Der Teufelsgeiger von DragomirPrincess ================================================================================ Kapitel 4: Eine Bühne für zwei ------------------------------ „Wir nehmen ihn mit“, erklärte er kurz, bevor er sich auf den Rücksitz schob und mich hinter sich herwinkte. Ich war… überrascht… könnte man zumindest sagen. Meine Mutter fuhr einen alten Toyota Starlet und auch andere in meinem Freundeskreis fuhren entweder mit den Öffentlichen oder hatten irgendwelche alten Gebrauchtwagen, aber dieses Auto war anders. Mal von dem vermutlich erheblich höheren Preis abgesehen. Es war einfach enorm elegant und verdammt geräumig. Vermutlich genau das, was mein bei Byakuya Kuchiki erwarten sollte. Ich zog die Tür hinter mir zu und schnallte mich an. Neben mir öffnete der Schwarzhaarige gerade seinen Zopf und fuhr mit den Fingern hindurch, um die Strähnen von einander zu trennen, obwohl sie gar nicht zusammenhingen. Es wirkte viel mehr als würden sie durch seine Finger fließen. Dann betrachtete er zuerst das Hemd in seiner Hand und dann sein Muskelshirt, legte die Stirn in Falten und warf Hemd und Jackett zwischen uns auf den Sitz. Ich musste lachen: „Was war das denn?“ Überrascht blickte er mich an. „Was war was?“ „Hast du gerade ein Muskelshirt einem Hemd vorgezogen?“ Vorhin war das erste Mal, dass ich ihn überhaupt jemals ohne Hemd gesehen hatte und ich war davon ausgegangen, dass er ohne Hemd und Krawatte das Haus gar nicht erst verließ. Einen Moment sah er immer noch verwirrt aus und ich machte mir bereits Gedanken, ob ich ihn gerade beleidigt hatte, als auch er lachte. „Ich muss mich zur Probe eh umziehen, also warum mich in dieses gesteifte Ding zwängen?“ Ich lächelte, weil er anscheinend wirklich viel weniger steif war als man dachte. Dann hielt der Wagen bereits vor seinem Ziel. Mir war kaum aufgefallen, dass wir überhaupt losgefahren waren, aber anscheinend hatten wir einiges an Zeit tot geschlagen und ich war ehrlich gespannt auf das, was ich jetzt mit ansehen würde. Ich kannte die Oper bisher ehrlich gesagt nur von außen, aber sie war genau, wie ich sie mir von diesem Anblick her vorgestellt hatte: Groß und pompös, rot und golden und… historisch zu irgendeiner Epoche gehörend, die viel zu viele verdrehte Ornamente benutzt hatte … und anscheinend auf Blumen stand. Ich folgte Byakuya durch das Gebäude. „Wir proben jetzt die ersten Male auf der großen Bühne mit dem neuen Stück. Heute geht es nur um eine Szene. Damit wir die Raumlinien kennenlernen und sich diejenigen, die es noch nicht gewohnt sind, an die Akustik des Orchesters gewöhnen können.“ Ich schloss zu ihm auf: „Was für ein Stück ist es denn?“ Er nannte mir den Titel, aber ehrlich gesagt konnte ich nicht das Geringste damit anfangen und hatte mehr aus Höflichkeit gefragt als aus wirklichem Interesse. „Es ist tatsächlich hauptsächlich eine Ballettprobe heute.“ Wir verließen schon bald den Teil des Gebäudes, der für das Publikum zugänglich war, was ich daran merkte, dass der rote Teppich aufhörte und es immer weniger ausgeschmückt aussah. Aber es war enorm spannend all die Nebenbühnen und Umkleiden zu sehen. Dann kamen wir an unserem Bestimmungsort an und ich blinzelte einige Male überrascht. Ich konnte in den Zuschauerraum blicken und das war das einzige, was mir verriet, wo wir wirklich waren. Für jemanden, der kaum oft genug vor der Bühne gesessen hatte, war der Anblick von hinter der Bühne noch überraschender. Es standen soviele Dinge überall herum, der Raum war so groß, Technik, Beleuchtung, anscheinend Requisiten und alles Mögliche, aber keine Menschen. „Wir haben noch ein wenig Zeit“, erklärte er, nachdem er anscheinend meinem Blick gefolgt war. „Wenn du magst, zeig ich dir noch ein paar Sachen, bevor ich mich warm mache. Das Orchester sollte dann auch bald kommen, ich kann mir vorstellen, dass dich das vielleicht etwas mehr interessiert als ständig wiederholte Ballettszenen.“ Aber ich schüttelte nur den Kopf. „Ich find gerade das interessant, ehrlich gesagt. Wie es in einem Orchester abläuft, weiß ich, aber ich muss zugeben, dass ich mir nicht recht vorstellen kann, wie eine Ballettprobe aussieht.“ Er nickte. „Gut, dann werd ich mich kurz umziehen. Schau dich ruhig um, fass nur besser nichts an.“ Ich blickte ihm nach, wurde dann aber bald allein gelassen und beschloss mir die Bühne anzusehen. Sie war soviel größer als sie aussah, wenn man im Publikum saß, aber vielleicht lag es auch am fehlenden Vorhang. Vorne an der Bühne ging ich in die Knie und berührte die Ausbuchtungen, in denen wohl früher Kerzen gestanden hatten, die Ausbuchtung für die Souffleuse.  Anscheinend war diese Oper tatsächlich schon sehr alt und ich ließ meinen Blick weitergleiten, in den Orchestergraben, geschützt durch ein dünnes Netz. Dann stand ich auf und sah die Treppen abwärts und ich war einfach beeindruckt davon, dass Byakuya es gewohnt war auf dieser Art von Bühnen zu stehen, vor all diesen Menschen zu singen, die sich über die Ränge und in den Logen erstreckten und so gar nicht nervös wurde. Es war soviel größer als alles, auf dem ich je aufgetreten war. Noch soviel größer als die Auftritte nach dem Scouting und Byakuya war auf dieser Bühne aufgewachsen und ich war mir sicher, dass alles, was er tat, perfekt sein musste, weil er an sich perfekt war. „Okay“, hörte ich ihn dann hinter mir und ich drehte mich wieder zu ihm um. Und…wow, das waren enge Klamotten. Schwarz schloss sich der Stoff der Leggins um seine Beine, ebenso schwarz ein Oberteil um seinen Oberkörper. Nur weiße Stulpen und Schuhe hoben sich von dem dunklen Outfit ab und ein weißer Schal, den er in der Hand hielt und mit den Schuhen auf einem Stuhl ablegte, bevor er barfuß weiter auf die Bühne trat. Ich kam auf ihn zu und stellte dann eine Frage, die mir schon lange auf der Zunge lag: „Wie lange hast du das gelernt?“ „Ballett?“ Er blickte zu mir auf und bewegte dann die Schultern etwas, anscheinend um sich gleich warm zu machen. Ich nickte. „Gut 15 Jahre würd ich sagen.“ Und ich starrte ihn nur an. 15 Jahre? Er war 19, wenn ich mich nicht völlig irrte. 15 Jahre, das hieß, dass er mit 4 angefangen hatte, aber er hatte doch alles geschmissen zwischenzeitlich, wie jung sollte er denn damals gewesen sein? Oder war es ihm wortwörtlich in die Wiege gelegt worden? „Hast du jemals getanzt?“ Ich blickte wieder zu ihm auf, machte er sich gerade warm? Es wirkte eher als ob er sich verbiegen wollte, aber wahrscheinlich streckte er nur seine Arme oder etwas in der Art. Ich folgte ihm mit dem Blick. Er hielt sich an einer Stange fest und begann dann damit, seine Füße in unterschiedliche Positionen zu bringen und dann in die Knie zu gehen? Oh man, vermutlich gab es da einen Namen für, aber ich hatte keine Ahnung davon. „Nein, ich hab mal Basketball gespielt, aber nachdem ich Parkour für mich entdeckt hatte, hab ich nie wieder irgendetwas anderes ausprobiert, außer laufen, springen und klettern. Vielleicht noch Muskeltraining, aber tanzen, nein, weder Standard noch irgendetwas anderes. Ich muss sagen, ich fand es auch immer schwul.“ Er blickte mich überraschend an, was seltsam aussah, weil er, während er das tat, ein Bein auf die Stange gelegt hatte und sich darauf lehnte. Eine Position, die mir schon den Magen umdrehte, wenn ich nur daran dachte, mich selber darin zu befinden. „Aber du bist…“ Ich unterbrach ihn: „Klar, aber es geht darum, ob man sich so benimmt. Wenn ich sage, Balletttanzen war für mich immer schwul, dann heißt das viel mehr, dass es für mich bedeutet, seine Sexualität zur Schau zu stellen. Die negative Art schwul zu sein. Mehr so… naja, sowas in Richtung Schwuchtel oder Transe.“ Es war schwer so etwas einem Mann zu erklären, der den Sport machte, über den man solche Vorurteile hatte, aber er schien es nicht schlecht aufzunehmen. Er nickte es sogar ab, während er seine Beine weiter streckte. „Und stimmt es? Sind Balletttänzer schwul?“, fragte ich nach, als ich mich zu ihm begab und mich auf die Stange lehnte. „Nein, nicht mehr als Fußballer oder Basketballer oder Traceure auch.“ Dann nahm er den Fuß wieder auf den Boden herunter und bei der nächsten Übung wurde mir schon vom Zusehen schlecht. Von Grauen erfüllt sah ich mit an, wie er sich an der Stange hochzog, sich auf die Zehenspitzen stellte und genau diese dann immer abwechselnd abknickte. „Oh Gott“, konnte ich mir nicht verkneifen und er sah mich überrascht an, dann blickte er an sich runter und lachte. „Alles eine Sache des Trainings.“ Und ich konnte mir nicht verkneifen darüber zu lächeln, einfach weil er so viel weniger steif sein konnte, freundlich, lustig und offen, wenn er denn wollte. Und es machte mich glücklich, dass er sich mir gegenüber so verhielt, weil es eine Vertrautheit widerspiegelte, die mich glücklich machte. So in Gedanken beobachtete ich ihn einfach weiter bei seinen Übungen. Er streckte seine Beine, machte einige Schritte auf den Zehenspitzen und dehnte seine Muskeln, bis mich plötzlich eine Erkenntnis wie ein Schlag traf. „Warte mal, dann kannst du Spagat?“ „Klar“, meinte er, etwas überrascht von der plötzlichen Frage, aber sonst ganz entspannt, während er sich auf den Boden setzte und die Beine gespreizt durchstreckte, nur um dann seine Fußspannen zu greifen und sich daran nach vorne zu ziehen, bis er beinahe mit dem Oberkörper auf dem Boden lag. „Drückst du mich nach vorne?“ Er deutete an, dass er meinte, dass ich seinen Oberkörper noch weiter zum Boden drücken sollte und zögerlich legte ich die Hände auf seine Schulterblätter, um genau diese Bitte zu erfüllen. Ich war ganz vorsichtig, aus Angst ihm wehzutun, aber ich stieß einfach nicht auf einen Widerstand, nicht bevor er mit dem Oberkörper völlig auf dem Boden ankam.  Ein Anblick, der ebenso seltsam wie beeindruckend war, weil er es so mühelos tat als gäbe es nichts Leichteres. „Lass mich einfach noch etwas warm werden, dann zeig ich es dir.“ Er drückte sich gegen meine Hände zurück und ich gab etwas nach, bis er sich letztlich wieder aufsetzen konnte. Dann legte er noch einmal kurz den Kopf auf jedes Knie und stand dann auf. „Tut es nicht weh?“, hakte ich nach und konnte einfach nicht glauben, dass es anders sein sollte oder überhaupt anders sein konnte. Ich war nicht unbeweglich, wahrscheinlich sogar gelenkiger als die meisten anderen Jungen in meinem Alter, weil ich bei Parkour ja doch ab und an in die seltsamsten Positionen kam, aber meine Beine in einen 180° Winkel zu bringen, erschien mir einfach unmöglich. Auf keinen Fall machbar, egal wie viel Mühe ich mir gab, nicht ohne Schmerzen. „Solang du es langsam angehst und dich vorher genug aufwärmst, nicht, nein, dann tut es nicht weh. Es zieht maximal ein bisschen. Wie um mir den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu beweisen, ließ er sich abwärts gleiten – wieder völlig mühelos –, bis seine Beine flach auf dem Boden aufkamen und er von dort unten zu mir aufsah. „Das ist so krass“, murmelte ich kopfschüttelnd und konnte die Augen nicht von ihm lassen, auch nicht, als er sich schon wieder erhob. Er schien skeptisch über meine Worte, lächelte dann aber doch etwas dankbar, anscheinend nahm er es als Kompliment. Dann probierte er sich wieder an einigen Schritten, die ich nicht benennen konnte und ich war wieder einfach nur beeindruckt davon. „Ich hätte nicht gedacht, dass Ballett so gut aussehen könnte. Und gar nicht tuntig.“ Ich grinste ihn an und er verdrehte mit einem Lächeln die Augen: „Danke.“ Letztlich beendete er seine Übungen, diesmal anscheinend komplett, denn er richtete sich auf und sah mich an: „Probier es einmal aus.“ Überrascht blinzelte ich ihn an und wich dann erst einmal einen Schritt zurück: „W...wie? Ich meine, was?“ Er sprach doch nicht etwa von einem Spagat, oder? Das er schien mir nicht sonderlich reizvoll und auch dieses Fußding drehte mir schon beim Gedanken daran den Magen um. „Na los.“ Er griff meine Hand und zog mich näher: „Zieh die Schuhe aus und dann probieren wir ein paar Sachen aus.“ Ich blickte eher verängstigt zu ihm, kniete mich aber langsam hin, um meine Schuhe zu öffnen: „Wovon genau sprechen wir?“ Auch meine Stimme zeigte, dass ich nicht allzu überzeugt von der Idee war und Byakuya lachte darüber, was ich ihm ehrlich gesagt doch etwas übel nahm, aber dann erklärte er sich selbst: „Ich wird dir nicht weh tun, versprochen. Ich zwinge dich weder in den Spagat noch in sonst irgendwelche Positionen, für die du nicht die entsprechende Übung hast. Und schon gar nicht auf Spitze. Ich musste zugeben, dass ich erleichtert war und jetzt traute ich mich auch wieder aufzustehen. Mit dem Fuß kickte ich meine Schuhe zur Seite und lächelte aufmunternd. Wie schlimm konnte es schon werden? „Gut, beim Ballett geht es ganz viel um Körperspannung und um Grundpositionen, aber wir versuchen uns einfach mal an einem Plié oder einem Grande Plié.“ Pli…je? Das war jetzt wirklich französisch, oder? Da ich jedoch noch weniger Ahnung von französisch hatte als von Ballett allgemein, erwartete ich einfach weitere Erklärungen und Anweisungen, denn er würde schon wissen, wovon er sprach. „Nimm die Hacken zusammen und dann musst du die Füße auf eine Linie bringen.“ Wie immer mühelos machte er mir vor, was er wollte, brachte die Füße in eine 180° Position und sah mich an. Ich verzweifelte bereits daran. An sich war die Fußstellung kein Problem, aber mein Gleichgewichtssinn machte einfach nicht mit, er versagte einfach und wie ein betrunkener wedelte ich mit den Armen, weil ich weder stürzen noch die Füße anders stellen wollte. Doch dann legten sich plötzlich schlanke Finger um meine Arme und stützten mich: „Du musst die Knie schon ein bisschen anwinkeln, wenn du sie durchstreckst, wirst du nur fallen.“ Und kaum hatte ich diesem Hinweis Folge geleistet, war es plötzlich ganz leicht. Doch Byakuyas Hände verließen ihre Position nicht und das sendete eine wohlige Wärme über meinen Körper. Kurz schloss ich einfach die Augen und genoss es. Ich spürte seine Wärme in meinem Rücken, spürte seine Bewegungen und nahm sogar ganz leicht seinen Geruch wahr. „Und jetzt gehst du langsam in die Knie.“ Er sprach leise als wäre er direkt an meinem Ohr, aber er sprach deutlich und er hielt meine Arme hoch, während er hinter mir anscheinend genau diese Bewegung vollführte, sodass ich ihr beinahe automatisch folgte. Es war ganz leicht, als hätte ich nie etwas anderes getan, aber das lag vermutlich allein an seiner Nähe und seiner Führung. Und so folgte ich ihm auch wieder nach oben. „Genau so. Und jetzt noch einmal, aber tiefer.“ Wieder folgte ich einfach seiner Bewegung und glich ebenso mühelos wie zuvor auch jetzt mein Gleichgewicht aus. Nicht dass ich glaubte, dass das wirklich mein Verdienst war – Nein, ich war mir sicher, dass ich Ballett so ziemlich gar nicht beherrschte –, aber trotzdem wollte ich diesen Moment nicht enden lassen. Aber genau das geschah, als wir wieder hochkamen. Viel zu schnell ließ er meine Arme los und trat von mir zurück. „Sehr gut.“ „Ich sah garantiert aus wie ein Sack voll Reis“, stellte ich augenverdrehend fest und grinste aber. „Ich fürchte für diesen Sport habe ich nicht die richtigen Voraussetzungen.“ Er ließ die Aussage unkommentiert im Raum stehen und ich drehte mich einfach zu ihm um: „Aber eine Sache würde ich trotzdem gerne probieren.“ Ich grinste ihn an. Es war eine spontane Idee, aber ich wollte sie wirklich gerne durchsetzen. „Und was?“, hakte er nach, wahrscheinlich hatte auch er gemerkt, dass ich keine Ahnung von Ballett hatte und er schien meiner Idee eher etwas skeptisch gegenüber zu stehen. „Na ja, wenn du mühelos die Tänzerinnen hochheben konntest, sollte ich dich jawohl auch hochheben können, oder?“ Er sah mich kurz überrascht an, lächelte dann aber und schüttelte den Kopf, bevor er einfach seufzte und dann nickte: „Na gut, du musst einfach meine Hüften greifen und mich hochheben, okay? Um den Rest kümmere ich mich.“ Er deutete an, wo genau ich meine Hände hinlegen sollte und ich vermutete mal, dass er mit "dem Rest" die benötigte Körperspannung meinte, aber ganz sicher war ich da nicht. Er ging ein Stück zurück Richtung Wand und ich drehte mich ihm komplett entgegen und wartete ab. Ihn jetzt fallen zu lassen, wollte ich nicht riskieren. Immerhin waren wir uns ja gerade anscheinend näher gekommen. "Bereit?" Er suchte meinen Blick und ich nickte. Mit wenigen leichtfüßigen Schritten überwand er die Entfernung zwischen uns, dann sprang er ab und wie aus Reflex schlossen sich genau in diesem Moment meine Finger um seine Hüften. Es war leicht ihn hochzuheben, weil er sich ja selbst vom Boden abgedrückt hatte, aber umso schwerer ihn oben zu halten, als die Erdanziehungskraft ihn genau auf diesen zurückholen wollte. Aber er war mir genau dabei eine ziemliche Hilfe. Völlig steif hielt er sich über mir und blickte auf mein Gesicht, mit einem Lächeln auf den Lippen. Und ich erwiderte den Blick einfach, ebenfalls lächelnd und verlor mich selbst in den grauen Augen. Bis plötzlich mein Arm dem Gewicht nachgab und ich ihn nicht mehr halten konnte. Ich reagierte schnell und zog ihn dicht an meinen Körper, damit er nicht fallen konnte und dann war er plötzlich - noch halb über mir - mit seinem Gesicht direkt vor meinem, seine Lippen nur Zentimeter von meinen entfernt und sah mich an. Er wich mir nicht aus und für ein Moment war es als wäre die Welt um uns gestorben. Es gab nur uns beide und eine Anziehung zwischen uns die nichts mit der Schwerkraft zu tun hatte. Ich bewegte mich ihm nicht entgegen, stattdessen kam er mir aus eigenem Antrieb heraus plötzlich näher und ich konnte mein Glück gar nicht fassen, weil er- "Byakuya!" Es war die tiefe Stimme eines Mannes, die uns unterbrach, bevor es überhaupt etwas zu unterbrechen hätte geben sollen, aber die Stimmung war augenblicklich ruiniert und Byakuya drückte sich von mir weg. "Jii-sama." Er ließ mich stehen und trat an mir vorbei und auch ich drehte mich um. Sein Großvater? Der Mann zwischen den Stuhlreihen war groß gewachsen, sein langes, ordentlich fallendes Haar und ebenso sein gleichmäßig gestutzter Bart waren vom Alter weiß gefärbte und doch hatte das Alter sonst anscheinend wenig Effekt auf ihn gehabt. Natürlich, seine Haut war gezeichnet von seinen Lebensjahren, aber er stand völlig aufrecht und er wirkte nicht weniger stolz als sein Enkel. Und nicht nur das ließ eine gewisse Ähnlichkeit erkennen - Von der Haltung als hätte er einen Stock verschluckt wollte ich gar nicht erst anfangen -, denn auch wenn sein Gesicht weniger feine Züge hat und sein Kinn breiter wirkte, waren es genau dieselben grauen Augen unter ernst zusammengezogenen Brauen und auch er hatte eine Eleganz und Leichtigkeit an sich, von der ich nur träumen konnte. "Du hast es wieder getan, nicht wahr?!" Ich war überrascht davon, wie harsch seine Stimme war, als er mit seinem Onkel sprach. "Wie oft habe ich dir gesagt, dass du diesen Unfug lassen sollst?! Ich dachte du wärst vernünftig geworden! Wir stehen kurz vor einer Premiere, du kannst es dich nicht leisten, dich zu verletzen." "Parkour ist nicht gefährlicher als Ballett solange man -" Doch dann schien er plötzlich seine Haltung zu ändern und nahm sich zurück. "Es tut mir leid, ich habe mich hinreißen lassen. Es wird nicht wieder vorkommen." Er senkte den Kopf und gab das erste Mal seit ich ihn kannte klein bei. Vor Überraschung kam mir nicht mal in den Sinn, meinen Lieblingsport zu verteidigen und so stand ich schweigend daneben. "Das will ich auch hoffen." Er kam noch einmal näher zur Bühne und sah mich dann direkt an: "Wer ist das?" Und bevor ich den Mund aufmachen konnte, antwortete Byakuya bereits: "Ein Junge aus der Schule. Er hat sich für die Probe interessiert und ich habe ihn eingeladen zuzusehen. Er ist mit Rukia befreundet." Der Blick der Mannes war so skeptisch, so abwertend, dass ich die Stirn beinahe kraus gezogen hätte, aber da war sein Interesse anscheinend schon wieder verloren gegangen. "Sorg nur dafür, dass er niemanden ablenkt." "Natürlich, Jii-sama." Und damit drehte der weißhaarige Mann uns bereits wieder den Rücken zu und wollte gehen, als ein junger Mann, vielleicht Mitte 20 auf ihn zu eilte. "Kuchiki-sama." Zu leise, um etwas zu verstehen, sprach er mit dem Mann, der anscheinend auch das Oberhaupt dieser Oper war. Und ich interessierte mich auch nicht dafür, sondern blickte zu Byakuya neben mir. Seine Haltung hatte sich noch einmal völlig verändert. Er hatte die ganze Zeit eine gewisse Steife beibehalten, aber jetzt war er wieder viel härter geworden, ernster und es war kein Lächeln mehr auf seinen Lippen zu sehen. Und das machte mich enorm unglücklich, wenn ich ehrlich war. Als die beiden wieder auseinander gingen, war der Blick des Großvaters finster und er wendete sich direkt an Byakuya: „Einer der Solisten im Orchester fällt aus.“ Anscheinend ein ziemlich großes Problem, das einiges über den Haufen warf, denn die Gesichter waren düster und sehr angespannt. Und diese Anspannung ging auch auf Byakuya über. „Kann nicht Tanaka-san für ihn einspringen?“, schlug der junge Mann vor, aber sein Vorgesetzter schüttelte sofort den Kopf. „Yuge-san wäre vermutlich der Einzige, der es übernehmen könnte, aber auf ihn können wir ebenso wenig verzichten. Es sind einfach zu viele Violinensolos in diesem Stück. Wir können auf niemanden verzichten. Und in dem Moment, in dem sich mein Gesicht verfinsterte, hellte sich das des jungen Opernsängers auf: „Haben wir noch eine Geige hier?“ „Nein, Bykakuya, nicht, ich-“ Ich spürte den skeptischen Blick auf mir liegen, als mich der ältere Mann musterte, dann aber bereits zustimmte: „Ja, haben wir. Spielt er Violine?“ „Ja, aber ich meine es ernst, ich bin kein Orchestermensch. Ich kann nicht gut vom Blatt spielen und…“ Ehrlich gesagt wollte ich nur lieber zusehen, was aber nicht hieß, dass meine Aussagen erlogen waren. Ich konnte nicht gut vom Blatt spielen, das war schon immer so. Früher hatte ich deshalb die Noten alle auswendig gelernt, heute improvisierte ich über die Noten, aber es fiel mir einfach schwer, mich sosehr an Andere anzupassen, wie es das Spielen in einer Gruppe erfordert hätte. „Ich denke wirklich nicht, dass ich das tun sollte.“ Ohne auf mich zu achten, schickte er das junge Orchestermitglied mit einer einfachen Handbewegung weg und sagte dann mehr zu Byakuya als wirklich zu mir: „Wir haben ja wohl keine Wahl.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)