Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Am folgenden Tag legte die Küstenklinge am Pier von Notting an. Die Reise von Hauptmann Sason und seinen beiden Feldwebeln war ohne besondere Vorkommnisse vonstattengegangen. Die meisten Piraten, die früher in diesen Gewässern zuhauf anzutreffen waren, hatten längst ihren Standort gewechselt. Hier im Südwesten von Shalaine gab es kaum mehr nennenswerte Beute, dafür hatten die Seeräuber im vergangenen Jahrzehnt in dieser Gegend zu wild gewütet. Inzwischen hatten sich die meisten hinaus aufs offene Meer nach Norden gewagt oder weiter nach Süden, wo sie jedoch bei den hartnäckigen Bewohnern der Inseln von Grimhagen auf Granit bissen. Wenn man sich Sason als Vertreter dieses Volkes ansah, war das nicht weiter verwunderlich. Seit jeher brachten die Südlichen Inseln die fähigsten Soldaten Gäas hervor, sehr zum Leidwesen der Dunkelelfen von Shalaine, die sich selbst in ihrem fast krankhaften Stolz als die tapfersten und größten Krieger der Welt bezeichneten. Sason war nur einer von vielen talentierten Offizieren in der Kaiserlichen Legion, die aus Grimhagen stammten. Die Bewohner der Südlichen Inseln galten außerdem als hervorragende Seefahrer und die meisten Kapitäne der Kaiserlichen Kriegsschiffe waren Sasons Landsleute. Der Hauptmann trat an die Reling, als sein Schiff in die Bucht einlief, in der sich die Anlegestelle befand. Es war das erste Mal, dass er diese Insel betrat. Sofort fiel ihm auf, dass nirgendwo Truppen der Dunkelelfen zu sehen waren. Notting schien offenbar gänzlich unbewacht zu sein. Sason hatte von dem Überfall vor neun Jahren gehört. Heute war jener Tag innerhalb der Kaiserlichen Flotte gemeinhin als der letzte Raubzug von Varim dem Schwarzen bekannt. Nachdem der Dunkelelf mit seinen Rabauken zahlreiche Zivilisten gemeuchelt und einen Teil des Dorfes zerstört hatte, hatte er die Insel wieder verlassen und war seither verschwunden. Seit neun Jahren hatte man nichts mehr von dem einst so gefürchteten Piraten gehört. Es war fast, als habe es ihn nie gegeben. Sason bedauerte diesen Umstand ein wenig. Varim war einer der Gauner gewesen, die ganz weit oben auf der Liste des Hauptmanns standen. Es gab zwar keine persönliche Verbindung zwischen den beiden, aber die dreisten Überfälle des Dunkelelfen auf Siedlungen in den Hoheitsgebieten Ganestans waren für Sason die reinste Provokation gewesen. Nun war Varim verschwunden und absolut niemand wusste, wo er war oder was damals geschehen war. Inoffiziell galt er bereits als tot, aber Sason glaubte nicht daran. Der gefürchtetste Pirat seiner Zeit starb nicht einfach so. Tatsache war jedenfalls, dass man den Dunkelelfen auf dieser Insel zuletzt gesehen hatte. Hier hatte er zum letzten Mal Leben genommen und Häuser niedergebrannt. Sason verwarf die Gedanken an Varim. Er war wegen eines anderen Dunkelelfen auf diese Insel gekommen. „Fertig machen zum Anlegen!“, rief er seinen Befehl und seine Mannschaft gehorchte augenblicklich. Zielstrebig liefen die Seeleute über das Deck, machten sich am Ruder und den Segeln zu schaffen und nur kurz darauf kam die Küstenklinge knarrend direkt neben der Landungsbrücke zum Stehen. Der Anker wurde zu Wasser gelassen und das Schiff an einem Hafenpoller vertäut. Sofort stand Cedric neben Sason und salutierte zackig. „Wir haben erfolgreich angelegt, Hauptmann“, meldete er dienstbeflissen. Sparva bequemte sich gähnend an Deck. Verschlafen blinzelte sie in die Sonne und schirmte ihre Augen dann mit dem Arm gegen die grellen Lichtstrahlen ab. Sie hatte die Hälfte der Reise verschlafen und war zu keinem Zeitpunkt durch besonders große Motivation aufgefallen. Aber nun hatten sie ihr Ziel erreicht und die junge Frau wollte diesen nervigen Auftrag so schnell wie möglich zu Ende bringen, um endlich wieder in ihre geliebte Hängematte in der Kaserne der Kaiserstadt zurückkehren zu können. Sie gähnte erneut, streckte sich und stellte sich dann neben ihrem Kapitän in Positur. Dieser staunte immer, was für einen Elan die lethargische Frau entwickeln konnte, wenn ein Auftrag in die entscheidende Phase ging. Sasons Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sparva gefiel es offenbar gar nicht, dass ihr Vorgesetzter nur herumstand und grinste. „Wann legen wir los?“, fragte sie ungeduldig. „Je schneller wir hier fertig sind, desto schneller können wir wieder zurück.“ „Ich habe nur auf dich gewartet, liebste Sparva“, antwortete Sason und betrat die ausgefahrene Planke. „Du und Cedric folgt mir. Das sollte reichen, um diesen Langfinger dingfest zu machen. Der Rest der Mannschaft bleibt an Bord und bewacht das Schiff.“ „Großartig!“, rief Cedric begeistert und überholte seinen Hauptmann, um als erster an Land zu gehen. Sason schmunzelte angesichts des Tatendrangs seines Feldwebels und folgte ihm. Sparva bildete mit schlurfenden Schritten das Schlusslicht. Zu dritt machten sich die Soldaten auf den Weg zum Dorf. „Wie gehen wir vor, Hauptmann?“, fragte Cedric voller Übereifer. „Teilen wir uns auf und durchsuchen die Siedlung getrennt? Oder habt Ihr schon ein ganz bestimmtes Ziel? Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte von Euren Informanten? Wissen sie wo genau sich unsere Zielperson aufhält?“ „Kannst du nicht einmal die Klappe halten?“, stöhnte Sparva sichtlich entnervt. Auch Sason schien das unentwegte Geplapper seines Feldwebels allmählich zu reizen. „Wir bleiben zusammen“, brummte er. „Ich kenne lediglich Namen und Gesicht des gesuchten Dunkelelfen, aber nicht seinen genauen Aufenthaltsort. Und jetzt stillgestanden, Feldwebel!“ „Wie Ihr befehlt, Hauptmann!“, rief Cedric, salutierte zackig und sah davon ab, Sason weiterhin mit seinen Fragen zu löchern. Dem Hauptmann gefiel das schon deutlich besser. „Wir werden uns ein wenig umhören müssen“, vermutete er. „Und in jedem noch so kleinen Kaff gibt es eine Kneipe mit einem Wirt, der außer Bier und warmen Mahlzeiten auch ein paar Informationen zu bieten hat. Wir suchen also die nächste Taverne auf und erkundigen uns nach diesem Hiob.“ Die Soldaten hatten Premans Taverne schnell ausfindig gemacht. Im Gleichschritt betraten sie das heruntergekommene Gasthaus. Die Tür quietschte in den Angeln und Sason erwartete, dass er und seine beiden Feldwebel sofort alle Blicke auf sich ziehen würden. Die Uniformen der Kaiserlichen Armee waren für viele arglose Bürger ein seltenes Bild. Doch zu Sasons Überraschung war das Gasthaus leer, bis auf einen jungen Mann, der in einer dunklen Ecke saß und die Kaiserlichen Soldaten keines Blickes würdigte. Nur der Wirt starrte sie mit offenem Mund an. Sason nahm mit seinen Feldwebeln an einem freien Tisch Platz und massierte sich stöhnend den verspannten Nacken. Preman kam nervös heran und buckelte unterwürfig vor den Soldaten. „Darf ich den Herrschaften etwas zu trinken anbieten?“, fragte er mit zittriger Stimme und rieb sich dabei die schwitzigen Hände. „Sehr gerne“, erwiderte Sason. „Für mich bitte eine Posca.“ Cedric bestellte ebenfalls einen Krug mit Essigwasser und Sparva entschied sich für einen Becher mit warmer Ziegenmilch. Während Preman eiligst wieder hinter seinem Tresen verschwand, machte er seine beiden Feldwebel mit einem Kopfnicken auf den Mann in der Ecke aufmerksam. „Seht Euch den an…“, murmelte Sason seinen Begleitern zu und blickte aus dem Augenwinkel zu dem jungen Mann hinüber. „Der hat Nerven wie Drahtseile.“ Cedric lehnte sich nach vorne, um ebenfalls einen unauffälligen Blick über die Schulter in die besagte Ecke werfen zu können. Sparva hatte freie Sicht, war aber darauf bedacht, den jungen Mann nicht direkt anzustarren. „Der kommt mir bekannt vor“, flüsterte Sason, doch gerade als überlegte, wo er diesen Kerl schon einmal gesehen hatte, kehrte Preman zurück und stellte die drei Getränke auf den Tisch. Er wollte sich schnell wieder zurückziehen, doch Sason hielt ihn auf. „Einen Augenblick bitte, Wirt“, rief er. Preman rieb sich wieder nervös die Hände. „Kann ich Euch behilflich sein, mein Herr?“ Sason sah aus dem Augenwinkel, dass der junge Mann in der Ecke aufstand und die Taverne verließ. Der Hauptmann schob die Gedanken an den mysteriösen Kerl endgültig beiseite und widmete sich wieder ganz dem verunsicherten Wirt. „Das kommt ganz darauf an“, sagte Sason gedehnt und kramte in einem Beutel, den er an der Hüfte trug. „Zunächst einmal möchte ich die Getränke bezahlen.“ Er holte ein paar Münzen aus dem Säckchen und ließ sie in Premans Hand fallen. Der Wirt machte hastig eine tiefe Verbeugung. „Vielen Dank, mein Herr!“ „Ich hätte da noch eine Frage“, fuhr Sason fort und hielt Preman Hiobs Steckbrief entgegen. „Kennt Ihr diesen Dunkelelfen?“ Der Hauptmann bemerkte sofort, wie dem Wirt der kalte Schweiß ausbrach. Nach außen hin zeigte er keine Regung, aber innerlich jubelte er bereits. Auch Cedric und Sparva entging nicht, dass der Wirt etwas wusste. Cedric konnte ein breites Grinsen nicht verhindern. „Was…was wollt Ihr von ihm?“, stieß Preman mühsam hervor. Sason legte eine Hand an die Schläfe und stützte sich auf den Ellbogen. „Das war zwar keine Antwort auf meine Frage…“, stellte er fest. „…aber ich schließe aus Eurer Gegenfrage, dass Euch dieser Mann bekannt ist. Was wir von ihm wollen, geht Euch nichts an. Sagt uns einfach, wo er sich aufhält.“ „Hat er…hat er etwas verbrochen?“, stotterte Preman. Es war dem Wirt anzusehen, dass ihn die Situation völlig zu überfordern drohte. Sasons Blick verfinsterte sich schlagartig. „Schluss jetzt mit diesen Gegenfragen!“, rief er drohend. „Ich muss Euch hoffentlich nicht daran erinnern, dass wir den Befehlen des Kaisers folgen. Ich frage Euch jetzt ein letztes Mal: Wo finden wir diesen Dunkelelfen?“ Preman zitterte inzwischen am ganzen Körper. „Ich…ich bin doch nur ein einfacher Wirt…“, druckste er hilflos herum. „Ich will mit solchen Angelegenheiten nichts zu tun haben!“ „Schon gut, Preman. Ich weiß, dass sie meinetwegen gekommen sind.“ Wie ein Geist war Hiob in der Kneipe erschienen. Cedric und Sparva wurden vom plötzlichen Auftauchen der gesuchten Person völlig überrascht. Sie sprangen sofort auf und zogen ihre Schwerter. Sason dagegen zuckte nur kurz zusammen, als er die Stimme des Dunkelelfen vernahm, dann wandte er sich gelassen um. Der Hauptmann hob gebieterisch die Hand. „Steckt die Waffen zurück“, befahl er ruhig, aber bestimmt. „Sichert die Tür.“ Cedric und Sparva kamen diesen Aufforderungen sofort nach. Sie schoben ihre Waffen zurück in die Gürtel und traten hinter Hiob, um ihm den Weg zur Tür zu versperren. Dabei hatten sie beide ihre Hand an den Schwertgriff gelegt und starrten den Dunkelelfen grimmig an. Selbst Cedrics ständiges Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Hiob drehte seinen Kopf leicht nach rechts, um mit seinem gesunden Auge einen kritischen Blick über seine Schulter zu werfen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Sason zu. „Euch haben wir gesucht“, meinte er und deutete mit dem Zeigefinger auf den Dunkelelfen, der keinerlei Regung zeigte. „Es freut mich, dass Ihr es uns so einfach macht und wir Euch nicht noch ewig suchen müssen. Die Fahrt zu dieser Insel war schon ermüdend genug.“ Sason gähnte, um seine letzten Worte zu unterstreichen. Hiob lupfte nur die Braue über seinem gesunden Auge. „Und jetzt fangt bitte nicht damit an, so kurz vor dem Ziel Ärger zu machen und ergebt Euch einfach“, forderte Sason den Gesuchten. Hiob machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren oder zu flüchten. Stattdessen schloss er die Augen und breitete entwaffnend seine Arme aus. „In Ordnung“, sagte er. „Ich ergebe mich.“ Sason hatte fest mit einem Fluchtversuch gerechnet und starrte den Dunkelelfen ungläubig an. „Oh…nun…das hört man gerne“, stotterte er überrascht und räusperte sich. Seine eigene Verwunderung ärgerte ihn, aber er erlangte seine Fassung schnell wieder zurück. „Festnehmen!“ Cedric und Sparva nickten und banden dem Dunkelelfen, der sich kein bisschen wehrte, die Hände auf den Rücken. „Sehr gut“, lobte Sason und brachte Hiob mit einem Klaps auf die Schulter dazu, sich umzudrehen. „Bringen wir ihn zu Schiff.“ Cedric und Sparva griffen Hiob bei den gefesselten Armen und führten ihn aus der Taverne. Sason blieb noch kurz stehen und nickte Preman zu, der kreidebleich war. „Schönen Tag noch“, verabschiedete er sich und folgte seinen Feldwebeln und dem Gefangenen. Craig war unterdessen nicht entgangen, dass ein Schiff im Hafen von Notting ankerte. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er die Insel verlassen oder doch lieber bei den Leuten bleiben sollte, die ihn schon sein ganzes Leben lang begleiteten. Stundenlang hatte er sich über das Für und Wider das Hirn zermartert und schließlich hatte er von seinem Lager am Fluss aus die Segel mit den goldenen Löwenköpfen gesehen. Sofort hatte ihn die Neugier gepackt und er war zur Küste gelaufen. Nun stand er staunend an der Anlegestelle und betrachtete das Kriegsschiff, das dort fest vertäut vor Anker lag. Die Soldaten an Bord beachteten den Jungen gar nicht, der ehrfürchtig zu ihnen hinaufblickte. Ein Fischer, derselbe, den Craig am Vortag mit dem Dorashen gesehen hatte, saß etwas abseits des Landungsstegs im Sand und flickte seine Netze. „Na, Craig?“, fragte er. „Interessierst du dich für die Schiffe der Kaiserlichen Armee?“ „Nicht wirklich“, gab Craig abwesend zurück. „Eigentlich wollte ich nur wissen, warum die Soldaten nach Notting gekommen sind.“ Der alte Fischer kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Wie kann man bloß so neugierig sein?“, wunderte er sich. „Vielleicht weiß im Dorf jemand etwas Genaueres. Vorhin sind drei Soldaten an Land gekommen und haben mich nach der Taverne gefragt. Vielleicht hat es sich bis nach Kaboroth herumgesprochen, dass Preman ein ausgezeichnetes Bier braut.“ „Ja, die segeln mit Sicherheit bis zu dieser gottverlassenen Insel, nur um Premans Gesöff zu probieren“, erwiderte Craig und verdrehte die Augen. „Ich werde mir das selbst mal ansehen. Kümmere du dich weiter um deine Netze.“ Der Fischer hob zum Gruß seinen Hut und ging dann wieder seiner Arbeit nach, während sich Craig auf den Weg zum Dorf machte. Er hatte noch nicht einmal die ersten Hütten erreicht, als ihm drei Krieger in Uniform entgegenkamen. Sie sahen ziemlich beeindruckend aus und der Junge spielte gerade mit dem Gedanken, vielleicht besser doch nicht nachzufragen, was sie auf der Insel verloren hatten, als er bemerkte, dass die Soldaten nicht allein waren. Hiob folgte ihnen und seine muskulösen Arme waren ihm mit kräftigen Stricken auf den Rücken gebunden. Craig blieb auf der Stelle stehen. Als Hiob ihn erblickte, riss er sein gesundes Auge auf, dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. „Hey…hey…“, stammelte Craig und ging wie in Trance auf die Soldaten und ihren Gefangenen zu. „Was soll denn das?“ „Kann man dir helfen, Junge?“, fragte Sason freundlich und blieb stehen. „Du solltest nicht hier sein, Craig“, sagte Hiob. „Geh zurück zu deiner Hütte.“ Craig kam näher. „Was soll denn das heißen?“, fragte er und starrte den Dunkelelfen an. „Kannst du mir mal erklären, was hier los ist?“ Cedric trat Craig entgegen. „Keinen Schritt weiter!“, drohte er und zog sein Schwert ein Stück aus dem Gürtel. Der Junge gehorchte. „Warum ist Hiob gefesselt?“, wollte er wissen. Das Lächeln auf Sasons Gesicht verschwand. „Nun…“, hob er an. „Weil er ein Dieb ist und wir mit der Aufgabe betraut wurden, ihn zu fassen und nach Kaboroth zu überführen.“ Craig verstand die Welt nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er abwechselnd Sason und Hiob an. Der Dunkelelf wich seinem Blick aus. „Ein Dieb?“, wiederholte der Waise entgeistert. „Was soll er denn gestohlen haben? Das ist doch Blödsinn!“ Sason atmete tief durch und sah Craig durchdringend an. „Dieses Abgelegenheit geht dich nichts an. Wir haben den Auftrag bekommen, diesen Mann festzunehmen und nach Kaboroth zu bringen. Also geh uns aus dem Weg!“ Craig zitterte am ganzen Körper. „Auf keinen Fall“, erwiderte er heiser und wünschte sich, sein Schwert bei sich zu tragen. „Das lasse ich nicht zu!“ Sason trat einen Schritt zurück und umschloss den Griff seines Langschwerts. „Junge…“, grollte er drohend. „Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen.“ Auch Cedric und Sparva griffen nach ihren Waffen. „Lasst ihn gehen!“, keuchte Craig gereizt. Ihm war egal, dass er drei gestandenen Soldaten gegenüberstand. „Der Dunkelelf scheint dir ja wirklich wichtig zu sein“, knurrte Sason. „Nur zu. Wenn du so weiter machst, kannst du ihm im Gefängnis Gesellschaft leisten. Ich sage es nur noch einmal: Geh uns aus dem Weg!“ Craig biss die Zähne aufeinander, bis er sie knirschen hörte. Seine Knöchel wurden weiß und sein Blut rauschte ihm in den Ohren. „Nein“, erwiderte er nur störrisch. Sason nickte Cedric finster zu. Der Feldwebel ging entschlossen auf den Jungen zu und packte ihn am Arm. Craig wehrte sich heftig und versuchte, sich aus dem Griff des Soldaten zu befreien, als plötzlich ein lautes Zischen und Knurren ertönte. Knack tauchte wie aus dem nichts aus den Binsen am Wegesrand auf und stürzte sich direkt auf Cedric. Der Feldwebel konnte von Glück reden, dass er Armschienen trug. Der Knucker hatte sein Handgelenk anvisiert und bohrte seine Giftzähne nur in Leder, statt in Fleisch. Cedric ließ Craigs Arm erschrocken los und wurde von der Wucht des Angriffs des rostroten Drachen zu Boden geworfen. Mit einem gezielten Tritt befreite er sich aus Knacks Fängen, rappelte sich hastig auf und zog sein Schwert. „Was bei Solas Licht ist das denn?“, fragte er mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Sasons Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ein Knucker, wenn ich mich nicht irre“, beantwortete der Hauptmann die Frage seines Feldwebels. „Hat er dich erwischt?“ Cedric prüfte kurz sein Handgelenk und schüttelte den Kopf. „Nein, alles in Ordnung, Hauptmann.“ Sason nickte beruhigt und musterte den schlangenartigen Drachen. Der Junge war nur ein lästiges Ärgernis, aber ein Knucker war ein gefährlicher Gegner. Knack hatte sich schützend vor Craig aufgebaut und knurrte die Soldaten zornig an. Der Waisenjunge rappelte sich wieder auf und starrte den Drachen überrascht an. „Was machst du denn hier?“, rief er verwundert, aber erfreut zugleich. Knacks Antwort war ein aufmunterndes Knurren und Glucksen. „Das Biest gehört zu dir?“, fragte Sason mit ungläubig, ehe sich sein Gesichtsausdruck wieder verfinsterte. „Langsam fängst du wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen!“ „Selbst schuld!“, blaffte Craig bockig zurück. „Bevor ihr Hiob nicht freilasst, lasse ich euch jedenfalls nicht durch! „Hör endlich auf mit diesem Blödsinn, Craig!“, meldete sich der Dunkelelf nun selbst zu Wort. „Es ist, wie der Hauptmann gesagt hat. Ich bin ein Dieb und habe mich freiwillig gestellt. Lass es gut sein, bevor du dich und Knack noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringst.“ Craig konnte nicht glauben, was er hörte. „Aber…aber…ein Dieb?“, stotterte er. „Wie kann das sein? Du warst doch die ganze Zeit hier bei mir?“ Hiobs narbiges Gesicht war hart und ausdruckslos. „Du hast mir doch nie geglaubt, dass das Schwert, das ich dir geschenkt habe, ein Erbstück deines Vaters war, nicht wahr? Bitteschön, du hattest recht. Ein versilbertes Heft, ein versilberter Knauf…das ist keine Waffe, die ich mir leisten kann.“ Craig sackte in sich zusammen und ging zitternd in die Knie. Er war sich sicher, dass Hiob ein gutes Herz hatte und wollte es nicht wahrhaben, dass sein Mentor ein berüchtigter Dieb sein sollte. Und auf keinen Fall wollte er wahrhaben, dass man ihm den Mann wegnahm, der nach dem Tod seiner Eltern wie ein Vater für ihn gewesen war. Seine Finger gruben sich tief in den staubigen Boden und rollten sich zusammen, bis sich seine Hände zu Fäusten ballten. „Mach dich nicht unglücklich.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter und Craig hob den Kopf. Über ihm stand der Dorashen. Das Herz des Waisenjungen setzte einen Schlag aus. Im ersten Augenblick war er vor Ehrfurcht wieder wie versteinert, doch dann kam ihm der Gedanke, dass der Mann gekommen war, um ihm aus irgendeinem Grund zu helfen. Craig schöpfte neue Hoffnung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Soldaten mit einem Dorashen anlegen würden. Knack starrte den Fremden neugierig an, schien dann aber zu dem Schluss zu kommen, dass er keine Bedrohung für Craig darstellte. Cedric und Sparva nahmen Kampfhaltung ein, während Sason den Neuankömmling misstrauisch beäugte. Er erkannte ihn sofort als den Mann aus der Taverne wieder und konnte sich erneut nicht des Gefühls erwehren, dass er sein Gesicht schon einmal gesehen hatte. „Kenne ich Euch?“, fragte er lauernd. Craig entging nicht, wie der Fremde kaum merklich zusammenzuckte. „Möglich“, entgegnete er kühl. „Ich habe Euch aber noch nie gesehen.“ „Ihr seid doch nicht etwa hergekommen, um ebenfalls Ärger zu machen?“, gab Sason zurück. Fast beiläufig griff er nach seinem Langschwert. „Keineswegs“, erwiderte der Dorashen. „Ich bin lediglich hier, um diesen Jungen davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen.“ Sasons angespannte Körperhaltung lockerte sich ein wenig und er ließ sein Schwert wieder los. „Das käme uns sehr gelegen“, gab er zu. „Wenn Ihr dafür sorgt, dass uns dieser Knirps nicht länger in die Quere kommt, werde ich großzügig darüber hinwegsehen, dass er unsere Arbeit behindern wollte.“ „Er wird keine Schwierigkeiten mehr machen“, versprach der Fremde. „Dafür werde ich sorgen.“ In diesem Augenblick wurde Craig schmerzhaft klar, dass der Dorashen nicht gekommen war, um ihm dabei zu helfen, Hiob aus den Fängen der Soldaten zu befreien. Der Waisenjunge ärgerte sich darüber, dass er diese verzweifelte Hoffnung gehegt hatte, aber der Fremde hatte keinen Grund, sich mit der Kaiserlichen Armee anzulegen. Stattdessen half er den Soldaten dabei, Hiob von der Insel zu schaffen. Craigs Körper erzitterte und noch ehe er selbst wusste, was geschah, sprang er schon zornerfüllt auf. In einem Anflug von verzweifelter Wut wollte er sich auf die Soldaten stürzen, doch die Hand des Dorashen schnellte nach vorn und packte ihn am Arm. Der Waisenjunge wirbelte herum und versuchte, sich aus dem Griff des Fremden zu befreien. Er zog und zerrte, doch die Finger des Mannes hatten sich unnachgiebig wie ein Schraubstock um seinen Arm geschlossen. „Was soll das?“, schrie Craig ihn an. „Was denkst du eigentlich, wer du bist? Lass mich los! Sie dürfen Hiob nicht mitnehmen!“ Knack hatte seine Meinung über den Dorashen geändert, als dieser Craig beim Arm gepackt hatte. Er duckte sich angriffslustig und knurrte den Mann drohend an. Doch der Fremde beachtete den fauchenden Knucker gar nicht. „Dein Freund hat gesagt, dass er aus freien Stücken mit ihnen geht“, sagte er tonlos. „Du solltest seine Entscheidung akzeptieren.“ Craig starrte den Dorashen entgeistert an. „Das kannst du nicht machen“, japste er verzweifelt und nach einem letzten, hoffnungslosen Versuch, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, brach seine Gegenwehr. Fassungslos starrte er ins Leere und hörte wie durch Watte, wie Hiob ein langgezogenes Seufzen ausstieß. „Lass gut sein, Craig“, sagte der Dunkelelf mit ruhiger Stimme. „Ich habe gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Man kann nicht ewig vor seiner Schuld davonlaufen. Früher oder später bezahlt man immer für seine Sünden.“ Ein Zittern durchlief den Körper des Dorashen, so heftig, dass Craig es deutlich in seinem Arm spüren konnte. Ein Tränenschleier ließ seinen Blick verschwimmen, als er den Kopf hob und in Hiobs einäugiges Gesicht sah. Er konnte erahnen, dass sich der Mund des Dunkelelfen zu einem traurigen Lächeln verzog. „Unsere gemeinsame Zeit war von Anfang an begrenzt“, fuhr Hiob fort. „Und ich habe dir gesagt, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst, wenn du wirklich zu deiner großen Reise aufbrechen willst.“ Sämtliche Kraft wich aus Craigs Gliedern. Seine Beine gaben nach und er sackte in die Knie. Der Dorashen lockerte seinen Griff und ließ den Arm des Waisenjungen los. Knack wirkte verunsichert, wich vorsichtig ein paar Schritte zurück und sah Craig sorgenvoll winselnd an. Sason erkannte sofort, dass von dem Knucker keine Gefahr mehr ausging und der Widerstand des Jungen endgültig gebrochen war. Er nickte Cedric und Sparva zu und seine beiden Feldwebel steckten augenblicklich ihre Schwerter zurück in ihre Gürtel. Dann ergriffen sie Hiob bei den Armen und forderten ihn auf, weiterzugehen. Der Dunkelelf gehorchte ohne Gegenwehr und setzte sich in Bewegung. „Leb wohl, Craig“, murmelte er leise, als er den auf dem Boden kauernden Waisenjungen passierte. „Pass gut auf ihn auf, Knack.“ Der Drache wippte mit dem Kopf und gab ein trauriges Zischen von sich. Während Hiob von Cedric und Sparva abgeführt wurde, blieb Sason noch kurz zurück. Noch einmal startete er einen fieberhaften Versuch, sich daran zu erinnern, wo er das Gesicht des Fremden schon einmal gesehen hatte, doch es wollte ihm noch immer nicht einfallen. „Der Junge will es vielleicht nicht wahrhaben, aber Ihr habt ihm einen großen Dienst erwiesen“, rief er ihm zu. „Die Armee dankt Euch für Eure Unterstützung.“ Der Fremde stand unbewegt wie ein Marmorstatue da. „Ich habe das bestimmt nicht für Euch getan“, erwiderte er monoton. „Ich wollte nur verhindern, dass er einen schwerwiegenden Fehler begeht.“ Sason räusperte sich, um zu verbergen, dass ihn die Antwort des Mannes reizte. „Nun, wie auch immer“, brummte er. „Ich verabschiede mich. Vielleicht sieht man sich ja eines Tages wieder.“ „Das hoffe ich nicht“, erwiderte der Fremde. Sason runzelte die Stirn und wandte sich wortlos ab. Während er zur Küstenklinge zurückkehrte, konnte er den Blick des Mannes in seinem Rücken spüren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)