Mochi-Eis und Rote Bohnen von Susuri ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Meine Güte Merle, du hattest ja gesagt, dass es ein großer Klunker ist, aber das ist schon eindrucksvoll!“, meine beste Freundin Sophie stellt ihr Weinglas auf den Beistelltisch neben den Liegen auf meiner Terrasse, schiebt ihre Straß besetzte Sonnenbrille auf den blonden Lockenkopf und mustert anerkennend den Brillanten an meinem Finger. „Mich wundert es ja nur, dass er dir keinen rosafarbenen Stein ausgesucht hat“, kichert Lilli, die sich neben Sophie sonnt und der ich vergangene Woche schon das Prunkstück gezeigt habe. Ich grinse und strecke meinen Arm aus und betrachte den im Licht der Mittagssonne funkelnden Stein auf meinem Verlobungsring. Das Teil muss ein Vermögen gekostet haben, denke ich nicht ohne schlechtes Gewissen, aber die Freude über den Ring und die Frage ist größer als das schlechte Gewissen. „Und? Wann ist es endlich so weit? Steht der Termin schon? Und hast du schon Pläne für den Ort, das Kleid, das Motto und...“ „Stopp mal, Sophie!“, unterbreche ich lachend ihren Wortschwall. „Er hat mir letzte Woche erst die Frage gestellt, da ist noch nichts Genaueres geplant! Ich ärgere mich nur, dass ich nicht so wie meine kleine Schwester seit Jahren an der perfekten Pinterest-Hochzeits-Wand gearbeitet habe...“ Fragend hebt Lilli die Augenbrauen. „Sie hatte bei ihrer Hochzeit letzten Mai einfach die Pinnwand an ihre Hochzeitsplanerin gemailt und die hat ihr eine Hochzeit nach ihren Träumen zusammengestellt!“ Ein bisschen neiderfüllt erinnere ich mich an die großen Feierlichkeiten in der kleinen Kapelle auf dem französischen Weingut ihres Mannes in der Provence. Meine kleine, damals erst zwanzigjährige Schwester schwebte in einem schulterfreien Traum aus weißem Tüll den mit Lavendel- und Rosengestecken geschmückten Gang zum Traualtar, wo ihr Verlobter in einem maßgeschneiderten Armani-Anzug auf sie wartete. Er war zum Zeitpunkt der Trauung zweiunddreißig, was meine Eltern, als sie ihn zum ersten gemeinsamen Abendessen mitbrachte, dazu veranlasste, sie kurzerhand für ein gutes Jahr aus der Wohnung zu werfen. Da ihr Freund zu der Zeit aber für ein Jahr zurück nach Frankreich gegangen war, um in Paris am Hôpital Rothschild in Paris zu praktizieren, kroch sie für die Zeit bei mir in der WG unter. Was mich daran erinnerte, wieso ich unseren Eltern immer dankbar gegenüber gewesen bin, dass sie jeder von uns ein separates Schlafzimmer zur Verfügung gestellt hatten. „Und wie hat er dir den Antrag jetzt gemacht?“ Lilli öffnet die Weinflasche und füllt mir das Glas mit unserem liebsten Grauburgunder auf, den wir bei einer gemütlichen Weinverkostung vor kurzem lieben gelernt hatten. Ein sehr lustiger Abend mit piekfeinen Weinschnöseln, die uns von der erdigen Note des einen Weines und dem vollmundigen Abgang des anderen Weines überzeugen wollten. Und die Nase über uns rümpften, als wir im Laufe des Abends immer lustiger, betrunkener und lauter wurden.  Ich drehe mich auf die Seite und grinse die beiden an. „So, wie ich es mir gewünscht hab! Ihr habt gute Arbeit geleistet, Mädels!“ Seit ich klein war, habe ich davon geträumt, auf der Spitze eines Riesenrades mit wahlweise Blick über die bei Nacht erleuchtete Kirmes oder Sonnenuntergang über die Stadt, meinen Hochzeitsantrag zu bekommen. Der Fakt, dass ich eigentlich schreckliche Höhenangst habe, hab ich zu dem Zeitpunkt, als ich beschloss, dass ich so und nicht anders meinen Antrag bekommen möchte, leider nicht bedacht. Und nachdem ich mir diese Wunschvorstellung in den Kopf gesetzt hatte, wurde ich nicht müde, jeder Freundin davon zu erzählen, damit sie meinem Zukünftigen instruieren konnte, wie ich den Ring übergeben haben wollte. Und das hatte auch ganz wunderbar funktioniert. Zur letzten Frühlings-Kirmes hatte er mich nach einem stressigen Tag im Verlag mit einem kleinen Briefchen in meinem Fahrradkörbchen überrascht, den ich in meiner Müdigkeit beinahe übersehen hatte. Im Briefumschlag war ein ganz altmodischer Brief mit der Frage: „Willst du dich heute mit mir um sieben auf dem Rummel treffen?“ mit drei Mal der Antwortmöglichkeit „Ja, ich will“. Später meinte er, dass er mir nicht abkaufen wollte, dass ich damals keine Idee hatte, dass er mir an dem Abend den Antrag machen wollte. Aber ich hatte es wirklich nicht erwartet. Nachdem er nach bereits vier Jahren Beziehung nicht um meine Hand angehalten hatte, hatte ich es schon fast aufgegeben. Etwas müde und ziemlich gehetzt, da ich erst um halb sieben das Büro verlassen hatte, kam ich am Rummelplatz an, wo er mich vor unserem Lieblingsstand, dem mit den schokolierten Waffeln mit einem breiten Grinsen bereits erwartete. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, meinte er und begrüßte mich mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Erst Essen, Bier oder Fahrgeschäft?“, fragte er, während ich mich zufrieden an seine muskulöse Brust schmiegte. „Erst Fahrgeschäft, das ist doch die einzig sinnvolle Reihenfolge“, murmelte ich zu ihm hoch. Auf je eine Runde Kettenkarussell, Break-Dancer und Raupe folgten Karamellpopcorn, schokolierte Macadamia-Nüsse und eine sehr schnelle Maß Bier, bevor er meine Hand nahm und mich in Richtung des Riesenrades zerrte. „Oh bitte nicht“, stöhnte ich angeschickert. „Ich hab schon zu viel getrunken und gegessen und sowieso, das ist doch viel zu hoch!“ Aber meinen Protest ignorierend zog er mich weiter zu dem riesigen Metallgerüst. Rückblickend war der Antrag an sich perfekt. Auf der Spitze des Riesenrades hielt unsere Kabine an und über den funkelnden Buden, den lachenden Menschen und blitzenden Fahrgeschäften schwebend, hockte sich mein perfekt gestylter Jan, der zwar nie etepetete war, aber normalerweise nie mit dem dreckigen Boden einer Riesenradgondel in Berührung kommen würde, vor mich und stellte die Frage, auf die ich schon so lange gewartet hatte. Und natürlich rief ich begeistert ja. Und sprang ihm so schwungvoll in die Arme, dass die Gondel beachtlich ins Wanken gebracht wurde. Soweit also wirklich alles perfekt und wie ich es mir jahrelang gewünscht hatte. Nur hörte das Wanken der Gondel nicht auf und mit der darauf hin dazukommenden Bewegung des sich wieder in Bewegung setzenden Riesenrades beschlossen Bier, Schoko-Nüsse und Popcorn, dass es doch an der Zeit währe eine kleine Feier in meinem Magen zu veranstalten. Den Rest dieses theoretisch sehr romantischen Abends kann man sich vorstellen – es sei nur so viel gesagt: für den diesjährigen Frühlings-Rummel bekam ich Hausverbot auf dem Riesenrad. Sophie seufzt verträumt. „Ach Mensch, da werd ich ja ganz neidisch! Falls Tobias mir jemals einen Antrag macht, dann wahrscheinlich auch nur per SMS“ Etwas traurig wendet sie den Blick ab und spielt mit dem kleinen Silberkettchen an ihrem Handgelenk. „Quatsch! Das wird bestimmt auch total romantisch! Und nur, weil er momentan so viel wegen der Arbeit unterwegs ist, heißt das doch nicht, dass eure Beziehung die nächsten Jahre so bleiben muss! Das wird sicherlich bald etwas entspannter bei ihm in der Firma“, versuche ich sie zu beruhigen. Sophie ist seit einem Jahr mit Tobias zusammen, der in einer aufstrebenden Werbeagentur arbeitet. Leider heißt der Erfolg auch, dass Kunden aus ganz Deutschland auf ihn aufmerksam werden und er deswegen selten zu Hause ist. Die Beziehung zwischen ihm und Sophie findet deswegen zu größten Teilen elektronisch statt. Um sie auf etwas andere Gedanken zu bringen frage ich sie, ob sie nicht Lust hätte, mit mir für Jonas’ Geburtstagsgeschenk zusammen zu legen. „Ihr müsst doch nicht irgendetwas Großes für ihn besorgen“, winkt Lilli ab. „Er ist erst zwei und freut sich über fast alles, was irgendwie Lärm macht, bunt ist oder ein Auto als Motiv hat!“ Lilli war die erste in unserem Freundeskreis, die Mutter geworden war. Allerdings nicht geplant und von einem One Night Stand, bei dem nach dem vierten Gin Tonic irgendwann der ungezügelte Spaß der Verhütung vorgezogen wurde. Begeistert waren ihre Eltern davon natürlich nicht und strichen ihr kurzerhand die finanzielle Unterstützung im Studium. Lilli musste daraufhin ihr Studium abbrechen und hielt sich die letzten zwei Jahre mit mehr oder weniger schrecklich unterbezahlten Nebenjobs über Wasser. Wo immer wir können, versuchen wir, Lilli einzuladen oder ihr auch mal ein bisschen Geld zu „leihen“, ohne die Absicht zu haben, es jemals von ihr zurück verlangen zu wollen. Aber meistens lehnt sie rigoros ab. Sogar von mir, ihrer ältesten Freundin seit der Kinderkrippe, will sie keine finanzielle Unterstützung. Deswegen sind Geburtstage von ihr oder ihrem Sohn immer die besten Möglichkeiten ihr ein bisschen unter die Arme zu greifen, ohne dass sie das Gesicht zu verlieren braucht. „Tut mir leid“, erwidert Sophie. „Antonia hatte mich schon gefragt, ob wir zusammen etwas für Jonas besorgen und ich hab ihr bereits das Geld gegeben... Aber geh doch zusammen mit Jan einkaufen! Du hast doch erzählt, dass er sich letztens, als ihr seine Nichte übers Wochenende zu Besuch hattet, so süß um sie gekümmert hat.“ Das stimmt. Obwohl wir noch keine Kinder zusammen haben und sich das auch in den nächsten Jahren erst mal nicht ändern soll, ist Jan so unsagbar kinderlieb, dass in mir in den Momenten, in denen er mit dem kleinen Jonas spielt, immer alle weiblichen Hormone komplett durch drehen und ich mir dann doch so einen kleinen Wurm wünsche. „Gute Idee, zumal er ja selber noch ein halbes Kind ist, da wird er bestimmt Spaß daran haben, mit mir ein Geschenk für einen kleinen Jungen auszusuchen!“ „Wer ist noch ein halbes Kind?“, höre ich von drinnen die sonore Stimme meines Schatzes tönen. Ich drehe mich auf der Liege um, um einen Blick in die Wohnung zu werfen, wo mich Jan mit vom Motorradhelm zerstrubbelten Haaren frech angrinst. Wie immer schmelze ich innerlich ein kleines Bisschen beim Anblick seiner kleinen Zahnlücke und den perfekten, schmalen und zum Küssen einladenden Lippen. Aber natürlich lasse ich mir das vor ihm nicht anmerken. Zumindest nicht immer. Frau braucht schließlich auch noch ihre Integrität und zu sicher sollte sich der Mann schließlich nicht sein, wie toll man ihn findet. „Du sicher nicht“, erwidere ich grinsend. „Du bist nämlich noch voll und Ganz ein Kleinkind, Schatz!“ Er kommt zu mir rüber, verwuschelt mit gespieltem Ärger meine ordentlich nach hinten frisierten Haare und drückt mir dann einen Kuss auf die Stirn. „Zum Glück bin ich mit der besten Kinderbetreuerin überhaupt verlobt!“ Neben mir ertönen Würgelaute. „Ihr wisst schon, wie seltsam auf so vielen Leveln gerade diese Unterhaltung war, oder?“, lästert Sophie. „Ich würd sagen, ich geh jetzt mal, damit sich Kleinkind und Kindergärtnerin... beschäftigen können!“ Sie leert ihr Weinglas und erhebt sich. „Bleib doch noch! Ich lass euch gleich wieder alleine, ich bin mit den Kollegen noch zum Squash verabredet!“, meint Jan und schiebt sie sanft wieder auf ihre Liege zurück. „Soll ich euch noch einen Wein holen – so als Entschädigung für den Spruch und die fehlende Begrüßung?“, fragt er zwinkernd. „Den Weißwein, der noch im Kühlschrank steht, bitte“, bestellt Lilli. „Und ich hab noch eine Tüte Chips auf den Küchenblock gelegt, die bitte auch!“ Sie grinst erst mich und dann ihn an. „Danke, Herr Kellner, das wäre alles!“ Lilli kennt Jan fast genau so lange, wie ich. Da wir uns während der Uni-Zeit eine kleine Wohnung in der Innenstadt geteilt hatten, war sie die erste aus meinem Bekanntenkreis, der ich ihn vorstellte. Obwohl wahrscheinlich ihr erster Eindruck von ihm einprägender war,  als die darauffolgende Vorstellung. Als er nämlich das erste Mal bei mir übernachtete und nachts auf Toilette gegangen war, irrte er sich in der Schlafzimmertür und überraschte Lilli dabei, wie sie gerade mit sich selbst zugange war. Danach war er sie so beschämt, dass es erst ein Mal einen Monat dauerte, bis sie sich wieder aus dem Zimmer traute, wenn er zu Besuch war. „Die Damen, einen Moment bitte, Ihre Bestellung kommt jeden Moment“, mein Jan und deutet eine Verbeugung an. „So ein Gentleman“; raunt Sophie mir zu, als er wieder in die Wohnung verschwindet. „Ich wünschte, Tobi wäre auch so zuvorkommend. Oder einfach mal da...“, fügt sie leise hinzu. Ich gieße uns dreien von dem Weißwein, den Jan mir reicht, ordentlich ein und erhebe mein Glas zu einem Toast. „Mädels, auf uns! Darauf, dass wir uns nicht von unseren komischen, nervigen und wundervollen Kerlen einkriegen lassen – egal, ob sie jetzt große oder kleine Kinder und uns viel oder wenig auf den Keks gehen! Prost!“ „Prost!“, rufen meine Freundinnen. Die Gläser klirren und etwas Wein spritzt auf uns, als wir schwungvoll anstoßen.   Müde reibe ich mir die Augen und lege das Manuskript, an dem ich gerade arbeite, für einen Moment beiseite. Wenn die gedruckten Buchstaben vor meinen Augen beginnen zu einem einzigen schwarzen Balken zu verschwimmen, weiß ich, dass es erst Mal reicht. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und lasse meinen Kopf auf die Lehne meines Sofas fallen. Meine Gedanken drehen sich um die kitschige Heldin des Romans, für den ich gerade als Lektorin zuständig bin. Die Geschichte ist eine weitere rosa, schmalzige Zuckerwatte-Welt, wo die Heldin sich in den ach-so-mysteriösen, gutaussehenden, aber charakterlich leider zurückgebliebenen Kerl verguckt, den sie zu Beginn überhaupt nicht ausstehen kann. Und der sie natürlich viel schlechter behandelt, als ihr bester Freund, der schon seit der Schulzeit in sie verliebt ist und sie quasi auf Händen tragen würde und der sich am Ende damit abfinden muss, die Protagonistin vor dem Altar mit dem Idioten zu sehen. Wenn die Autorin nicht schon so viele sehr erfolgreiche Schmonzetten bei uns im Verlag veröffentlich hätte, dann wäre dieser Mist auch gar nicht erst bis zu mir gekommen, aber mein Chef verspricht sich hohe Verkaufszahlen. Ich sage ein frühes Ende in der Grabbelkiste des Bahnhofsbuchladens bevor. Aber wenn es dem Chef wichtig ist, dann werde ich einen Teufel tun und ihm widersprechen. Schließlich arbeite ich schon ein Weilchen auf eine Beförderung hin. Nach meinem Germanistik-Studium hatte ich ziemliches Glück, dass ich über einen Freund von Jans Vater eine Stelle in einem großen Verlagshaus bekommen hatte. Eigentlich, meinte mein Chef damals, hätte er nie ein so blutjunges Mädchen wie mich eingestellt. Aber nachdem ich bereits während des Studiums als freie Mitarbeiterin bei einer Tageszeitung gearbeitet hatte, und der Freund von Jans Vater wiederum sein Vorgesetzter war, nahm er mich dennoch. Eigentlich träumte ich von einem Job in einer der großen Tageszeitungen oder einem der Hochglanzmagazine, die noch unter dem Dach der Verlagsgruppe herausgegeben wurden. Aber die letzten zwei Jahre bin ich aus meinem Job als Lektorin nicht heraus gekommen. Nicht, dass ich unglücklich darüber bin. Im Gegenteil, ich bin unsagbar dankbar für diesen Job. Wer kann mit sechsundzwanzig schon sagen, eine feste Stelle mit einem für diesen Job eher unüblich hohen Einkommen zu haben? Aber trotzdem will ich lieber selber schreiben, als mich immer nur um die Geschichten anderer Leute zu kümmern. Ich höre, wie im Schloss der Schlüssel umgedreht wird und werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist halb zwölf. „Ich bin wieder da“, ruft Jan in die Wohnung. „Es ist etwas später geworden, als gedacht!“ Er wirft seine Sporttasche in die Ecke. Ohne das durchgeschwitzte Sportzeug aufzuhängen. Ich rümpfe jetzt schon die Nase beim Gedanken an den Schweißmuff, der dann erst mal eine Weile in der Wohnung hängen bleiben wird. Müde ächzend krieche ich vom Sofa und trotte zu ihm in den Wohnungsflur. „Hallo Schatz“, murmele ich und schlinge die Arme um seine Hüften. Liebevoll streichelt er mit seiner großen Hand über die Haare und drückt mir sanft einen Kuss auf die Stirn. „Hast du wieder bis jetzt gearbeitet?“, fragt er mich und ich höre die Sorge in seiner Stimme. „Du siehst in letzter Zeit so müde aus, vielleicht solltest du mal Steven daran erinnern, dass er doch auch noch ein paar andere Lektoren außer dir hat.“ Ich schüttele, so gut es an ihn gepresst geht, den Kopf. „Ich will ja die Beförderung und wenn das heißt,  für ein Weilchen ein paar Überstunden einzulegen, dann ist das eben so. Es wird ja nicht für immer sein.“ Zumindest hoffe ich das. Aber dass ich schon meine Zweifel daran habe, dass das mit der Beförderung noch in sehr weiter Ferne liegt, kann ich nicht aussprechen. Um die Stimmung etwas aufzuhellen, versuche ich das Thema zu wechseln. „Ich habe jetzt übrigens die Flüge gebucht!“ Seine Augen leuchten auf. „Du bist genial! Ich glaube, wenn ich dich nicht hätte, dann würde der Plan immer noch im Raum stehen, ohne eine Chance, jemals in die Realität umgesetzt zu werden! Hast du die Reiseroute auch schon fertig?“ Lächeln nicke ich und ziehe ihn ins Wohnzimmer, wo mein Laptop noch aufgeklappt auf dem Küchentisch steht. „Alles ist fertig gebucht!“, verkünde ich nicht ohne Stolz. „Ein Monat Japan-Rundreise. Also zumindest durch den Osten und etwas vom Südwesten. Wir kommen in Tokyo am 27. an und fahren dann mit dem Shinkansen zunächst nach Kyoto. Von dort aus besuchen wir Osaka, Nara und Hiroshima. Nach knapp zwei Wochen geht es weiter nach Kanazawa, einer Kleinstadt im Nordwesten, wo wir aber nur ein paar Tage wohnen werden. Und als krönenden Abschluss: Zwei Wochen Tokyo. Und ich hab auch schon mal geguckt, vielleicht machen wir von da aus auch noch einen Ausflug nach Nikko, zu dem wunderschönen goldenen Tempel mit den drei Äffchen machen. Du weißt schon, die, die nichts Böses sehen, hören oder sagen. Oh, und nach Kamakura und Enoshima würde ich auch ganz gerne noch fahren. Enoshima soll eine wunderschöne Insel sein und vielleicht machen wir dann einfach einen Strandtag dort!“, sprudele ich aufgeregt hervor. Seine Idee, noch vor der Hochzeit eine erste gemeinsame große Reise zu machen, die auch etwas länger als nur zwei Wochen dauert, fand ich zunächst etwas seltsam.  Eigentlich sollte man sich doch solche Ziele für die Flitterwochen aufheben. Doch dann schlug er Japan als Ziel unserer Reise vor. Und damit hatte er mich geködert. Schon als kleines Mädchen fand ich Japan faszinierend. Ich hatte recht bald jeden Manga aus unserer Bibliothek mindestens zwei Mal durchgelesen und strukturierte meinen Tagesablauf nach den Sendezeiten von Digimon, Pokemon und Sailor Moon auf RTL 2. Irgendwann weitete sich dann die Liebe zum zweidimensionalen Japan auf eine Faszination für die doch sehr dreidimensionale Mode, Architektur und nicht zuletzt auf das Essen aus. Aber Japan war so weit weg, der Flug dauert über 15 Stunden und nicht zuletzt fehlte mir auch das Geld für so eine Reise. Alleine der Hin- und Rückflug erleichtern das Portemonnaie um nicht viel weniger als zwei Tausend Euro. Verständlich, dass ich Jans Angebot der gemeinsamen Japan-Reise also mit Handkuss entgegen genommen hatte. Die Planung des Trips hatte mich dann doch eine ganze Zeit beschäftigt, aber mein Perfektionismus brachte die perfekte Reise-Route zutage. Beeindruckt nickt Jan. „Das klingt ja wunderbar! Aber glaubst du, dass wir das alles in einem Monat schaffen? Ist das nicht etwas zu viel?“, gibt er zu bedenken. „Ich meine, sollten wir nicht ein paar dieser ganzen Ausflüge streichen?“ Wie bei einem Ballon, aus dem die Luft herausgelassen wurde, sinke ich in mich zusammen. Meine Begeisterung verpufft mit einem Knall. „Aber ich hab doch alles schon gebucht und ich würde das wirklich alles gerne sehen...“, murmele ich enttäuscht. „Ich dachte, ich hätte das alles so perfekt geplant und du würdest dich genau so sehr auf die Reise freuen, wie ich!“ Erschrocken über meinen plötzlichen Stimmungsumschwung rudert er schnell zurück. „Nein, Schatz! Du hast das perfekt gebucht! Und wenn du das alles sehen willst, dann werden wir das auch schaffen, in Ordnung?“ Ich nicke. „Jetzt guck mich bitte nicht so traurig an, du reagierst ein bisschen über. Ich hab doch nicht gesagt, dass ich mich auf die Reise nicht freuen würde!“ Ich schlucke hart und ignoriere den Seitenhieb mit dem Überreagieren. Schließlich will ich keinen Streit am Abend. Wahrscheinlich bin ich wirklich nur müde und etwas entnervt von der Tatsache, dass ich meinen Samstagabend arbeitend verbringe und nicht mit Freunden aus bin. Jan zieht sein Handy aus der Hosentasche und beginnt darauf rum zu tippen. „Was machst du?“, frage ich grummelig. Ich hasse es, wenn er mitten in der Unterhaltung parallel noch Nachrichten beantwortet. „Ich, Fräulein Gute-Laune“, antwortet er und zieht mich an sich. „bestelle bei Seita im Midori gerade eine große Platte gemischtes Sushi, mit einer extra Portion Inari-Sushi und vier Matcha-Daifuku! Aber wenn du weiter so muffelig bist, dann muss ich das wohl alleine vor deinen Augen verputzten. “ In dem Moment knurrt mein Magen und ich erinnere mich, dass ich noch nichts zum Abendbrot hatte. Vielleicht bin ich deswegen so schnell reizbar. „Aber es ist kurz vor Mitternacht, da liefert doch niemand mehr was aus!“, gebe ich zu bedenken. Sein Handy plingt und er hält mir grinsend die Antwort unseres lieblings Sushi-Chefs unter die Nase. „Seitas Sohn schon! Das Midori hat doch eh bis zwei geöffnet und da wir ja quasi die Hälfte ihres Einkommens ausmachen, sind solche Dienste doch schon mal drin.“ Mir läuft das Wasser im Munde zusammen beim Gedanken an die frischen Inari-Sushi, meine absoluten Lieblinge: Kleine Portionen Reis, in etwa so groß, wie die bei einem bekannten Lachs-Nigiri, in einer Tasche aus der Haut von frittiertem Tofu. Manchmal mischt Seita auch noch gerösteten Sesam oder Bambussprossen in den Reis, die das ganze noch interessanter machen. Und dann die klebrigen süßen Matcha-Daifuku zum Nachtisch erst – himmlisch. Daifuku sind gedämpfte Reisküchlein, die aus glutenhaltigem Reismehl hergestellt werden und dann mit einer zuckersüßen roten Bohnenpaste, genannt Anko, gefüllt werden. Der Matcha, japanischer grüner Tee, gibt der Süßigkeit nicht nur eine schöne grüne Farbe, sondern verleiht ihr auch eine leichte Bitterkeit, die einen wunderbaren Gegensatz zu der Süße der Füllung bildet. Gespielt seufzend ergebe ich mich. „Na gut, ich bin ja schon friedlich! Aber nur, weil du mich mit den Inari-Sushi bestochen hast!“, lache ich und klappe den Laptop zu. Auch er muss lachen. „Wusste ich es doch, dass das dein Kryptonit ist!“ „Du Nerd“, meine ich und gebe ihm einen Kuss auf den Mund. „Aber du bist mein Nerd, und deswegen ist das schon in Ordnung!“ „Musst du grad sagen, du Obernerd“, murmelt er zwischen zwei Küssen. Kapitel 2: ----------- Geduldig nickend lasse ich mir zum bereits vierten Mal bei diesem Mittagessen erklären, was für eine außerordentlich emanzipierte Frau doch die Protagonistin aus ihrem neuesten Roman ist und warum sie sich doch so sehr von all den anderen Frauen aus den kitschigen Liebesromanen unterscheidet. Denn im Gegensatz zu diesen ist ihre Protagonistin eine echte Frau. Mit echten Gefühlen, die auch für sich selber einstehen kann. Die junge Autorin, die mir gegenüber sitzt, fuchtelt beim Reden aufgeregt mit ihrer Gabel herum und kommt vor Begeisterung gar nicht dazu, auch nur einen Happen ihrer Pesto-Spirelli zu essen, die über ihren Ausführungen schon ganz kalt geworden sind. Ich wiederum habe nicht nur meine Pasta bereits in Rekordzeit vernichtet, sondern leere gerade erfolgreich die zweite Nachladung des kostenlosen Brotkorbes. „Ach, Sie wissen gar nicht, wie schön es ist, endlich auch mal eine Lektorin zu haben“, seufzt meine Essensbegleitung. „Mein letzter Roman wurde von einem Herren mittleren Alters lektoriert, der ja gar nicht verstehen, wie sich eine junge Frau fühlt, die versucht, sich in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten!“ Ich frage mich, wann wohl der beste Zeitpunkt ist, ihr zu erklären, dass ihre so geschätzte Protagonistin doch nicht so emanzipiert ist, wie sie sie darstellt. Denn am Ende des ach-so-feministischen Romans heiratet die Hauptperson nämlich, welch Überraschung, doch ihren sexistischen Wiederling von Chef, der sie die ganze Geschichte über wie seine persönliche Sklavin behandelt und ihr letztendlich nicht einmal die versprochene Beförderung gibt. Aber nachdem der letzte Roman der jungen Autorin so unverschämt gut gelaufen ist, hielt es mein Chef für unerlässlich, auch ihr nächstes Werk in unserem Verlag zu veröffentlichen. Mit Fräulein „Meine Romanheldin dreht das Bild der Frau im Liebesroman um hundertachtzig Grad“ ist das nun der siebte Liebesroman, den ich im letzten Monat auf den Tisch bekommen habe. Und genau wie die anderen sechs davor ist er im selben Maße unoriginell, vorhersehbar und schlicht und ergreifend dämlich. Wenn ich schon im Lektor-Job festhänge, dann würde ich mich über etwas anspruchsvolle Literatur freuen. Oder zumindest etwas anderes, als immer nur scheußliche Schmonzetten. Wie nach jedem Mittagessen mit einem unserer Autoren zahle ich im Anschluss an einen Espresso mit der Firmen-Kreditkarte und verabschiede sie mit einem professionellem Lächeln und der höflichen, wenn auch drängenden, Bitte um Pünktlichkeit mit dem nächsten Kapitel. Nachdem sie um die nächste Straßenecke verschwunden ist, lasse ich mich stöhnend auf die nächstbeste Bank fallen und krame in meiner Handtasche nach meinem klingelnden Handy. „Hey Merle, wie war das Mittagessen mit deinem neuen Projekt?“, ertönt Jans Stimme aus dem Apparat. Um mein Missfallen an den sich häufenden Liebesromanen Ausdruck zu verleihen, begannen wir irgendwann damit nur noch von ihnen als „Projekte“ zu sprechen. „So wie immer – ganz neues, umwerfendes Roman-Konzept, ich bin hin und weg“, seufze ich. „Hast du gerade mal kurz Zeit für mich?“, frage ich um das Thema weg von der Zuckerwatte-Kitsch-Welt, die die Klientin in den letzten zwei Stunden erfolgreich in meinem Kopf erstellt hat, zu bewegen. Im Handy höre ich es knacken und dann klingt seine Stimme plötzlich näher als vorhin. Er hat den Lautsprecher ausgemacht. „Du meinst für ein kurzes Büro-Intermezzo? Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht“, raunt er erwartungsvoll. „Eigentlich ist es zeitlich eher schwierig aber eine halbe Stunde kann ich mir sicher für dich einräumen!“ „Wunderbar, dann hast du ja jetzt genug Zeit, mit mir zusammen in das Spielzeuggeschäft bei deinem Büro um die Ecke zu gehen und zusammen mit mir für Jonas Geburtstag ein Geschenk auszusuchen“ Auch wenn seine Idee wesentlich verführerischer klang, füge ich in Gedanken hinzu. Da unsere beiden Jobs uns tagsüber ziemlich einspannen, sehen wir uns meistens erst abends. Als wir beide noch an der Uni waren, ging es einfacher mal so tagsüber nach Hause zu fahren und... „Also?“, frage ich ihn. „Ich bin in einer halben Stunde bei dir, mach dir schon mal einen Kopf, was man einem so kleinen Bubi schenken könnte!“ Ohne auf seine Widerworte einzugehen lege ich auf und mache mich auf den Weg zurück zum Verlagsgebäude, wo mein Fahrrad auf mich wartet. Nachdem ich vor einem halben Jahr auf dem Laufband eine Paradelandung hingelegt und mir dabei die Beine komplett aufgeschlagen hatte, woraufhin ich knapp einen Monat nicht mehr in Seidenstrumpfhosen raus gehen konnte, sondern nur in blickdichten Hosen, mache ich einen großen Bogen um alles, was auch nur im entferntesten wie ein Fitness-Studio aussieht. Und da mir draußen joggen zu peinlich ist, bleibt mein Drahtesel die einzige sportliche Betätigung in meinem Leben. Die mir nicht nur stramme Beine einbringt, sondern auch die Wucherbeträge für die Monatskarte spart. Und bei Minusgraden durch die Stadt zu fahren hat nebenbei auch den schönen Vorteil, dass das Immunsystem keinen teuren Vitamin-Booster aus der Apotheke mehr braucht. Die Lukas Grebl Verlagsgruppe hat ihren Hauptsitz in einem großen Bürogebäude direkt im Zentrum von Frankfurt. Hinter der glänzenden gläsernen Fassade arbeiten auf fünfundzwanzig Etagen topmodern gekleidete Damen in schicken Pumps und coole Hipster mit ironisch gemeinten Statement-Krawatten an den „Wie angle ich mir meinen Traumtypen“ und „Welcher Unterton in meiner Haut passt am besten zu welcher Farbe“-Artikeln, der diversen Frauenzeitschriften, bearbeiten Fotos von Landschaftsaufnahmen, Motorrädern oder Hundewelpen oder arbeiten am Cover-Design des nächsten Dan Brown Nachfolgers. Oder dürfen sich, wie ich, durch Manuskripte wühlen, E-Mails sichten, Autoren beraten und auf Messen Kontakte aufrechterhalten. Wie schon gesagt, ich bin wirklich dankbar für meinen Job, aber manchmal denke ich, dass ich wirklich jede andere Stelle im Verlag annehmen würde. Auch wenn das Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen und eine Chefin, wie Miranda Priestly aus „Der Teufel trägt Prada“ bedeuten würde. Aber für eine Anstellung in einer Frauenzeitschrift habe ich wahrscheinlich eh zu wenig Modegespür. Beiläufig mustere ich mich in der Spiegelung eines Schaufensters. Aus meiner knallroten highwaisted Karottenhose lugt ein paar dunkelblauer Plateau-Espandrilles, in die ich, der Mode-Gott bewahre, mit Blumen bestickte, semitransparente, ebenfalls blaue Söckchen gezogen habe. Meine weite weiße Bluse habe ich versucht, cool und betont lässig in meine Hose zu stecken, so als hätte ich nicht am Morgen zehn Minuten vorm Spiegel damit verbracht, sie trendig zu drapieren. Vergeblich. Irgendwie sieht die obere Hälfte meines Körpers doch zu altbacken, die untere zu versucht-modern aus. Dabei sah das Outfit bei der Japanerin, der ich es abgeguckt habe, so toll aus. Während ich noch über meine fehlenden modischen Kenntnisse seufze, schließe ich mein Fahrrad vom Ständer und werfe meine Handtasche in das kleine Körbchen am Lenker. Jan hatte mich damals ausgelacht, als ich ihm stolz meinen neuen, knall-türkisen Drahtesel präsentiert hatte – mit Körbchen, tiefem Einstieg und einer geblümten Klingel. „Damit schaffst du es doch niemals, schnell durch die Stadt zu fahren“, lästerte er. De facto bin ich aber meist wesentlich schneller als er, wenn es darum geht, sich durch den Verkehr der Innenstadt zu fädeln. Und ich wurde auch noch nie von der Polizei wegen meines eher weniger regelkonformen Fahrstils angehalten. Wie auf Autopilot schlage ich den Weg zum Büro meines Verlobten ein und beschäftige mich innerlich mit der Frage, die ich die letzten Tage immer vor mir hergeschoben habe: Was kann ich Jonas und noch viel wichtiger eigentlich, was kann ich Lilli bloß schenken? Ich mache wirklich gerne Geschenke, eigentlich viel lieber, als welche zu bekommen, aber das Aussuchen ist  immer eine Qual. Am liebsten verschenke ich Unternehmungen zusammen – so was wie ein gemeinsames schickes Abendessen, ein Besuch in einem dieser Windtunnel, in denen man Fliegen kann oder ein Besuch im Fußballstadion. Aber ob Jonas wohl in seinem Alter schon den Besuch auf der Tribüne zu schätzen weiß? Vielleicht biete ich Lilli an, für ein verlängertes Wochenende auf Jonas aufzupassen, damit sie mal in aller Ruhe etwas entspannen und Schlaf nachholen kann. Ein Geschenk für Jonas ist das aber noch nicht. Aus der Entfernung sehe ich schon Jans blonden Lockenkopf und schmelze ein klein wenig beim Blick auf seinen langen schlanken Körper in dem Anzug, der zwar der Mode entsprechend recht körpernah geschneidert ist, aber immer noch locker an ihm hängt. Vielleicht, denke ich mir. Wenn wir uns mit dem Einkauf beeilen, könnten wir ja doch noch in seinem Büro auf seinen ursprünglichen Einfall zurückkommen. Das wäre genau der Energiekick, den ich für den Rest des Tages noch brauchen würde. Lächelnd komme ich vor ihm zu stehen. „Hallo, mein zukünftiger Göttergatte“, rufe ich etwas zu laut und beobachte amüsiert, wie er sich panisch umschaut, ob nicht einer seiner Kollegen etwas gehört hat. Mit einem gespielt bösem Blick zieht er mich an sich und drück mir einen Kuss auf die Lippen. „Na warte, mich einfach hier so vor meinem eigenen Büro zu blamieren, das gibt Strafe, junge Dame“, flüstert er und beißt mir leicht auf die Lippen. „Aber nicht hier! Gehen wir, ich hab nur eine knappe halbe Stunde!“ Ich schließe mein Fahrrad an das nächste Straßenschild und schlendere dann, meine Hand in seiner, zusammen mit ihm in Richtung des kleinen Spielzeugladens, der noch nicht von großen Ketten, wie Toys’r’us oder der überbordenden Auswahl in den Spielzeugabteilungen der Kaufhäuser ausgestochen worden ist. „Wie war es bis jetzt im Büro? Stressig?“, frage ich, obwohl die Frage eigentlich überflüssig ist. Nach dem Studium konnte er gleich bei seinem Vater anfangen, der als einer der gefragtesten Architekten der Stadt im Jahr mehr Geld machte, als er wahrscheinlich in seinem gesamten Leben ausgeben konnte. Was aber nicht bedeutet, dass sich deswegen auch nur ein Familienmitglied ein Leben ohne Arbeit leisten darf – Anstrengung, Perfektion und eine fünfzigstunden Woche gehören zu den Tugenden der Familie Brenner. Der Verlobung zwischen mir und Jan haben sie auch nur zugestimmt, nachdem ich einen Vertrag unterschrieben hatte, dass ich auch nach der Hochzeit weiter arbeiten würde und nicht nur auf Kosten der Familie leben würde. Ich musste damals ziemlich mit den Zähnen knirschen, als mir Jan offenbarte, dass leider eine mündliche Vereinbarung nicht genügte und er mich zu meinem ersten Notar-Besuch schleifen musste. Definitiv eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt hätte machen müssen. Jan seufzt und fährt sich durch die Haare, die bereits so kreuz und quer stehen, als hätte er sich schon einige Male im Laufe des Tages die Haare gerauft. „Kein gutes Thema“, grummelt er aber fährt trotzdem weiter fort: „Der Stadtrat hat zwar endlich den Etat beschlossen, den wir zum Bau der neuen Stadthalle bekommen haben, aber er ist einfach erheblich kleiner, als wir kalkuliert hatten und der gegebene Zeitraum wird bei den Geldern nie im Leben eingehalten werden. Du kannst dir vorstellen, wie begeistert mein Vater davon war, als ich ihm die Neuigkeiten überbracht habe...“ Er schaudert und ich nicke verständnisvoll beim Gedanken an seinen Vater. Nicolas Brenner ist definitiv einer der erfolgreichsten Männer der Stadt, aber wahrscheinlich auch einer der furchteinflößendsten und untreusten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er seine Frau seit Jahren mit allem betrügt, das nicht bei zwei auf den Bäumen ist und über die Dunkelziffer der außerehelichen Kinder wird einvernehmlich geschwiegen. Aber seine Gattin Antonia, die zusammen mit ihm das Architekturimperium Brenner leitet, erträgt das alles stillschweigend – schließlich ist es sicher nicht so einfach den Ex-Partner in der Ehe weiterhin als Geschäftspartner zu haben. „Aber du kannst ja nichts dafür“, versuche ich Jan aufzumuntern, der etwas geknickt zu Boden blickt. Wieder seufzt er. „Wenn es nach meinem Vater geht schon – ich hätte aggressiver, wortgewannter, charmanter oder was auch immer auftreten sollen, dann wäre das alles schon so geworden, wie wir es geplant hatten. So meint er das zumindest.“ Wir sind am Spielzeugladen angekommen und ich schließe mein Fahrrad vor dem Schaufenster an. Liebevoll haben darin die Verkäuferinnen von „Charlottes Nest“ eine bunte Welt aus Lego-, Playmobil- und Schleich-Figuren aufgebaut, die inmitten von offensichtlich selbst gebauten Pappmaché-Hügeln und Häusern ihrem täglichen Leben nachgehen. Wenn ich jetzt selber ein Kind hätte, dann würde ich auch mit ihm solche Spielwelten bauen... „Komms du, Merle?“, holt mich Jan, der schon halb im Laden steht, aus meinen Gedanken. Im Laden werden wir von einem Mädchen begrüßt, die nicht älter als vierzehn zu sein scheint. „Guten Tag, willkommen in „Charlottes Nest“, kann man Ihnen behilflich sein, oder schauen Sie sich nur um?“, frag sie mit einem so professionellen Lächeln, dass man meinen könnte, sie würde ihre interessierte Nachfrage auch wirklich ernst meinen. „Tante, kommst du? Wir haben Kunden!“, ruft sie etwas leiser. Hinter einem Durchbruch in der Wand, der von einem bunt gemusterten Vorhang verhangen wird, hört man es scheppern. „Ich bin in eine Sekunde für Sie da!“, mit einer großen Kiste beladen kämpft sich eine Frau Anfang dreißig mit einem wundervollen roten Lockenschopf aus durch den Vorhang und lächelt uns freundlich an. „Willkommen in „Charlottes Nest“, wie...“ Dann stoppt sie und ihr Lächeln wird noch breiter. „Ach Jan, du bist es, schön dich mal wieder zu sehen!“ Ihr Blick wandert von ihm zu mir und wieder zu ihm zurück. „Wo ist denn deine...“ „Haartolle?“, fällt er ihr lachend ins Wort. „Ich dachte, ich versuche es mal damit, meine Haare so zu lassen, wie sie sind!“ Verschwörerisch raunt er mir zu: „Sie hat mich überredet, meine Haare nicht mehr so übertrieben schnöselig zu stylen! Du erinnerst dich an die Frisur?“ Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Wer ist diese Frau und wieso kennt sie Jan so gut, dass sie ihm eine Frisur ausreden konnte, die ich ihm schon Jahre lang als Neureichen-Frisur beschrieben habe? Ich bin nicht wirklich der eifersüchtige Typ – nur wenn es wirklich, wirklich Grund dafür gibt skeptisch zu sein, was mein zukünftiger Ehemann so treibt. Und ich finde, die Vertrautheit, mit der er mit der Verkäuferin, die nicht nur wunderschöne Haare hat, sondern auch noch Brüste, über denen sich ihre weiße Button-up Bluse so spannt, dass ich jede Sekunde erwarte, dass mir einer der Knöpfe entgegengeflogen kommt. Kommt er etwa doch nach seinem Vater und betrügt mich jetzt schon, bevor wir überhaupt geheiratet haben? Jan scheint meine Schweigsamkeit überhaupt nicht zu bemerken – er plappert einfach vergnügt weiter.  „Sina“ Anscheinend der Name des Busenwunders. „Wir bräuchten ein Geburtstagsgeschenk, kannst du uns da wohl beraten?“ Die Rothaarige Schönheit zeigt uns diverse Ritter und Burgen-Sets, hochqualitative Holzklötzchen und Züge, aber ich bekomme das alles nur am Rande mit. In meinem Kopf schwirrt die ganze Zeit nur eine Frage: Betrügt mich Jan etwa? Ich weiß, dass es total paranoid von mir ist, aus dieser Begegnung eine so große Sache zu machen – aber seltsam ist es dennoch. Ich meine, woher sollen die beiden sich denn sonst so gut kennen? Bestimmt haben die beiden sich auf so eine verdammt romantische Art kennen gelernt – er war in der Mittagspause eine Runde spazieren und gerade dabei, sich im gehen eine Zigarette anzustecken, als sie, wieder vollbeladen mit Kisten, aus dem Laden stolperte und ihn fast überrannte. Als Entschuldigung lud sie ihn dann auf einen Kaffee ein und aus einem Kaffee wurden zwei, drei, dann ein Abendessen und zwei Cocktails zu viel und schwupps – so schnell geht ein Betrug. Ich schüttele den Kopf über mich selber. Was bin ich für eine eifersüchtige Kuh, die hinter jeder etwas hübscheren Frau, mit der mein Mann verkehrt – etwas unglückliche Wortwahl an dieser Stelle – gleich eine Affäre wittert. Und dann auch noch samt seltsam-kitschiger Kennenlern-Geschichte. Das ist es, was die ganzen Liebesromane, die ich im Lektoriat habe, mit mir machen: Meine Fantasie geht mit mir durch und ich bekomme Zweifel, dass mein Jan, der liebste und ehrlichste Kerl, den ich kenne, mein bester Freund und Gefährte, plötzlich zu einem dieser Arschlöcher der völlig verbitterten Autorinnen wird. Das ist doch albern. Als wir den Laden verlassen, kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was wir jetzt für Jonas gekauft haben. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Jan besorgt. „Du wirkst schon seitdem wir den Laden betreten haben, als wärest du nicht mehr so ganz bei dir – hast du dir beim Mittagessen den Magen verdorben? Oder machst du dir Sorgen wegen des Urlaubs?“ Er streicht meine Haare aus dem Gesicht und drückt mir einen Kuss auf die Stirn Ich lächele schwach und schüttele den Kopf. „Alles gut, mach dir keinen Kopf!“, antworte ich und beschließe, ihn heute Abend auf die Begegnung im Spielzeuggeschäft anzusprechen. „Ich hab nur die Nacht nicht so gut geschlafen – wir haben momentan einige Projekte parallel laufen und die sind mir noch ein Weilchen durch den Kopf geschwirrt.“ Das war zwar nicht der Grund für meine Abwesenheit, aber dennoch nicht gelogen. Er legt den Arm um meine Hüften. „Meist du denn, dass du es dann heute Abend überhaupt zum Dinner im Hilton schaffst? Oder bist du zu müde?“ Prüfend blickt er mich an. „Du hast doch nicht die Verabredung zum Gala-Dinner der Kanzlei meines Bruders vergessen, oder?“ Verdammt, das war ja auch noch heute. Klar, dass ich mich daran nicht erinnere: ein gähnendlangweiliges Abendessen, in einem überteuerten Saal, in dem die versammelten Neureichen Deutschlands sitzen, für die Jans Bruder den Rechtsbeistand darstellt. Das auch noch in einem Kleid, das für meine Figur definitiv nicht das optimalste ist, neben dürren Klapperschnepfen, die höchstens ein Salatblat umdrehen, während ich mir spätestens ab halb neun ein Glas Weißwein nach dem anderen hinter die Binde kippe, um die geheuchelt freundlichen Gespräche auch nur halbwegs zu ertragen. Ich kann mir hundert andere Dinge vorstellen, die mehr Spaß machen würden. „Natürlich nicht! Und ich freue mich schon“, antworte ich vielleicht etwas zu überschwänglich. Sosehr ich solche Anlässe nicht ausstehen kann, so ist dieser Abend der erste Event, an dem Jan und ich als verlobtes Paar auftreten. Und an dem ich teilnehme und nicht mehr nur eine Normalsterbliche, sondern als Verlobte von Jan Brenner quasi ein Mitglied der deutschen High Society bin. Und da Jan seit Wochen wegen dieses Dinners aufgeregt ist und bereits angekündigt hat, dass er mich dann stolz allen vorführen wird, kann ich ihm den Spaß nur schwer nehmen. „Wirklich“, setze ich bekräftigend hinzu. Dann muss das Gespräch eben bis morgen früh warten, denke ich und versuche das flaue Gefühl im Magen auf die Frischkäse-Sauce in meiner Pasta heute Mittag zu schieben. Kapitel 3: ----------- Unbehaglich streiche ich über den Stoff meines für meinen Geschmack viel zu eng sitzenden schwarzen Cocktailkleids. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, was es heißt, plötzlich als die neue zukünftige Frau Brenner auf einer Feier zu erscheinen: die Menschen werden mich plötzlich zur Kenntnis nehmen, ich muss nicht mehr den livrierten Bediensteten mit den Champagner-Tabletts hinterherrennen, sondern bekomme, ohne das ich es merke, gleich nachgeschenkt und es könnte sogar sein, dass ich auf dem ein oder anderen Foto zu sehen sein werde. Denn nachdem, wer heute alles kommen soll, dürfte auch ein ganz schönes Aufgebot an Presse auf uns warten. Und so wie ich die Kollegen kenne, suchen sie nicht unbedingt nur die schönsten Bilder raus, die dann veröffentlich werden. Ganz übel nehmen kann ich es ihnen allerdings nicht – viel anders würde ich es ja auch nicht machen, wenn ich denn dann mal wieder in einer Redaktion sitzen könnte. Jan scheint meine Nervosität bemerkt zu haben und legt sanft seine Hand auf meine Unruhige. „Alles wird gut, heute Abend kommen doch vor allem Mitglieder der Familie und enge Freunde, die du doch auf den letzten Weihnachts- und Neujahrsempfängen schon gut kennen gelernt hast“ Er streicht mir eine meiner widerborstigen Strähnen aus dem Gesicht. „Und die etwas berühmteren sind doch auch nur normale Menschen, mit denen du genau so gut dich unterhalten kannst, wie mit mir!“ Immer noch nicht ganz beruhigt gebe ich nur leises Grummeln von mir. Für ihn sagt sich das so leicht – er ist schließlich mit solchen Menschen aufgewachsen. Für mich ist es, obwohl wir ja nun schon ein Weilchen zusammen sind, immer noch ein ziemliches Erlebnis zwischen all den Finanz-Tycoonen, Schauspielern, Musikern und Designern zu stehen, die bei den „kleinen und familiären“ Empfängen der Brenner immer zugegen sind. Das Taxi bremst und voller Schrecken wird mir klar, dass wir leider nicht an einer Ampel, sondern vor dem Hotel stehen. „Du wirst sie mit deinem Charme um den Finger wickeln“, murmelt mir Jan noch ins Ohr, bevor er mir noch einen Kuss auf die Wange gibt und dem Taxifahrer das Geld nach vorne gibt. „Stimmt so!“, ruft er und springt aus dem Wagen. „Tschuldigung, Kleene“, grummelt der Busfahrer zu mir. „Aber dit stimmt so ni, da fehlen noch knapp achte!“ Ich muss mich sehr zusammen reißen, um eine kleine Schimpftirade zu unterdrücken. Klar, habe ich kein Problem damit, selber für mein Taxi zu zahlen, oder meinetwegen auch Hälfte Hälfte zu machen, aber so generös zu tun, nur um dann zu wenig zu zahlen – das kann ich mir sparen. Ungeduldig wühle ich in meiner Clutch und fördere vom Grund der Tasche einen Zehn-Euro-Schein, sowie zwei Ein-Euro-Münzen hervor. Mit einem verschämten Lächeln gebe ich das Geld dem Fahrer. „Entschuldigen Sie meinen Mann, behalten Sie den Rest, ja?“ Meinen Mann. Obwohl ich mich ein bisschen darüber ärgere, dass er den Fahrer nicht anständig bezahlt hat und ich mich schon gefreut hätte, wenn er mir die Tür geöffnet hätte, muss ich lächeln. Bald sind wir Mann und Frau. Wir Zeit, sich langsam daran zu gewöhnen, plötzlich nicht mehr nur von „meinem Freund“ sondern plötzlich von „meinem Gatten“ zu sprechen. Nie im Leben hätte ich als Jugendliche gedacht, das ich schon mit sechsundzwanzig unter die Haube käme. Sollte man nicht in meinem Alter noch dumme Dinge tun? Seine Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Kerlen machen? Reisen und das Leben genießen und nicht über vierzig Stunden die Woche arbeiten? Und was, wenn Jan mich wirklich mit dieser rothaarigen Schönheit betrügt – dann verbringe vielleicht ich den Rest meines Lebens mit einem Mann, der zwar sagt, er müsse so furchtbar viele Überstunden machen, aber in Wirklichkeit seine Sekretärin auf dem Vorzimmerschreibtisch flach legt. Ich schüttele über mich selbst den Kopf. So ein Unsinn. Das ist nur die Angst vor dem Sprung. Viele Frauen heiraten in meinem Alter, manche haben sogar schon Kinder, das ist doch ganz normal. Außerdem würde er mich doch nie betrügen – dafür lieben wir beide uns doch zu sehr. Oder? Als ich aus dem Taxi aussteige und mich umblicke, kann ich Jan nirgendwo entdecken. Ist er etwa schon ohne mich hinein gegangen? „Alles gut bei dir?“ Ich spüre eine große Hand auf meiner Schulter und springe erschrocken ein Stück zur Seite. Vor mir richtet lächelnd Jan seine Fliege. „Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht nervös sein musst – alles wird gut!“ Erleichtert seufze ich. „Ich dachte schon, du wärest bereits ohne mich rein gegangen und ich hätte mich ganz alleine den neugierigen Blicken stellen müssen!“ Er nimmt meine Hand und drückt sie leicht. „Niemals. Du bist in Kürze die Frau an meiner Seite – und das sollen auch alle wissen. Und jetzt komm, es wird ein schöner Abend werden, mach dir keine Sorgen!“ Mit einem letzten beruhigenden Lächeln zieht er mich behutsam in Richtung der von Marmor-Säulen gesäumten Eingangspforte – und für einen kurzen Augenblick verfliegt meine Nervosität, als ich in den edlen Empfangs-Bereich des Hotels trete: Der weiße Marmor-Boden ist mit schweren Teppichen ausgelegt, neben teuer wirkenden schwarzen Leder-Sofas und Sesseln stehen verchromte Glastische, auf denen silberne Schalen mit den edelsten Pralinen, kleine Flaschen Fiji-Wasser und die aktuellen Ausgaben der Cosmopolitan, der WELT und des Manager-Magazins auf die Gäste warten. Ein livrierter Angestellter begrüßt uns mit einem leichten Kopf-Nicken. „Guten Abend die Dame, der Herr. Wenn ich bitte Ihre Einladung sehen dürfte“ Wieder nickt er, als wir ihm die auf schwerem, eierschal-farbenen Papier geschriebenen Einladungen vor die Nase halten. Handgeschrieben wohlgemerkt. „Dann würde ich Sie nun zum Aufzug geleiten, meine Kollegin im Aufzug wird Sie dann in den Ball-Saal im fünften Stock führen.“ Was für eine überluxuriöse Veranstaltung, denke ich etwas bitter. Nicht, dass mir das nicht irgendwo auch gefällt – mal etwas schicker Essen zu gehen, tolle Kleider zu tragen und teuren Champagner zu schlürfen, aber eigentlich ziehe ich doch die Reis-Box vom Vietnamesen um die Ecke, meine Jogginghose und ein Tegernseer-Helles aus der Flasche dem Zirkus hier vor. „Ich fühle mich ein bisschen so, als würden wir gleich zu einem Strafprozess geführt werden, so wie wir hier von einem Angestellten zum nächsten weiter gereicht werden“, flüstert mir Jan kichernd zu, als wir dem Livrierten zu den Aufzügen folgen. Ich drücke fest seine große Hand. „Versprich mir, dass wir nicht ewig bleiben, ja? Und zu Hause kuscheln wir uns dann aufs Sofa, trinken noch ein Bier aus der Flasche und gucken noch ein bisschen Downton Abbey!“, wispere ich ihm leise zu. Er lacht nur wieder, aber erwidert nichts darauf. Bin ich die Einzige, die sich hier ein bisschen unwohl fühlt? Und selbst wenn wir dann nach dem Abend zu müde zum Serien gucken sind – er könnte mich doch zumindest jetzt mit der Aussicht auf einen gemütlichen Restabend beruhigen, oder?   Als sich die Türen des Aufzugs zum Saal im Dachgeschoss öffnen, bin ich für einen kurzen Moment von der Schönheit des Raumes geblendet. Die Firma Brenner hat für den Abend den großen Ballsaal im Obergeschoss des Hilton-Hotels gebucht, der tagsüber den Gästen als Lounge zur Verfügung steht, aber Abends mit Hilfe eines Großteils der Belegschaft zu einem prunkvollen, wie auch modernen Saal umgewandelt werden kann. Die Abdeckungen, die am Tage die Glasdecke verschlossen halten, sind zurück gefahren und geben den Blick auf den wundervollen schwarz-blauen Nachthimmel frei. In der Innenstadt kann man zwar nur wenig Sterne sonst sehen, doch über unseren Köpfen spiegeln sich die vielen Lichter der Kerzen und der großen gläsernen Lüster, die wie von unsichtbaren Fäden gehalten durch den Raum schweben, und es scheint, als stünde man im Death Valley und würde den Sternenhimmel betrachten. Ohne jegliche Lichtverschmutzung. Auf den langen Dinner-Tischen liegen schwere weiße Tischdecken mit dunkelblauen Stickereien – der Farbe des Logos der Firma Brenner. Und Gläser, Besteck und Teller harmonieren mit den dezenten blau silbernen Tischdekorationen, die dezent in der Mitte der Tische platziert sind. Hunderte Kerzen hüllen den Raum in ein warmes, gemütliches Licht und ich bin erleichtert, nicht den Abend im gewohnten gleißenden, unbarmherzigen Licht verbringen zu müssen. Zwischen den zahlreichen Gästen tänzeln geschickt junge Frauen und Männer in schlichten, aber eleganten Uniformen umher und versorgen die Herrschaften mit Champagner, Wein und anderen Aperitifs, sowie köstlich aussehenden Tapas, bei deren Anblick mir das Wasser im Mund zusammen läuft. Mein Chef hatte es heute für nötig gehalten, mich besonders lange arbeiten zu lassen, obwohl er wusste, wie meine Abendplanung aussah. Er selbst war ja auch zu dem Dinner eingeladen. Also blieb mir, nachdem ich meinen Schlüssel an der Pforte abgegeben hatte und in Rekordzeit nachhause geradelt bin gerade noch genug Zeit, um kurz unter die Dusche zu springen, mein Make-up aufzufrischen und mich in dieses viel zu viel zeigende Kleid zu quetschen. Nicht mal für einen kleinen Snack hatte dieser Sprint gereicht, und als ich gerade noch dabei war, mir zu Hause einen Müsliriegel für den Weg in die Handtasche zu schmuggeln, hatte mir Jan nur einen Blick zu geworfen der sagte: Meine Zukünftige rennt nicht mit einem Schokoladen-Müsliriegel in der teuren Prada-Clutch herum. Also gabs nicht mal den. Obwohl es heute Abend ein mehrgängiges Menü geben soll, sehe ich an der Wand glänzende und vor allem bereits geöffnete Edelstahl-Warmhalter, in denen es augenscheinlich warmes Fingerfood gibt. Instinktiv, von meinem knurrenden Mangen geleitet, will ich schon darauf zu steuern, als ich Jans Hand spüre, die sich wie ein Schraubstock um meinen Arm schließt. „Du willst doch nicht gleich zum Essen stürmen, wenn in Kürze serviert wird“, zischt er mir zu. „Was für einen Eindruck macht das denn?“ Ich reiße meinen Arm los und blicke ihn aus schmalen Augen an. „Eventuell einen hungrigen? Ich hab seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, wenn ich nicht bald was esse, dann kipp ich dir um! Und was macht das für einen Eindruck erst?“, zische ich zurück. Hinter uns höre ich ein Räuspern. Ich drehe mich um und blicke in die stahlblauen Augen von Jans älteren Bruder Jonathan. Mit einem breiten Grinsen streckt er uns jeweils ein bis an den Rand gefülltes Glas Champagner entgegen und ich bin mir ziemlich sicher, dass er für so volle Gläser bei den Kellnerinnen seinen Charme hat spielen lassen. Jonathan Brenner ist einer der wohl begehrtesten Junggesellen Frankfurts – und da nun sein kleiner Bruder in den Hafen der Ehe einfährt, fragt sich ein Großteil der Damenwelt, wann es wohl bei Playboy Nummer eins so weit ist. Und ob sie die Glückliche sein könnte. Wie immer trägt er einen seiner charakteristischen, sehr eng sitzenden grauen Anzügen – auch wenn auf der Einladung deutlich um Schwarz für den Herren gebeten wurde – und sieht, mit seinen perfekt gestylten blonden Locken, ich muss es zugeben, wirklich nicht schlecht aus. Nur die Tatsache, dass er das auch weiß und es mit einer Arroganz nach Außen trägt, macht ihn für mich unausstehlich – und für die Frauen aller Altersklassen anscheinend unwiderstehlich. Zumindest wenn ich Jans Geschichten glaube, nach denen sein älterer Bruder, als sie noch zusammen unter einem Dach gewohnt haben, manchmal jeden Abend mit einer neuen Frau heim gekommen ist. Seine Aufmerksamkeit wandert systematisch meinen Körper in dem engen Kleid hinauf und hinab und ich fühle mich seltsam nackt unter dem unverhohlen lüsternen Blick. „Na, bereits der erste Ehekrach vor der eigentlichen Ehe?“, lacht er ohne ein Wort der Begrüßung und entblößt dabei seine perfekten, strahlendweißen Zahnreihen. „Noch kannst du ihm leicht entkommen, Merle, nutze die freie Zeit und fliehe vor meinem kleinen Bruder!“ Jan schnaubt leise, doch auf seinem Gesicht sitzt das perfekte Business-Lächeln, was er mit dem Verlassen des Taxis aufgesetzt und nur eben kurz vergessen hat. „Und wohin sollte sie, wie du es sagst, fliehen? Etwa in deine? Die, des größten Casanovas, den Deutschland zu bieten hat?“, auch er entblößt seine Zähne, was für Außenstehende vielleicht wie ein Lächeln aussieht, doch es erinnert mich mehr an das Zähne fletschen eines Tigers. „Wieso denn nicht“, erwidert er lachend, greift sich vom Tablett eines vorbeikommenden Kellners selber eine Champagner Flöte und erhebt sein Glas zum Prost. „Auf meinen Bruder, seine bezaubernde Verlobte und die bevorstehende Hochzeit!“, sagt er und stößt mit uns an. Die Blicke, die er und sein Bruder sich zuwerfen werfen förmlich Funken, so angespannt ist die Stimmung. „Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigt, ich muss weiter, die anderen Gäste begrüßen“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)