dich zu informieren.“ „Oh“, gab Laura leise von sich. „Das wusste ich nicht.“ „Schon gut.“ „Die meisten Neulinge mit denen ich arbeite, waren nicht so wie du. Sie waren eher…zurückhaltender. Ich bin es wohl einfach nicht gewöhnt, dass mein Partner sich so aktiv in den Fall stürzt.“ „Du musst dich nicht rechtfertigen“, antwortete Akai und parkte seinen Wagen. „Wir sind da. Bevorzugst du ein bestimmtes Vorgehen?“ „Nein“, sie schüttelte den Kopf. „Wir werden ein ganz normales Gespräch mit Sullivan führen. Ich hoffe, dass er uns dabei helfen kann, herauszufinden ob Klein vor irgendwem Angst gehabt hat.“ Shuichi nickte. „Ich würde gern damit anfangen, dass er uns etwas über seine Arbeit im Allgemeinen erzählt und warum er Straftäter therapiert.“ Laura überlegte. „In Ordnung. Beginnen wir damit“, gab sie von sich. „Ich hab ihn vorhin bereits durch unser System laufen lassen. Er wurde nie straffällig und hatte immer ein gutes Verhältnis zu seinen Patienten. Seit vier Jahren betreut er ehemalige Strafgefangene und hilft bei ihrer Integration ins normale Leben zurück. Ich habe ein paar Therapeuten mit denen das FBI in der Vergangenheit zusammen gearbeitet hat, über Sullivan befragt. Sie halten große Stücke auf ihn.“ „Mhm…das klingt schon fast zu gut um wahr zu sein.“ Laura zuckte mit den Schultern. „Wir werden es ja sehen.“ Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. „Wenigstens liegt seine Praxis an einem Ort der nicht so sehr stinkt…“ Shuichi schmunzelte. „Ich frage mich, wie sich Klein gefühlt haben muss, wenn er einmal die Woche hier war.“ „Mhm?“ „Schau dir doch die Gegend an. Es gibt überall Läden und die Menschen kaufen ein, ohne richtig auf ihre Umgebung zu achten. Der Ort muss doch ein Paradies für Handtaschendiebe oder Kleinkriminelle zu sein. Oder er suggeriert den Sträflingen, dass sie es nie aus ihrer Gegend raus schaffen.“ „Denkst du jetzt nicht etwas zu negativ?“, wollte Laura wissen. „Ich bevorzuge das Wort realistisch.“ „Dann halt das…“ Laura schüttelte den Kopf. „Gehen wir rein“, fügte sie an und begab auf den Weg zur richtigen Hausnummer. Sie studierte die Schilder vor dem Eingangsbereich und drückte anschließend die Tür auf. „Das Konstrukt von Ärztehäusern hat doch einen gewissen Charme.“ „Und was für einen“, murmelte Akai. „Wenn der Augenarzt nicht weiter weiß, schickt er dich zum Seelenklempner…“ „Akai!“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und folgte ihr in die zweite Etage. Laura betätigte die Klingel und sofort sprang die Tür mit einem Summen auf. Sie sah sich um. Die Praxis wirkte hell und freundlich. Kaum dass sie durch die Tür trat, wurde sie von einer blonden Frau in Empfang genommen. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, wollte diese wissen und tippte bereits auf ihrem Computer rum. Laura zückte ihren Dienstausweis. „FBI Special Agent McKnight, das hinter mir ist mein Partner Agent Akai. Wir haben einen Termin bei Dr. Sullivan.“ Die junge Frau nickte. „Bitte nehmen Sie noch kurz im Warteraum Platz. Dr. Sullivan hat gleich Zeit für Sie.“ „Selbstverständlich“, gab Akai von sich und betrat das Zimmer mit dem Wörtchen Wartezimmer auf der Tür. Laura folgte ihm und nahm neben ihm Platz. „Es überrascht mich, dass du so ruhig geblieben bist.“ Shuichi beäugte den Raum argwöhnisch. „Sag mir nicht, dass du das die ganze Zeit über vor hattest…“ „Ich sag es nicht“, antwortete er. Laura schüttelte den Kopf. „Irgendwann treibst du mich noch ins Grab…“ „Hoffentlich nicht“, sagte Shuichi. Die Tür ging auf und die Sprechstundenhilfe kam hinein. „Agent McKnight? Agent Akai? Sie können jetzt in das Büro kommen. Hier entlang.“ Laura nickte und stand auf. Zusammen mit Shuichi wurden sie in die Räumlichkeiten geführt. „Setzen Sie sich doch.“ Dr. Sullivan stand von seinem Platz auf und schüttelte die Hände seiner Besucher. „Entschuldigung, dass Sie warten mussten.“ Laura lächelte. „Das verstehen wir natürlich“, sagte sie und setzte sich. „Vielen Dank, dass Sie Zeit für uns gefunden haben.“ „Aber selbstverständlich“, antwortete er. „Am Telefon klangen Sie so kryptisch. Ist etwas mit einem meiner Patienten?“, wollte er wissen. „Dazu kommen wir noch“, warf Shuichi ein. „Ich habe im Wartezimmer die Auszeichnung der Stanford University gesehen.“ Dr. Sullivan nickte. „Es ist lange her…aber ich schwelge gerne in alten Erinnerungen.“ Der Agent nickte. „Das versteh ich gut. Mir geht es genauso, auch wenn meine Ausbildung noch gar nicht so lange her ist.“ Dr. Sullivan schmunzelte. „Sie sind gut, Agent Akai“, fing er an. „Gemeinsamkeiten schaffen, bricht das Eis und verschafft einem eine Verbundenheit mit seinem Gegenüber.“ „Das war mein Plan“, sagte Shuichi lächelnd. „Aber bleiben wir ernst und kommen nun zum Wesentlichen. Stanford und New York sind ziemlich weit weg.“ „Das sagen mir viele. Ursprünglich komme ich auch aus Texas. Und bevor Sie gleich fragen werden: Ich habe mich hier niedergelassen, weil die Familie meiner Ex-Frau hier lebt. Wir hatten damals entschieden uns hier niederzulassen.“ Akai nickte verstehend. „Wollten Sie schon immer mit Straftätern arbeiten?“ „Ehrlich gesagt, nein. Ich habe angefangen mich auf Opfer von Post-traumatischen-Belastungsstörungen zu spezialisieren, als mich ein alter Freund bat, seinen Sohn zu therapieren. Der Junge war…schwierig und wurde mehrfach wegen kleinerer Delikte verurteilt. Entschuldigung, aber ich bin an die ärztliche Schweigepflicht gebunden. Ich kann Ihnen nicht mehr zu dem Fall sagen.“ „Schon gut, das reicht soweit“, antwortete Shuichi. „Und nachdem Sie mit dem Jungen fertig waren, kamen weitere Fälle?“ „Zunächst einmal ist eine Therapie ein laufender Prozess. Gerade bei Jugendlichen oder Erwachsenen ist es nicht damit erledigt, dass man seine Sitzungen abhält. Man muss es selbst wollen und viel Arbeit reinstecken. Auch ich als Therapeut höre nicht auf, wenn die Sitzung vorbei ist oder mein Feierabend eingeläutet wurde.“ Er räusperte sich. „Entschuldigung, aber manchmal glauben die Menschen, dass es ausreicht ein paar Termine wahrzunehmen um geheilt zu werden.“ „Das macht doch nichts. Kommen wir nochmal dazu zurück, wie Sie sich entschieden haben mit Straftätern zusammen zu arbeiten.“ Dr. Sullivan nickte. „Eigentlich so ähnlich. Ich musste vor Gericht meine Aussage machen und wurde danach von Verteidigern, aber auch von der Staatsanwaltschaft für verschiedene Gutachten angefordert. Da ich dadurch einen gewissen Ruf erwarb, wurde ich gefragt, ob ich nicht bei der Resozialisierung helfen will. Ich sagte zu. Und so habe ich mich auf dieses Fachgebiet spezialisiert“, erzählte er. „Mhm…“, gab Akai von sich. „Wie ist das für Sie? Ich mein, Sie müssen sich andauernd mit freigelassenen Straftätern auseinander setzen, ihnen zuhören und helfen, und dann dürfen Sie nicht einmal mit jemand anderem darüber sprechen.“ Dr. Sullivan sah ihn überrascht an. „Sowas ist nie einfach. Ich bekomme vorher immer die Akte eines neuen Patienten und habe genug Zeit um mich vorzubereiten. Nichts ist schlimmer, als wenn Ihnen jemand von seinen Gräueltaten erzählt und man verängstigt da sitzt. Man muss immer ruhig bleiben. Nur so verdient man sich den Respekt und kann mit der Therapie erst richtig beginnen“, sprach er. „Aber trotzdem bin ich jedes Mal aufs Neuste schockiert, wenn mir jemand von seinen Taten erzählt. Und wenn ich mit jemanden darüber reden muss, rede ich mit Kollegen. Jeder neue Patient unterschreibt eine Einverständniserklärung, dass ich seinen Fall mit einem anderen Facharzt besprechen darf.“ „Und dann kommt ein Urlaub auch gelegen, wenn man Mal abschalten will.“ Der Therapeut nickte. „Nur wenige von meinen Patienten bekommen meine private Nummer für den Notfall, aber ja, das Abschalten tut gut.“ Er musterte die beiden Agenten. „Verraten Sie mir jetzt, worum es geht? Ich nehme nicht an, dass Sie ein Gutachten oder einen Therapeuten brauchen.“ „Das stimmt“, gab Laura von sich. „Nur aus reiner Neugier, woran haben Sie das erkannt?“ „Sie haben mich zu meinem Leben befragt und wie ich arbeite. Die Antworten dazu könnten Sie auch über Dritte bekommen. Aus diesem Grund werden Sie Informationen über einen Patienten benötigen. Es tut mir wirklich leid, aber ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht und kann Ihnen nichts sagen, außer Sie bringen mir die schriftliche Erlaubnis des Patienten.“ „Das wird kaum gehen“, entgegnete Shuichi. „Er ist tot.“ Dr. Sullivan sah die Agenten schockiert an. Er schluckte. „Wer…um wen geht es?“, wollte er leise wissen. „Mason Klein.“ Der Therapeut wurde blass. „Oh Gott…wie…was…ich versteh…nicht…“, murmelte er. „Er hat keine Familie. Somit müssen Sie sich an keine Schweigepflicht halten. Wir sind hier um die Umstände seines Todes in Erfahrung zu bringen und um uns ein Bild von ihm zu machen.“ „Die Umstände?“, wollte Dr. Sullivan wissen. „Sie gehen davon aus, dass es Mord war?“ Shuichi sah ihn überrascht an. „Als Therapeut muss ich zwischen den Zeilen lesen. Und wenn das FBI hier ist, um mich zum Tod eines Patienten zu befragen, kann es sich nur um Mord handeln“, erklärte er. „Fangen wir doch noch einmal von vorne an“, sagte Laura. „Als Klein aus dem Gefängnis entlassen wurde, wurde er Ihnen zugewiesen. Ist das korrekt?“ „Ja.“ Dr. Sullivan tippte auf dem Computer. „Er kam das erste Mal am 17. November her. Dann haben wir geredet…nun ja, am Anfang hab eher ich geredet und so vertrauen aufgebaut, aber langsam hat er sich mir geöffnet.“ „Hat er Ihnen von seinen Ängsten erzählt?“ „Es kommt darauf an, was Sie unter Ängste verstehen. Aufgrund seiner Vergangenheit hatte er es nicht leicht gehabt. Jeder potentielle Arbeitgeber muss über die Verurteilung in Kenntnis gesetzt werden. Sie können sich ja vorstellen, wozu das führt. Mason wollte etwas aus seinem Leben machen. Er wollte nicht mehr in der schäbigen Gegend wohnen. Er hat aus seinen Fehlern gelernt. Ich hatte das Gefühl, dass er es wirklich ernst meint. Und ich habe ihn dabei unterstützt…allerdings hat auch das nur wenig gebracht.“ „Ich verstehe“, gab Laura von sich. „Wissen Sie, ob Ihr Patient Drogen nahm?“ „Drogen?“ Dr. Sullivan weitete die Augen. „Nein, das kann gar nicht…um in dem Programm zu sein, darf er sich nichts zuschulden kommen lassen…auch keine Drogen. Er hat mir gegenüber auch nie etwas in der Art erwähnt.“ Die Agentin nickte. „Sie waren letzte Woche im Urlaub. Wie hat Klein das aufgenommen?“ „Ehrlich gesagt, war ich zwei Wochen abwesend. In der ersten Woche war ich bei einer Tagung in Stanford, in der zweiten Woche kam meine Tochter und führte dort ein Vorstellungsgespräch. Danach haben wir noch weitere Universitäten besucht und uns die Städte angesehen“, erzählte er. „Mason war sehr besorgt. Wir trafen uns normalerweise einmal die Woche und wenn er einen außerordentlichen Termin brauchte, rief er in der Praxis an. Es hatte mich nicht verwundert, dass Mason Angst hatte, als er zwei Wochen alleine klar kommen musste.“ „Sie haben ihm keine Handynummer gegeben?“ „Nein, habe ich nicht. Ich habe sehr mit mir gerungen und wollte…aber wie ich schon sagte, ich habe Zeit mit meiner Tochter verbracht. Seit der Scheidung lebt sie bei ihrer Mutter und wir sehen uns nicht so häufig. Sie war schon früher wütend, wenn ich mir Zeit für sie nahm und dann doch telefonisch gearbeitet habe. Aus diesem Grunde hab ich meine Nummer nicht an Mason weitergegeben…vielleicht wäre alles anders passiert, wenn er sie gehabt hätte…hat er jemanden provoziert?“ „Das kann keiner sagen“, entgegnete Laura ruhig. „Leider wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht viel über die Hintergründe.“ „Hat er Ihnen irgendwann Mal von Menschen erzählt mit denen er aneinander gerasselt ist?“ Dr. Sullivan schüttelte den Kopf. „Gar nichts…wenn ich gefragt habe, hieß es, dass alles in Ordnung sei. Vielleicht war es die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Kurz nachdem ich anfing mit Mason zu arbeiten, hatte ich einen Anruf von der Familie seines damaligen Opfers auf dem Anrufbeantworter.“ „Hm? Erzählen Sie uns mehr dazu.“ „Der Mann hat mich beschimpft und wollte wissen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Natürlich habe ich Mason darauf angesprochen, aber er erwiderte, dass er keine Anrufe bekommt. Haben Sie schon mit der Familie des damaligen Opfers gesprochen?“, wollte Dr. Sullivan wissen. „ Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Haben Sie den Anruf gespeichert?“ „Leider nicht. Es war auch nur einmal und ich habe mir danach nichts mehr dabei gedacht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)