Was im frühlingshaften Palastgarten nicht alles geschehen kann... von Mondsicheldrache (The Vessel and the Fallen Sidestory 1) ================================================================================ Kapitel 1: Winter ----------------- *-*. Es war Winter, als ich dich zum ersten Mal sah. Als ich dich erblickte, erkannte ich mein Schicksal.   Ich habe dich immer schon lieber gemocht, als meine anderen Cousins und Cousinen, denn keiner von ihnen hat mich je so sehr gebraucht wie du.   Seit unserer ersten Begegnung wusste ich, dass du und ich für einander bestimmt sind. Du hast dich hinter deinem älteren Bruder versteckt, während mein Bruder und ich dich unbedingt kennenlernen wollten. Dein Bruder zwang dich, uns zu begrüßen und du lugtest scheu hinter seinem Rücken hervor, als drohte dir das größte Unheil der Welt. Ein helles, rotes Leuchten, das war das einzige, das sich von dir erkennen ließ. Dein Haar, rot wie der Sonnenuntergang, erschien mir als erstes. Mit einem Mal konnte ich es kaum mehr abwarten, den Rest von dir zu sehen.   Von diesem Moment an war ich dir verfallen, du wusstest es viel schneller als ich, hast mich eingesponnen in deine hinterlistigen Pläne und mich nie wieder in die Freiheit entlassen. Du stelltest dich uns vor, mit diesem Blick, der mein Herz noch heute quält. Deine kleinen Hände zitterten so hilflos in der eisigen Kälte und deine großen, hellen Augen berührten etwas tief in mir. Ich wusste damals nicht, dass du nicht chronisch krank warst und es kein Leiden gab, das du alleine durch Bücher und Tauben für einige kostbare Momente vergessen konntest. Als du gradewegs in meine Arme gefallen bist, mir Lüge um Lüge auf die Nase gebunden hast, dachte ich wirklich, du würdest sterben.   Wie dumm ich doch war. Ich bin es immer noch. Hereingelegt von einem Menschen, der viel jünger und viel schlauer ist als ich. Damals war ich so klein und die Dummheit verzeihlich.   Zu dieser Zeit wusste ich gar nichts über dich, doch ich habe es geändert. Ich habe dich aus deinem dunklen Zimmer ans Tageslicht gezerrt und du hast in den weiten Himmel geschaut wie ein verängstigtes Kaninchen auf der Flucht vor einem Falken.   Ich habe dir eine Welt gezeigt, in der es mehr gibt, als Bücher und gemütliche Betten, die du trotz meiner Bemühungen immer noch allem anderen vorziehst.   Manchmal frage ich mich heute noch, was ich hätte besser machen können, aber letztendlich weiß ich, es ist gut so, wie es ist. Denn ohne deine Abneigung gegen Bewegung und Menschen, ohne diese tiefen Augenringe und das zottelige Haar, wärst du nicht du.   Und das könnte ich nicht ertragen. *-*. Kapitel 2: Frühling ------------------- *-*. Es war Frühling, als ich dich zum ersten Mal sah. Wie gut, dass du es nie erfahren wirst, denn du hättest gesagt: „Du hast mich doch schon so unendlich oft gesehen.“ Danach hättest du mich böse angestarrt und wärst rot geworden und ich hätte dir zur Entschuldigung dein Lieblingsessen bringen lassen, was das einzige ist, das ich wirklich an dir verabscheue: Tintenfisch, du hattest schon immer eine Vorliebe für seltsame Speisen. Nein, wahrscheinlich hätte ich dich einfach geküsst, denn Zurückhaltung ist nicht meine Stärke, vor allem bei dir fällt sie mir so schwer. Aber ich glaube, ich kann stolz auf mich sein, es doch irgendwie geschafft zu haben. Und ja, wie Recht du mit deinen aufgebrachten Worten gehabt hättest. Dennoch… ich hätte genauso Recht behalten, denn dieser späte Frühlingstag hat mir etwas gezeigt, dass ich vorher niemals an dir bemerkt hatte: Wir waren so lange getrennt gewesen, dass ich dich von neuem kennenlernte, obwohl die Vertrautheit zwischen uns nie verflogen ist. Dabei hatten wir uns vor zwei Jahren im Streit getrennt, weil du mich vor Dummheiten bewahren wolltest. Ich habe dich geschlagen und du hast gewimmert vor Schmerz, doch als wir uns wiedertrafen, hattest du mir längst verziehen. Und dann begann ich, dich zu beobachten, wie ich früher nur die Mädchen betrachtet habe. Du hast es erst nach Wochen bemerkt. Ach, ich war so erleichtert und frustriert zugleich, doch es sollte erst Sommer werden, bevor ich dir meine Gefühle gestehen konnte. Die Pflanzen schlugen aus, winzige Blüten öffneten sich scheu und zartes Grün erfüllte euren Garten, in dessen Anblick ich mich sofort verliebt habe. Er war nicht so prunkvoll, wie im Palast, aber er strahlte eine Ruhe und Sanftheit aus, die mich sofort in ihren Bann zog. Genauso war es mit dir. Ich mochte dein Haar immer schon, habe mich stets gefragt, welcher roten Pflanze diese unglaubliche Farbe entspricht. Der Kirsche, dem Ahorn oder eher den Hibiskusblüten? Ich ertappte mich dabei, bei jeder unserer Begegnungen darüber nach zu sinnieren. Es dauerte nicht lange und ich stellte mir dieselbe Frage zu deinen Augen, die mich immer mit diesen zerschmetternden Blicken bedachten. Waren sie rot, rosa oder doch rosé? Ich entschied mich für letzteres, wahrscheinlich wusste ich nicht einmal, wie rosé aussah, aber der Name klang schön. So schön wie du. Du hasst es, wenn ich dir solche Komplimente mache, aber ich kann nicht anders, denn sie sind die reine Wahrheit. Ich weiß, viele finden dich hässlich und deinen Blick finster, aber sie haben dich nie lächeln sehen. Lächeln tust du nur für mich. Und für deine Brüder… Deshalb entführte ich dich gerne allein in die Wälder, damit ich mich dieser herrlichen Illusion hingeben konnte. Doch nie hätte ich dir zu dieser Zeit gestehen können, dass ich mehr für dich empfinde, als Freundschaft. Da waren lähmende Angst und Selbstzweifel, ob ich mich nicht mal wieder in irgendeine Dummheit hineinsteigerte. Wenn du vor mir geflohen wärst, wenn ich dir mein Geheimnis offenbart hätte, wenn du mich verflucht hättest… Ich hätte es nicht ertragen. *-*. Kapitel 3: Sommer ----------------- *-*. Es war Sommer, als ich dich zum ersten Mal sah. Ich beobachtete dich schon eine lange Zeit viel zu aufmerksam, doch du hattest es noch nicht bemerkt. Ich lebte seit den Frühlingstagen bei dir, fern von meinen Eltern und Geschwistern, aber das störte mich nicht. Denn mein zu Hause, vor allem meine Mutter und ihre Untergebenen, verunsicherte mich zu dieser Zeit sehr. Ich sollte bald heiraten und du wurdest immer seltsam still bei dieser Ankündigung. Irgendwann, als ich bemerkte, dass du vielleicht mehr für mich bist, als nur der beste Freund, freute es mich, dass du so empfandest. Schließlich war ich nicht an einer mürrischen Fremden interessiert, sondern nur an dir. Dabei hatte ich die Töchter der Adligen im Palast immer gemocht und bin ihnen oftmals hinterhergejagt, was du nie verstehen konntest. Ich weiß noch, wie du sagtest, dass mein Handeln unverantwortlich sei, als du mich mit der Tochter des Hauptmanns erwischt hast und wie wütend ich war, weil du Recht hattest. Jetzt ist das so unvorstellbar lange her. Seit unserem neuerlichen Zusammentreffen fragte ich mich, wie ich je auf die dämliche Idee kommen konnte, mit irgendeinem bedauernswerten Mädchen anzubandeln. Dennoch, die Verantwortungslosigkeit habe ich wohl nie abstreifen können, nur dass ich mich plötzlich nicht mehr für Adelstöchter interessierte, sondern für dich, auch wenn ich tief in mir wusste, dass diese Sehnsucht nach dir etwas vollkommen anderes war: Ernster und nicht mit einer flüchtigen Bekanntschaft zu vergleichen. Es wurde Sommer und glühend heiß. Trotzdem unternahmen wir in einem fort Dinge miteinander. Es war beinahe die schönste Zeit meines Lebens, wären da nur nicht diese verbotenen Gefühle gewesen, die ich im Verborgenen hegte und nicht offenbaren konnte. Ich schämte mich ungeheuerlich, vor allem als du begannst, dich über mein Verhalten zu wundern. Weißt du noch, dieser Tag am See, als ich dich beobachtete? Diesen verunsicherten Blick in deinem Gesicht werde ich nie vergessen. Es tat mir unendlich leid, aber ich konnte nicht anders. Und dann durfte ich dich berühren und ja, ich habe es schändlich ausgenutzt. Es konnte dir nicht entgangen sein, dass kein Mensch der Welt eine halbe Ewigkeit benötigen konnte, um ein paar Blutegel zu entfernen. Aber du hast nicht einmal etwas gesagt. Irgendwann konnte ich es nicht mehr leugnen und dann habe ich dir meine schändlichen Gefühle offenbart, weil du sie endlich erfahren wolltest. Du wirktest schrecklich verlegen und dennoch hast du mein Geständnis erstaunlich unbeeindruckt aufgenommen. Im strömenden Sommerregen unter dem Ahornbaum durfte ich dich endlich küssen. Immer wieder und wieder. Du warst so schüchtern, aber bald konntest du es kaum mehr abwarten, bis wir hinter den dichten Brombeerhecken, vor neugierigen Blicken verborgen, vollkommen ungestört waren. Endlich brach die schönste Zeit meines Lebens an und wenn sie für dich auch nur halb so schön war, dann ist das schon mehr als genug. Nur der Schatten meiner Hochzeit hing mahnend über uns und so verbrachten wir verboten viel Zeit miteinander. Es tut mir Leid, dass du so viel Ärger mit deinem Vater hattest, nur wegen einem dummen Prinzen, der es nicht lassen konnte, dir seine verrückten Liebesschwüre zu zu flüstern. Du hast die meisten davon irgendwann gehasst. Wahrscheinlich schon immer, aber anfangs wagtest du noch nicht, mich zu kränken. Später hast du mich dafür mit Verachtung bestraft, dabei war es so wahr: Einen Tag ohne dich zu sein, das konnte ich nicht ertragen. *-*. Kapitel 4: Herbst ----------------- *-*. Es war (beinahe) Herbst, als ich dich zum ersten Mal sah. Diesen fiebrigen Glanz in deinen Augen und alles an dir, was mir bis dahin stets verborgen geblieben war. Du lagst unter mir und blicktest mich an, als wäre ich ein durchscheinender Geist, so fremd und lähmend, dass du dich nicht mehr regen konntest. An diesem Tag wirktest du so anders als sonst. Zerbrechlich und hart zugleich, verbittert und furchtsam. Wir haben lange diskutiert, aber am Ende habe ich gewonnen, weil du viel zu gutherzig warst. Du hast gezittert vor Angst, aber ich dachte, ich könnte sie dir nehmen. Du hattest Schmerzen, aber ich dachte, ich könnte dich über sie hinweg trösten. Das ich damit alles nur noch schlimmer gemacht habe, kam mir erst viel zu spät in den Sinn. Du hast nie etwas gesagt. Am folgenden Tag tat es mir so unendlich Leid, dass ich meine Gier und erbärmliche Selbstbeherrschung verflucht habe. Ich bin gegangen. Habe mich die ganze Zeit gefragt, ob du mich jemals wieder sehen willst. Habe mich die ganze Zeit nach dir gesehnt, dir Tauben geschickt und Briefe geschrieben, die alle unbeantwortet blieben. Deshalb dachte ich nach dieser Nacht, du wolltest nichts mehr von mir wissen Verdient hätte ich es. Wie dumm ich doch war, du hättest mich niemals abgewiesen. Du hast nur niemals eine meiner Nachrichten erhalten, das weiß ich jetzt. Der kaiserliche Palast, eingesponnen in eine Intrige. Ich hätte es erkennen müssen, als ich eine tote Brieftaube im Teich treiben sah. Dass meine eigene Mutter meine Nachrichten abgefangen hat, ist mir viel zu spät klar geworden. Durch diesen Umstand wurde mein Leben zur Qual vor Ungewissheit und du musst ebenfalls gelitten haben, denn ich weiß nun, dass du ebenfalls versuchtest, mir Tauben zu schicken. Ich sehnte mich so sehr nach dir, dass es schmerzte, aber vielleicht geschah mir das nach diesem Abend nur recht. Du wurdest älter und nur die Blätter fielen sanft von den Bäumen, als wollten sie dir und deiner Zukunft huldigen, von der wir damals noch nichts ahnten. Nein, in dieser Nacht hatte ich nur noch Augen für dich. Ich wollte dich, mehr als alles andere, auch wenn es dich verunsichert hat. Irgendwann hast du geweint und ich sorgte mich so sehr um dich, dass ich ebenfalls brennende Tränen vergoss. Die Furcht vor meinem Schicksal lastete schwer auf meinen Schultern und als du so aufgelöst warst, gab es nur noch Leid in meiner Welt. Wie erleichtert ich war, dass du trotz der Tränen und Anschuldigungen, trotz deiner Angst und Beschämung, noch meine Nähe suchtest. Nein, du brauchtest sie mehr als alles andere. Ich bin so froh, dass wir in dieser Nacht nicht im Streit auseinander gegangen sind, denn wir ahnten bereits, dass wir danach nie wieder so nah beisammen sein würden. Dass du dich weinend in meine Arme geworfen hast, erleichterte mir sogar die letzten, brieflosen Wochen des Zweifelns. Ein letztes Zeichen der Verbundenheit. Ich war so glücklich, dass du keine Furcht vor mir hegtest. Denn das hätte ich nicht ertragen. *~*~*~* Es sollte auch das letzte Mal sein, dass wir beisammen waren, aber das konnte keiner von uns beiden ahnen und es war gut so, denn sonst hätte der ganze Palast von unserem Geheimnis erfahren. Wie hätte ich dich in dieser Gewissheit auch je verlassen können? Hätten wir auch nur den leisesten Verdacht gehegt, wäre sicherlich alles anders gekommen. Nie hätte ich mich damals davon gestohlen, hätte ich gewusst, dass ich nie mehr durch dein Haar streichen oder dein winziges, viel zu seltenes Lächeln sehen würde. Ja, ich wäre bei dir geblieben, bis die Dienerinnen gekommen wären, um dich zu wecken und dann hätte ich dich vor ihren Augen geküsst, um ihnen zu zeigen, dass sie völlig fehl am Platze sind und ich mich einen Dreck um diese lächerlichen Werte und Normen unserer Gesellschaft schere. Aber so bin ich nicht, ganz egal was andere glauben. Ich bin damals gegangen ohne dir wenigstens „lebe wohl“ gesagt zu haben und so bleibt dieser Gedanke sicherlich auf ewig ein Hirngespinst: Du brauchst keine Diener, du brauchst nur mich. Dann kam der Herbst. Mit den fallenden Blättern fiel auch meine Hoffnung auf ein Wiedersehen. Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, dir noch einmal zu begegnen, dir noch einmal nahe zu sein und mich für all meine Dummheiten zu entschuldigen, die ich zweifellos begangen habe. Aber es sollte wohl nicht sein, denn du wurdest so krank und mich sperrte man im Palast ein, sodass ich mich nicht länger zu dir stehlen konnte. Ich hatte solche Angst um dich, habe deine und meine Familie schon auf deiner Beerdigung gesehen und dich, so blass und kalt in den rot züngelnden Flammen, umweht von flüchtigen Weihrauchschwaden und sinnlosen Gebeten, die einem doch nie die Trauer nehmen, sondern alles nur schlimmer machen. In diesen Nächten habe ich viel geweint, dabei war ich immer ein fröhlicher Prinz. Aber nun war ich ein Gefangener in meinen eigenen Gemächern, der nur noch flüchten wollte. Dass ich ausnahmsweise Angst um mich haben sollte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Nicht einmal in jener Nacht. Nicht bis ich die beißende Hitze des Feuers und den Rauch in meinen Lungen spürte. Wir kämpften erbittert und doch genügte es nicht. Wir haben verloren. Es war Herbst und die fallenden roten Blätter fühlten sich kalt an, während die lodernden roten Flammen unerträglich heiß auf unserer Haut brannten. Die Welt starb und ich ging mit ihr, ohne es zu wollen, hilflos und wütend, aber wen kümmert das schon? Unser Land liegt ohnehin im Sterben, wir alle hätten in dieser Nacht getrost verbrennen können. So ist es doch nur ein kurzer Aufschub, gestohlene Zeit. Die Blätter werden immer wieder von den Bäumen fallen, immer wieder knospen, neue Triebe bilden, wenn der Herbst lange fortgezogen ist. Warum nur ist uns Menschen das nicht vergönnt? Verglühen und aus der Asche auferstehen, für immer ein wahnwitziger Volksglaube vom blutroten Phönix? Und jetzt bist du alleine und kannst nicht einmal mehr weinen. Wäre ich nicht schon lange tot, ich könnte es nicht ertragen. *-*. Kapitel 5: Winterliches Kennenlernen ------------------------------------   *-*. Gerne erinnerte Hakuren Ren sich an das erste bewusste Treffen mit seinem jüngeren Cousin. Von all seinen Erfahrungen, die er je gemacht hatte, dachte er mit am liebsten an diesen Tag zurück. Seit er ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, ruhte sein ungebrochenes Interesse nur auf ihm. Schon seit jeher verband sie etwas Unerklärliches, doch er sollte nie herausfinden was genau sie damals zusammen brachte. Es war ein trüber Wintertag. Der Himmel versank in dumpfem Grau und färbte die Welt mit seinem seltsam kalten Licht. Kahle Ahorn- und Pflaumenbäume reckten ihre dürren Zweige wie Gerippe in die Höhe. Wie die starren Hände von auf dem Schlachtfeld erfrorenen Soldaten. Dazu passten die unwirtlichen Temperaturen. Die eisige Luft schmerzte in Nase und Lungen, sobald man sie zu schnell einsog und die kleinen Zierteiche und Brunnen im Palastgarten ruhten erstickt unter einer dicken Eisdecke. Ebenso war es den armen Pflanzen ergangen, die sich Jahr für Jahr zu spät gegen den hereinbrechenden Winter wappneten. Überzogen mit schimmernden Eiskristallen konnten sie vom milden Frühling nur träumen. Sobald der Herbst Verfall und Stürme mit sich brachte, versank das Kou Reich in diffusem Grau, welches der Wintereinbruch noch verstärkte. Lediglich die prächtigen roten Dächer des Palastes leuchten kraftvoll in der kargen Landschaft. Dieser Winter war einer der übelsten Sorte. Kalt und windig, sodass man des Nachts in einem fort Kohlepfannen entzünden musste, um nicht im Schlaf zu erfrieren. Pflanzen gingen ein und selbst die Goldfische erstarrten in den ungewöhnlich kalten Teichen zu Eis, obwohl diese sonst nie bis auf den Grund zu froren. Nur die knorrigen Kiefern schienen den unbarmherzigen Temperaturen noch zu trotzen, wenngleich lanzengleich funkelnde Eiszapfen von ihren Ästen herabhingen und jeden Passanten stillschweigend bedrohten. Glücklicherweise wurde diese Drohung höchstens im Sturm wahr, wenn sich die alten Bäume schwächelnd krümmten und die ächzenden Stämme um Hilfe zu flehen schienen. Ja, dieser Winter war furchtbar, hart und bitter. Nicht einmal Schnee brachte diese unheilige Jahreszeit mit sich, selbst für den flockigen weißen Niederschlag war es zu kalt. Als ob die Wolken selbst vor Frost schlotterten und darüber ihre wichtige Aufgabe vergaßen. Die Menschen zogen sich frustriert und frierend in ihre Häuser zurück und die meiste Zeit beherrschte eine klirrende Stille das eisige Land. Besonders den Bewohnern des kaiserlichen Palastes in der Landeshauptstadt Rakushou schien das trostlose Wetter auf die Seele zu schlagen. Schon seit Tagen hatte sich das Herrscherehepaar nachdenklich zurückgezogen, jeder der beiden einzeln und abgesondert. So brüteten sie, jeder für sich, über deprimierender Arbeit, für die es nun bei der tödlichen Kälte keinen Aufschub mehr gab. Ihre beiden jungen Söhne verbrachten Stunde um Stunde im geheizten Hauptsaal des Anwesens und bekamen den üblichen Unterricht in Lesen, Schreiben, Poesie, Rhetorik, Militärstrategie und was man nicht sonst noch alles brauchen konnte, um später einmal zu regieren, erteilt. Nun, wo die kleinen Prinzen nicht andauernd im Palastgarten herumtoben konnten und ohne Schnee auch keinerlei Verlangen danach verspürten, witterten ihre Lehrer die Gelegenheit, ihnen noch mehr unnützes Wissen einzutrichtern, als gewöhnlich. Zwischendurch gab es zwar spannende Übungen mit dem Schwert und anderen Waffen, doch diese Auszeiten waren viel zu selten und so machte sich auch unter den beiden Jungen eine düstere Stimmung breit, die das traurige Wetter bestens wiederspiegelte. Doch an diesem Tag gab es zumindest eine Person, welche die winterliche Verdrießlichkeit abschüttelte. Der jüngste Sohn von Kaiser Hakutoku Ren und seiner Frau Gyokuen besaß ohnehin ein sonniges Gemüt, gegen das selbst der schwärzeste Himmel nicht ankam. Stets rannte er mit einem breiten Grinsen durch die langen Korridore, wobei seiner guten Laune des Öfteren wertvolle Vasen und dergleichen zum Opfer fielen. Sein Mutter betitelte sein offenherziges Wesen meist als anstrengend, obwohl sie nicht anders konnte, als in das unschuldige Lachen mit einzustimmen. Die Leute munkelten, Hakuren Ren könnte nicht ganz richtig im Kopf sein, wenn er jedes auch nur andeutungsweise positive Ereignis mit strahlender Miene quittierte. Sie meinten, falls er mit seiner draufgängerischen, naiven Art jemals ein reiferes Alter erreichen würde und seinem kaiserlichen Vater in die Schlacht folgen müsste, würde er sicherlich mit einem gutgelaunten Lachen von der ersten Salve Pfeile durchbohrt werden. Während sein älterer Bruder Hakuyuu die bösen Zungen fürchtete, war Hakuren mit seinen sieben Jahren zu jung, aber vor allem zu sorglos, um sich ernsthaft darum zu scheren. Manche Leute erwiderten sein Grinsen, ohne es zu bemerken und hielten ihn für das goldigste Kind, dessen kreischende Stimme je durch den altehrwürdigen Palast gehallt war, sodass er sie mochte, andere empfanden ihn als wahres Ungeheuer, welches sich nicht bändigen ließ, sodass er einen Bogen um sie schlug oder sie mit Streichen tyrannisierte. So tat fremde Abneigung seiner Laune kaum je einen Abbruch. Natürlich gab es selten auch Dinge, die seine großartige Stimmung ins genaue Gegenteil verwandeln konnten, dann wurde aus dem fröhlichen kleinen Jungen eine brüllende Bestie, aufbrausend und unerträglich. Einige Palastdiener lebten in ständiger Furcht vor einem dieser berüchtigten Tobsuchtsanfälle, bei denen ab und an sogar Möbel zu Bruch gehen konnten. Viele befürchteten, dass es bald wieder an der Zeit wäre. Der beliebteste Grund für einen kindlichen Ausraster, stellte die Rivalität zu Hakuyuu dar, denn dieser würde einmal den Kaiserthron erben. Dumm nur, dass Hakuren als lediglich zweiter Prinz ebenfalls stark an der Position des Herrschers interessiert war und die festgeschriebene Erbfolge noch nicht recht verstand. Aber auch die vergangenen Tage hatten an seinen Nerven gezerrt, nicht wegen dem düsteren Wetter, sondern aufgrund der zusätzlichen Unterrichtslektionen und der ausbleibenden Bewegung, denn Hakuren lechzte nach einer Möglichkeit, sich richtig auszutoben und versuchte sich bereits erfolgreich an den Waffen. Die ganze Zeit zappelte er herum, plapperte in einem fort, sodass sogar sein Bruder gequält stöhnte, zerriss teure Seide, auf der er eigentlich Schreibübungen tätigen sollte und verschüttete die Tinte über einen wertvollen Teppich. Kein Wunder, dass er sich in dieser Zeit so einige Schläge einfing. Ja, selbst Hakuren ging der Winter allmählich auf die Nerven. Doch nicht an diesem Tag. Denn heute hatte er frei. Keine lästigen Schreib- und Leseübungen, kein Benimmunterricht, kein gar nichts! Aber vor allem munterte ihn ein bevorstehendes Ereignis noch zusätzlich auf: Endlich würde er seinen kleinen Cousin kennenlernen. Nun ja, eigentlich wiedersehen, doch ihre letzte Begegnung lag sicherlich mindestens zwei Jahre zurück und da war der Sohn seines Onkels noch winzig und uninteressant gewesen. Hakuren konnte sich noch verschwommen an die Tage nach der Geburt des kleinen Koumei erinnern, eine nicht sonderlich freudige Zeit, da die Mutter in den folgenden Tagen am Kindbettfieber gestorben war. Das hatte er zumindest irgendwo aufgeschnappt. Was es bedeutete wusste der kleine Prinz damals noch nicht so genau, er sah nur betrübte Gesichter und versteckte Tränen. Sein Cousin Kouen, der etwas jünger war als er, hatte davon noch nicht sonderlich viel bemerkt, mit zwei Jahren war er eindeutig zu jung. Ohnehin hatte ihn eine Amme aufgezogen, sodass er wohl keine allzu enge Bindung zu seiner verstorbenen Mutter verspürt hatte. Nachdem sein Vater sein Beileid bekundet hatte, hatte Hakuren kurz darauf das Neugeborene betrachten dürfen, da der Kaiser für einige Tage zu seinem Bruder Koutoku gereist war, um ihm ein wenig Beistand zu leisten. Eigentlich interessierte Hakuren sich nicht für solch junge Würmchen, doch als er grade mal drei Sommer erlebt hatte, war das noch etwas anderes. Er konnte sich kaum an die Begegnung erinnern, nur dass der Säugling seltsam zu sein schien, denn das einzige was er tat, war in der Wiege liegen und schlafen. Stunde um Stunde, fast den ganzen Tag lang. Öde… Hakuyuu hatte ihm zwar erzählt, dass der Säugling durchaus manchmal wach gewesen war und die Umgebung mit großen, roséfarbenen Augen gemustert hatte, bevor er sie wieder für lange Zeit geschlossen hatte, allerdings hatte dies Hakurens Interesse nicht sonderlich angefacht. Jetzt allerdings, vier Jahre später war Hakuren sehr gespannt, was ihn erwarten würde. Er hoffte inständig, dass der kleine Knirps etwas mit sich anfangen ließ und nicht so langweilig war, wie damals. Vielleicht hatte er sich ja zu einem kleinen Wirbelwind entwickelt, der auf seinen kurzen Beinchen durch die Gegend sauste und bereitwillig mit ihm die Gegend unsicher machen würde. Die Dienerinnen und Zofen hatten ihn an diesem Morgen, nach dem üblichen heißen Tee, in warme Gewänder  gehüllt und er kam sich vor, wie ein Fellklumpen, der mehr über die Gänge rollte, als lief. Er fand es jedoch nicht störend, sondern überaus lustig. Wie immer nahm er den Prunk des elterlichen Palastes als vollkommen gewöhnlich und normal hin, bemerkte nicht die edlen Verzierungen die in jede Säule, jeden Balken, jede Wand und jede Decke eingearbeitet waren. Selbst die farbenfrohen Drachenmuster entlockten ihm keine Bewunderung, schließlich ging er jeden Tag daran vorbei, sie kamen ihm selbstverständlich vor und er verspürte höchstens einen Anflug von kindlichem Stolz an diesem herrschaftlichen Ort zu leben, wenn er die glänzenden Schuppen der Fabelwesen betrachtete, die so echt gearbeitet waren, dass die sagenumwobenen Bestien sich über Stein und Holz zu schlängeln schienen. Früher hatte er sich oft die Ornamente und Malereien angesehen, aber nun war er viel zu aufgeregt. Vergnügt traf er vor dem goldbeschlagenen Tor zum Garten seinen Bruder und schon ging es in den eisigen Winter hinaus, der ihren Atem als kleine Wölkchen in der Luft hervorhob. Hakuyuu hatte vorgeschlagen, sich mit den Cousins im Sommerpavillon zu treffen, der zu dieser Jahreszeit mehr einem Eispalast glich, so zahlreich wie die Eiszapfen das geschwungene Dach zierten. Dennoch, darin ließ es sich erstaunlich gut aushalten. Hakuyuu trug einen großen Weidenkorb mit eingelegten Pflaumen und Reis, damit sie ihren Gästen ein kleines Frühstück anbieten konnten. Kouen und sein kleiner Bruder waren gestern Abend mit dem Rest der Familie Ren im kaiserlichen Palast eingetroffen und dort würden sie noch einige Tage bleiben, also bot sich genügend Zeit, um den kleinen Fratz endlich einmal richtig kennen zu lernen. Der Kleine wurde ansonsten immer zu Hause gelassen, da seine schwächliche Konstitution Reisen angeblich nicht erlaubte. Hakuren fragte sich, was dieses gebildet klingende Wort „Konstitution“ wohl bedeutete und warum es seinen Cousin davon abhielt, zu ihnen zu kommen. Egal, gleich würde er ihn endlich sehen und er freute sich schon so sehr, dass Hakuyuu ihn spöttisch in die Seite stieß. Hakuren taumelte in die kahlen Büsche. Empört starrte er seinen Bruder an und kämpfte sich, böse Beschimpfungen auf der Zunge, aus dem Gestrüpp hervor. Doch Hakuyuu lachte nur: „Mach den Mund zu, Hakuren. Wenn du so hinfällst, friert deine Zunge noch am Boden fest.“ „Bäh!“, machte der Jüngere und streckte sie ihm betont lang heraus. „Sei nicht immer so frech, was sollen unsere Vettern von uns denken, wenn du sie mit dieser furchtbaren Grimasse begrüßt?“, tadelte der erste Prinz. Mensch, dieser Spielverderber! Immer musste er so erwachsen und vernünftig tun, dabei hatte der edle Hakuyuu letztes Jahr noch höchst selbst einen Drachen aus Schnee im Palastgarten gebaut und jeden verjagt, der sich in die Nähe seines Kunstwerks wagte. Sein älterer Bruder konnte unendlich ätzend sein! Manchmal verhielten sie sich zwar wie ein Herz und eine Seele, doch dieses friedliche, einträchtige Verhältnis konnte genauso schnell in einen Kleinkrieg ausarten, genau wie in diesem Moment. In eine ihrer üblichen Streitereien versunken, erreichten sie schließlich den Pavillon. Eiskristalle barsten knirschend unter ihren spitzen Stiefeln, als sie die glatten Treppenstufen zum Eingang hinaufstiegen. Begeistert machten sich die Prinzen mit der kalten Pracht im Inneren vertraut und legten ihre Mitbringsel sorgfältig auf dem frostbedeckten Tisch in der Mitte ab. Dabei glich es einem Wunder, dass der Inhalt des Korbes nach ihrem Streit intakt geblieben war. Wenig später erklangen Schritte von draußen und Hakuren stürmte begeistert zum Eingang, wobei er beinahe auf einer besonders glatten Eisschicht ausgerutscht wäre, um als erster einen Blick auf das unbekannte Familienmitglied zu erhaschen. Doch Hakuyuu pfiff ihn warnend zurück. „Benimmt sich so ein Prinz unseres Reiches?“, fragte er streng und der andere stellte sich seufzend neben ihm auf. Er wartete nicht gern, schließlich war er ein enorm aktives, nahezu hibbeliges Kind. Wieso musste er nur immer auf den Älteren hören? Sein ganzes Leben lang würde er diesem Aufschneider unterstellt sein, das würde er nie und nimmer aushalten. Viel lieber würde er selbst Kaiser werden, dann würden ihm alle Untertanen zu jubeln, er wäre reich und mächtig. Aber vor allem könnte er tun und lassen, was er wollte. Das wäre so toll! Doch das sollte niemals sein. Blöder Yuu!, dachte er trotzig und schob schmollend die Unterlippe vor. Allerdings hielt er den beleidigten Blick nicht lange durch, denn da betrat der ältere ihrer Cousins endlich den kleinen Raum. Zuerst flutete eine Welle der Enttäuschung über Hakuren hinweg. Kouen war alleine gekommen!? Ihn kannte er schon beinahe so gut wie seinen eigenen Bruder. Der sechsjährige Junge stand mit erhobenem Haupt im Eingang und wirkte ebenso erhaben wie Hakuyuu. Und zu Hakurens Frust deutlich älter als er selbst, obwohl sie ein ganzes Jahr Altersunterschied trennte. Er trug an diesem Tag lediglich einfache, schwarz-weiße Roben, hie und da mit roten Akzenten durchwebt und sah trotzdem sehr stattlich für sein geringes Alter aus. Sein halblanges, tiefrotes Haar, versehen mit dem kou-typischen Haarschmuck, wie auch Hakuyuu ihn trug, leuchtete kraftvoll, selbst in diesem trostlosen Licht und seine roten Augen erfassten die beiden Brüder scharf, ehe er auf die Knie ging und ihnen den traditionellen Gruß darbot. „Seid gegrüßt, eure kaiserlichen Hoheiten Hakuyuu Ren, Hakuren Ren“, sprach er, ebenso ernst, wie Hakuyuu es stets zu tun pflegte. Die Prinzen erwiderten die Höflichkeiten, ehe Hakuren das steife, formelle Gehabe nicht mehr aushielt und fragte: „Sag En, wo ist dein Bruder?“ Ein verwunderter Ausdruck zeichnete sich auf dem Gesicht seines Cousins ab. „Gute Frage, eben war er noch da“, murmelte er erstaunt und drehte den Kopf nach hinten, um ihn zu suchen. Es war ihm sichtlich unangenehm, nicht mit der versprochenen Begleitung aufgetaucht zu sein und Hakuren fand, dass er dazu nur das Recht hatte. Grade wollte er an Kouens Zuverlässigkeit herummäkeln, als er jäh erstarrte. In diesem Moment sah er ihn. Nein, eigentlich nur einen dunkelroten Schimmer, der an Kouens Seite hervor blitzte, als krallte sich jemand an ihm fest. Ihr Cousin ließ ein entnervtes Schnauben hören, dann langte er hinter sich und schob nach einigem Gezerre endlich eine kleine Gestalt an seine Seite, die daraufhin ein verängstigtes Piepsen ausstieß, zumindest erschien es den Versammelten so. Hakuren blickte gebannt auf das winzige Etwas, dass plötzlich neben Kouen aufgetaucht war und ihn nun frierend mit großen Knopfaugen anstarrte, deren Farbe der Junge nicht bestimmen konnte. Süß!, war das erste, was ihm durch den Kopf schoss. Der Anblick fesselte ihn regelrecht und er bemerkte nicht, wie es Kouen langsam unwohl wurde. „Komm schon, Koumei, stell dich ebenfalls vor! Von den kaiserlichen Prinzen bemerkt und empfangen zu werden, ist etwas, für das du dankbar sein kannst!“, drängte Kouen hastig. Erschienen da etwa Schweißtropfen auf seiner Stirn? Daraufhin blinzelte der Kleine beinahe nachdenklich, als überlegte er, ob er sich nicht doch wieder hinter dem großen Bruder verstecken sollte. Ob er schüchtern war oder ob er sich für die winzigen Pickel und Narben auf seiner Nase schämte? Kouen stieß ihn sichtlich nervös an und plötzlichkniete sich auch der Kleine nieder, umfasste seine rechte Faust mit der linken Hand, grüßte auf diese Weise und neigte kurz den Kopf. Hakuren war entzückt, es sah zu knuffig aus, wie er fand. Als er dann auch noch die helle Stimme seines jüngsten Cousins vernahm, war er vollkommen von ihm eingenommen und konnte sich ein strahlendes Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin der zweite Sohn von Koutoku Ren, Koumei Ren. Guten Tag“, piepste es da. Ja, der Kleine war wirklich herzallerliebst. Er schien beinahe in den langen, weiten Gewändern zu ertrinken und wirkte auf ihn sehr klein, woran auch der Haarknoten, der die zottelige rote Mähne, die dem Jungen wild über die Schultern fiel, nicht bändigen konnte, nichts änderte. Begeistert musterten Hakuren und Hakuyuu das unbekannte Familienmitglied, bis plötzlich etwas wahrhaft Beängstigendes geschah. Der zweite Prinz fing einen winzigen, unschuldigen Blick Koumeis auf und plötzlich ging es los: Der Kleine schien sich mit einem Mal unwohl zu fühlen, atmete schneller, krümmte sich kaum merklich und legte unsicher seine winzige Hand auf die Brust. Seine großen Augen schlossen sich gequält. Dann vergruben sich die kurzen Finger in dem Stoff, als hätte er Schmerzen. „W-was ist denn los?“, fragte Hakuren erschrocken und sah hektisch zwischen den drei anderen hin und her, erhielt als Antwort jedoch nur ein leises Stöhnen. „Ah!“ Und schon kippte Koumei nach hinten. Der Prinz stürzte nach vorne und erwischte seinen Cousin kurz bevor er auf dem Boden aufschlug. Nein, was ist denn nur mit ihm? Stirbt er?, schoss es durch seinen naiven Geist und Angst kochte in ihm hoch. Nun hielt er ein zitterndes Bündel in den Armen, das schwach blinzelnd zu ihm aufschaute. „Meine chronische Krankheit… Ich wurde mit einem schwachen Körper geboren. Ich kann mich nicht so lange anstrengen“, wimmerte Koumei schmerzerfüllt und Tränen stiegen ihm in die Augen. Voller Entsetzen starrte Hakuren seinen Cousin an. Wie sehr er bebte und seine viel zu blasse Haut fühlte sich ganz heiß an, trotz der Kälte. Er wollte etwas Tröstendes erwidern, doch dem Siebenjährigen blieb nur hilflos der Mund offen stehen. Warum tat Hakuyuu denn nichts, er war schon zehn und wusste eine ganze Menge, er könnte Koumei bestimmt helfen! Doch bevor Hakuren sich soweit gesammelt hatte, dass er nach seinem Bruder schreien konnte, ertönte wieder die schwach wispernde Stimme des Kleinen, dieses Mal noch weitaus alarmierender: „Wenn ich nicht bald in meine Gemächer zurückkehre und meine Tauben füttern darf, während ich faulenze und mein angefangenes Buch weiterlese, werde ich sterben.“ Bei den Rukh, wie furchtbar!, dachte Hakuren geschockt. Plötzlich wusste er, was mit „schwächlicher Konstitution“ gemeint war, denn sie sorgte eindeutig für Koumeis Leiden. Dass Kouen während des Anfalls unbehaglich zu Boden starrte, entging Hakuren bedauerlicherweise. Koumei streckte eine zitternde Hand nach dem zweiten Prinzen aus. „Herr Hakuren… Ich lege die Zukunft von Kou… in deine… Hände… uuuh.“ Nach diesem entkräfteten Seufzer hielt Hakuren nur noch ein lebloses Bündel auf dem Arm. „Ko… Koumei!“, brüllte er panisch und rüttelte den Rotschopf verzweifelt, doch nichts geschah. Der Kleine hatte eindeutig das Bewusstsein verloren. Dachte Hakuren jedenfalls, so reglos wie Koumei an seiner Schulter lehnte. NEIN! Vollkommen verstört kniete Hakuren auf dem Boden und stieß einen gellenden Schrei aus. So bemerkte er auch nicht, dass Kouen ganz rot angelaufen war und sich offensichtlich zu fragen schien, ob er besser eingreifen sollte. Selbst wenn er es getan hätte, Hakuren hätte ihm kein Wort geglaubt. Schließlich drehte sich sein ältester Cousin zu Hakuyuu um und beteuerte unter zahllosen, tiefen Verbeugungen: „Es tut mir so leid, Entschuldigung! Ich entschuldige mich für meinen Bruder!“ Hakuyuu lachte nur wegwerfend und winkte ab. „Ist doch nicht schlimm, du solltest lieber mit Ren sprechen.“ „Oh… oh ja!“, stieß Kouen schwitzend hervor. Unterdessen heulte der junge Prinz in einem fort seine Verzweiflung gen Himmel. Plötzlich ertönte eine zaghafte Stimme: „Kann ich jetzt nach Hause gehen?“ Überrascht registrierte Hakuren, dass er Koumei noch immer umklammert hielt und der Kleine deshalb kaum noch Luft bekam. Aber vor allem erstaunte ihn, dass seine roséfarbenen Augen nun geöffnet waren und bemerkenswert müde in die Welt blickten. Ach ja und natürlich wunderte er sich, weshalb ein Bewusstloser reden konnte. Ein Wunder musste geschehen sein. Dass das alles nur ein Schauspiel sein könnte, welches nur dazu gedacht war, ihn zu manipulieren, kam ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn. „A-aber natürlich kannst du das!“, murmelte er erleichtert, dass sein Vetter überhaupt noch lebte. Da schob sich Kouen in sein Gesichtsfeld. „Verzeiht mir, Prinz Hakuren“, bat er todernst und verneigte sich nun auch vor ihm. Irritiert beobachtete dieser die Ehrerbietung. Womit hatte er das jetzt verdient? „Ich hätte besser auf Koumei aufpassen müssen, es war klar, dass er versucht, in seinem Zimmer zu bleiben. Als ich ihn heute Morgen dort hinaus gezerrt habe und auf so wenig Widerstand stieß, hätte ich ahnen sollen, dass er sich nicht einfach so geschlagen geben wird. Lass ihn los, ich werde ihm mal ordentlich die Leviten lesen! Seine kaiserliche Verwandtschaft derart zu beleidigen bedarf einer harten Strafe!“, knurrte er abschließend. „Hä?“, machte Hakuren, der von den gehobenen Worten des Jüngeren meist nur ungefähr die Hälfte verstand. Kouen hatte sich diese Redensweise bei dem vielbewunderten Hakuyuu abgeschaut, der wiederum manchmal das Gebaren des Kaisers imitierte. Eigentlich hätte Hakuren sich auch gerne so gewählt ausgedrückt, aber das war schwer, wenn er nicht wirklich wusste, was mit den komplizierten Wörtern gemeint war und deshalb ließ er es bleiben. Dafür bekam er von seinem Bruder sogleich eine Übersetzung geliefert. „Er meint, dass Koumei dich ausgetrickst hat“, schnaubte Hakuyuu amüsiert. „Was? Das würde er niemals tun, oder Koumei?“ „Nein, Herr Hakuren, niemals!“, murmelte es an seiner Brust und Hakuren spürte, dass er seinen lieben, schwächlichen Cousin unbedingt vor dieser gefährlichen Welt und seinem grausamen Bruder beschützen musste, der sich bedrohlich vor Koumei aufgebaut hatte. „Komm nicht mal auf die Idee ihn zu schlagen!“, warnte Hakuren ihn entrüstet. Überrumpelt stutzte Kouen, offenbar verstand er nicht, warum Hakuren Koumei in Schutz nahm. „Aber er hat dich doch grade dreist angelogen“, beharrte er stur. Hakuyuu lachte bloß leise in sich hinein, als wäre er schon derart alt und weise, dass er über derlei Angelegenheiten stünde, was Hakuren sehr wütend machte. „Ihr seid solche Idioten!“, zischte er, erntete aber nur höhnische Blicke. Also beschloss er, die beiden zu ignorieren und sich einzig und allein dem armen kleinen Knirps auf seinem Arm zu widmen. „Geht es dir wirklich wieder gut?“, fragte er behutsam und versuchte vergebens die roten Zotteln aus dem Gesicht des Kleineren zu streichen. Die roten Strähnen fielen immer wieder in die Augen des Jungen und erinnerten ihn an rote Ahornblätter, die im Sommer so herrlich zwischen dem Grün der anderen Bäume hervorloderten. Sommer hätte er jetzt wirklich gerne. „Mh… fast… aber wenn ich mich jetzt hinlegen dürfte, ginge es mir noch viel besser“, gestand Koumei schwach. Hakuyuus Lachen steigerte sich ins Beängstigende, doch es drang nicht bis zu Hakuren vor. „Oh ja, natürlich darfst du dich hinlegen!“, bestätigte er fürsorglich. „Bringst du mich auf mein Zimmer, Herr Hakuren?“, hauchte Koumei ermattet. Er nannte ihn schon wieder „Herr Hakuren“? Wie respektvoll! Schlagartig fand er den Kleinen noch bemerkenswerter. „Wenn du das möchtest, na klar!“, rief er also aus und sprang voller Tatendrang auf, während Hakuyuu und Kouen peinlich berührt über seine Dummheit die Köpfe schüttelten. Doch den Spott der beiden bemerkte der zweite Prinz gar nicht mehr, denn schon schritt er mit stolzgeschwellter Brust und seinem kleinen Cousin auf dem Arm in Richtung der Gästezimmer. Koumei wies ihm den Weg zu seinem Quartier erstaunlich präzise für sein geringes Alter. Scheinbar zufrieden thronte er auf seinem Arm, gab ihm klare Anweisungen und zeigte ihm die Richtung an. Von seinen großen Krokodilstränen bemerkte man nicht mehr viel. Allerdings schlotterte er ab und an in der Kälte und schien erleichtert, sich an ihn schmiegen und dabei aufwärmen zu dürfen. Hakuren staunte derweil ein wenig über seine Ausdrucksweise, die zwar nicht so gehoben wie Kouens klang, welche sich jedoch viel besser als seine eigene anhörte. Trotzdem bedauerte er dies nicht, wusste er doch, dass er vielleicht nicht der klügste war, aber dafür großes Kampfgeschick besaß, was in diesen jungen Jahren ebenfalls als bemerkenswert galt. In den Gemächern seines Vetters angekommen, staunte er nicht schlecht. Obwohl die Familie seines Onkels erst gestern angekommen war, herrschte hier schon das reinste Chaos. Überall lagen Bücher und Schriftrollen: Auf dem Boden, dem Schrank, der Kommode, dem Beistelltischchen und sogar das Bett brach beinahe unter dem Gewicht der dicken Wälzer zusammen. „K-kannst du etwa schon lesen?“, stotterte er verstört. „Habe ich doch eben gesagt“, antwortete Koumei knapp und fixierte begehrlich das Bett. Hakuren setzte ihn auf der Decke ab, wo der Winzling sich sofort wohlig seufzend flach ausstreckte, wobei er es nicht einmal mehr schaffte, die Schuhe abzustreifen, was sein älterer Vetter übernehmen musste. Wirklich liebreizend. Dann entzündete Hakuren ungeschickt eine Kohlepfanne, was er eigentlich nicht durfte, weil er sich ja verbrennen könnte. Dies tat er auch, aber das kümmerte ihn nicht. Außer einem kurzen Aufschrei, der von Koumei kaum beachtet wurde, hatte die winzige Brandblase an seinem Finger keine weiteren Folgen. Eine kleine Blessur war immer noch besser, als ein erfrorener Cousin, denn in diesem Zimmer herrschte ein scheußlicher Frost. Koumei schien sich gleich wohler zu fühlen, als die glühenden Kohlen langsam ein wenig von der Kälte verdrängten, sein Zittern ließ rasch nach. Anschließend räumte der zweite Prinz für seinen Cousin die Bücher fort, damit er es bequemer hatte. Eine Tätigkeit die er ansonsten verabscheute. Dabei fiel ihm auf, dass es hier zwar auch die ein oder andere Sage und Kindergeschichte gab, welche auch ihm gefallen hätte, die meisten Bücher sich allerdings um die Themen Magie und Militärstrategie drehten. Verblüfft musterte er das schläfrige Etwas, von welchem er nie erwartet hätte, dass es in der Lage wäre, solch anspruchsvolle Texte zu lesen. Schließlich musste Hakuren selbst noch viele Schriftzeichen lernen und dementsprechend war es auch um seine Lesekünste bestellt. Wahrscheinlich konnte er mit kaum einem Buch hier etwas anfangen. Die Themen fand er zu langweilig, noch dazu unverständlich und die Schriftzeichen ebenso öde. Bewundernd, wenn auch mit unterschwelliger Eifersucht, betrachtete er einen mächtigen Wälzer, dessen Titel zu entziffern ihn schon vor eine unlösbare Herausforderung stellte.   „Kann es sein, dass du ziemlich schlau bist?“, erkundigte er sich schließlich. Koumeis Gesicht wurde von einem Berg aus Kissen verdeckt. „Mhm…“ Das sollte wohl ein Ja sein. Der Knirps entpuppte sich nicht grade als gesprächig. „Warum liest du so schwere Bücher?“, wollte er trotzdem wissen, denn es wollte nicht so recht in seinen Schädel hinein, wie ein anderes Kind freiwillig etwas derart langweiliges als Lektüre wählen konnte, dessen Bedeutung ihm selbst völlig rätselhaft blieb. „Sie sind interessant…“, gähnte Koumei und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Nun zeugte nur noch ein kleiner Hubbel auf dem Bett von der Anwesenheit seines Cousins. Etwas enttäuscht blickte Hakuren auf die Erhebung, dann packte er den edlen Stoff und zog ihn überraschend behutsam zur Seite. Sofort schaute er in große, empörte Augen, welche ihn aus der Dunkelheit heraus regelrecht anfunkelten. „Och Koumei, jetzt sei doch nicht so schüchtern!“, tadelte er so sanft wie er konnte. Er hoffte, dass er genug von seiner Mutter gelernt hatte, um mit dem Kleinen umzugehen, denn vielleicht konnte er mit einem ähnlich sanften Verhalten, was ihm sehr schwerfallen würde, den Knirps dazu überreden, sich doch noch ein bisschen mit ihm zu unterhalten. Schlau genug dafür war er auf jeden Fall. „Ich muss aber schlafen, sonst wird meine Krankheit schlimmer“, fiepte es unter der Decke und ehe er reagieren konnte, hatte Koumei das Laken wieder über seinen Kopf gezogen und verschwand nochmals. Das durfte natürlich nicht passieren, er würde ihn ja gleich in Ruhe lassen, aber da gab es noch so viele Dinge, die der Prinz ihn fragen wollte: „Schläfst du immer mit deinen Anziehsachen?“, entfuhr es Hakuren verblüfft, da ihm das nie in den Sinn gekommen wäre. Schließlich hatte er selbst einen ganzen Schrank voll mit feingewebten Nachthemden, eins gemütlicher, als das andere. Konnte sich die Familie seines Onkels das nicht leisten? Sein Vater meinte immer, dass nicht alle Menschen so sorglos und im Überfluss lebten wie sie, auch wenn der zweite Prinz sich das nur schwer vorstellen konnte. Er kannte schlicht und ergreifend nichts anderes. Wie es wohl war, nicht in einem unglaublich riesigen Palast mit einem ausgedehnten Garten zu leben? Bestimmt langweilig, denn im Garten konnten die Kinder allerlei Unfug anstellen und spielen, was immer ihnen grade einfiel. Spielkameraden gab es reichlich, neben Hakuyuu und Kouen gab es noch die Söhne der Adelsfamilien und hochrangigen Bürger, die ebenfalls im Palast oder in dessen unmittelbarer Nähe am wohlhabenderen Rande von Rakushou wohnten. Auch Kinder von Sklaven wurden manchmal in die Spiele miteinbezogen, doch meist blieben sie unter sich, zu viel trennte sie von den höherrangigen Jungen und Mädchen, weshalb es leicht zu Streitereien kam, welche besonders von den niederrangigen Eltern mit Unbehagen aufgenommen wurden, denn das Fehlverhalten ihrer Sprösslinge konnte sie schnell einmal ihre Anstellung und in seltenen Ausnahmefällen sogar den Kopf kosten. So waren sie meist eine sehr einseitige Gesellschaft von kleinen, kämpferischen Knirpsen, die allerlei Unfug anstellten. Mädchen gab es unter ihnen kaum, denn diese beschäftigten sich lieber mit ihren Puppen und behinderten die Jungen nur beim Fangen spielen und Raufen, weil eben dies für sie nicht als angemessene Beschäftigung galt. Hakuren fand viele von ihnen langweilig, es gab selten ein weibliches Wesen außer seiner Mutter, dem er größere Beachtung schenkte und wenn, dann benahmen sie sich ungehobelter und wilder als jeglicher Junge. Hoffentlich würde Koumei in nächster Zeit ihre Runde ergänzen, das wäre so schön! Er würde ihn fragen, ob er nicht gleich morgen mit ihnen Verstecken spielen wollte. Kouen hätte sicher ebenfalls Lust und würde seinem kleinen Bruder bestimmt die Schüchternheit nehmen können. Aber zuerst wollte Hakuren ihn überreden, eines der weichen Nachthemden anzuziehen und seinen Haarknoten zu lösen, weil er angezogen doch unmöglich bequem schlafen konnte. „Möchtest du dich nicht mal umziehen?“, hakte er nach. Stille. „Koumei?“ Ob er bereits schlief? Vorsichtig klopfte Hakuren auf das Laken. Keine Reaktion. Oder doch? Ja, eine vernarbte Nase schob sich unendlich langsam und vorsichtig unter der dicken Decke hervor. „Nein, Herr Hakuren, das ist zu kalt…“, wimmerte der Kleine herzzerreißend und schlotterte plötzlich bedenklich, wie um seine Worte zu unterstreichen. „Keine Sorge, ich helfe dir, dann geht das ganz schnell. Sicherlich haben die Dienerinnen dir bereits ein kuscheliges Nachthemd rausgelegt, die sind echt toll im Winter!“, verkündete er begeistert. Die kleinen Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Aber ich werde erfrieren, wenn ich meine Gewänder ausziehe“, widersprach der Rothaarige ängstlich. „Och komm schon. Und nenn mich nicht immer Herr Hakuren, das macht mich ganz verlegen!“, grinste er scherzhaft. „Wie denn sonst, Herr Hakuren?“ Da musste er nicht lange überlegen. „Nenn mich Ren, das dürfen alle meine Freunde zu mir sagen!“ „Aber ich bin doch gar nicht dein Freund, sondern dein Cousin? Wir haben uns doch grade erst kennengelernt? Außerdem bist du der Kaisersohn!“, piepste es unter der Decke jämmerlich und die großen Augen schielten unterwürfig zu ihm hinauf. Oh wie sehr es dem jungen Hakuren schmeichelte, bereits von solch einem winzigen Kerlchen mit so viel Ehrerbietung behandelt zu werden. Er verstand nicht, dass da jemand geschickt daran arbeitete, ihn zu blindem Gehorsam zu erziehen. Dennoch, er mochte seinen Cousin auf Anhieb und da wäre es komisch, wenn dieser ihn immer mit „Herr“ anspräche. „Das stimmt nicht. Du bist mein Cousin und seit heute auch mein Freund, ist das nicht wunderbar?“ Plötzlich kräuselten sich die Mundwinkel Koumeis zu einem winzigen Lächeln auf. „Jawohl, Ren“, wisperte er andächtig, als wollte er sich den Klang seines Spitznamens  auf der Zunge zergehen lassen und schon war er wieder unter dem Deckenberg verschwunden. „Darf ich dich dann „Mei“ rufen?“, schlug Hakuren vor. Er erhielt eine kurze, gedämpfte Zustimmung und dann nichts mehr. Im ersten Moment freute er sich, dass sie sich schon soweit bekanntgemacht hatten, dass sie einander mit Spitznamen rufen konnten, doch dann erkannte er, dass er seinem eigentlichen Ziel kein Stückchen näher gekommen war. „Mei, komm doch mal raus und zieh dich um, das ist bestimmt unbequem so!“ Zu seinem Erstaunen erschien der zauselige Kopf jetzt sofort und plötzlich war auch aller Widerstand erlahmt. „Na gut… aber nur, wenn du mir das Hemd bringst“, meinte Koumei matt. Dem Prinzen fiel gar nicht auf, dass er von jemandem, der deutlich jünger war als er, als Diener missbraucht wurde, sondern rannte enthusiastisch zum Schrank, in dem er die Kleider seines Vetters vermutete. Kaum hatte er die Tür aufgerissen, funkelte ihm glänzende Seide entgegen. Eine Robe, etwas verspielter und feiner als die, die sie für gewöhnlich unter sich im Haus trugen, hing aufsehenerregend direkt vor ihm. Irgendetwas an dem rot-grünen Muster in dessen Mitte eine geschickte Hand weiße Tauben aufgestickt hatte, entzückte ihn. Er musste sich mit Gewalt von diesem Anblick losreißen und fischte dann das Nachtgewand hervor, wobei er Glück hatte, dass er es mit seiner geringen Größe noch erreichen konnte. Bei Koumei angekommen, der sich gehorsam aufgesetzt hatte, zog er ihm die alten Sachen von den Schultern und tauschte sie gegen das Nachthemd. Der Kleine konnte gar nicht reagieren, so schnell hatte der Prinz ihm die Kleidung gewechselt und sein Haar gelöst. Hakuren strahlte bis über beide Ohren. Er war zufrieden mit seinem Werk, auch wenn das Band, welches alles zusammenhielt ein wenig schief gebunden war. Für gewöhnlich kleideten einen ja auch die Dienerinnen an. Zufrieden ließ sich Koumei in die Kissen sinken. Er wirkte äußerst tiefenentspannt. Doch um ihn schlafen zu lassen, schossen Hakuren noch viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Er wollte seinen Cousin richtig kennenlernen! „Magst du Tauben?“, erkundigte er sich unverblümt. Ganz anders als er erwartet hatte, wirkte Koumei nicht sonderlich aufgeregt, als er auf dieses Thema zu sprechen kam, sondern kratzte sich schläfrig am Hinterkopf. Doch dann meinte er müde: „Oh ja! Ich liebe Tauben… sehr… ich habe… zu Hause… selbst ganz viele…“ Seine Augen fielen zu. Oje, gleich würde er sicher einnicken! Jetzt musste Hakuren schnell sein. „Willst du morgen Nachmittag mit Yuu, En, mir und ein paar anderen im Garten verstecken spielen? Und sollen wir davor unsere Brieftauben besuchen? Ein Diener von meinem Vater züchtet sie für uns!“ Erschöpft blinzelte der Zottel ihn an. „Ich glaube nicht, dass ich das Versteckspiel überstehen würde, aber die Tauben würde ich sehr gerne sehen, Ren…“ Und mit diesen Worten fiel sein kleiner Kopf zur Seite und er schlief tief und fest, egal wie heftig der Prinz versuchte, ihn wieder wachzurütteln. Schließlich gab er es bedauernd auf und deckte ihn seufzend zu. Vielleicht war Koumei doch nicht so spannend, wie gedacht. Doch dann fiel ihm voller Freude wieder ein, dass sie ja morgen etwas gemeinsam unternehmen würden. Und nach den Tauben könnte er Mei vielleicht dazu überreden, trotz mangelnder Begeisterung, an dem Spiel teilzunehmen. Ach was, er würde ihn einfach mit in den Garten zerren, wehren konnte er sich bei dieser Winzigkeit schließlich nicht und ein bisschen frische Luft und Spaß würden dem süßen Kerlchen schon nicht schaden. Wenn er sich da mal nicht täuschen würde… So kehrte er bester Laune mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht zu Hakuyuu und Kouen zurück. „Sollte ich eigentlich beleidigt sein, dass mein kleiner Bruder mich einfach gegen jemanden eintauscht den er grade mal seit ein paar Minuten kennt?“, schnaubte Kouen trocken und Hakuyuu zuckte belustigt die Achseln. Einträchtig aßen sie ihren Reis, ignorierten gekonnt die beißende Kälte, aber kaum hörten die beiden die knirschenden Eiskristalle unter Hakurens kleinen Füßen, empfing ihn sein großer Bruder schon mit einem spöttischen Spruch: „Na, verliebt?“ Hakuren blies erbost die Backen auf. War ja klar, dass Yuu sich wieder aufspielen musste, besonders vor ihrem Vetter! Ehe er etwas erwidern konnte, fügte der Ältere noch hinzu: „Herzlichen Glückwunsch Renren, dein Cousin hat dich grade zu seinem persönlichen Kindermädchen auserkoren. Pass auf, dass du ihn nicht völlig verziehst, sonst hat Kouen die ganze Arbeit, deine Fehler auszubaden.“ „Halt dein Maul!“, brüllte Hakuren plötzlich wütend und schlug nach ihm, doch Hakuyuu wich einfach aus. „Wieso, ist doch so, nur weil du zu blöd bist, um zu bemerken, dass es keine Krankheit gibt, die dadurch gemildert wird, dass man ein Buch liest und sich mit Tauben umgibt!“, prustete er. „Das ist nicht wahr, Mei ist eben noch klein und schwach, woher willst du schon wissen, ob es sowas gibt oder nicht, du Pisskopf!“, schrie Hakuren und boxte ihn nun doch noch in die Seite. Der erste Prinz gluckste nur heiter über sein kreatives Schimpfwort. Klar, in der Gegenwart von Kouen konnte er sich schlecht gehen lassen und sich mit ihm prügeln, was dem Kleineren gar nicht mal so unwillkommen gewesen wäre. „Dein Bruder liegt leider richtig, tut mir Leid, dass ich deine Träume zerstören muss“, wandte nun auch Kouen ein. Hakuren starrte ihn an, wie einen Verräter. Dabei ging es doch um die Ehre seines kleinen Bruders, bedeutete das kleine Meichen Kouen gar nichts?! „Koumei täuscht gerne vor, dass er schwach ist, nur bemerken dies viele Leute nicht, sondern glauben seine Lügen. Verzeih, dass er sich auch bei dir nicht benehmen konnte. Ich werde mit ihm reden, damit das nicht noch mal passiert.“ Irgendetwas an dieser Äußerung machte den zweiten Prinzen extrem zornig und ließ seine blauen Augen trotzig blitzen. Es kam ihm vor, als hielten ihn die beiden für beschränkt und Koumei für ein hinterlistiges, kleines Biest, obwohl er sich doch so hilfsbedürftig an ihn geschmiegt hatte. Knurrend fegte er die mitgebrachten Essstäbchen vom Tisch. Seinen neuen Freund zu beleidigen, sollten sie lieber nicht wagen. „Ihr Blödmänner habt ja keine Ahnung!“, brüllte Hakuren völlig außer sich und stürmte von dannen. Dabei entgingen ihm glücklicherweise die gemurmelten Worte der beiden. „Ist dein Bruder mittlerweile eigentlich vollkommen durchgedreht?“, brummte Kouen irritiert davon, dass Hakuren den hinterlistigen, in einem fort lügenden Koumei verteidigte. Hakuyuu seufzte, als wollte er hervorheben, welch ein Kreuz es war, tagein tagaus mit solch einem einfältigen Bruder Zeit verbringen zu müssen: „Es sieht ganz danach aus, En.“ Und dann brach der sonst so ernste und beherrschte Prinz abermals in lautes, herzhaftes Gelächter aus, welches die Eiszapfen an den geschwungenen Dachkanten des Pavillons nur so erzittern ließ. Währenddessen freute Hakuren Ren sich brennend auf den nächsten Tag, den er endlich mit seinem neuen Freund verbringen durfte. Er hatte da so eine Ahnung, dass sich mit dem kleinen Koumei noch einiges mehr anstellen ließ, als es den Anschein machte.   *-*.   Kapitel 6: Possierliche Vögelchen --------------------------------- *-*. Der nächste Wintermorgen brach ebenso kalt und düster an, wie der Tagesbeginn gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Und vorvorvorgestern. So dunkel, wie eigentlich schon die ganze eisige Jahreszeit über, fand Hakuren. Zuerst wollte er sich einfach die Decke über den Kopf ziehen und weiter schlafen, wonach es ihn höchstens im widerlichen Winter verlangte, doch dann fiel dem Jungen schlagartig ein, dass er sich ja mit dem kleinen Koumei treffen wollte. Heftige Freude schoss durch seine Adern. Sein neuer Freund war einfach ein tolles Kerlchen. Viel besser als der hochnäsige Hakuyuu oder der steife Kouen. Ob er bereits wach war? Hakuren brannte darauf, es herauszufinden und mit ihm loszuziehen. Aber davor musste er wohl oder übel noch ein paar Unterrichtsstunden über sich ergehen lassen. Diese Plackerei würde er vor lauter Ungeduld niemals überstehen. Hakuren knurrte ruhelos. Am liebsten wäre er jetzt schon zu den Gemächern seines Cousins gerannt und hätte mit ihm die Tauben angeschaut. Allerdings kamen bereits die Dienerinnen in sein Zimmer geschwärmt, um ihn für den heutigen Tag zurechtzumachen. Sie überredeten ihn gutmütig und unerbittlich wie immer aufzustehen, was für gewöhnlich kein Problem darstellte, weil Hakuren nicht gerne schlief. Ganz egal, was er für ein teures Himmelbett besaß, dessen Schnitzereien sogar kämpfende Drachen zeigten, das Wörtchen „Ausruhen“ konnte er nicht leiden. Auch weiche Kissen oder Decken verloren ihren Reiz übermäßig schnell, sobald die Schlafenzeit anbrach. Die Kindermädchen gerieten über seine Sturheit regelmäßig in tiefe Verzweiflung, weil er einfach nicht zur Ruhe kam. Er könnte ja etwas verpassen! Dementsprechend ließ er sich auch an diesem unwirtlichen Wintertag recht schnell aus dem Bett rufen. Außerhalb der wärmenden Laken herrschte eine widerlich niedrige Temperatur. Die Kohlepfanne war wohl erloschen. Dafür erleichterten ihm die netten Frauen das Wachwerden mit einem warmen, grünen Tee, aromatisiert mit Pflaumen und einem kleinen, süßen Gebäckstück, welches der zweite Prinz genüsslich herunterschlang, ehe sie ihn ankleideten und er sich voll übersprudelnder Energie auf den Weg zum Unterricht machte. Ein paar Stunden später, es war immer noch Vormittag, hüpfte der junge Prinz frohen Mutes, durch den Palast zu der Unterkunft der Verwandten. Der Unterricht hatte sich als genauso quälend und öde erwiesen, wie erwartet. Hakuyuu und er hatten etwas über das mit Kou verfeindete Königreich Kina gelernt. Zumindest hatte der Lehrer versucht, ihnen etwas darüber beizubringen, was sich bei Hakurens überdrehtem Herumgezappel als unmöglich erwies. Der Junge hatte wie wild auf seinem Stuhl herumgewippt, sodass dieser unter höllischem Lärm umgekippt war. In Folge dessen zierten nun rote Striemen seine Hände. Doch die Stockschläge und Schimpfe stimmten ihn nicht weiter traurig. Hakuren mochte diesen Lehrer ohnehin nicht. Es existierte also kein Verhältnis, das sich verschlechtern könnte. Der Drohung des Mentors, ihn das nächste Mal übers Knie zu legen, schenkte der Kaisersohn wenig Glauben. Wenn man an zweiter Stelle der Thronfolge stand, überlegten sich die Menschen harte Strafen äußerst gründlich, bevor sie sie ausführten. Mit einem möglichen Thronfolger wollte man es sich nicht übermäßig verscherzen. Sein Vater erzählte immer unter großem Gelächter, wie er damals nach der Thronbesteigung seinen unliebsamen Lehrer bestraft hatte und die Geschichte kursierte heute noch als eine Art Gruselmärchen unter der Dienerschaft. Natürlich hatte der Kaiser dem Lehrer nichts Gefährliches angetan, doch die Scham darüber, von den Wächtern kurzer Hand splitterfasernackt und kopfüber in Eiswasser getunkt zu werden, machte die Bediensteten vorsichtig. So vermutete Hakuren, dass er von dem strengen Mann nichts zu befürchten hatte und grinste schadenfroh vor sich hin. Er malte sich bereits in den buntesten Farben aus, womit man dem Kerl später den besten Denkzettel verpassen konnte. Darüber hinaus hatte er sich bei dem Sturz glücklicherweise nicht verletzt. Sowieso konnte der Junge nur noch an Koumei denken. Er freute sich so sehr, einen neuen Freund gefunden zu haben, den Hakuyuu ihm nicht direkt vor der Nase weggeschnappt hatte, dass er am liebsten vom Boden abgehoben wäre. Sobald er ohne zu klopfen in das Zimmer seines Cousins geplatzt war, staunte er nicht schlecht. Während er sich am frühen Morgen erzwungenermaßen mit Fehden zwischen Ländern herumgeplagt hatte, lag der Kleine selig schlummernd in einem Berg von Kissen, die Decke bis zur Nase hochgezogen. Ob er seit gestern Morgen durchgeschlafen hatte? Möglich erschien es durchaus, immerhin herrschten hier behagliche Temperaturen. Ein leises, unauffälliges Schnarchen drang aus seinem leicht offenstehenden Mund. Höchst interessiert beobachtete Hakuren den dünnen Speichelfaden, der aus Koumeis Mundwinkel rann und nach und nach auf die edlen Stoffe tropfte. Auf der Decke hatte bereits sich ein dunkler, feuchter Fleck gebildet. Anstatt sich daran zu stören, grinste Hakuren beglückt. Dieser Knirps sah wirklich knuffig aus, wenn er schlief. Aber ein wenig enttäuscht war der Prinz über dessen Schläfrigkeit schon. Hakuyuu hätte diese Schlafmütze keines zweiten Blickes gewürdigt, doch sein jüngerer Bruder tickte da anders. Vorsichtig wischte er die Spucke mit dem blauen Ärmel seiner Robe fort, woraufhin ein behagliches Schmatzen ertönte und Koumei sich genüsslich gegen seine ausgestreckte Hand schmiegte. Behutsam tätschelte Hakuren die vernarbte Wange. Die unreine Haut fühlte sich seltsam an, doch seine zarte Berührung weckte den Cousin leider nicht auf. Also wuschelte er mit der freien Hand etwas fester durch das rote Haar, sodass es in alle Richtungen abstand. Überraschenderweise waren die zotteligen Strähnen recht rau und nicht so weich wie erwartet. Trotz seiner Bemühungen entwich dem Vetter lediglich ein träumerisches Seufzen. Wie hartnäckig er auf seine Bettruhe bestand! „Mei… Meichen… Koumei… es ist Zeit aufzustehen“, flüsterte Hakuren in demselben Tonfall, in dem er früher seinen Vater geweckt hatte. Ja, seinen Vater hatte er früher vergöttert, eigentlich tat er das immer noch. Bis vor ein, zwei Jahren war er frühmorgens immer kreischend in die Gemächer seiner Eltern eingefallen und hatte sie dann, falls man von seiner überaus aktiven Natur wusste, überraschend umsichtig aus den Federn geholt. Natürlich hatte seine sanfte Weckmethode bei der kleinen Schlafmütze hier keinen Zweck, er erhielt lediglich ein genuscheltes: „Mama?“ Vielleicht hatte er sich allerdings auch verhört, denn angeblich war die Mutter seiner Cousins ja dem Kindbettfieber erlegen, was auch immer das darstellen sollte. Egal, er wollte keinen nuschelnden, sondern einen wachen Cousin! „Och Mei, jetzt komm, du wolltest doch die Tauben sehen und gleich gibt es Mittagessen, wir haben also wenig Zeit!“, quengelte er. Plötzlich hob sich skeptisch ein Augenlid. Der Kleine wirkte vollkommen orientierungslos, so fahrig wie sein Blick über die fremde Umgebung taste. „Tauben?“, piepste Koumei verschlafen und blinzelte verwirrt zu Hakuren auf. Ein stolzes Lächeln erschien auf dem frechen Gesicht des Älteren. Das Stichwort lautete also „Tauben“! Er hatte einen Weg gefunden, die Aufmerksamkeit des Kleinen zu gewinnen! Endlich konnte er mit seinem Cousin reden und sie würden eine Menge Spaß haben, wie er schon gestern beschlossen hatte. Bis sie allerdings Aufbruch bereit waren, verging noch einige Zeit, da Koumei ewig zum wach werden benötigte und Hakuren ihn immer wieder unsanft daran erinnerte, dass das Bett nicht dafür gedacht war, in einem fort darin zu liegen. Na gut, eigentlich schon, aber man sollte wenigstens ab und an aufstehen. Schließlich musste man sich selbst im bitterkalten Winter bewegen, um in Form zu bleiben! Es gab so tolle Möglichkeiten seiner Kraft freien Lauf zu lassen, selbst zu dieser Jahreszeit! Leider schien nur er selbst das so zu sehen. Der Rothaarige wirkte verstimmt, besonders als Hakuren ihm einfach die Roben anzog, weil er sich selbst zu ungeschickt anstellte. Nun gut, in diesem Alter war das nicht weiter verwunderlich. Aber Koumeis Unmut, als er angekleidet wurde, verwunderte den Prinzen, da sein Freund ihn gestern noch um selbiges gebeten hatte. Doch schließlich gelang es ihnen, die anfänglichen Schwierigkeiten zu überwinden und das behaglich warme Zimmer zu verlassen. Allerdings folgte das nächste Problem auf dem Fuße, sobald sie den Flur betreten hatten. Hakuren befand sich fast schon am Tor, als er bemerkte, dass Koumei ihm nicht mehr folgte. Erschrocken riss er den Kopf herum. Oh je, wenn sein Cousin verschwunden war… was würde Kouen dann mit ihm anstellen? Er maß zwar einen guten Kopf weniger als er, war aber ziemlich stark. Auch wenn der Prinz es nie zugab, er hatte ziemlichen Respekt vor dem Jüngeren. Nervös rannte er zurück und entdeckte das Objekt seiner Suche sogleich: Das kleine Kerlchen kauerte mit verzweifelter Miene auf dem Teppichboden und fröstelte bemitleidenswert. „Was ist denn los?“, rief Hakuren besorgt und eilte schleunigst an seine Seite. Koumei blinzelte betrübt. Bibbernd fiepte er: „Meine Beine sind kürzer als deine, ich kann nicht mit dir mithalten, Ren. Und es ist so kalt… Trägst du mich?“ Wie niedlich! Er braucht meine Hilfe!, freute sich Hakuren. Dann jedoch kam ihm ein unheimlicher Gedanke: Hoffentlich erfriert er nicht… „Herr Hakuren?“, hakte Koumei plötzlich nach und zerstörte mit der ehrfurchtsvollen Anrede alle Ängste. Diese Bitte konnte der zweite Prinz natürlich nicht zurückweisen. Zu sehr wurde er von dem flehenden roséfarbenen Blick eingenommen. Außerdem hielt er sich selbst für einen zuvorkommenden Menschen und musste die anderen um jeden Preis von seiner Selbstlosigkeit überzeugen. Grade wollte er seinen Cousin an sich ziehen, um ihm die kalten Finger warm zu reiben und ihn auf den Arm nehmen, als plötzlich ein höchst interessantes Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Aus dem Zimmer vor dem sie zufällig standen, drangen zwei hohe, lebhafte Stimmchen. „Gib das her!“, verlangte die eine.   „Nein, das ist meins!“, verteidigte sich die andere, woraufhin ein heftiger Streit entbrannte. „Lügnerin! Die Puppe gehört mir! Du lügst immer nur! Hör auf damit, Jaku!“ „Aber ich will jetzt mit Riri spielen!“, kreischte es überraschend aggressiv. „Ich bin die Ältere, also darf ich auch mit meinen Puppen spielen, wann ich will!“, fauchte es. „Nein, du bist doof und dumm wie Bohnenstroh!“, keifte die zweite wieder. „Blöde Fettfratze!“, heulte es. „Fischgesicht!“ „Zerquetschte Kuh!“ Daraufhin brach großer Spott aus: „Haha, was soll das denn sein? Hast du schon mal eine zerquetschte Kuh gesehen? Ich finde, ich bin viel älter als du, weil ich viel schlauer bin!“ „Froschhintern!“ „Widerlicher Dreckspatz!“ „So solltest du dich selber nennen, Jaku! Spatzen sind nur dazu da, um Abfälle zu fressen und fett zu werden! Genau wie du! Du bist so dick und hässlich, wie ein aufgequollener Reissack!“ Koumei schüttelte angewidert den Kopf. Er wirkte äußerst abgestoßen von solch ungehobelten, verletzenden Worten. Hakuren hingegen staunte nicht schlecht. In der Umgebung der ehrenwürdigen Familie Ren gehörte es offenbar zur Tradition, in seiner Jugend einen Haufen kreative Schimpfwörter zu erfinden. Natürlich testete man sie auch direkt an geeigneten Versuchsobjekten. Oh, wie sehr dem zweiten Prinzen das gefiel! Dann hörten sie nur noch ein wildes Gerumpel und hohe, quietschende Schreie. Eine verzweifelte Frauenstimme rief: „Nun beruhigt euch doch endlich, Kinder!“ Fragend blickte Hakuren zu Koumei hinab, der alles anschaute, außer der Tür, hinter der sich scheinbar zwei kleine Mädchen in die Haare bekommen hatten. Neugierig tappte der zweite Prinz hinüber. Bevor er die Flügel auseinanderschieben konnte, zerrte sein Cousin verbissen an seinem Gewand. „Ren, geh nicht da rein, bitte!“, fiepte er eindringlich. „Aber wieso? Weißt du vielleicht wer das ist?“ Koumei errötete schlagartig und wollte scheinbar am liebsten in Grund und Boden versinken. Wie reizend er aussah! Schließlich erwiderte der kleine Junge zaghaft: „Das sind meine beiden Schwestern Kourin und Koujaku. Sie streiten immerzu. Es ist unklug, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen…“ Aber da war Hakuren schon längst in den Raum hineingeplatzt, denn die lieben Schwestern seines süßen Cousins musste er unbedingt kennenlernen! Kaum schwangen die Türflügel knallend auf, verstummten die streitenden Mädchen. Der Anblick, der sich den hereinkommenden bot, erinnerte an ein Gemälde, welches einen aberwitzigen Moment einfing: Die Schwestern hockten voreinander auf dem Boden, die winzigen Fäustchen fest im Haar der jeweils anderen vergraben. Doch scheinbar hatten sie ihren Streit für den Augenblick vergessen. Wie gebannt starrten sie ihren Cousin an, der aus heiterem Himmel erschienen war und sie nun entzückt lächelnd musterte.  Als dann auch noch ihr jüngster Brüder folgte und seine kleine Hand furchtsam in die des Prinzen schob, amüsierten sich die beiden sichtlich, während ihre Aufpasserin missbilligend die Stirn runzelte. Hakuren jedoch kümmerte sich nicht darum, schließlich nahm er eine höhere Stellung ein als diese Frau. Koumeis Enthüllung, zwei Schwestern zu haben, hatte ihn wirklich überrascht. Begeistert besah er sich das Zimmer und die Mädchen, die ungefähr in Koumeis Alter sein mussten. Der Raum glich einem Schlachtfeld. Überall lagen Spielsachen verstreut, die überwiegende Mehrheit bestand aus Puppen in allen erdenklichen Größen, Formen und Farben. Daneben gab es bunte Bälle, strohgefüllte Stofftiere und hölzerne Reifen. Nach einer Weile entschloss sich der Prinz seine Cousinen zu begrüßen, in der Hoffnung, mehr über sie zu erfahren: „Hallo ihr zwei, ich bin der zweite Prinz Hakuren Ren und wie heißt ihr?“ Die beiden wechselten einen seltsamen Blick, der alles bedeuten konnte. Das dünnere der beiden Mädchen antwortete am schnellsten: „Oh, Prinz Hakuren! Welch eine Freude! Ich bin Kourin Ren, die älteste Tochter von Koutoku Ren, es ist mir eine Ehre, eure Bekanntschaft zu machen!“ Mh, die Grußformeln hat man ihr aber gut eingebläut, erfasste er still. Kaum verklangen ihre Worte, wurde sie von der etwas molligeren Cousine zur Seite geschubst. „Mach endlich Platz, Kourin, du dumme Nuss!“, piepste sie zornig. „Junge Dame, so sprecht Ihr garantiert nicht mit dem kaiserlichen Prinzen!“, rügte das Kindermädchen und sah ihn entschuldigend an. Die Kleine streckte ihr lediglich die Zunge heraus, ehe sie Hakuren freudig anstrahlte und sich kerzengrade aufrichtete. „Ich bin Koujaku, die jüngste Tochter von Koutoku. Aber ich bin stärker und schöner als Kourin, was sagst du, Ren?“ Die Dienerin fiel bei dieser respektlosen Anrede beinahe in Ohnmacht. Sicherlich befürchtete sie, zur Strafe ebenfalls ins eiskalte Wasser geworfen zu werden, falls ihr die Geschichte jemals zu Ohren gekommen war. Aber der ältere Junge entgegnete erst einmal gar nichts. Er registrierte nicht einmal, wie Kourin ihrer Schwester einen erbosten Stoß in die Magengrube versetzte, den diese mit einem beherzten Haken konterte, und wie ihre erschöpfte Zofe die beiden Streithennen auseinanderzog. Nein, der Blick des Prinzen wanderte fasziniert von der einen zur anderen Schwester und er dachte sich, dass Koujaku mit ihrer prahlerischen Behauptung durchaus richtig lag. Zwar besaß Kourin eindeutig die damenhaftere Ausdrucksweise, doch sie war trotz ihres jungen Alters gertenschlank, beinahe abgemagert. Außerdem fand er ihre korrekte Art öde. Sie würde sicherlich mal eine langweilige, feine Dame werden. Während schon Kourins rotes Haar in keinster Weise mit dem Leuchten von Koumeis Mähne mithalten konnte, besaß Koujaku lediglich braune Strähnen, deren Rotschimmer man sich fest vorstellen musste, um ihn zu bemerken. Und doch entfachte das kleine, pummelige Mädchen Hakurens Interesse stärker als ihre Schwester. Mit ihrer winzigen spitzen Nase und dem aufgeweckten Temperament erinnerte sie an einen quirligen Vogel, am ehesten tatsächlich an einen Spatz, wie ihr Name schon sagte. Das einzige, was Hakuren wunderte war das vollkommen unterschiedliche Aussehen der Geschwister. Keiner der drei ähnelte sich in dem Maße, wie er und Hakuyuu es taten. Verwirrt beäugte er die drei jüngeren Kinder und versuchte herauszufinden, weshalb sie sich kaum glichen. Alle besaßen rotes Haar, doch der Farbton unterschied sich wirklich völlig, reichte von Koujakus Rotbraun über Koumeis dunkles Purpur bis hin zu Kourins hellem Scharlach. Erst später sollte er erfahren, dass die drei lediglich Halbgeschwister waren und Onkel Koutoku nicht nur eine Frau besaß, wie sein Vater, sondern mehrere, was die Frage nach dem unterschiedlichen Aussehen der Kinder erübrigte. Zu Hakurens Bedauern blieb es erst einmal bei dieser flüchtigen Begrüßung und dem unverhohlenen gegenseitigen Gestarre. Sobald sich die Zofe, welche sich um seine Cousinen kümmerte, wieder gefangen hatte, schickte sie die Jungen nach draußen. Enttäuscht schlurfte der Prinz mit Koumei an der Hand den Flur hinunter. Wie gerne hätte er die kleinen Mädchen mit zu den Tauben geführt. Gleich drei liebe Verwandte waren mehr, als er sich zu erhoffen gewagt hatte, selbst Kourin, die ihn am wenigsten beeindruckte, fand er noch interessant genug, um sich ihre Gesellschaft zu wünschen. Nun musste er allerdings mit Koumei vorlieb nehmen. Das störte ihn natürlich nicht übermäßig, da Koumei bis grade eben ohnehin der einzige gewesen war, mit dem er sich heute gemeinsam die Zeit vertreiben würde. Der Winzling schien beinahe kleiner als seine Schwestern zu sein, stolperte über seine kurzen Beinchen und wirkte nicht traurig, die beiden Mädchen bei der Dienerin zurückzulassen. Alles in allem war Hakuren wirklich froh, dass, wenn schon nur eines der Geschwister mit ihm kam, es sich dabei um den Sohn seines Onkels handelte. Mit Jungen konnte er einfach mehr anfangen, als mit reizlosen Mädchen, obwohl er sich fragte, ob sich dies mit Kourin oder Koujaku nicht ändern könnte. Ihren Streit und die Vorstellungsrunde hatte er verzückt mit angesehen, sie waren so quirlig und aufgeweckt. Ihren Bruder übertrafen sie mit ihrem Temperament um Längen. Jedoch mochte Hakuren Koumei vor allem, weil er schlau, niedlich und schüchtern war und ganz klar seine Hilfe brauchte. Ohne ihn würde der Kleine bestimmt niemals das Tageslicht erblicken, sondern arm und verlassen in seinen Gemächern eingesperrt bleiben. Das durfte nicht passieren und so nahm er das kleine Kerlchen wieder auf den Arm, da dieses schon wieder langsamer wurde. „Meichen, spielst du viel mit deinen Schwestern?“, erkundigte er sich und schlüpfte mit ihm in die Kälte hinaus. Schlagartig erzitterte Koumei und presste sich frierend an ihn. „N-Nein, sie sind mir zu a-anstrengend und z-z-zu k-kindisch“, stotterte er und klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Kein Wunder, Hakuren hatte vergessen, dass sie im tiefsten Winter vielleicht wärmere Kleidung benötigten als gewöhnlich. Allerdings wollten sie ja nur zu den Tauben, da mussten sie bloß eine winzige Strecke im Freien zurücklegen. „Heißt das, du machst nie etwas mit deinen Schwestern?“, fragte Hakuren weiter. Koumei nickte. Anscheinend sahen sie sich meist nur beim Essen und selten beim Lernen. „Findest du es nicht schade, dass ihr nichts miteinander zu tun habt?“, hakte der Prinz also nach und betrachtete ihn mitleidig. „Ach… nein… sie s-s-sind mir zu wild“, antwortete Koumei, was Hakuren irgendwo sogar nachvollziehen konnte, dabei lebte er praktisch nach dem Motto „je wilder, desto besser“. Bald erreichten sie das Nebengebäude, in dem die kaiserlichen Haustauben hausten. Gewöhnlich konnten zumindest die Brieftauben den Taubenschlag verlassen und hineinfliegen, wann sie wollten, doch wegen der Kälte hatte ihr Pfleger die Ausfluglöcher verschlossen. Gut, so würden sie alle Tiere bewundern können. Sobald sie die wohlige, wenn auch unterschwellig nach Vogeldreck müffelnde Luft umhüllte, sah Koumei viel entspannter aus. Er hörte auf zu frösteln und wollte nun selber laufen. Sein Cousin war darüber einerseits glücklich, da ihm bereits der Rücken schmerzte, andererseits fühlte er sich so schön erwachsen, wenn er den kleineren Jungen auf dem Arm trug. Außerdem schien es dem Rothaarigen zu gefallen, sich nicht anstrengen zu müssen, da er mit dieser schwächlichen Konstitution geschlagen war, wie Hakuren es gestern bemerkt hatte. Strahlend vor Stolz setzte er Koumei auf dem Boden ab und ging mit ihm zu den Einzelkäfigen, sowie den großen Taubenvolieren. Bereits beim Betreten des Hauses hatte Koumei seltsam zufrieden gewirkt. Fasziniert spähte er durch die Gitterstäbe aus Bambus oder geschnitztem Holz. In den verschiedenen Volieren befanden sich nicht nur Tauben, aber sein Cousin mochte bestimmt auch andere Vögel. „Schau mal, hier sind unsere Pfauen, im Winter ist es ihnen draußen zu kalt!“, verkündete Hakuren direkt, weil er Tauben für wenig beeindruckend hielt. Pfauen waren groß und imposant, außerdem gaben sie einen gewaltigen Braten ab, besser als so eine mickrige Taubenbrust. Fast hätte er seine Ansichten laut verkündet, doch Koumeis Blick hatte sich bereits an den kleineren, gurrenden Vögeln festgesogen. Die gezüchteten Haustauben liebte er scheinbar über alles und ging erst einmal die Käfige ab, deren Einrichtung sich auf ein wenig Stroh, eine Sitzstange, sowie Futter- und Wasserbehälter beschränkte. Er beobachtete ein hübsches, dunkelbraunes Tier, welches ihn ebenfalls aus seinen schwarzen Augen musterte. „Sie brütet“, murmelte der Junge. „Mh?“, machte Hakuren und eilte neben ihn, wobei die Taube erschrocken aufflatterte. Mit einem dumpfen Laut stieß sie gegen die Käfigdecke und fiel benommen auf ihr Gelege zurück. „Oh ja, das sind mindestens drei Eier!“, rief der Prinz überrascht. Koumei schaute ihn bekümmert an. „Du musst leise sein, sie können sonst in Panik geraten und sogar an dem Schock sterben. Wenn nie jemand hier herein kommt, sind sie Lärm und schnelle Bewegungen nicht gewöhnt.“ Etwas verstört starrte Hakuren auf seinen winzigen Cousin hinab, der ihm grade so erwachsen erklärt hatte, wie er sich verhalten musste. Der vorwurfsvolle, strenge Ton in seiner Stimme ließ ihn schaudern. Wie unheimlich. „Tut mir leid!“, flüsterte er, um Fassung bemüht, während der andere vorsichtig einen Finger durch die Stäbe schob und das schöne Gefieder streichelte. Eigentlich erwartete der Schwarzhaarige, dass die Taube Koumei beißen würde. Nach ihm und Yuu hatten sie immer gehackt. Na gut, wenn man sie ärgerte, ärgerten sie einen wohl zurück. Ihr Cousin hingegen besaß offenbar ein untrügliches Gespür für die Tiere hier. Es gelang ihm, auch die folgenden Tauben zu berühren. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, so konzentriert und entspannt zugleich, fesselte den Siebenjährigen. Koumei wirkte überhaupt nicht mehr müde! Da hatte er wirklich eine perfekte Idee gehabt, um ihn ins Freie zu bekommen. Wobei… sie befanden sich schon wieder in einem Gebäude… Darüber hinaus fand Hakuren es eigentlich ein bisschen einschläfernd, in einem fort ruckende Hälse und scharrende Klauen zu beobachten. Mit viel Glück erwischte man vielleicht ein Tier, welches sich putzte, was zu bemerkenswerten Verrenkungen führen konnte, aber spannend war das auch nicht grade. „Können wir auch mal in eine Voliere gehen?“, bat Koumei nach einer Weile. Er hatte alle Käfige trippelnd abgeklappert und war zu dem Schluss gekommen, dass hier zwar nicht solch außergewöhnliche Tauben lebten wie bei ihm zu Hause, er sie aber trotzdem mochte. Mittlerweile zierte seine Miene ein nahezu seliges Lächeln, welches Hakuren nur erwidern konnte. Also stimmte er zu, obwohl sein Vater und der Pfleger es den Kindern strengstens verboten hatten und die Viecher ihn nicht besonders in ihren Bann zogen. Egal, er hatte es ihm versprochen. Was sollte bei Koumei auch schon passieren, er war so sanft zu den Tieren, dass sie alle freiwillig zu ihm kommen würden. Niemals könnte er ihnen etwas zu Leide tun und er würde sie sicherlich auch nicht aus den Käfigen entkommen lassen. Nach kurzem Zögern bugsierte er seinen Cousin durch die Tür einer Voliere, schloss sie hektisch hinter ihm und beobachtete dann zufrieden, wie dieser sich bequem auf dem staubigen Boden niederließ. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die ersten Tauben mit lautem Flügelschlag zu seinen Füßen landeten. Schnell bemerkten auch die anderen, dass der fremde Neuankömmling überaus nett zu ihnen war. Als Koumei ein paar Körner aus einer der Futterschalen griff, flogen einige sogar auf seinen Kopf, um sich füttern zu lassen. Selbst die Tiere, die sich in die aufgehängten Taubenkästen zurückgezogen hatten, spähten hungrig nach draußen. Bald verschwand der kleine Junge in einem flügelschlagenden Haufen aus weißen, grauen, braunen und schwarzen Federn. Hakuren machte sich fast ein wenig Sorgen, dass er unter den ganzen Viechern ersticken könnte. Wie sollte er Kouen auch erklären, dass sein Bruder in einer Wolke aus Federn umgekommen war? „Koumei?!“, rief er prüfend. „Ren?“, kam es völlig gelöst zurück. Schön, dass wenigstens einer von ihnen grade in seinem Element war. Der Cousin hatte seinen Spaß. „Komm doch rein“, schlug Koumei ungewohnt heiter vor und für einen kurzen Moment blitzte sein narbiges Gesicht aus dem Gewühl hervor. „Ach, lass mal, ich steh nicht so auf die Viecher“, wehrte Hakuren ab. Genaugenommen fand er Tauben todlangweilig und machte dies alles nur mit, um dem anderen einen Gefallen zu tun. Und ja… er wollte auch nicht gebissen werden. „Sie sind ganz lieb“, beteuerte Koumei. Offenbar wünschte sich der Knirps Gesellschaft. Seufzend quetschte sich Hakuren durch die Tür, welche er nur einen Spalt öffnete, um keine Tiere entwischen zu lassen. Seine Sorge vor scharfen Schnäbeln erwies sich vorerst als unbegründet, weil keiner der Vögel sich in seine Nähe wagte. Sie hatten ja schon seinen Cousin, der ihnen liebevoll über das weiche Gefieder strich und sie mit Samen fütterte. Die ruhige Art des Kleinen eignete sich gut, um sie anzulocken. Plötzlich streckte sich ihm ein zitternder Arm entgegen. Kein Wunder, wenn er vier fette Tauben auf seinem Arm hocken gehabt hätte, hätte Hakuren sich auch nicht mehr so mühelos bewegen können. „Das ist eine weiße Hochzeitstaube!“, verkündete Koumei und meinte damit wohl das erste Vieh, das zutraulich gurrte und dann aus heiterem Himmel auf Hakurens Knie sprang. „Oh!“, rief dieser unbehaglich und lehnte sich ausweichend nach hinten. „Sie ist ziemlich neugierig“, stellte Koumei fest. „Oh ja und was soll ich jetzt mit ihr anfangen? Sie will mich doch nicht auffressen? Ist sie gefährlich?“, wollte der Prinz wissen, weil er das Gefühl der scharfen Krallen, die sich durch den dünnen Stoff der Robe bohrten, nicht ausstehen konnte. Koumei ignorierte ihn und reckte ihm die nächste Taube auf seinem Arm entgegen. Dieses Monster wirkte abgrundtief hässlich mit dem großen, schwabbeligen Kehlsack oder was auch immer es war, den langen, staksigen Beinen und diesen widerlich roten Augen. „Und das ist ein Kröpfer[1]… aber dieser große Kropf muss ziemlich unangenehm für die Taube sein…“, mutmaßte der Jüngere. Ehe Hakuren ihm sagen konnte, dass er dieses scheußliche Biest ganz und gar nicht auf sich haben wollte, hatte Koumei den Kröpfer auf seine Schulter geschoben, wo er bedrohliche Laute ausstieß. Verdammter Mist, jetzt habe ich echt Angst! Hoffentlich kommt das Biest nicht auf dumme Ideen! Dieses Viech besaß einen verstörend großen Schnabel. Die tiefen Töne vibrierten unheilvoll in dem kompakten Tierkörper. „Balzt der mich grade an?“, stieß der Prinz entsetzt hervor, als sich die Taube plötzlich an ihm rieb. So ungehobelt wie sich das Biest verhielt, konnte es nur ein Männchen sein. „Glaube ich nicht“, entgegnete Koumei. „Du glaubst? Kennst du dich etwa nicht damit aus?“ „Doch, aber ich kann nichts sehen“, piepste der Kleine. „Na, er gurrt so komisch und er kommt meinem Gesicht viel zu nahe!“, brummte Hakuren in dezenter Panik. „Dann setzt ihn einfach ab“, empfahl Koumei. „Und wie?“ „Schieb ihn runter.“ Das war doch nicht mehr der kleine, hilflose Junge, mit dem er am gestrigen Morgen Bekanntschaft geschlossen hatte?! Gestern war Koumei noch fast gestorben und hatte sich von ihm ins Bett bringen lassen. Heute gab sein vierjähriger Cousin ihm Ratschläge, wie er sich am besten aufdringlichen Vögeln widersetzte. Ob das überhaupt klappen würde? Wahrscheinlich würde er sich gleich schmerzhafte Blessuren einhandeln. Aber Hakuren tat wie geheißen. Vorsichtig schob er seine Hand zwischen das Tier und seinen Kopf und drückte es zaghaft fort. Und… der fette Kröpfer flatterte beleidigt davon. Etwas schwerfällig zwar, doch das war mit diesem dicken Kropf nicht weiter verwunderlich. Dann allerdings drehte er ab. Mit einem lauten Flügelflappen fiel er genau auf Hakurens Kopf. „Ah! Hilfe!“, brüllte der Prinz und sprang hektisch auf, wobei er die unschuldige Hochzeitstaube ganz vergessen hatte, die sich auf seinem Knie zur Ruhe gebettet hatte. Irritiert glitt der weiße Vogel von ihm herunter, während die dicke Taube immer noch auf ihm saß. „Mei, was macht der da?!“ Der Kröpfer zupfte gurrend an seinen Haaren. „Geh weg, dämliches Biest!“, fauchte der Prinz. Erfolglos. Seine gute Laune verflüchtigte sich ungewöhnlich schnell. „Mei, was soll ich machen? Warum reißt der mir die Haare aus?“ „Vielleicht will er ein Nest in deinen Haaren bauen. Er muss sich bei dir sehr wohlfühlen, Ren“, mutmaßte dieser. „Das Monster soll sich aber nicht bei mir wohl fühlen! Ich will meine Haare behalten!“, jaulte Hakuren schmerzerfüllt. Weshalb musste er sich vor seinem winzigen Cousin nur diese Blöße geben? „Tauben sind keine Monster“, erklärte Koumei völlig nüchtern. „Tauben sind nützlich und schön. Die meisten Haustauben sind ganz zahm und Brieftauben können lange Strecken zurücklegen, um Nachrichten zu überbringen. Man kann mit ihnen kuscheln und man kann sie sogar mit ins Bett nehmen. Dann wärmen sie einen.“ Er lächelte verträumt. „Darauf kommt es doch jetzt nicht an! Bitte hilf mir, der bringt mich noch um!“, wimmerte Hakuren, als sich der Kröpfer auch noch mit den krallenbewehrten Füßen in seiner Kopfhaut verhakte. Dann entlockte ihm ein heftiges Picken auf den Kopf einen gequälten Schrei. Diese Kraft hätte man dem plumpen, weichen Körper des überraschend schweren Vogels gar nicht zugetraut. Am liebsten würde er dieses Vieh heute Abend der Köchin zum Rupfen und Braten überreichen. Allerdings bekäme er dann wahrscheinlich große Probleme mit Koumei… „Jetzt hilf mir doch mal, Mei“, bettelte er. Noch nie hatte er wegen eines recht kleinen Tieres solche Ängste ausgestanden. Zum Glück hatte der kleine Junge ein Einsehen mit dem einfältigen Prinzen. Die Tauben, die den Winzling grade noch zutraulich belagert hatten, flogen plötzlich auf und Koumei stolperte missmutig zu ihm herüber. Hakuren sah das mit großer Erleichterung, denn seine Kopfhaut würde bestimmt nicht mehr lange durchhalten. Koumei stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich, um den dicken Vogel zu streicheln. Kurzdarauf hob er ihn ein wenig ungeschickt von dem malträtieren Schädel des Prinzen. „Danke, du bist mein Retter!“, seufzte Hakuren erschöpft, denn das Monster hatte ihm einen ganz schönen Schreck eingejagt. Ein wenig beschämt ließ er sich in das schmutzige Stroh fallen und beobachtete mit leichtem Unbehagen, dass Koumei den Kröpfer auf einer nahegelegenen Kletterstange absetzte. Hoffentlich würde das Biest jetzt genug von ihm haben! Noch einen Angriff auf seine Haare würde er nicht überleben, ohne dem Tier den Hals umzudrehen! Seine Überzeugung, dass Tauben zu nichts zu gebrauchen und blöd waren, wuchs grade noch ein ganzes Stück… Auf einmal erklang ein entzückter Laut. Neugierig, aber mit einer bösen Vorahnung schielte er hinüber zu seinem Cousin, der offenbar eine besonders stattliche Taube entdeckt hatte. „Ren, ihr habt ja Pfautauben!“, rief er mit seiner hohen Stimme, was ihm noch einen begeisterteren Anschein verlieh. „Bestimmt“, murmelte Hakuren, denn er fühlte sich seit dem Schnabelangriff ein wenig angeschlagen und hegte nach diesem schmerzhaften Überfall nicht länger das Verlangen, wie gewöhnlich wild drauflos zu quatschen. Außerdem wusste er nicht wirklich, wie eine Pfautaube aussah, da er sich nicht für irgendwelche Tierrassen interessierte. Er mochte zwar sehr gerne Pferde und Hunde, aber warum die Erwachsenen sie nach ihren Wünschen züchteten, erschloss sich dem Jungen noch nicht. Also beobachtete er nur den putzigen Koumei bei seinen Versuchen einen herrlich weißen Vogel, dessen Schwanzfedern tatsächlich wie ein Pfauenrad aufgestellt waren, auf seine ausgestreckte Hand zu locken. Wie winzig klein er im Vergleich zu den properen Tieren wirkte! Doch nicht nur das faszinierte den Kaisersohn. Der hibbelige Hakuren staunte über Koumeis Feinfühligkeit gegenüber den Tauben, er selbst hätte nie die Geduld besessen, sie still an sich herankommen zulassen, bis sie Vertrauen fassten. Die Bemühungen seines Cousins zeigten schnell Erfolg. Der prächtige Vogel, dessen Schönheit selbst der desinteressierte Prinz bemerkte, stakste mit ruckendem Kopf auf ihn zu und fraß aus der ausgestreckten Hand. Es dauerte nicht lange, da lag er gurrend im Schoß des Kleinen und ließ sich genüsslich kraulen. Wie machte Koumei das nur? Sobald Hakuyuu und er versuchten eine Taube zu streicheln, handelten sie sich Schnäbel- und Krallenhiebe ein und wenn diese ausnahmsweise ausblieben, wirkten die Tiere gestresst und angespannt, als gefielen ihnen die Berührungen nicht. Manche verfielen sogar in panisches Zetern. Das Bild, welches sich hier bot, ließ von Panik nichts erkennen. Wenn Hakuren überlegte, konnte er sich daran erinnern, diese Art von Tauben oft durch den Garten fliegen oder trippeln gesehen zu haben. Sie wirkten überaus lebendig und ansehnlich. Kein Wunder, dass sie offenbar Koumeis Lieblingstiere darstellten. Sie verbrachten noch gefühlte Stunden in der Voliere, zumindest erschien es dem zweiten Prinzen so. Ein wenig überrascht von sich selbst registrierte er, dass er die ganze Zeit ruhig dagesessen hatte. Zwischendurch waren ein paar Tauben zu ihm gekommen, aber sie zeigten erfreulicherweise kein Interesse an ihm, welches dem des fetten Kröpfers ähnelte, sondern ließen sich manchmal sogar eine kleine Streicheleinheit gefallen. Sein Cousin versank immer tiefer in seiner Leidenschaft zu den Tieren: Koumei erzählte mit der Zeit begeistert von seinen eigenen Tauben, so erfuhr Hakuren, dass er ebenfalls Pfautauben besaß, vor allem schwarz-weiß gescheckte. Natürlich waren das nicht die einzigen Tiere, die er hielt, doch sie hatten es ihm offenbar besonders angetan. Hakuren nickte geduldig und stellte sogar interessierte Fragen. Vor allem, dass Koumei tatsächlich ab und an einige Tauben heimlich von dem Pfleger in sein Bett schmuggeln ließ, weil sie herrlich wärmten und er sie die ganze Zeit füttern und streicheln konnte, fand er großartig. Na gut, schlafen könnte er in der Nähe solcher Krallen und Schnäbel wohl nicht, aber wenn es seinem Cousin gefiel… Normale Kinder spielten eben mit ihresgleichen, während Koumei sich die Tauben als Spielgefährten auserkoren hatte. Wahrscheinlich benahmen sich die Vögel des kleinen Jungen noch unverschämter als hier, weil sie von vorne bis hinten verwöhnt wurden. Meichen ist viel spannender, als man denkt!, erkannte er stolz und lauschte den Worten des anderen. Ja, erstaunlicherweise hörte der Prinz dem Kleineren wie gebannt zu, denn wenn dieser einmal anfing über sein Lieblingsthema zu sprechen, konnte man dem winzigen Jungen ansehen, dass die Vögel ihm wirklich wichtig waren. Beinahe beneidete Hakuren die Tauben, da diesen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als ihm. Wäre Kaiser Hakutoku anwesend gewesen, hätte er über die Konzentrationsfähigkeit seines Sohnes gestaunt. Irgendwann jedoch hielt Hakuren es nicht mehr aus. Ihm wurde langweilig. Das ganze Abwarten wirkte schrecklich ermüdend und eintönig. Er brauchte dringend eine Abwechslung von der schlechten Luft und dem gierigen Gegurre. Unruhig rutschte er auf dem Stroh hin und her, bis Koumei ihm seine großen Augen zuwandte. „Lass uns mal gehen, gleich gibt es Mittagessen!“, drängte der Prinz, weil er bereits sein eigenes, fürchterliches Magenknurren spürte. Die Mundwinkel des Rotschopfes verzogen sich langsam nach unten. „Lass uns lieber noch ein bisschen hier bleiben“, bat Koumei und strich der Taube auf seinem Unterarm über das hübsche Federkleid. Allerdings knurrte auch sein Magen unüberhörbar, weshalb Hakuren sich schnell durchsetzen konnte. Im Hinausgehen präsentierte er Koumei noch rasch die echten Pfauen, die ebenfalls in dem Gebäude untergebracht waren, doch die prächtigen, bunten Tiere, welche mit empor gerecktem Hals und schleppengleichen Schwanzfedern in ihrer Voliere herum stolzierten, ließen den Sohn seines Onkels überraschend kalt. Der Prinz schwärmte ihm zwar ein wenig von den imposanten Rädern vor, welche die Männchen manchmal schlugen, wobei die wahre Schönheit der edlen Vögel erst so richtig zum Vorschein kam, doch Koumei ließ sich nicht davon beeindrucken. „Hübsch“, war sein einziger Kommentar, ehe er an Hakurens Ärmel zupfte, um ihm zu signalisieren, dass er wieder getragen werden wollte. Etwas beleidigt, dass der Knirps nicht viel auf seine Ansichten gab, obwohl Hakuren die großen Pfauen tausendmal toller fand als Tauben, hob er ihn hoch. „Weist du, wenn Pfauen schreien, hören sie sich manchmal an, wie Katzen!“, versuchte er nun seinerseits dem anderen etwas beizubringen, indem er begann, einen unendlichen Monolog über die Tiere zu halten. Doch Koumei drückte sich lediglich zum Schutz vor der Kälte an seine Brust und ließ sich durch die eisige Gartenlandschaft zurück ins Hauptgebäude tragen. Immerhin schlief er nicht ein. Der Prinz, den die eigenen Worte sehr beschäftigten, bemerkte dies kaum. Dann würde er es das nächste Mal eben mit exotischen Papageien versuchen. Die könnte Koumei streicheln und bestimmt würde er, auf Grund ihrer Sprachfähigkeit, wie verzaubert von ihnen sein. Außerdem freute er sich zu sehr auf das Mittagessen, wo auch der Rest der kaiserlichen Familie zusammenkommen würde, um Koumei in diesem Augenblick irgendetwas übel zu nehmen. Zumindest der erste Teil des Tages hatte sich als voller Erfolg entpuppt und ihn seinem Cousin mit Sicherheit ein ganzes Stück näher gebracht. Was würde wohl der Nachmittag für spannende Geschehnisse bereithalten? Hoffentlich ließe sich Koumei zum Spielen überreden, aber bis dahin blieb ihnen allen noch etwas Zeit. Er musste sich einen guten Plan überlegen, damit die Kälte Koumei nicht den Spaß verdarb. Fest entschlossen, dass sein kleiner Cousin den Rest des Tages an seiner Seite im winterlichen Sonnenlicht verbringen sollte, betrat Hakuren mit ihm auf dem Arm den kaiserlichen Palast und wurde sogleich von einem vorwurfsvollen Räuspern empfangen…   *-*. Kapitel 7: Die Raubtierfütterung -------------------------------- *-*. „Wo wart ihr denn die ganze Zeit?“, knurrte Kouen scharf. Seine kritische Stimme erklang vollkommen unverhofft. Hakuren, der mit Koumei grade von ihrem Ausflug zu den Tauben zurückgekehrt war, zuckte unwillentlich zusammen, sobald er Koumeis Bruder mitten auf dem Gang stehen sah. Koumei hingegen blinzelte nicht einmal, während Hakuren sich bereits überlegte, was er sagen sollte. Sie hatten ja nichts Schlimmes oder Unerlaubtes getan, doch der vorwurfsvolle Tonfall ließ ihn beinahe daran zweifeln. Sein ältester Cousin besaß eine respekteinflößende Ausstrahlung, obwohl er lediglich ein sechsjähriger Junge war. Trotz des geringen Alters und der Größe wirkte er recht stark. Er würde einmal ein unschlagbarer Schwertkämpfer werden. Beneidenswert klug noch dazu. Natürlich verbot es der Stolz des zweiten Prinzen, sich einfach so vor einem Niedrigergestellten zu rechtfertigen. Also warf er sich in die Brust und erwiderte nach kurzem Zögern: „Du hast was vergessen, immerhin bin ich ein Prinz!“ Sein hochnäsiger Ton irritierte Kouen sichtlich, denn für gewöhnlich war es Hakuren, der die ganzen Formalitäten nicht leiden konnte und abwehrte. Dass er plötzlich nach einer gebührenden Anrede verlangte, verunsicherte den Jüngeren sehr. Kouen wollte niemandem zur Last fallen und schon gar nicht wollte er den Eindruck erwecken, seinen älteren Vettern ihre hohe Stellung zu missgönnen, denn das tat er nicht. Im Gegenteil, er verehrte den scharfsinnigen Hakuyuu und akzeptierte Hakuren, weil dieser immer fröhlich und nett zu ihm war, auch wenn er ihn insgeheim für ziemlich unterbelichtet hielt. Eigentlich hatte Hakuren es nicht verdient, derart gepriesen zu werden, so stolz wie er sich manchmal aufführte. Dennoch, wenn ein Prinz eine formale Anrede einforderte, musste er sie umgehend erhalten und der Schwarzhaarige verhielt sich meist vollkommen anders, viel nahbarer. So verbeugte sich Kouen vorsichtshalber, wobei er ein wenig nervös wurde, schließlich wollte man seine hochwohlgeborene Verwandtschaft nicht verärgern, und korrigierte seine Frage: „Mein hochverehrter Prinz, wo habt ihr euch in Begleitung meines Bruders aufgehalten, wenn ihr mir die Nachfrage erlaubt? Ich suchte den ganzen Vormittag nach ihm und sorgte mich bereits sehr.“ Bei jedem anderen hätten diese Worte zynisch und gestelzt geklungen, nicht jedoch bei Kouen, der für seine angeborene Korrektheit berühmt war. Zumindest solange ihn niemand reizte… Ein zorniger Kouen… uh… das war schlimm. Da dieser lange Monolog Hakuren ein wenig Bedenkzeit einräumte, antwortete er schließlich: „Ich habe Koumei mit zu den Tauben meines Vaters genommen. Er hat mir gestern nämlich verraten, wie gerne er sie mag, oder Mei?“ Nun regte sich endlich auch der Kleine und nickte bekräftigend, ehe er sich irgendwie aus Hakurens Armen wand und sehnsüchtig auf seinen Bruder zu lief. Seine winzigen Trippelschrittchen wirkten noch unsicherer als sonst. Obwohl der Prinz Koumei eigentlich gerne weiter getragen hätte, schenkte er Kouen ein schalkhaftes Grinsen, weil er nach dem eigenen anfänglichen Schreck nun den anderen in die Verlegenheit getrieben hatte. Doch dieser ging gar nicht darauf ein. „Da bin ich ja erleichtert!“, seufzte Kouen. Koumei klammerte sich wie gestern Morgen hinterrücks an sein Gewand. Offenbar stellte dies die gewöhnliche Stellung der Geschwister dar. Kouen schritt selbstsicher voran, während der Knirps sich hinter seinem breiten Rücken versteckte. Niedlich anzusehen. Oh, wie gerne Hakuren ebenfalls einen kleinen Bruder gehabt hätte, den er beschützen musste! Aber nein, ihm blieb lediglich Hakuyuu, der ihn behandelte wie ein nervendes Übel. Manchmal kam er sich mehr wie eine ungeliebte Bettwanze vor, als wie der zweite Prinz. Kouen ging vielleicht ein wenig rabiat mit Mei um, doch Hakuren hatte genug gesehen, um ihre enge Bindung zu bemerken. Alleine dass Koumei ihn sofort links liegen ließ, um zu seinem Bruder zu eilen, sprach Bände. Der Ältere lächelte plötzlich und Koumei, der mit hochachtungsvollem Blick zu ihm aufschaute, erwiderte das Lächeln so lieb und zuckersüß, dass der Prinz nur staunen konnte. Kouen lächeln zu sehen konnte einen schon beunruhigen. Koumei tat dies ebenfalls nicht oft und schon gar nicht so hingebungsvoll. Sie mussten sich sehr gerne haben. Hakuren hätte Hakuyuu manchmal auch gerne etwas lieber gehabt, aber sie stritten sich immer so schnell und konnten einfach nichts dagegen tun. Außerdem könnte Yuu sich ja wohl etwas mehr zusammen reißen, schließlich war er älter, da musste man Opfer bringen! Die kurze Zeit, in der sie ab und an einträchtig miteinander spielten, war kaum nennenswert. Hakuren seufzte innerlich. Neidisch betrachtete er die beiden Vettern, doch schnell wurde das missgünstige Gefühl von dem um Aufmerksamkeit heischenden Knurren seines Magens verdrängt. So platzten die drei Kinder in den Speisesaal. Das Festmahl war noch nicht vollständig angerichtet, lediglich ein verlockender Geruch nach gebratenem Geflügel flutete in ihre Nasen, und sie konnten sich als erstes umsehen. Für Koumei und vielleicht ebenfalls für Kouen musste der Anblick überwältigend wirken, schließlich gingen sie nicht täglich im Palast ein und aus, wie der zweite Prinz es tat. Tatsächlich rückte der kleine Junge noch ein Stück näher an seinen älteren Bruder heran und hob eingeschüchtert den Kopf zur hohen Decke. Mit großen Augen nahm er den Prunk in sich auf, was Hakuren verzückte. Er liebte es, wenn ihre Gäste über das beeindruckende Gebäude staunten. Er selbst kümmerte sich nicht mehr um das edle Sandelholz, rote Teppiche mit Stickereien an den Wänden und am Boden, Bilder und goldene Ornamente. Wer rund um die Uhr nichts anders als das zu Gesicht bekam, gewöhnte sich schnell daran. Selbst wenn etwas derartiges ihn noch beeindrucken würde, hätte er sich momentan nicht darauf konzentrieren können: Es duftete nun bereits nach allerlei Köstlichkeiten und der gedeckte Tisch schien fast unter den prächtig verzierten Schüsseln und Tabletts zu brechen. Ein paar Diener und Sklaven schritten unauffällig umher, um die letzten kleinen Dinge abzustellen. Doch so gerne Hakuren sofort zur Tafel gestürmt wäre, um seinem knurrenden Magen endlich Linderung zu verschaffen, blieb vor dem Essen noch etwas Wichtiges zu tun: Seinen Onkel willkommen heißen. Denn just in dem Moment betraten Kaiser Hakutoku Ren und sein Bruder Koutoku, gefolgt von Hakurens Mutter Gyokuen mit den übrigen Kindern im Schlepptau die gewaltige Halle. Kourin und Koujaku verpassten sich gegenseitig Kopfnüsse, was zum Glück kein Erwachsener bemerkte. Nur Hakuyuu, der sie immer wieder scheuchen musste, damit sie nicht einfach stehen blieben, schien von ihrem Streit wenig angetan. Hakuren freute sich über den Anblick der vielen Menschen. Wie schön, heute würde die Familie unter sich speisen! Ja, Hakuren freute sich so sehr über dieses seltene Ereignis, dass er mal wieder bis über beide Ohren strahlte. Ein Festmahl, nur mit den engsten Angehörigen, ohne die obligatorischen Generäle oder Priester, bedeutete Zwanglosigkeit und Spaß. Prompt fiel ihm ein, dass Koumei weder seine Mutter, noch seinen Vater kannte. Dann wurde es höchste Zeit! „Schau mal Meichen, das da hinten sind meine Eltern!“, erklärte er und zeigte auf das kaiserliche Ehepaar. Genau genommen stellte dies nicht unbedingt seine Schläue zur Schau, da Koumei die beiden ihm noch unbekannten Personen ja nach dem Ausschlussverfahren bestimmen konnte. Noch dazu lief ein Kaiser nicht grade in Bettlerklamotten durch die Gegend. Seine edlen Gewänder ließen sich leicht erkennen, aber für Hakuren war das alles so selbstverständlich, dass er Koumei einen Hinweis auf Hakutokus Identität geben musste. Sobald Kaiser Hakutoku die drei Kinder entdeckt hatte, schlenderte er vollkommen gelöst auf sie zu. Genau wie sein zweiter Sohn hielt er nichts von überflüssigen Formalitäten, zumindest nicht im engsten Familienkreis. „Vater!“, rief Hakuren begeistert und stürzte sich in dessen kräftigen Arme. Dabei bemerkte er den irritierten Blick Koumeis nicht, obwohl dieser durchaus berechtigt war. Für gewöhnlich gingen Adelige mit ihren Kindern nicht derart offenherzig um, während ein gut erzogenes Kind seinerseits niemals wagen würde, seinen ehrenwerten Vater anzuspringen. Aber Hakutoku lachte nur, drückte Hakuren, dass seine Rippen knacksten und wirbelte ihn durch die Luft. „Hattet ihr einen interessanten Vormittag?“, erkundigte er sich, nachdem er dem Prinzen einen liebevollen Kuss auf die Stirn verpasst hatte. Hakuren lächelte und nickte. Wenn sein Vater ihm Aufmerksamkeit schenkte, war er einfach nur glücklich. „Das freut mich, mein Sohn!“, polterte der Kaiser und wuschelte ihm durch die schwarzen Haare. Eine warme Welle der Zuneigung durchflutete Hakuren und er begann wie ein Wasserfall von ihrem Taubenerlebnis zu berichten. Er liebte seinen Vater sehr, auch wenn oder grade weil er ihn viel zu selten zu Gesicht bekam. Da musste sich der gestandene Mann wenigstens ab und zu seine Geschichten anhören. Doch zu Hakurens Enttäuschung bremste ihn Hakutoku: „Immer die Ruhe, mein Sohn, immerhin wollen wir das Essen nicht kalt werden und deine Cousins nicht warten lassen! Du darfst mir heute Abend gerne mehr erzählen, ich versuche nochmal bei dir vorbeizuschauen, was hältst du davon?“ Obwohl der Prinz bereits ahnte, dass dieser Versuch nicht glücken würde, nickte er ein wenig traurig und ließ von seinem Vater ab. Er wusste, dass er als Kaiser ständig irgendwelche langweiligen Angelegenheiten regeln musste. Für seine Kinder blieb ihm da nicht allzu viel Zeit. Wenn er selbst später auf dem Thron sitzen würde, hätte Hakuren ganz sicher mehr mit seinen Söhnen zu tun, schwor er sich. Nun gut, er war es ja gewohnt, seinen Vater nicht oft zu sehen. Dafür beobachtete er ganz genau, wie Hakutoku zuerst Kouen und dann Koumei begrüßte, viel weniger formell, als gewöhnlich. Natürlich erwiderten die Brüder den Gruß mit der angemessenen Ehrerbietung, wahrscheinlich waren sie lockeren Umgang mit Erwachsenen nicht gewohnt. Koumei sah bei seinem Kniefall und der traditionellen Handbewegung herzallerliebst aus. Kouen wirkte dagegen sehr elegant und ergeben. Die beiden Jungen wurden von seinem Vater sogleich einer Art Kreuzverhör unterzogen, welches sich auf ihre Interessen und Vorlieben bezog. Nach einer Weile begannen Koumeis Augen zu leuchten und Hakuren wusste, dass die Brüder ihren Kaiser genauso gerne hatten wie er. Ach, was besaß er nur für tolle Verwandte, sie waren eine großartige Familie! Plötzlich riss ihn eine dunkle, donnernde Stimme aus der schwärmerischen Beobachtung. „Prinz Hakuren, es ist mir eine Ehre, euch einmal wieder zu treffen!“ Erschrocken wirbelte der kleine Prinz herum und erblickte seinen riesenhaften Onkel Koutoku. Dessen rot-braunes Haar machte ihn zu einem richtigen Bären. Wo Hakurens Vater vertrauenerweckend und beschützend wirkte, machte dessen Bruder einen bedrohlichen und unheimlichen Eindruck. Das Gesicht des Kaisers zierten winzige Furchen von früheren Lachanfällen, während Koutoku tiefe Augenringe und einen finsteren Blick aufwies. Angeblich litt der Mann des Öfteren unter schweren Krankheiten. Der grobknochige Schädel mit dem wilden Bart, sowie die breiten Lippen machten ihn nicht vertrauenerweckender. Irgendwie fürchtete sich Hakuren vor dem Hünen. Während sie sich steif begrüßten fiel ihm auf, dass Koumei ebenso düster schauen konnte. Wie seltsam, bei ihm machte es einen niedlichen Eindruck und bei seinem Vater konnte es einen gestandenen Mann in Angst und Schrecken versetzen. Apropos Angst und Schrecken: Von der anderen Seite des Saales drang die liebliche Stimme seiner Mutter an Hakurens Ohr: „Ach Kouen mein lieber Sohn, wie groß du geworden bist! Lass dich ansehen! Gut siehst du aus! Und du musst der kleine, schlaue Koumei sein, von dem mir Hakuren gestern Abend noch vorgeschwärmt hat.“ Oh ja, und wie Hakuren ihr von seinem Cousin vorgeschwärmt hatte. Aber eigentlich erzählte er ihr immer dermaßen ergriffen von seinem Tag, dass dies keine Besonderheit darstellte. Neugierig, wie Koumei sich wohl mit seiner überallesgeliebten Mutter verstehen würde, raste er zu ihnen hinüber. Sogleich blieb er verblüfft stehen. Der Zottel klammerte sich verzweifelt an Kouens Gewändern fest und schielte ängstlich in Gyokuens Richtung. Das konnte doch nicht wahr sein, wieso versteckte er sich schon wieder?! Gyokuen wirkte ebenfalls irritiert. „Komm doch mal zu mir, mein Kleiner“, lockte sie und streckte ihre zierliche Hand nach dem winzigen Jungen aus, der fiepend vor der Berührung zurückwich, was Kouen mal wieder in Verlegenheit stürzte. Der Kleine benahm sich überaus kränkend. Beinahe, als hätte seine Mutter eine ansteckende Seuche oder wäre ein boshaftes Monster. Unerhört, wie kann man nur vor Mutter Angst haben?!, dachte sich der Prinz. Kouen trieb dieses Verhalten zur Weißglut. „Jetzt stell dich nicht schon wieder so an! Unseren kaiserlichen Onkel hast du doch ebenfalls begrüßt, die Kaiserin möchte dich nun auch einmal sehen! Willst du etwa deine hoheitsvolle Tante beleidigen?“, stöhnte er gequält. Gyokuen winkte mit einem sanften Lächeln ab. „Es ist wirklich kein Problem, du musst deinen Bruder zu nichts zwingen. Oder, kleiner Koumei? Das regeln wir schon, nicht wahr?“ Ihre Miene wurde derart freundlich, dass Hakuren sie am liebsten umarmt hätte. Gyokuen schien sich dieser Wirkung bewusst zu sein, als Kaiserin sollte man seine Gesichtszüge schließlich bestens im Griff haben. Sie machte einen Schritt nach vorne, sodass sie besser hinter Kouens Rücken schauen konnte. Daraufhin schrie Koumei leise auf und flüchtete sich auf die andere Seite seines Bruders, der ziemlich verzweifelt aussah. Zudem verrutschten seine Gewänder bei dem ganzen Gezerre auf unschickliche Weise. Aber Hakurens Mutter war schnell und ehe Koumei sich’s versah, tätschelte sie ihm beruhigend die narbige Wange. Sobald ihre glatte Haut die seine berührte, schluchzte der Junge angsterfüllt auf. Dicke Tränen rannen über sein Gesichtchen und er vergrub seine Nase in der Robe seines Bruders, als glaubte er niemand würde ihn sehen, wenn er nur noch Schwärze erblickte. Die unschuldigen, blauen Augen der Kaiserin weiteten sich bestürzt. „Oh, mein süßer Junge, habe ich dich erschreckt? Das tut mir aber leid!“, beteuerte sie und Kouen schwitzte, als er versuchte, Koumei wenigstens ein genuscheltes „Hallo“ zu entlocken. Doch dieser weinte bitterlich und presste sich panisch gegen den anderen. Niemals hatte Hakuren ein derartiges Heulen gehört: Nicht im mindesten laut, sondern kaum vernehmbar und doch von einem unstillbaren Schmerz erfüllt, der ihm schier das Herz zerriss. „Ich glaube, ich entferne mich besser“, stellte Gyokuen fest, als plötzlich der Kaiser neben sie trat. Der Größenunterschied zwischen den beiden war immer wieder erstaunlich und eigentlich hätte man eher erwarten können, dass Koumei sich vor dem riesigen Hakutoku fürchtete. Aber als dieser an die Stelle seiner Ehefrau trat, hob Koumei den tränenverschleierten Blick und erlaubte sich ein schüchternes Lächeln. Wahrscheinlich hatte der furchterregende Anblick seines Vaters ihn gegen andere große Männer abgehärtet. „Gyokuen kann manchmal wirklich angsteinflößend sein, nicht?“, scherzte der Kaiser, doch Koumei zeigte nicht einmal die Andeutung von Erheiterung. Er hatte offenbar den Schock seines Lebens erlitten. Hakutoku seufzte und suchte nach einem besseren Gesprächsthema. „Du ähnelst deiner Mutter sehr stark“, bemerkte er und erntete dafür einen bösen Blick seiner Gattin. Auch Koutoku zuckte bei der Erwähnung seiner ehemaligen Ehefrau zusammen. Hakuren fragte sich zum hundertsten Mal, was „dem Kindbettfieber erliegen“ nun wirklich bedeutete, scheinbar nichts Gutes. Er beschloss, seinen jüngsten Cousin bei Gelegenheit nach der Mutter zu fragen, auch wenn sie bestimmt tatsächlich an diesem seltsamen Fieber gestorben war, warum sollte sein Vater ihn damals auch angelogen haben? Vielleicht hatte er es früher jedoch falsch verstanden und mit ihr war etwas völlig anderes geschehen…? Nach einer Weile des betretenen Schweigens, fing sich der Kaiser wieder und verkündete: „Nun, das Essen dürfte mittlerweile angerichtet sein, begebt euch an die Tafel, meine Lieben!“ Das ließen sich besonders seine Söhne nicht zweimal sagen. Während die Erwachsenen langsam auf ihre üblichen Plätze zu schlenderten, brach am unteren Tischende ein Tumult aus. Obwohl es nur sechs Kinder waren, gestaltete sich die Platzwahl als äußerst schwierig. Hautsächlich wegen Hakuren und den beiden kleinen Kou-Schwestern. Wie es sich herausstellte, hatte jeder der drei sehr genaue Vorstellungen davon, wo er sitzen wollte: Hakuren hatte es natürlich auf einen Platz neben Koumei abgesehen, damit er sich weiter um ihn kümmern konnte, falls er mal wieder Beistand benötigte. Mit einer schwächlichen Konstitution sollte man schließlich nicht spaßen. Für die Aufgabe des älteren Aufpassers fühlte er sich wie geschaffen. Kouen konnte einpacken! Er würde ihn einfach ersetzen. Kourin hingegen wollte bei ihrer Schwester sitzen, damit sie sich streiten konnten. Sich mit Koujaku zu kabbeln, stellte ihre Lieblingsbeschäftigung dar. Diese wiederum sehnte sich nach Hakurens Nähe, weil sie ihn seit dem flüchtigen Kennenlernen viel netter und lustiger fand, als ihre eigene Schwester. Glaubte sie zumindest. Als Kourin davon erfuhr, wurde sie sogleich böse und blies empört die Backen auf. „Du willst nicht neben mir sitzen? Das sage ich Vater!“ „Tu’s doch, ist mir egal!“, motzte Koujaku und wandte sich Hakuren zu. „Ich darf doch neben dich, oder Ren?“ „Wenn du möchtest, gerne, schließlich habe ich zwei Seiten, du kannst rechts sitzen, wenn du magst.“ „Oh ja! Toll!“, freute sich die Kleine und hüpfte wild auf und ab. „Nein, du kommst neben mich!“, fauchte Kourin. „Ich will aber nicht neben dich! Du kannst zu Bruder En gehen. Außerdem stinkst du!“, meinte Koujaku und funkelte sie böse an. „Nein! Ich will nicht! Und ich stinke auch gar nicht!“, brüllte die Ältere und trat ihr kräftig vors Schienbein. „Doch!“, schrie Koujaku und zog an den Haaren der anderen. Keine Frage, sie wollte den zweiten Prinzen für sich allein haben. Dieser beobachtete gebannt, wie die beiden Mädchen aufeinander losgingen. Noch nie hatte er Angehörige des anderen Geschlechts kennengelernt, die derart aktiv und flink waren. Überhaupt nicht mädchenhaft, wenn sie sich beinahe am Boden wälzten wie zwei Straßenjungen. Niedlich. Genau wie Koumei, der immer noch verstimmt an Kouens Fersen klebte. Wahrscheinlich würde er nicht von seinem Bruder zu trennen sein, also würde Koujakus Wunsch nicht aufgehen, wenn Hakuren neben Koumei sitzen wollte. Hakuyuu und Kouen tauschten einen entnervten Blick. Irgendwie schienen die drei üblichen Verdächtigen sich nicht einigen zu können. Schließlich beschloss der erste Prinz schlichtend einzugreifen, bevor es noch Verletzte gab. Außerdem wollte er nicht, dass die Erwachsenen mit ihnen schimpften und sie vom Essen ausschlossen, weil sie einen Heidenlärm veranstalteten. Vielleicht war es von kleinen Mädchen ein wenig viel verlangt, sich eine zufriedenstellende Sitzordnung auszudenken, auch wenn genau genommen gar kein Problem existierte. Wahrscheinlich stritten die beiden Schwestern lediglich, weil sie es immer taten. Nun gut, Hakuren hätte eigentlich groß genug sein müssen, um sich eine zufriedenstellende Lösung zu überlegen, aber da dieser in die Prügelei der Mädchen versunken war, räusperte sich nun Hakuyuu und stellte einen Plan auf, der keine Widerrede zuließ: „Hört mal her, ihr drei!“ Hakuren tat sofort wie ihm geheißen, wobei Hakuyuu wusste, dass es lediglich am Hunger, nicht am Gehorsam lag. Aber die Mädchen zerkratzten sich grade gegenseitig die Gesichter. Kouen, welcher Koumei unfreiwillig hinter sich her schleifte, packte die beiden kreischenden Gören und zog sie am Kragen auseinander. Wütend strampelte Koujaku in seinem Griff, biss sogar, während Kourin peinlich berührt zu Boden starrte. „Nun…“, fuhr der Älteste entschlossen fort, „…da man sich für gewöhnlich an der Tafel gegenübersitzt, haben wir zwei Reihen mit je drei Leuten, nicht?“ „Ja!“, piepste Koujaku enthusiastisch. Sie hibbelte in Kouens unerbittlichem Griff hin und her. Hakuren strahlte sie an. So ein süßes Mädchen. Sie erinnerte ihn stark an sich selbst. Der ältere Bruder kommentierte dies lediglich mit einem Seufzer. „Gut, dann würde ich einfach sagen, dass ich mich hier hin setze…“ Er nahm auf der linken Seite der Tafel platz, mit einigem Abstand zu seiner Mutter, die auf derselben Seite saß. Sie mochte keine kreischenden Kinder beim Essen. Obwohl es in Kou allgemein durchaus üblich war, bei Tisch lautstark zu lamentieren und zu scherzen, herrschte bei ihnen stets eine ruhige Stimmung. Zumindest wünschte die Kaiserin dies, allerdings gestaltete es sich mit zwei aufgeweckten Prinzen oft schwierig. Und mit Kourin und Koujaku… würde es wohl unmöglich sein. „Kouen sitzt mir gegenüber und neben ihn kommt Koumei...“ „Und dann ich?“, fuhr sein Bruder dazwischen. Hakuyuu stieß ein unwilliges Knurren aus. „Nein, du sitzt ihm gegenüber. Neben dir ist Koujaku und ihr gegenüber Kourin. So sollte für uns alle jemand in der Nähe sein, den wir uns gewünscht haben, oder?“ „Ja!“, krähte Koujaku schon wieder und Koumei machte den Eindruck, als wolle er sich vor Scham am liebsten in Luft auflösen. Nach dem Machtwort des Prinzen fügten sich alle ohne zu murren, nur Kourin schaute ein wenig enttäuscht, dass sie ihrer Schwester lediglich gegenüber saß. Allerdings fand sie sich schnell damit ab, als sie bemerkte, dass sie auf diese Weise besser mit einander quatschen konnten. So hatten doch noch alle einen Sitzplatz bekommen. Endlich konzentrierten sich alle Kinder auf das Angebot an herrlichen Speisen. Wie in Kou manchmal üblich, hatten die Diener alle Gänge gleichzeitig aufgetragen, damit die Familie unter sich bleiben konnte. So vermischten sich allerlei Düfte von etlichen kostbaren Gewürzen zu einer solch anregenden Komposition, dass nun erst recht keiner länger über irgendeinen Platzstreit nachsann. Doch nicht nur die Nase durfte frohlocken, nein, das Essen aus der kaiserlichen Palastküche bot darüber hinaus auch einen überaus Appetit anregenden Anblick. Hakuren lief sehnsüchtig das Wasser im Munde zusammen. Er roch sein Leibgericht, süß-sauer angebratenes Schweinefleisch. Das bekam selbst ein Kaisersohn nicht alle Tage gereicht. Gierig packte er seine Essstäbchen und schnappte sich ein großes Stück von der Platte. Hakuyuus missbilligendes Schnalzen registrierte er nicht. Wie immer hatte der Koch das Fleisch mundgerecht zerkleinert, weshalb ein so schönes, riesiges Teil eine Seltenheit darstellte. Doch ehe er es in seiner noch leeren Suppenschüssel bunkern konnte, fuhren Hakuyuus Stäbchen wie ein Blitz auf das Fleischstück herunter und nahmen es dem Jüngeren geschickt ab. „Also wirklich, hat man dir denn gar kein Benehmen beigebracht?“, tadelte der erste Prinz kopfschüttelnd. Enttäuscht legte Hakuren die Stäbchen auf den Tisch zurück und beobachtete grollend, wie sein Bruder das herrliche Fleischstück auf Kouens Teller platzierte. Dieser bedankte sich wie üblich und schien sich sehr geehrt zu fühlen, so rot wie er wurde, während Hakuyuu bereits nach ebensolchen Exemplaren suchte, um sie dann Koumei, Kourin und Koujaku zu kredenzen. Dasselbe tat er auch mit dem gegrillten Tofu, dessen schwabbelige Konsistenz Hakuren sowieso nicht mochte. Die Gäste freuten sich jedoch offensichtlich über die Aufmerksamkeiten des ersten Prinzen. „Vielen Dank, Prinz Hakuyuu, eure Gastfreundschaft ist unübertrefflich!“, schleimte Kourin und blinzelte ihm erstaunlich kokett zu. Pah, dabei haben uns Vater und Mutter eingeladen und nicht Yuu. War klar, dass er mal wieder den großmütigen Helden spielt. Die können sich doch selbst Essen nehmen. Er weiß genau, dass das Schwein hier mein Lieblingsessen ist und ich es nur ganz selten bekomme, dachte Hakuren abfällig und musste sich mit ein paar kleineren Fleischbrocken zufriedengeben. Natürlich konnte er nichts gegen die Handlung seines Bruders sagen, es war Brauch, den Gästen die schönsten Stücke persönlich zu überreichen. Da sich der Kaiser nicht in der Nähe befand, übernahm eben der älteste Sohn diese Aufgabe. Seufzend bediente sich der zweite Prinz am Duftreis, leerte einige Becher Pflaumensaft, angelte sich eine Handvoll frischgepflückte Blaubeeren aus dem Garten, das war seine zweite Leibspeise, und nahm sich Hühnersuppe sowie Nudeln. Er konnte sich eigentlich nicht beschweren, es gab immer noch genug Köstlichkeiten für ihn. So entdeckte er neben allerlei Sorten Klößen sogar süße Klebreisbällchen mit schwarzer Sesam- und roter Bohnenpaste Füllung, außerdem feinen Drachenbart, eine tolle Süßigkeit, die fast nur aus Zucker und etwas Reismehl bestand, weshalb er sie liebte. Je zuckriger desto besser. Großartig! Bald saß die Familie Ren genüsslich schmatzend beisammen. Die Gespräche fielen zwar eher leise aus, doch dafür ertönte ab und an ein umso lauteres Schlürfen, wenn mal wieder jemand seine Suppenschale leerte. Koujaku und Kourin lieferten sich einen regelrechten Wettkampf darin und lachten sich halb tot. Mit den Nudeln, die ihnen aus den Mundwinkeln hingen, ähnelten sie kleinen Drachen oder sonstigen Fabelwesen, die man des Öfteren in Mythen zu Gesicht bekam. Begeistert rührte Hakuren mit seinem Löffel in der Flüssigkeit nach Hühnchen, schließlich wollte er auch die Brühe schlürfen, um mit zu lachen, und das ging am besten, wenn die großen Stücke und die langen Nudeln gegessen waren. Doch bald wandte er sich lieber den Süßigkeiten zu. Bei Gemüse und Fleisch musste man sich die langen Fasern immer so mühselig wieder zwischen den Zähnen herauspulen, was man gerne am Tisch erledigte, aber Hakuren nervte es zu Tode. In einem Land wo scharfes, saures oder herzhaftes Essen bevorzugt wurde, lebte es sich als Süßschnabel oftmals schwierig. Heute jedoch gab es alles, was Hakurens Herz begehrte und er musste keine in Sojasoße ertränkten Gemüsestücke hinunterwürgen, sondern konnte sich das Beste herauspicken (es sei denn, Hakuyuu kredenzte es vorher den Gästen). Ja, alle genossen das üppige Mahl. Nur einer nicht. Als Hakuren, der sich bereits in den klebrigen Zucker-Mehlfäden des Drachenbarts verfangen hatte, zufällig aufsah, erblickte er den trübselig dreinschauenden Koumei. Offenbar hatte er die ganze Zeit noch kein einziges Gericht probiert, sondern nur still und leise an Kouens Seite gelehnt. Sofort ließ der Prinz den Drachenbart fallen und lehnte sich ein wenig zu seinem Cousin herüber. „Koumei? Hast du gar keinen Hunger mehr?“ Der Kleine schüttelte müde den Kopf und vergrub sein blasses Gesicht an Kouens Schulter. Dieser rückte unwillig ein Stück zur Seite, denn er schaufelte sich grade scharfes Gemüse in den Mund. Wie man das in derartigen Mengen verspachteln konnte, war wohl jedem der Anwesenden ein Rätsel. Doch dies lenkte ihn nicht von Koumei ab. Hakuren hatte sein gewaltiges Magenknurren eben doch gehört! Er musste etwas essen! Zumindest von dem Schweinefleisch, welches noch unangetastet auf seinem Teller lag, sollte er kosten. „Meichen, was magst du gerne?“, erkundigte sich Hakuren sanft und lächelte so strahlend er nur konnte, in der Hoffnung, etwas von seiner Energie auf das schlaffe Bündel vor sich übertragen zu können. Selbstverständlich erfolglos. „Nichts“, piepste der Rothaarige und schaute ihn nur leidend an. „Was ist denn los?“ „Ich will ins Bett…“, stöhnte er, woraufhin Kouen seine Schale abstellte und ihm einen schnellen Nasenstüber verpasste. „Kümmere dich nicht um ihn, er will nur Ärger machen. Und zum Essen ist er eh viel zu faul“, brummte Kouen, als er Hakurens entsetzen Blick bemerkte. Kein Wunder, Koumei wimmerte nun kläglich und wäre beinahe von der Bank gerutscht. „Mei… das wird bestimmt gleich besser, soll ich mal pusten? Oder dir etwas Süßes rüberreichen?“, fragte er vorsichtig. Die Antwort bestand lediglich aus einem gefiepten „Nein!“. Der Prinz hielt ratlos inne. Was sollte er denn noch versuchen, um Koumei zum Essen zu bewegen? Mh… vielleicht sollte er ihn einfach zwingen! Das war die Idee! Enthusiastisch lehnte er sich soweit über die breite Tafel hinweg, dass er mit den Stäbchen Koumeis Fleischstück vom Teller greifen konnte. „Was soll das jetzt werden? Klaust du deinem jüngeren Cousin jetzt schon das Essen vor der Nase weg?“, fauchte Hakuyuu ungehalten. „Ach, halt die Klappe, alter Pisskopf“, schnauzte Hakuren zurück und wedelte mit dem Fleisch lockend vor Koumeis Nase herum. Kouen warf ihm einen wenig begeisterten Blick zu. Natürlich ließ sich der Prinz nicht davon beeinflussen. Oder vielleicht doch, nur auf die falsche Weise, jedenfalls pendelte das Fleischbröckchen bedrohlich schnell hin und her. Hakuyuu sah ihn warnend an. Völlig sinnlos. „Schau her, Mei, willst du das süß-saure Schweinefleisch nicht mal probieren? Das ist mein Lieblingsessen. Es schmeckt einfach fantastisch!“, versprach Hakuren und beugte sich noch weiter zu Koumei hinüber. Dieser schien sich regelrecht bedrängt zu fühlen. Mit einem gelinde gesagt verängstigten Gesichtsausdruck, lehnte er sich so weit wie möglich nachhinten. Dabei musste er sich krampfhaft in Kouens Robe festkrallen, sonst wäre er ziemlich früh von der Bank gefallen. Dieser grunzte bereits ungehalten. „Och komm schon!“, nörgelte Hakuren, während Kouen ein übellauniges Schnaufen von sich gab und seinen kleinen Bruder unsanft in die ursprüngliche Position zurück zerrte. „Ich will nicht!“, jaulte der Kleine und drehte entschieden den Kopf zur Seite. „Hörst du, Ren? Er möchte das nicht!“, zischte Hakuyuu eindringlich. Mittlerweile beäugten auch Kourin und Koujaku interessiert das Geschehen. Nun wollte Hakuren erst recht keinen Rückzieher mehr machen. Er würde erst aufhören mit dem Fleisch vor Koumeis Nase herumzufuchteln, bis dieser es aß! „Warum magst du denn nicht mal kosten? Es ist wirklich lecker, wir anderen haben es auch gegessen! Ein himmlisches Gericht, echt!“, protestierte der Prinz und näherte sich langsam Koumeis Gesicht. „Mach mal den Mund auf, du musst ja nicht selber essen, wenn es dir zu anstrengend ist. Komm schon, dann ist es ganz einfach. Ich füttere dich!“, beschloss er. Augenverdrehend saßen die großen Brüder daneben und beobachteten, wie der kleine Koumei plötzlich tatsächlich nachgab. Zuerst zierte er sich noch ein wenig, aber als Hakuren Anstalten machte, das Fleisch zurück zu ziehen, seufzte er auf einmal mitleiderregend auf und öffnete tatsächlich den Mund. Glücklich grinsend schob Hakuren ihm das Essen zwischen die Zähne. Dabei verhielt er sich ungewöhnlich vorsichtig. Schließlich wollte er seinen kleinen Cousin nicht ersticken, weil er ihn zu schnell fütterte. Kauend lehnte der Junge sich zurück an Kouen. „Und, wie ist es?“, wollte Hakuren wissen. „Gut…“, murmelte Koumei immer noch mit vollem Mund und Leidensmiene. Er gähnte, dass man die halb zerkauten Fleischfetzchen zwischen seinen Zähnen sehen konnte. Der Prinz lächelte zufrieden: „Na siehst du! Essen ist großartig. Du musst es nur tun. Und mit den Stäbchen die Speisen zu greifen ist auch überhaupt nicht schwer, wieso probierst du es nicht einmal?“ „Koumei weiß, wie man mit Stäbchen isst. Wie du schon gesagt hast, es ist nicht sonderlich kompliziert. Er will einfach nicht, weil es angeblich anstrengend ist“, wandte Kouen ein. Mh, das war allerdings ein Problem. Nachdenklich starrte Hakuren auf die aufgetischten Schalen und Platten. Mit den Löffeln ließ sich lediglich Brühe gut essen, die man außerdem viel leichter aus der Schüssel schlürfen konnte. Koumei hatte sicherlich keinen Hunger auf Suppe. Dann würde er seinen Vetter eben weiter füttern müssen, keine Schwierigkeit für ihn. „Möchtest du irgendetwas Bestimmtes haben?“, fragte er offenherzig. „Nein… ich bin satt…“ Wie um die Lüge zu entlarven ertönte ein lautes Magenknurren. „Jetzt veranstalte nicht so ein Theater und iss! Und zwar selbstständig, ohne die kaiserlichen Hoheiten zu belästigen!“, grollte Kouen und knallte seine Reisschale auf den Tisch, dass die Körner nur so aufflogen. Nicht im Mindesten davon beeindruckt sah Koumei Hakuren an. Dieser schielte bedeutungsvoll zu dem wütenden Kouen hinüber. Er wollte nicht, dass er den Kleinen wieder schlug oder irgendwie bestrafte. „Komm, ich füttere dich einfach. Sag bitte, was du willst, dann gebe ich es dir“, versuchte er es wieder. Überraschenderweise nickte sein Gegenüber plötzlich. „Du kannst mir Gemüse geben“, nuschelte er. Der zweite Prinz tat, wie ihm geheißen. Stolz zog er ein Schälchen mit gerösteter Paprika zu sich hinüber und begann, Koumei damit zu versorgen. Obwohl es ihm sichtlich an Begeisterung mangelte, aß er das Gemüse brav auf. Ebenso die Reisbällchen, kleine Apfelstückchen und was es nicht sonst noch alles gab. Hakuren war so sehr in seine verantwortungsvolle Aufgabe vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass ihn zwei kleine Mädchen angetan musterten. Nein, er lehnte sich immer wieder konzentriert nach vorne, um seine Essstäbchen in Koumeis Nähe zu bringen und gab sich redlich Mühe, nicht zu kleckern. Dieses fürsorgliche Verhalten zog eindeutig Neid auf sich. Doch dieser sollte den großherzigen Prinzen eher erfreuen: „Piep! Piep!“, kreischte Koujaku aus heiterem Himmel mit überraschend lautem Organ. Sie zerrte mit einem Mal so heftig an seinem Arm, dass er kaum noch seine Stäbchen halten konnte. „Ich will auch gefüttert werden!“ Ja, sie wusste, wie man jemandem die Aufmerksamkeit stahl. Hakuren, der Koumei grade ein weiteres Stück gebratenes Fleisch, dieses Mal Ente, in den Mund schob, nickte gnädig, was einen regelrechten Begeisterungssturm auslöste. „Ja ja! Ich bin ein kleiner Spatz und du bist meine Mama!“, rief sie aufgeregt. Wahrscheinlich würde sie gleich vor Verzückung platzen. „Das weiß ich doch!“, beteuerte Hakuren, der sich freute, wie gut er mit gleich zwei seiner grade erst kennengelernten Verwandten auskam. Koujaku wirkte ebenso begeistert wie er, denn sie verlangte hungrig: „Du musst mir ganz viele Körner und Raupen geben!“ Seine Cousine klappte den Mund auf und zu wie ein Vogeljunges. Der Prinz starrte entzückt auf das winzige Mädchen. Sie gab sich wirklich viel Mühe, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr Name passte so hervorragend, wie es ihm noch nie bei einem Menschen aufgefallen war. Dieser niedliche, pummelige, kleine Spatz! Eigentlich hatte er von Vögeln ja heute genug, aber Koujaku war einfach zu lieb. Warum hatte sein Onkel nur solch reizende Kinder? Er wollte auch so liebe Geschwister haben mit denen er spielen konnte, nicht diesen überlegenen Hakuyuu, der sich für alles zu fein war. Während Hakuren im Feuereifer ein schönes Stück Nudel suchte, was im entfernten vielleicht einem Wurm ähnelte, wurde Kourin neidisch. „Dann muss Prinz Hakuyuu mich füttern!“, forderte sie streng. Als ältere Schwester wollte sie sich von Koujaku natürlich nichts vormachen lassen. Es glich einem Wunder, dass sie dem jüngeren Mädchen nicht unter dem Tisch die Füßchen zertrampelte. Hakuyuu jedoch dachte gar nicht daran, irgendeinen Schwachsinn mit seiner Cousine zu veranstalten. Zumindest erkannte Hakuren dies an der Art, wie der Ältere die Nase rümpfte. „Komm schon, Yuu! Füttere sie auch!“, drängte er und gab Koujaku eine Nudel, die vor Soße nur so triefte. Ihre Robe zierten danach dicke Fettflecken, doch dies sollte erst der Anfang sein. „Hamm! Lecker!“, zwitscherte sie und leckte sich betont genüsslich die Lippen. „Ja, finde ich auch!“, stimmte Hakuren ihr zu und wuschelte durch ihre Haare, dass sie in alle Richtungen abstanden. „Ren, du musst mich weiter füttern! Kleine Spatzenkinder verhungern ganz schnell!“, verlangte sie sofort und schüttelte sich, bis ihre Mähne wieder einigermaßen in Ordnung geriet. „Und was ist mit mir?“, maulte Kourin wieder. Hakuren bekam langsam Mitleid mit ihr, doch mehr als zwei kleine Kinder konnte er nun wirklich nicht auf einmal versorgen. Alleine schon die Reihenfolge im Kopf zu behalten und nicht ausversehen Koumei oder Koujaku zweimal hintereinander Essen in den Mund zu stopfen, erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit. „Mach endlich, Yuu! Das macht wirklich Spaß!“, beteuerte er und wollte seine Stäbchen wieder von Koumei wegziehen, doch es ging nicht. Der Kleine hielt sie mit den Zähnen fest und wollte partout nicht nachgeben. Verwundert legte der Prinz den Kopf schief. „Was machst du da? Lass los, sonst bekommt ihr beide nichts mehr… und ich auch nicht…“ Keine Reaktion. Ob er vielleicht neidisch auf Koujaku ist? Möchte er etwa, dass er der einzige ist, um den ich mich kümmere? Das wäre wirklich süß!, befand Hakuren und strahlte ihn an. Allerdings würde er es sich dann mit Koujaku verscherzen und diesen gefräßigen, kleinen Spatz wollte man lieber nicht gegen sich aufbringen. Hin und hergerissen blickte er zwischen den beiden Geschwistern hindurch auf Kourin, die immer noch niemanden gefunden hatte, der sich mit ihr beschäftigen wollte. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er hing schon ewig über dem Tisch und bekam seine Stäbchen nicht frei! „Mund auf, Mei!“, befahl er, nachdem er mit sanfter Gegenwehr nicht viel erreichte. Der Angesprochene starrte ihn nur aus riesigen Augen unschuldig an. Sofort schmolz der Kaisersohn dahin und fragte vorsichtig: „Was ist denn? Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Natürlich hast du etwas falsch gemacht! Du Trottel hast angefangen Kouens Geschwister zu füttern, das ist das Dümmste, was ich je gesehen habe!“, spottete Hakuyuu. „Sei still!“, keifte der Jüngere und zog abermals an seinen Stäbchen. Erfolglos. Schließlich ertrug Kouen das Tauziehen neben sich nicht länger und packte Koumei mit der einen Hand im Genick, während er ihm mit der anderen die Kiefer auseinander drückte, damit Hakuren sein Besteck retten konnte. „Also wirklich!“, knurrte Kouen und schüttelte erzürnt den Kopf. „Könnt ihr drei euch nicht einmal benehmen? Wisst ihr denn nicht, welch eine Ehre es darstellt, an diesem Tisch speisen zu dürfen? Grade für uns, die wir nicht einmal das Erwachsenenalter erreicht haben? Verhaltet euch wenigstens einigermaßen erträglich, sonst schickt man uns gleich allesamt nach draußen und dann war’s das mit dem fröhlichen Essen! Wieso unterhaltet ihr euch nicht, wie es gesittete Leute tun?“ „Nö! Spatzen können nicht reden“, flötete Koujaku unbekümmert und verschlang sabbernd ein Klößchen. Dabei kleckerte sie unentwegt auf alles in ihrer näheren Umgebung. Selbst Hakuren hatte es mittlerweile übel erwischt. Keines der Geschwisterkinder schien sich auch nur ansatzweise an der Rüge zu stören. Kourin versuchte weiterhin, Hakuyuu mit magischen Blicken dazu zu bewegen, dem Beispiel seines Bruders zu folgen und Koumei und Koujaku ließen sich von eben diesem füttern, bis die Tafel recht ausgeräubert wirkte. So blieb den beiden Älteren nur, sich hilflos anzusehen und die Nervensägen zu ignorieren. Dass Kourin immer unruhiger wurde, half ihnen nicht dabei. Irgendwann trat Kaiserin Gyokuen zu ihnen hinüber. Erschrockenes Schweigen ergriff alle Kinder. „Könntet ihr ein wenig mehr auf eure Lautstärke achten, meine Lieben?“, bat sie freundlich und strich Hakuyuu dabei über die Wange, wie sie es bei ihren Söhnen stets zu tun pflegte, um sie zu beruhigen. Eigentlich hätte Hakuren diese Geste besser gebrauchen können, doch der Mutter wollte niemand widersprechen und so kehrte vorerst Stille bei den Kindern ein. Koumei wollte sogar nichts mehr essen, er schien große Angst vor Gyokuen zu haben und für ihn war das Mittagessen nach ihrer Ansage wohl gelaufen. Koujaku hingegen störte sich nicht daran, aß vergnügt und begann nach einer Weile sogar wieder mit ihrem lebhaften Gequatsche. Kourin hockte währenddessen geknickt über ihrer Suppenschale, wurde von Hakuren jedoch nicht weiter beachtet. Etwas später herrschte zumindest bei Hakuren und Koujaku wieder eitel Sonnenschein. Kouen beobachtete dies mit wachsendem Unbehagen. Bei jedem begeisterten Ausruf wartete er auf erneute Beschwerden, doch die kamen nie. „Du bist so lieb, Ren!“, piepste seine jüngste Schwester und umarmte ihren Cousin, sodass dieser seine Heidelbeeren fallen ließ. „Nicht so hastig!“, rief er erschrocken aus. Die Beeren hinterließen blaue Flecken auf seinen Gewändern. „Was soll das denn, sieh nur was du angerichtet hast!“, jaulte er entsetzt. Das kleine Mädchen blinzelte verwirrt. „Ist doch nicht schlimm!“ „Doch ist es, du hast das Gewand ruiniert, toll. Ich glaube ich füttere dich jetzt erst mal nicht weiter“, beschloss er verstimmt, ohne auf ihr empörtes Gesicht zu achten. Die Lektion, die er daraus nur allzu schnell lernen würde, würde ihn davon abbringen, sie je wieder aus den Augen zu lassen. Aber momentan wusste er es noch nicht besser. Schließlich hatte er grade mit schlimmen Befürchtungen zu kämpfen. Oh je, das würde Ärger geben, die Heidelbeerflecken gingen kaum jemals wieder heraus, schon gar nicht aus der edlen Seide… Dass er Koujaku nun keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, geschah ihr wirklich recht. Dank ihr würde er heute Abend bestimmt eine Strafe bekommen. Doch das kurze Gefühl des mulmigen Augenblicks verblasste, als der Prinz erkannte, dass Koumei grade endlich zu seinen eigenen Stäbchen griff. „Meichen, was möchtest du haben?“, fragte er begeistert. „Etwas von dem Tintenfisch in der braunen Soße da“, murmelte Koumei. Schon schnappte sich Hakuren das Gewünschte. Kurz zögerte er allerdings. Bäh, Tintenfisch! Wie kann er das denn essen?, ekelte er sich. Doch Koumei schien sich tatsächlich auf den Bissen zu freuen. Also erhob Hakuren sich und lehnte sich zu seinem Vetter hinüber. Mit einer Hand stützte er sich auf der Tafel ab, das hatte die Male davor stets gut funktioniert. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Stoß, den er plötzlich in die Seite versetzt bekam. Ehe er sich‘s versah, taumelte er. Um sein Gleichgewicht kämpfend schwankte er über der Tischplatte, konnte gar nicht begreifen, was ihn in diese prekäre Lage gebracht hatte, bis er ein zorniges Quietschen vernahm und er einen erneuten, heftigeren Stoß bekam. „Koujaku!“, brüllte er panisch. Zu spät. Der Tintenfisch fand seinen Platz. Jedoch nicht in Koumeis Mund, sondern an dessen Stirn: Als Hakuren das Gleichgewicht endgültig verlor, kippte er plötzlich nach vorne und klatschte das fettige Stück Fleisch ins Gesicht seines Cousins. Dieser hatte jedoch keine Zeit zum Reagieren, da krachte es nämlich gewaltig. Unter ohrenbetäubendem Scheppern, Klirren und Splittern von feinstem Porzellan fiel Hakuren mitten auf die gedeckte Tafel. Er landete gradewegs in der Terrine mit Hühnersuppe. Natürlich hielt diese dem Gewicht eines wohlgenährten Siebenjährigen, der mit einiger Wucht auf sie prallte, nicht stand. Sie zersplitterte in hunderte kleine Scherben. Hakuren stieß einen hohen Schrei aus, mehr vor Schreck als vor Schmerz, aber in diesem Moment war er sich ganz sicher, von den spitzen Scherben tödlich verwundet worden zu sein. Er konnte spüren, wie sich die scharfen Kanten in seinen Bauch bohrten und das Blut nur so aus den tiefen Wunden hervorquoll… Schnell wurde ihm allerdings bewusst, dass der doch eher moderate Schmerz nicht zu solch schweren Verletzungen passte und das Blut… Nun ja, das war wohl eher etwas anderes: Reste lauwarmer Suppe sickerten über den Tisch und tropften den Umsitzenden auf den Schoß, was endlich zum angemessenen Entsetzen führte. Das einzige Glück war, dass sie nicht mehr kochte. Doch Kouen und Hakuyuu sprangen sofort auf und rissen die drei Kleinen mit sich von der Tafel fort. Sogleich eilten die Erwachsenen zur Stelle und schrien so sinnlose Dinge wie: „Jetzt reicht‘s aber!“ Was nun auch niemanden mehr vor größerem Unheil bewahren konnte. Koutoku schien vor Wut beinahe zu platzen, wollte seine Töchter ohrfeigen, doch Hakutoku gab sich alle Mühe, ihn und Gyokuen zu besänftigen. Die Kinder waren geschockt: Kourin heulte lautstark, während Koujaku bis über beide Ohren grinste. Am liebsten hätte sie sich neben Hakuren in das Chaos auf dem Tisch geworfen. Koumei betastete mit wachsender Abneigung den riesigen Fettfleck auf seiner Stirn und auch seine Augen begannen verdächtig zu glänzen. Kouen versuchte vergeblich, die drei zu beruhigen und Hakuyuu starrte wie versteinert auf seinen kleinen Bruder, als könnte er nicht fassen, wie sehr er sich mal wieder daneben benommen hatte. Das würde mindestens eine Backpfeife geben, so viel stand fest! Hakuren lag immer noch mitten auf dem Tisch und spürte, wie sich seine Gewänder und Hosen langsam mit Suppe, verschüttetem Pflaumensaft, Tee und anderen flüssigen Speiseresten vollsogen. Irgendwie realisierte er erst jetzt, dass er hier nicht liegen sollte. Er wusste nicht so recht, wie er hier hierherkam und weshalb er das Bild eines erschossenen Soldaten imitierte, der kraftlos bei der erst besten Gelegenheit zusammen gebrochen war. Der Tintenfischtentakel direkt vor ihm war eine stumme Anschuldigung. Irritiert und verstört zugleich versuchte er, sich zu bewegen, doch sein Vater rief sogleich: „Halt still, sonst schneidest du dich!“ Also blieb er auf seinem Posten und betrachtete eine umgestoßene Schale mit süßen Klebreisbällchen ganz in seiner Nähe. Eines erwischte er sogar mit dem Mund, so bekam er wenigstens etwas Nervennahrung. Die aufgeregt-empörten Stimmen zu beiden Seiten verunsicherten ihn. Hatte er etwas falsch gemacht? Er konnte sich keiner Schuld entsinnen, hatte nur Koumei füttern wollen und dann… war er ausgerutscht, nein… Koujaku hatte ihn gestoßen, oder? Endlich packte ihn der Kaiser unter den Achseln und zog ihn mit Koutokus Hilfe vom verwüsteten Tisch herunter. Benommen erblickte er die gesamte Verwandtschaft, die ihn befremdet anstarrte. „Was sollte dieses ganze Theater?“, blaffte der braunhaarige Mann und funkelte seine Söhne und Töchter finster an. „Keine unnötige Aufregung, Bruder. Es ist doch nichts Ernstliches geschehen, mein Sohn ist unverletzt, trotz der vielen Scherben“, brummte Hakutoku beschwichtigend. Doch Koutoku verlangte immer noch eine Antwort von seinen ungezogenen Sprösslingen. „Hakuren ist ausgerutscht, als er sich Reisbällchen nehmen wollte!“, piepste Koujaku schnell. Niemand widersprach ihr. Keiner wollte sie beschuldigen, den zweiten Prinzen in eine solch peinliche Situation gebracht zu haben. Sie würde garantiert schlimmer bestraft werden, als Hakuren. Ein wenig wurmte es den Jungen schon, dass er nun als alleiniger Übeltäter angesehen wurde, doch genau genommen stimmte es ja. Er hatte die Idee mit dem Füttern gehabt und hätte er Koujaku nicht gegen sich aufgebracht, hätte sie ihn nicht gestoßen. Alles war letztendlich seine Schuld. Mit hängendem Kopf stand er da und ließ sich von seiner Mutter ausschimpfen. Er schämte sich schon ein bisschen, auch wegen dem Bild, welches er nun bot. Aber wirklich nur ein kleines bisschen, schließlich hatte Koumei nur dank ihm etwas gegessen, da sollten sie lieber stolz auf ihn sein! Aber niemand zeigte auch nur den Hauch von Anerkennung. Immerhin blieb es dabei. Keine Schläge, kein Hausarrest, was bei seinem Verhalten ein Wunder darstellte. Die übrigen Kinder waren spätestens nach Hakurens Unfall ebenfalls nicht mehr vorzeigefähig. Fett- und Soßenflecken hatten niemanden verschont. Kleinlaut ließen sie den Unmut des kaiserlichen Ehepaares und des Kaiserbruders über sich ergehen. Besonders Koujaku schämte sich plötzlich so offensichtlich, dass Hakuren ihr nicht böse sein konnte. Koumei versteckte sich so gut hinter Kouen, dass man kein Fitzelchen mehr von ihm entdeckte. Nun gut, eigentlich hatte er es eher irgendwie geschafft, unter die Robe des Älteren zu kriechen und keinen Mucks mehr von sich zu geben. Niemand störte sich an seinem wundersamen „Verschwinden“. Das Offensichtliche war interessant genug: Sie alle sahen aus wie nach einem Massaker. Als hätten sie sich in eine Horde Straßenräuber verwandelt. Die Roben, übersäht mit braunen Flecken, verliehen ihnen tatsächlich einen verwahrlosten Anschein. Die Erwachsenen mochten derartigen Dreck ganz und gar nicht. „Ihr geht euch jetzt erst einmal umziehen!“, befahl Gyokuen händeringend. Bei dem Anblick all dieser schmutzigen Kinder bekam sie beinahe einen Herzinfarkt. Und so endete das familiäre Mittagessen, welches so vielversprechend begonnen hatte, in einem mehr oder minder riesigen Tumult. Gefolgt von einer umfassenden, schnellen Badeaktion, dank Hakurens glorreichen Einfall, Koumei zum Essen zu bewegen. *-*. Kapitel 8: Unerwünschte Gesellschaft ------------------------------------ *-*. Nachdem gefühlte Stunden später auch das letzte Mitglied der nun tropfnassen Kinderschaar aus dem Waschzuber gestiegen oder im Falle der Kleinen gehoben worden war, zeigte das ehemals klare, nach Kirschblüten duftende Wasser eine unappetitlich-gräuliche Färbung. Ein unübersehbarer Beweis dafür, dass alle ein Bad dringend nötig gehabt hatten. „So, dann können wir endlich raus und Verstecken spielen!“, jubelte Hakuren aufgeregt und sprang munter herum. Koumei, den die Dienerinnen als letzten in den Zuber gezwungen hatten, da er sich bitterlich weinend gegen die Wäsche gewehrt hatte, sah prompt noch bemitleidenswerter aus. Seine feuchten Haare entzogen seinem kleinen Körper selbst das letzte bisschen Wärme. Fröstelnd umklammerte er Kouens rechte Hand, während Kourin und Koujaku beide dessen Linke in Beschlag genommen hatten. Hakuyuu schüttelte streng den Kopf. Sein kleiner Bruder hatte wirklich keine Ahnung von Kleinkindern. „Nein, erst müssen die Kleinen ihren Mittagsschlaf halten und wie gesagt, wir müssen uns nach diesem lächerlichen Massaker am Esstisch umziehen“, widersprach er ihm. Natürlich stieß diese Äußerung auf wenig Freude. „Was?“, schrie der jüngere Bruder entsetzt. „Mittagsschlaf?! Den braucht doch niemand!“ Verdammt, er wollte doch so gerne mit seinen Cousins und Cousinen Verstecken spielen und nun musste ihm Hakuyuu mal wieder jeglichen Spaß verderben! Böse stemmte er die Hände in die Seiten, bereit für noch heftigeren Protest, doch plötzlich bemerkte er, dass Hakuyuu tatsächlich nur das Offensichtliche ausgesprochen hatte. Es fiel ihm schwer, es sich einzugestehen, aber der erste Prinz sagte die reine Wahrheit. Die drei kleinen Kinder wirkten so müde, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Sie hatten ja auch wahrhaft genug Aufregung für heute erlebt! Und als Koumei schließlich jämmerlich fiepte: „Wenn ich nicht sofort ins Bett kann, muss ich sterben! Wirklich!“ sah Hakuren ein, dass er sich vielleicht damit zufrieden geben sollte. Obwohl er sich nicht im Geringsten schläfrig fühlte, fasste er einen, seiner Meinung nach sehr klugen, Entschluss: Dann schlafe ich auch! So kommt wenigstens keine Langeweile auf. Und wenn wir wieder aufwachen, wird gespielt! Allerdings kam ihm dieser Gedanke zu peinlich vor, um ihn laut auszusprechen. Was sollten Kouen und Yuu von ihm halten, wenn er sich neben die Winzlinge zur Ruhe bettete? Dass er ebensolch ein Kleinkind darstellte oder schwach war? Wie jämmerlich. Sie sollten es besser nicht erfahren. Kaum hatte er dies beschlossen, führte ein Dienstmädchen Koumei, Kourin und Koujaku davon. Der einzige, der darüber glücklich erschien, war natürlich Erstgenannter. Sogar Hakuren hatte inzwischen begriffen, dass für ihn Schlaf unersetzlich und hochheilig war. Irgendwie süß, aber vor allem nervig. Wie sollte man denn so mit ihm spielen außer in der Nähe eines warmen Bettes, in dem er sich Notfalls ausruhen konnte? Es war zum verrückt werden. Sehnsüchtig sah er seiner jungen Verwandtschaft nach. Bedauernd, dass er nicht direkt hinter der müden Bande her schlurfen konnte, heftete er sich an die Fersen der anderen beiden. Hakuyuu redete bereits zufrieden mit Kouen: „Nun, da es momentan nicht allzu viel zu tun gibt, müssen wir uns eine Beschäftigung überlegen. Ich habe bereits eine Idee: Wir können uns solange in die Bibliothek setzen, was hältst du davon, Kouen?“ Natürlich hatte dieser nichts anderes im Sinn, als dem Prinzen zuzustimmen. „Das ist eine hervorragende Idee, Hakuyuu!“, bestätigte er und schritt neben ihm her, wobei er sehr kaiserlich wirkte. Viel vornehmer, als Hakuren es je könnte. Beleidigt tappte er hinterher. Er wollte nicht in die Bibliothek, sie hatten hier im Palast zwar gleich mehrere davon, aber er kannte die staubigen Räume zur Genüge. Och, wie öde… Kannte man eine, kannte man alle. Schriftrollen langweilten Hakuren generell immer zu Tode. Na gut, deshalb hatte er ja auch einen meisterlichen Plan. Sollten die beiden Älteren alleine gehen, sie würden ihn ohnehin nicht vermissen. Während sie sich munter schwatzend in die Bibliothek begaben, bemerkte keiner der beiden, dass Hakuren plötzlich einen gänzlich anderen Weg einschlug. Nämlich zu den Gemächern der Gäste. Aber mittlerweile hegte er nicht mehr die Absicht, an ihrer Seite im Reich der Träume zu versinken. Es konnte doch nicht angehen, dass Koumei und seine Schwestern einen Teil des Tages einfach verschliefen! Das musste er dringendst verhindern! So schlich er sich still und heimlich davon. Überraschenderweise wurde er kurz darauf doch noch halbherzig vermisst, ehe Kouen und seinem Bruder auffiel, dass sie sich ohne ihn ungestört und einfach viel besser unterhalten konnten. Und so kümmerte es keinen, wo der zweite Prinz seine wohlverdiente Mittagspause zu verbringen gedachte… Hakuren unterdessen benötigte nicht lange, um seine restliche Verwandtschaft aufzuspüren. Kaum befand er sich im Gang, der zu den Gastgemächern der drei kleinen Kinder führte, vernahm er Koujakus aufgedrehtes Kieksen: „Ich kann nicht schlafen! Ich muss mit meinen Puppen spielen! Jetzt! Und ich habe Hunger, bring mir was zu essen!“ Natürlich befanden sich die beiden Schwestern nicht alleine auf ihrem Zimmer, sondern waren wohl wieder in der Obhut einer Zofe. „Junge Dame, die Mittagsruhe ist in Eurem zarten Alter unabdingbar! Seht Euch doch Eure Schwester an, sie liegt bereits friedlich im Bett und freut sich über die Erholung“, versuchte eine strenge Frauenstimme Koujaku zu bändigen. „Ich will mich aber nicht erholen! Ich will essen! Und spielen, sofort!“, keifte das kleine Spatzenmädchen. „Ihr könnt spielen, wenn Ihr euch ausgeruht habt. Außerdem habt ihr grade erst an einem festlichen Bankett teilgenommen. Es wäre eine Beleidung für Euren kaiserlichen Onkel, wenn Ihr nach seiner Gastfreundschaft immer noch hungrig seid. Ganz zu schweigen davon, dass eine feine Dame ihren Appetit zügeln können sollte!“ Oh je, das klang nicht erfreulich. Eigentlich wäre Hakuren zu gerne zu den beiden Mädchen in den Raum gehuscht, weil er Koujaku für eine spaßige Gesellschaft hielt. Vielleicht würde sich sogar Kourin als ungeahnt aufregend entpuppen. Eine lustige Kissenschlacht ließe sich mit den Schwestern sicherlich veranstalten. Doch diese alte Anstandshexe würde ihn hochkant wieder rauswerfen, sobald er seine Nase durch die Tür steckte. Das wollte er nun wirklich nicht. Vielleicht hätte er bei Koumei mehr Glück? Der Kleine brauchte bestimmt keine Betreuung, um sich schlafen zu legen, so gerne wie er Nickerchen hielt. Also schlich sich der junge Prinz verstohlen an dem Gemach der Mädchen vorbei, um nach seinem Cousin zu schauen. Vorsichtig klopfte er an die Tür. Stille. Ob der Winzling schon schlief? Wie langweilig! Plötzlich vernahm Hakuren ein Rascheln. Ganz leise, kaum zu hören. „Koumei?“, zischte er, um nicht von der Zofe entdeckt zu werden. Keine Antwort. Schließlich hielt es der Kaisersohn nicht länger aus und stürzte sich ungeladen in das Gästezimmer. Sofort umfing ihn behagliche Wärme. Er hatte gar nicht bemerkt, wie kalt es auf dem Gang gewesen war, bis er in den beheizten Raum gesprungen war. Wirklich angenehm. Hier würde er bleiben, hier gefiel es ihm. Ein schönes großes Bett, hübsche Einrichtung, eine schwelende Kohlepfanne… die überall herumliegenden Bücher konnte er getrost ausblenden. Eines fehlte jedoch: Von seinem Cousin gab es keine Spur. „Koumei?“, murmelte Hakuren ratlos. Weshalb fand er ihn nicht selig schlafend vor? Wo war er bloß? Da entdeckte er den verräterischen Hubbel unter der ansonsten ordentlich gefalteten Bettdecke. Begeistert warf er sich daneben, was ein lautes Quietschen und Knarzen erzeugte und das Bettgestell beinahe zum Einsturz brachte. „Meichen! Aufstehen!“, forderte der zweite Prinz beschwingt und riss die schwere Decke bei Seite, wobei einige Bücher polternd zu Boden fielen. Darunter kam ein zerzaustes, aber ganz und gar menschliches Knäuel aus roten Haaren und weißen Roben zum Vorschein. Roséfarbene Augen blitzten ihn zu Schlitzen verengt ungehalten an. Hakuren hielt strahlend inne. Oh, Koumei war schon wach! Großartig! Dann konnten sie sofort miteinander spielen. Doch der Rothaarige liebte seine Mittagsruhe offenbar sehr, denn schneller als man es vermutet hätte, war er irgendwie wieder unter die Laken gekrochen und blinzelte abweisend aus der Dunkelheit hervor. Hakuren durchlebte wohl ein Déjà-vu. Hatte sich ihr Verhältnis seit der ersten Begegnung etwa nicht verbessert? „Meichen, warum hast du mir eben nicht geantwortet?“, fragte der Prinz vorwurfsvoll, während er mühsam versuchte, den Kleinen aus der finsteren Höhle hervor zu zerren. „Will nicht…“, winselte Koumei nur und sträubte sich mit aller Kraft, indem er seine schmalen Händchen fest in dem edlen Stoff vergrub. Wenn er wollte, besaß er einen sehr starken Klammergriff. Irgendwann gab Hakuren enttäuscht auf. „Wieso versteckst du dich denn vor mir? Ich bin doch dein Freund! Wir könnten jetzt so gut spielen, was hältst du von einer Kissenschlacht?“ Koumei zog sich noch tiefer in sein lichtloses Reich zurück. „Och komm, bitte, nur kurz. Komm schon raus, Mei!“, bettelte Hakuren. Die Antwort war ernüchternd: „Ich muss erst meinen Mittagsschlaf halten, sonst schaffe ich es nicht.“ „Aber so eine Kissenschlacht ist doch nicht anstrengend!“, protestierte der Ältere. „Doch!“, fiepte Koumei überraschend laut. Nach diesem vehementen Ausruf drang kein Laut mehr über seine Lippen. Fieberhaft überlegte Hakuren, was er tun musste, um seinen Willen zu erhalten, doch ihm fiel einfach keine Lösung ein. Koumei schwieg wie ein Grab, hatte sich in den Tiefen des mächtigen Deckenbergs versteckt und ließ sich nicht wieder ins Freie locken. „Alter Spielverderber!“, grunzte der Schwarzhaarige und wollte grade aufstehen, um vielleicht doch bei den Mädchen vorbei zu schauen, als ihm eine wahrhaft gute Idee kam. „Weißt du Mei, es ist nicht schlimm, wenn du jetzt erst mal schlafen möchtest. Ich bleibe einfach hier, halte mit dir Mittagsschlaf und wenn wir dann aufwachen, gehen wird direkt zum Verstecken spielen nach draußen, damit wir genug Zeit haben, bevor es dunkel wird. Was sagst du dazu?“ Als eine Entgegnung abermals ausblieb, lüpfte er die Decke und blickte in das unglücklichste Gesicht, das er je gesehen hatte. Die großen Augen waren nicht mehr als zwei schlaffe Schlitze, die Mundwinkel hingen schmollend nach unten und die Narben um Koumeis Nase herum verliehen ihm auch kein aufgeweckteres Aussehen. Das ungebändigte Haar, welches wild von seinem Kopf abstand, setzte dem Anblick die Krone der Verwahrlosung auf. Nun gut, offenbar war Hakuren schlicht und ergreifend unerwünscht. Zu Koumeis Unglück bemerkte der freche Prinz überhaupt nichts davon. Fragend legte er den Kopf schief. „Ist etwas lo-?“ „Ren, Ren, Ren, Ren!“, kreischte es da und schon plumpste ein schwerer Knubbel mitten auf seinen Schoß. „Ich habe gehört, dass du hier bist und da wollten Kourin und ich unbedingt vorbei kommen“, jubelte Koujaku und umarmte ihn glücklich. Ob sie ihrer Zofe ausgebüxt waren? Die Kleine roch angenehm sauber von der Kirschseife, mit der die Diener alle Kinder nach dem eskalierten Mittagessen gewaschen hatten. Während seine Schwester sprach, konnte man Koumeis Laune ihren Tiefpunkt erreichen sehen. Mit jedem Wort des überdrehten Mädchens sanken die Mundwinkel des Jungen ein Stück tiefer. Wieder bekam Hakuren davon nichts mit. Stattdessen freute er sich unfassbar, die beiden Schwestern auch noch um sich zu haben. Als auch noch Kourin auf das große Bett kletterte, in welchem wohl noch mehr Kinder Platz gefunden hätten, stieß Koumei einen Laut der Empörung aus, wurde jedoch von Hakurens freudigem Ausruf übertönt: „Wie schön, dass ihr auch hier seid! Wollen wir jetzt alle eine Kissenschlacht machen?“ Ja, von Bettruhe hielt der zweite Prinz wirklich nichts. „Au ja, das wird toll!“, kreischte Koujaku euphorisch und sprang auf dem Schoß des älteren Jungen herum. Auch wenn Hakuren es sehr niedlich fand… es tat vor allem weh. Also bremste er das winzige Mädchen. „Es geht ja gleich los!“, beruhigte er sie, rang sie mit sanfter Gewalt nieder und kitzelte sie unterm Kinn. Koujaku kiekste vor Vergnügen, als sie sich nach Kräften wehrte. Ihre strampelnden Füßchen erwischten Koumei am Bauch, dessen gepeinigtes Wimmern jedoch im Eifer des Gefechts keinen interessierte. Kourin, der es anzusehen war, wie gerne sie in dieser Rangelei mitmischen würde, nickte ebenfalls mit leuchtenden Augen. „Sehr gerne stehe ich für eine Kissenschlacht bereit, Prinz Hakuren!“, piepste sie und lächelte ihn strahlend an. Mit einem Mal fand er sie gar nicht mehr so uninteressant. „In Ordnung, dann schnappt sich jeder ein Kissen und los geht‘s!“, kommandierte der zweite Prinz begeistert. Mit den Mädchen ließ sich aller Hand Lustiges anstellen. Und mit Koumei? Der hatte sich bereits winselnd unter der dicken Decke versteckt, als müsste er sich in seiner Burg vor feindlichen Kriegern verschanzen. Schlagartig ergriff Sorge das Herz des Prinzen. „Meichen, was hast du denn schon wieder?“, fragte er bekümmert und versuchte, den schweren Stoff beiseite zu schieben, aber sein kleiner Cousin hatte sich bereits so fest darin eingewickelt, dass es ihm nicht recht gelingen wollte. Egal, wie sehr er zog und zerrte, nicht einmal eine rote Haarsträhne löste sich aus dem Knoten. Hoffentlich erstickte der Winzling nicht in diesem festen Knäuel. „Lebst du überhaupt noch?“ „Lass ihn, Mei hasst Kissenschlachten“, empfahl Kourin schnippisch und versetzte ihrem eingewickelten Bruder einen Knuff. „Er ist eingeschnappt, weil wir in sein Zimmer gekommen sind und jetzt in seinem Bett liegen. Das mag er nicht. Mei will immer nur alleine sein und langweilige Bücher lesen. Aber eigentlich schläft er nur. Er ist ein ziemlich nutzloser Bruder, man kann einfach nichts mit ihm anfangen.“ „Oh…“, machte Hakuren. Mit einem Mal war er ziemlich betreten. Zwar wollte er sich mit seinen Cousinen mal so richtig balgen, was vor allem daran lag, dass er bei Hakuyuu meist den Kürzeren zog, aber wenn Koumei ernstlich beleidigt war… Er konnte es sich unmöglich mit dem kleinen Zottel verscherzen. Sie waren immerhin bereits echte Freunde geworden! Plötzlich sprang Koujaku auf seinen Rücken. „Lass uns endlich anfangen!“, schrie sie voller Vorfreude in sein Ohr und biss ihn dann ohne Vorwarnung in den Hals. „Aua!“, rief der Prinz erschrocken. Mit diesen scharfen Zähnchen hatte er nicht gerechnet. Doch ehe er das Mädchen von sich herunter zerren konnte, hatte es bereits von sich aus losgelassen und sich auf Kourin gestürzt. Sofort begannen sie in einem wilden Gewirr von Armen und Beinen auf dem ausladenden Bett herum zu rollen. Langsam aber sicher staunte selbst Hakuren über ihren Übermut und diese unendliche Energie. Kein Wunder, dass Koumei nicht damit zurechtkam, wenn schon der Prinz die Mädchen als hyperaktiv abstempelte. Natürlich wusste er nicht, was dieses Wort bedeutete, aber die Palastdienerinnen hatten ihn aufgrund seines ungestümen Temperaments oft ebenso bezeichnet und er nahm an, dass der Begriff noch viel besser zu seinen kämpferischen Cousinen passte. Immerhin beschäftigten sich die beiden Streithennen so gut miteinander, dass sie Hakuren darüber völlig vergaßen. Also beschloss er, wieder Frieden mit Koumei zu schließen. Sanft klopfte er auf den Deckenberg und tatsächlich spürte er unter den Stoffmassen eine kaum merkliche Bewegung. Sein Cousin lebte noch! Was für eine Erleichterung. „Meichen“, säuselte er so verlockend er konnte, „wieso kommst du nicht heraus? Wir müssen auch nicht raufen. Ich kann euch stattdessen eine Geschichte erzählen, damit ihr besser einschlaft. Was hältst du davon?“ Das Knäuel bewegte sich stärker. „Ich will aber jetzt schlafen! Sonst sterbe ich!“, klagte es so jämmerlich, dass Hakuren vor Mitleid beinahe die Tränen kamen. „Oh Meichen, du Armer! Ich drücke dich ganz fest, dann geht es dir wieder gut! Komm doch mal her! Bitte!“, rief er betroffen. Überraschenderweise wurde sein Flehen eher erhört, als sein Locken. Vorsichtig lugte der Rotschopf zwischen den Falten der Decke hervor. Er sah wirklich todmüde aus. Hakuren schämte sich prompt, dass er so ein Theater veranstaltet hatte. Entschuldigend streichelte er dem Kleinen über den Kopf und schaffte es endlich, ihn aus seiner Höhle zu locken. Zitternd vor Mattigkeit brach sein Cousin über Hakurens Knien zusammen und der Prinz war sehr wütend auf sich selbst. Wie blöd er gewesen war! Koumei brauchte den Schlaf dringendst und er hatte vorgehabt, sich eine erbarmungslose Kissenschlacht mit dessen Schwestern zu liefern, die immer noch vor Wonne jauchzend miteinander rangen! Das würde nun nicht mehr möglich sein. Nein, jetzt war Schluss mit dem Chaos. „He ihr beiden, hört mal grade zu!“, rief der Prinz zu ihnen hinüber. Sofort krabbelten Kourin und Koujaku an seine Seite und blickten hochachtungsvoll zu ihm auf. Ach, sie waren alle drei so liebenswürdig! Schnell rief sich der Junge in Erinnerung, dass er sich nicht von ihren treuherzigen Hundeblicken einlullen lassen durfte. Nein, er musste ihnen eine wichtige Planänderung mitteilen! „Wisst ihr was, ich habe eine viel bessere Idee, als Kissenschlachten! Ich werde euch eine Gutenachtgeschichte erzählen!“, verkündete er höchst selbstzufrieden. Jetzt hatte er endlich die Aufmerksamkeit aller Kou-Geschwister. Wobei, Koumei döste bereits auf seinem Schoß und sah endlich einigermaßen zufrieden aus. Nun gut, eigentlich glich er mit seinem tropfenden Mundwinkel eher einem qualvoll dahinsiechenden Todkranken, der sich mit letzter Kraft an das Leben klammerte. Aber Hakuren fand den Anblick seines schläfrigen Gesichts einfach nur niedlich - in etwa so, wie andere Menschen auch Hunde mit faltiger oder zerknautschter Schnauze drollig fanden - und tätschelte den Kopf des Kleineren. „Kommt, wir legen uns jetzt alle ganz gemütlich unter die Decke und kuscheln uns zusammen!“, befahl er. Koujaku und Kourin krochen schnurstracks an seine Seite. Doch dann regte sich Koumei wieder. Ungehalten befreite er sich von Hakuren und rollte auf die linke Seite des Bettes, wo er ihnen den Rücken zudrehte und sogleich tief und fest schlief. Bedauernd wollte Hakuren ihm nach, doch Koujaku nutzte die Gunst der Stunde, um sich über seinem Bauch zusammenzurollen, während Kourin sich an seine rechte Seite drückte. Als der Prinz vehement gegen diese Belagerung protestieren wollte, weil er doch Koumei nicht einfach allein lassen konnte, fläzte sich Koujaku noch schwerer über ihn. Wie besitzergreifend! Schließlich bemerkte er, dass seine Geschichte heute wohl von niemandem mehr gehört werden wollte. Die drei Geschwister schliefen bereits. Aber es kümmerte ihn nicht, denn die beiden an ihn gekuschelten Mädchen gaben ihm ein herrliches Gefühl von Behaglichkeit. Ihr fremder und zugleich vertrauter Geruch erinnerte ihn daran, wie gerne er früher zwischen seinen Eltern geschlafen hatte. Ja, Hakuren fühlte sich angenehm warm und geborgen. Es dauerte nicht lang, da war auch er in einen leichten Schlaf gefallen, der nur dadurch gestört wurde, dass er irgendwann einen leichten Stoß an seiner linken Seite spürte. Unter seinen halbgeschlossenen Augenlidern hervor linsend erkannte er Koumei, der nun doch zu ihm gekrochen war und sich im Schlaf vertrauensvoll an ihn schmiegte. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen versank der zweite Prinz abermals im Reich der Träume. *-*. Kapitel 9: Ein viel zu gutes Versteck ------------------------------------- *-*. „Hier steckst du also!“ „Äh?“ Schlaftrunken blickte Hakuren in das belustigte Gesicht seines älteren Bruders. „Ich hätte nie gedacht, dass du auch nur ein einziges Mal freiwillig schlafen gehst. Noch dazu mitten am Tag“, staunte Hakuyuu. „Mhm…“, machte der Jüngere und bemerkte erst jetzt, dass er immer noch unter Koujaku begraben war, während Kourin und Koumei friedlich zu seiner Rechten und Linken schlummerten. „Offenbar hast du es sehr gemütlich hier“, stellte Hakuyuu fest. Hakuren nickte zustimmend. Koumei hatte ein hervorragendes Gästezimmer mit einem herrlich weichen Bett erhalten, genauso wie es sich für einen Gast im Kaiserpalast gehörte. Gähnend legte er seine Wange auf das glatte Bettlaken und schloss die Augen. Welch seidiges Gefühl… heute konnte er Koumeis Vorliebe fürs Schlafen nachvollziehen. Ausnahmsweise. „He, nicht weiter pennen! Hast du etwa vergessen, was wir jetzt machen wollten, Ren? Warst du nicht eben noch ganz wild darauf, Verstecken zu spielen?“ Ehe Hakuren stöhnend die Augen öffnen konnte, drang eine verwirrte Stimme in den Raum: „Prinz Hakuyuu? Seid ihr alle hier?“ Wenig später schob sich Kouen hinein. Irgendwie wirkte er gehetzt. Fragend blickte er zu Hakuyuu, ehe er den Rest der müden Verwandtschaft erkannte. Sogleich entspannten sich seine Gesichtszüge und er seufzte tief auf. „Welch ein Glück, dass wir sie endlich gefunden haben.“ „Warum?“, murmelte Hakuren, der sich immer noch nicht aufsetzen, geschweige denn aufstehen konnte, weil die schnarchende Koujaku ihn behinderte. „Die Zofe der Mädchen war außer sich vor Sorge, weil sie die beiden nicht finden konnte“, erklärte sein Bruder ruhig und fuhr sich erschöpft durch die schwarzen Haare. „Wir haben eine kleine Suchaktion hinter uns. Irgendwann ist uns zum Glück eingefallen, dass du dich nach dem Essen heimlich davon gestohlen hast. Und da wir beide wissen, wie gerne du Koumei hast und welch einen Narren Koujaku an dir gefressen hat, haben wir eurer beiden Zimmer besucht.“ „Nach viel zu viel vermeidbarem Stress“, stimmte Kouen ermattet zu. Leise trat er an das Bett heran und zog Koujaku vom Bauch seines Vetters herunter. Sobald dem kleinen Mädchen die warme Unterlage genommen wurde, wand sie sich leicht in Kouens Griff und öffnete langsam die Augen. In diesem Moment wirkte sie mehr denn je wie ein Vogeljunges. „Bruder En…“, murmelte sie und lächelte sogleich fröhlich, als hätte sie nicht bis vor wenigen Augenblicken so tief und fest geschlafen wie ein Stein. „Gehen wir jetzt spielen?“ Kouen erwiderte das Lächeln seiner kleinen Schwester, was für Hakuren einen sehr erstaunlichen Anblick darstellte. Sein Cousin lächelte sehr selten. Noch seltener wahrscheinlich als Koumei. Lieber knurrte er ungehalten vor sich hin. Dann regte sich auch Kourin. Falls es überhaupt möglich war, erwachte sie noch schneller als Koujaku, denn kaum hatte sie sich einmal träge im Raum umgesehen, sprang sie auch schon auf und schritt damenhaft auf Hakuyuu zu, der ihr liebevoll über den Kopf wuschelte, was sie mit einem empörten Quieken quittierte. Also wirklich, feinen Damen zerstörte man doch nicht die Frisur! Nur Koumei wollte mal wieder nicht aufwachen, was zu erwarten gewesen war. Egal wie sehr Hakuren an seiner kleinen Schulter rüttelte, er erhielt kein Lebenszeichen außer entspannten, vollkommen gleichmäßigen Atem. „Lass das ruhig Kouen übernehmen“, empfahl Hakuyuu, der mit einiger Genugtuung die vergeblichen Mühen des Jüngeren betrachtete. Dieser musste wohl oder übel einsehen, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte. Dennoch sah er äußerst verstimmt zu, wie Kouen das kleine Menschenbündel packte und im einen kräftigen Klaps auf die Wange versetzte, der bei seiner Wiederholung eher zum Schlag wurde, so wie es klatschte als Haut auf Haut traf. „Steh auf, du Taugenichts!“, brummte Kouen bedrohlich und plötzlich klammerte sich ein ängstlicher Koumei an Hakurens Brust. Die rechte Seite seines Gesichts leuchtete in hellem Rot. Der Kleine zerknautschte zwar den Stoff der Kleidung zwischen seinen Fingern, doch Hakuren freute sich, dass er ihm offenbar genügend vertraute, um bei ihm Schutz suchen. Kein Wunder, Kouens Gesichtsausdruck konnte selbst einen gestandenen Mann das Fürchten lehren, wie der zweite Prinz mit widerwilliger Bewunderung feststellte. Er selbst konnte nur breit grinsen, weshalb ihn alle für unterbelichtet hielten. Dass sie damit nicht unbedingt Unrecht hatten, wusste er natürlich nicht. Nachdem sich Koumei von dem unsanften Weckruf erholt hatte, nahm Hakuren ihn huckepack und trug ihn hinaus in den Garten. Die anderen waren bereits vorgegangen, weil die Mädchen nicht warten konnten und bereits begonnen hatten, das Zimmer zu zerlegen, als die Älteren drei Jungen Koumei grade mal in eine dicke, winterliche Robe hüllten. Da sie dem Kaiser jedoch nicht erklären wollten, weshalb das Gästezimmer und etliche teure Bücher darin derart ramponiert zurückblieben, hatten sie sich vorsichtshalber ohne Hakuren und Koumei ins Freie begeben. Das gefiel dem zweiten Prinzen sehr, denn so musste sich Koumei nicht vor erneuten Schlägen seitens Kouen fürchten und er hatte seinen neuen Freund ganz für sich alleine. Während sie sich durch den langen Flur bewegten, murmelte Koumei benommen: „Ich würde so gerne liegen bleiben… warum muss ich mitspielen?“ „Du brauchst mal etwas Abwechslung! Bewegung tut gut!“, beteuerte Hakuren, wobei er sich da bei Koumei nicht mehr so sicher war. Endlich schritten sie durch den raureifbedeckten Garten. Man hätte annehmen können, dass in der zweiten Tageshälfte etwas mildere Temperaturen herrschten, aber die Kälte biss immer noch genauso unbarmherzig in unbedeckte Hautstellen wie am frühen Morgen. Noch dazu wehte immer wieder ein leichter, dafür umso eisigerer Wind durch die erstarrten Büsche und kahlen Zweige der Bäume. Der graue Himmel sperrte die Sonne mitleidlos aus. Hakuren war mit diesem Winter überaus unzufrieden. Weshalb schneite es denn nicht? Im Winter musste es schneien! So konnte man doch keine Monster bauen und sich gegenseitig mit Schneebällen abwerfen. Dabei waren das die größten Freuden der kalten Jahreszeit! Vielleicht wäre Koumei bei einer weißgepuderten Umgebung etwas motivierter gewesen, aber jetzt hing er nur schlaff auf seinem Rücken und versuchte erfolglos zu dösen. Hakuren trug ihn in Richtung Sommerpavillon, da Hakuyuu diesen als Startpunkt für ihr Versteckspiel bestimmt hatte. Während er den frostbedeckten Weg dorthin entlang lief, näherten sich ihnen zwei wohlvertraute Gestalten. „Hey, Prinzlein!“, rief die Kleinere und eilte neben die beiden. Koumei hob verwundert den Kopf und musterte den recht schmächtigen blauhaarigen Jungen, der nun neben ihnen herging. „Tag, Pflaumenkopf“, gab Hakuren grinsend zurück und hätte dem Neuankömmling einen freundschaftlichen Knuff verpasst, wenn dann nicht der Cousin von seinem Rücken heruntergefallen wäre. „Aber Seishuu! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass man einen Prinzen nicht beleidigt, ganz egal ob man mit ihm befreundet ist oder nicht?!“, ertönte da eine aufgebrachte Stimme und ein anderer, deutlich größerer Junge tauchte hinter dem frechen Kerl auf. Wie immer hielt er seinen Langbogen fest umschlossen und in dem Köcher auf seinem Rücken steckten etliche Pfeile, wobei es an ein Wunder grenzte, falls er mit den langen braunen Haarfransen, die ihm ins Gesicht hingen überhaupt richtig zielen konnte. Seishuu verzog das Gesicht. Er hatte einfach eine viel zu große Klappe, aber genau das mochte der Prinz an ihm. „Ach, Chuu'un, ist doch nicht der Rede wert! Ich behandle ihn ja auch nicht netter“, wehrte Hakuren also ab. „Genau, altes Wölkchen“, pflichtete ihm Seishuu bei und tätschelte Chuu'uns Schulter, wobei er sich sehr strecken musste. Dieser freute sich gar nicht, nun auch mit einem Spitznamen bedacht zu werden und knurrte unverständliche Worte in sich hinein. Hakuren merkte, wie Koumei sich den Hals verdrehte, um die beiden Fremden mit misstrauischen Blicken zu bedenken und blieb stehen, ehe er ihn herunter ließ. „Ich habe euch jemanden vorzustellen!“, meinte er stolz und deutete auf den Rothaarigen. „Das hier ist mein Cousin Koumei Ren, der Bruder von Kouen. Und das, Meichen, sind Seishuu und Chuu'un, Adelssöhne die mit uns im Palast aufwachsen, weil ihre Väter wichtige Posten am Hof innehaben! Sie sind ein Jahr älter als ich und werden Yuu und mir eines Tages zur Seite stehen!“ „Sehr erfreut, junger Herr!“, meinte Chuu'un sofort und verneigte sich ehrerbietig, während Seishuu Koumei nachdenklich betrachtete, ehe er verkündete: „Wie schön dich kennen zu lernen, aber du bist ziemlich winzig für Kouens Bruder!“ Chuu'un verschränkte die Arme vor der Brust. „Das musst du grade sagen“, stellte er trocken fest. „Hey! Hack nicht immer auf meiner Größe herum, nur weil du nicht mehr mit dem Wachsen aufhören willst, du alter Riese!“, beschwerte sich Seishuu und trat nach seinem Freund. Doch der lächelte nur zufrieden in sich hinein. Koumei betrachtete die beiden mit großen Augen. Doch auf einmal beanspruchte etwas anderes Hakurens Aufmerksamkeit. Ein Kaninchen hoppelte aus einem steifgefrorenen Gebüsch und rannte unbekümmert an ihnen vorbei. Prompt kam Hakuren eine Idee, wie sie nur ungezogenen Knirpsen kommen konnte. „Was haltet ihr davon, wenn wir den anderen im Pavillon einen ordentlichen Schrecken einjagen, indem wir ihnen einen Kaninchenkopf mitbringen? Wenn Chuu'un schießt, können wir es locker erlegen!“ „Verzeihung, aber das halte ich für keine gute Idee“, wehrte der Junge ab. Enttäuscht maulte Hakuren: „Mann, Chuu'un! Du bist viel zu langweilig, viel zu brav! Ich hoffe, mein Bruder nimmt dich später zum Vasallen, dann bekomme ich Seishuu, mit dem kann man wenigstens raufen. Du bist immer so steif, als hätte man dir einen Stock in den Hintern geschoben! Komm doch mal mehr aus dir heraus!“ Der Ältere reagierte gar nicht erst auf die Beleidigung. Seishuu hingegen kicherte begeistert in sich hinein. „Wie recht unser Prinzlein doch hat!“, feixte er. Doch plötzlich ergriff jemand das Wort, der sich die ganze Zeit über vornehm zurückgehalten hatte - Koumei: „Ich würde Chuu'un in jedem Falle Seishuu vorziehen. Er ist mutig und stark, aber er zeigt es nicht jedem. Er ist nicht feige, nur weil er dich nicht zum Lachen bringt, wie Seishuu es tut. Außerdem ist er viel verlässlicher und denkt im Gegensatz zu euch beiden, bevor er handelt.“ Verdutzt starrten alle auf den kleinen Jungen hinab, der sich mit einer Hand an Hakurens Hosenbein festhielt. Besonders Seishuu, der einen sehr eingeschnappten Eindruck erweckte. Aber auch Hakuren fühlte sich seltsam bloßgestellt. Chuu’un wirkte hingegen äußerst zufrieden. Koumei hatte für sein Alter grade verblüffende Menschenkenntnis bewiesen, denn was er so unverblümt daher sagte, war die reine Wahrheit. „Also Herr Kaiserneffe, möchtest du damit sagen, dass ich dumm bin?“, maulte Seishuu verletzt, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Koumei legte den Kopf schief. „Darüber musst du auch noch nachdenken?!“, kreischte Seishuu entsetzt. Hilfesuchend sah er zu Hakuren, der seinen Cousin immer noch überrascht anstarrte. Eigentlich hatte er gedacht, dass sie als Freunde ähnliche Ansichten über Vasallen und Unterstützer vorweisen könnten, doch wenn er es sich recht überlegte, merkte er, dass Koumei das ziemliche Gegenteil von ihm darstellte. Kein Wunder, dass ihm der langweilige Chuu'un besser gefiel. Dieser war jedoch glücklich, dass endlich jemand seine Qualitäten erkannt hatte und strahlte über das ganze Gesicht. Soweit man es durch seine Haarmähne erahnen konnte. Hakuren fühlte sich manchmal von dessen unbewegter Erscheinung verunsichert. Nun jedoch war Chuu'un eindeutig gut gelaunt. „Seishuu, du solltest mit dem Neffen des Kaisers in einem freundlicheren Tonfall sprechen“, tadelte er und klopfte seinem bedröppelten Freund wohlwollend auf die Schulter. „Halt die Klappe!“, brummte Seishuu missmutig und funkelte Koumei an. Hakuren fühlte sich langsam unwohl. Nicht dass der unbedachte Adelssohn sich noch auf seinen Cousin stürzen würde. Der Kleine versteckte sich bereits halb hinter seinem Rücken, sicherlich hatte er auch Angst. „Ach, wie es aussieht hat eben jeder von uns eine andere Vorstellung, welche Art die beste ist. Wieso vergessen wir das Ganze nicht?“, schlug der Prinz deshalb vor. Chuu'un nickte zustimmend, obwohl Hakuren ihn eben noch beleidigt hatte. Nur Seishuu schmollte vor sich hin. Als sie sich schließlich dem Sommerpavillon näherten, hatte der blauhaarige Junge jedoch wieder zu seiner vorlauten Natur zurückgefunden und tratschte mit Hakuren über die Dienerschaft des kaiserlichen Palastes. Da gab es unter anderem eine alte, verbitterte Bedienstete, die alle Kinder hassten, weil sie ihnen zur Strafe für unerwünschtes Verhalten mit Schriftrollen auf den Hinterkopf schlug. Zum anderen, und das fanden die beiden ungezogenen Jungen noch viel spannender, hatte Seishuu vor einigen Monaten in einer abgelegenen Ecke des Palastes einen höherrangigen Offizier aus der kaiserlichen Armee mit einem der jungen Eunuchen erwischt, welche eigentlich zum Schutz der Kaiserin dienten. Unerhört! Hätten sie bereits verstanden, was genau ein Eunuch darstellte, hätten sie diese, in ihren Augen höchst merkwürdige Beziehung, wohl noch interessanter gefunden. Andererseits hatten sie nie etwas Vergleichbares aufschnappen können und waren nun ernsthaft am überlegen, ob sich das so gehörte oder nicht. Hakuren war von Anfang an begeistert von dieser Erzählung gewesen, vor allem als er sie nach einer Weile selbst bestätigen konnte. Die zwei Turteltäubchen, wie die beiden Jungen ihre Entdeckung getauft hatten, waren nie sehr einfallsreich bei der Wahl ihres Treffpunkts und so konnte man, wann immer man etwas Spannendes beobachten wollte, in diesen Teil des Palastes schleichen. Das ungleiche Paar musste furchtbar ineinander vernarrt sein, solch schmachtende Unterhaltungen kannte keiner der beiden von seinen Eltern. Nun gut, die hatten sich wahrscheinlich auch nicht für ein Treffen in eine winzige Besenkammer gequetscht. Ohnehin verstanden die Kinder nicht recht, wie zwei Männer dazu kamen, sich ineinander zu verlieben. Dennoch faszinierte sie das Ungewöhnliche und sie konnten es einfach nicht lassen, hin und wieder nach ihnen zu sehen. Genaugenommen passierte bei ihren Opfern nicht sonderlich viel, außer diesen lächerlich schnulzigen Gesprächen, welche einem vor Lachen die Tränen in die Augen treiben konnten. Auch das scheinbar zum Ritual gewordene, liebevolle Teilen eines Pfirsichs wirkte amüsant. Vor allen Dingen, wenn man den Offizier ansonsten lediglich als stattlichen, furchteinflößenden Riesen kannte. „Meine liebste Lotusknospe, wie sehr habe ich mich die letzten Tage nach dir verzehrt“, klang aus seinem Mund eben nicht sonderlich glaubwürdig. Erstaunlich, erstaunlich. Ein Wunder, dass die beiden kichernden Jungen noch nicht entlarvt worden waren. Chuu'un, der nicht sonderlich viel für derartigen Klatsch erübrigen konnte, hielt sich wachsam neben Koumei und bemühte sich darum, ihn nicht allzu viel von dem Gespräch der Älteren hören zu lassen. Sonst würde er sicher genauso unerträglich werden wie sein Cousin. Außerdem verhinderte er auf diese Weise, dass der Winzling zurückfiel. Ihm kam der Sohn des Kaiserbruders wirklich noch sehr klein vor und er befürchtete, dass der sorglose zweite Prinz ihn irgendwo in den Weiten des Palastgartens verlieren könnte, wenn er sich mit Seishuu amüsierte. Also passte er auf den Kleinen auf, solange Hakuren abgelenkt war. Natürlich kamen sie zu spät am Treffpunkt an. Kein Wunder, wenn Hakuren und Seishuu sich ausgiebig über ihr momentanes Lieblingsthema austauschten, konnten Stunden vergehen. Alle anderen Kinder hatten sich bereits versammelt. Ungeduldig wurden die vier Nachzügler von Hakuyuu empfangen, was Seishuu jedoch nicht davon abbrachte, Kouen stürmisch zu begrüßen. Neugierig ließ Hakuren seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Außer seinem Bruder, Kouen und den beiden Mädchen waren da auch noch Kin Furui, ein zehnjähriges Mädchen und Schwester von Kin Gaku, der des Öfteren Ringen mit den jungen Prinzen übte. Furui kicherte, sobald Hakuren mal wieder auf dem eisigen Fliesenboden des Pavillons ausrutschte. Neben ihr lehnten die Zwillinge Kokusen und Kokuton Shuu an der Wand. Genau wie bei Chuu'un und Seishuu hatte ihr Vater eine hohe Stellung an der Seite des Kaisers inne. So waren die Kinder mehr oder weniger gemeinsam aufgewachsen. Etwas verlegen rappelte Hakuren sich vom kalten Boden auf und strahlte in die Runde. Perfekt, eigentlich waren alle gekommen, mit denen er etwas anfangen konnte. Zwar waren sämtliche Adelssprösslinge älter als er und deutlich besser mit Hakuyuu befreundet als mit ihm, doch er mochte sie trotzdem. Nachdem er Koumei mal wieder vorgestellt hatte, der Winzling zu seiner Enttäuschung jedoch keine bemerkenswerte Aufmerksamkeit erhielt, ergriff sein großer Bruder das Wort: „Sind endlich alle da?“ „Ja!“, kreischte Koujaku prompt. Kouen musste sie am Kragen packen, damit sie nicht johlend auf ihren kaiserlichen Cousin zu rannte. Das war nicht einmal zu ihrem Pech, denn sonst wäre sie sicherlich ebenfalls auf die Nase gefallen. Sicherlich würde er sie in Zukunft nicht mehr so oft an ihren Spielen teilhaben lassen, so aufgedreht wie sie sich benahm. Immerhin hatten sich nun wirklich alle Teilnehmer des Spiels versammelt und so verkündete Hakuyuu: „Bevor wir beginnen, müssen wir uns überlegen, was wir mit Kouens Geschwistern machen. Wir können sie schlecht alleine im Garten herumlaufen lassen, nicht dass sie sich sonst verirren und wir sie nicht mehr wieder finden.“ „Aber Prinz Hakuyuu, ist es nicht Sinn des Versteckenspielens, nicht gefunden zu werden?“, erhob Kokusen kritisch die Stimme. „Da liegst du natürlich richtig, Sen. Aber mein Onkel wird erzürnt sein, wenn seine Kinder verloren gehen.“ Hakuren knirschte mit den Zähnen. Eigentlich hatte er nichts gegen den kräftigen Jungen. Aber der Kerl musste sich immer auf dämliche Art und Weise in die Reden seines Bruders einmischen. An sich wäre das nichts Schlimmes, das tat Hakuren schließlich selbst oft genug. Allerdings wurde er dann meistens angepflaumt. Kokusen hingegen hatte von Hakuyuu nichts zu befürchten. Die zwei waren ein Herz und eine Seele. Wahrscheinlich sahen sie einander eher als Brüder an, anstatt ihre Blutsverwandten. „Na schön“, lenkte Kokusen ein, „dann muss Kouen sich eben um seine Geschwister kümmern.“ Weder Kourin, noch Koujaku wirkten mit dieser Lösung zufrieden. Nur Koumei ließ keine Regung erkennen, er stand immer noch neben Chuu'un und fröstelte kaum merklich. Hakuyuu nickte nachdenklich. „Das wäre eine Möglichkeit. Nur kann er sich mit drei weiteren Leuten schlecht verstecken. Deshalb schlage ich vor, dass immer nur einer von den Kleinen mit jemandem von uns mitgeht.“ Sofort stieg nicht zu bändigende Freude in Hakuren auf. „Ich nehme Mei!“, rief er begeistert. Sein älterer Bruder rieb sich zweifelnd die Stirn. Traut er mir etwa nicht zu, mich um Meichen zu kümmern?!, dachte der zweite Prinz fassungslos. Entrüstet bellte er: „Denk ja nicht daran, es mir zu verbieten! Koumei und ich kommen hervorragend miteinander aus. Wir sind Freunde!“ „Was sagst du dazu, Kouen?“, argwöhnte Hakuyuu. „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Koumei scheint jedenfalls mit seinem Vorschlag einverstanden zu sein“, entgegnete dieser sorglos. Überrascht, dass von Kouen kein Widerspruch kam, hakte Hakuren nach: „Heißt das, wir dürfen zu zweit in den Garten? Alleine, ohne einen von euch?“ „Natürlich, du Hohlkopf“, brummte Hakuyuu genervt und stupste ihn mit seinem Zeigefinger vor die Stirn, „aber du musst dich auf vorbildlichste Weise um unseren Vetter kümmern, immerhin bist du der Sohn des Kaisers!“ Stolz leuchtete in den Augen des übermütigen Prinzen. „Das werde ich, Yuu! Versprochen!“ Kaum war diese Frage geklärt, rutschte und schlitterte Koumei zu ihm herüber. Chuu'un warf ihm einen beinahe wehmütigen Blick hinterher, offenbar hatte nicht nur Hakuren den kleinen Jungen liebgewonnen. Aber das war dem Prinzen egal. Grinsend wuschelte er dem Winzling durch die Haare, was ein empörtes Quieken auslöste. Unterdessen teilte Hakuyuu Koujaku und Kourin auf Kouen und sich selbst auf. Endlich bekam die älteste Schwester was sie wollte: Die Aufmerksamkeit des ersten Prinzen. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen umklammerte sie seine Hand und sah sehr niedlich aus. Koujaku hingegen sträubte sich mal wieder gegen Kouens rauen Griff. „Ich will aber nicht mit En gehen!“, heulte sie verzweifelt. „Doch das wirst du! Du veranstaltest immer nur Unsinn, also bleibst du bei mir! Es wäre eine Zumutung, dich jemand anderem zu überlassen!“, blaffte ihr Bruder und hielt sie unerbittlich fest. „Hakuren! Lass mich nicht im Stich!“, wimmerte sie bitterlich, aber ihr Cousin war bereits mit Koumei bedient und sehr glücklich über diese Einteilung. Wahrscheinlich wäre er mit dem quirligen Spatzenmädchen heillos überfordert gewesen. Koumei hingegen konnte er sich zur Not einfach über die Schulter werfen. Der liebe Knirps würde ihm sicherlich keine Schwierigkeiten bereiten. Im Gegenteil, bestimmt würde er ihm treuherzig in das Versteck folgen, welches sich der Prinz bereits am Morgen überlegt hatte, denn er kannte sich in großen Teilen des Gartens selbst im Schlaf aus. Nachdem alles weitere geklärt worden war, stapfte Hakuren mit Koumei an seiner Seite durch das reifbedeckte Gras. Ein wenig hektisch trieb er seinen Cousin zur Eile an. Seishuu sollte als Erster suchen und zählte grade im Pavillon von 100 auf Null herunter. Bis dahin mussten sie wenigstens hinter den Büschen verschwunden sein. Dies gestaltete sich als komplizierter als erwartet. Aus irgendeinem Grund vergaß der Prinz immer wieder, dass Koumei dank seiner geringen Größe und seinem Alter noch nicht besonders schnell laufen konnte. Mittlerweile musste Seishuu mindestens bei 50 angekommen sein, aber sie hatten sich dem sicheren Terrain nicht nennenswert angenähert. „Meichen, beeil dich!“, drängte er. Dabei ging dessen Atem bereits beängstigend abgehackt. „Geht nicht!“, stieß der Kleine hervor und versuchte trotzdem schneller hinter ihm her zu trippeln, weil Hakuren beschleunigte. Ein paar Meter entfernt drehte er sich nach seinem Cousin um. „Schneller!“ Doch Koumei stolperte lediglich über seine eigenen Füße. Beunruhigt sprang Hakuren zu ihm hinüber und hievte ihn auf seinen Arm. So schnell er mit seiner Last konnte, lief er zwischen die Äste eines großen Holunderbusches. Leider besaß dieser im Winter keinerlei Blätter. Im Sommer wäre er ein großartiges Versteck gewesen. Nun mussten sie sich weiter ins Gebüsch vorkämpfen, um nicht als erste gefunden zu werden. Koumei hing an Hakurens Hals wie ein Stein. „Wieso bist du nur so schwer?“, stöhnte der Prinz. „Du bist zu klein und schwach!“, erwiderte der Knirps. „Ist das dein Ernst?“ „Ja, Herr Hakuren. Du bist lediglich drei Jahre älter, da ist es nicht verwunderlich, dass es für dich anstrengend ist, jemanden zu tragen, selbst wenn er noch sehr jung ist. Du bist ja auch sehr jung.“ Dieser Einwand war durchaus berechtigt, fand Hakuren. Verbissen zwängte er sich durch die hochgewachsenen Stauden. „Dauert dieses Spiel noch lange? Wohin gehen wir? Ich bin müde und es ist so kalt!“, klagte Koumei. Verstimmt runzelte der Ältere die Stirn. „Wir haben grade erst angefangen. Bestimmt dauert es noch bis zum Abend. Hoffentlich. Ich habe ein tolles Versteck für uns überlegt! Wirst schon sehen. Da ist es sogar wärmer, weil kein Wind dorthin kommt. Dort kannst du dich sogar ausruhen!“ An dem betrübten Blick des Kleinen konnte er jedoch gleich erkennen, dass ihm das Bett tausendmal lieber gewesen wäre. Aber darum wollte der Schwarzhaarige sich jetzt nicht kümmern. Ihr Weg wurde nun nämlich ein bisschen steiler. Mit einem kleinen Knubbel auf dem Arm eine echte Herausforderung. Bald röchelte auch der aktive Prinz vor Anstrengung. Dafür befanden sie sich endlich am Ziel des beschwerlichen Weges: Zwischen ein paar immergrünen Sträuchern, unter einer knorrigen Kiefer, ragte ein mächtiger Fels in die Höhe. Niemand, der nicht bereits einmal durch Zufall hineingefallen war, hätte den Spalt zu dessen Fuße gefunden. Kurzum: Ein hervorragendes Versteck. Der moosbewachsene Gesteinsbrocken war von schimmerndem Frost überzogen. Ein hübscher Anblick. Selbstzufrieden setzte Hakuren Koumei ab und kroch zu der schmalen Öffnung, welche, wie er aus schmerzhafter Erfahrung wusste, in eine kleine Höhle unter dem Felsen führte. Eigentlich war es mehr ein Hohlraum, in den mit Ach und Krach zwei kleine Kinder passten. Aber für Hakuren war es eben eine Höhle, weil er diese Bezeichnung spannender fand. „Also Meichen, hier ist unser Versteck. Es ist ein wenig dunkel, aber du musst keine Angst haben. Ich bin ja bei dir.“ „Mhm…“, machte der Rothaarige und schielte unbehaglich auf den finsteren Spalt. „Gibt es da Spinnen?“, flüsterte er furchtsam. Das konnte nicht Koumeis Ernst sein. Wer fürchtete sich schon vor den kleinen Krabbeltieren? Gut, es gab einige Tiere, die echt ekelig waren, aber ein paar kleine, niedliche Spinnchen waren doch einfach putzig! Es kribbelte so schön, wenn sie einem über die Arme krabbelten. Um des Spiels willen bediente sich der kleine Prinz einer raschen Notlüge: „Ach nein, wieso sollte es denn da Spinnen geben?“ „Es ist dunkel.“ „Eben. Wenn ich eine Spinne wäre, würde ich lieber in einem Baum leben. Da ist es viel heller und schöner.“ „Aber Spinnen mögen die Dunkelheit…“ „Das sagen immer nur alle. Woher sollen sie das wissen? Hast du etwa schon mal mit einer geredet?“ „N-nein, Ren“, gab Koumei kleinlaut zu, „aber bei uns zu Hause gibt es eine Abstellkammer, die ganz dunkel ist und da leben riesige Spinnen. Koujaku hat mich dort einmal eingesperrt. Ich hatte solche Angst.“ Mitleidig schaute Hakuren auf ihn herab. Koujaku hatte eindeutig viel mehr auf dem Kasten, als man ihr ansah. „Meichen, das ist ja schrecklich! Aber hier gibt es ganz sicher keine Spinnen und du bist weder eingesperrt noch alleine. Ich passe auf dich auf. Ich kümmere mich um dich. Falls dort eine Spinne ist, werde ich sie für dich fangen und rauswerfen, in Ordnung?“ Der kleine Junge zögerte und wand sich. „Na gut…“, gab er schließlich nach. Hakuren hätte ihm um den Hals fallen können. Vielleicht schafften sie es heute doch noch, sich zu verstecken. „Gut, ich gehe zuerst rein und du folgst mir, ja?“ Koumei senkte zustimmend den Kopf, ließ ihn nicht aus den Augen. Dieser unschuldige, liebe Blick machte Hakuren ein wenig nervös. Was, wenn seinem Cousin zur Begrüßung als allererstes eine Spinne über die Stirn krabbeln würde, die es doch angeblich nicht in dieser Höhle gab? Koumei würde ihm das bestimmt auf ewig nachtragen. Dennoch zwang sich der Prinz, durch den Spalt in die Finsternis zu kriechen. Natürlich streiften seine Hände Spinnenweben und der nackte Fels war eiskalt. Zitternd kauerte sich Hakuren in die äußerste Ecke, um etwas Platz zu schaffen. Vorsichtshalber vergrub er seine Finger in der warmen Winterrobe. Himmel noch mal, war es hier frostig! Hoffentlich würde der Kleine nicht den Schock seines Lebens bekommen. Ach was, das übersteht er schon. Zur Not steckst du ihn mit unter deine Robe. „Mei, du kannst!“, rief er. „Mag nicht“, wisperte es von außen, so leise, dass sich Hakuren die Worte eher aus dem Kontext erschlossen, als dass sie zu hören waren. „Was? Du hast doch grade gesagt, dass du mitkommst!“ „Will nicht“, piepste es wieder. „Es ist dunkel und da sind Spinnen. Ganz sicher.“ „Quatsch, nur ein paar Spinnenweben!“ „Also sind dort auch Spinnen!“ „Nein, Mei, ich habe noch keine einzige gesehen!“ „Kannst du ohne Licht ja gar nicht!“ Hakuren seufzte geschlagen. Sein Cousin war viel zu schlau für sein geringes Alter. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Immer schaffte er es, seine Argumente zu entkräften. Ein vierjähriger Winzling! Offenbar hatte er panische Angst vor Spinnen. Dann würde Koumei eben draußen warten müssen. Dem Prinzen gefiel diese Idee überhaupt nicht. So ein kleiner Rotschopf mitten in der Landschaft war verdächtig. Selbst ein Trottel wie Seishuu würde das erkennen. Hoffentlich verriet Koumei das Versteck nicht. „Dann wartest du hier, bis wir gefunden werden, ja? Und du sagst niemandem wo ich bin, verstanden?“, schärfte er ihm ein. Koumei meinte: „In Ordnung. Glaubst du, dass es lange dauert, bis Seishuu herkommt?“ „Je nachdem. Eigentlich kennt er das Versteck, weil wir öfters hier reinkriechen. Aber von alleine findet er nicht immer in diesen Teil des Gartens, weil er sich schnell verläuft. Also wird es schon noch etwas dauern“, mutmaßte der Ältere. „Oh nein…“, seufzte Koumei und klang dabei wie ein alter, eingerosteter Greis, der gleich vor Erschöpfung eines qualvollen Todes sterben würde. „Komm schon, Mei! Reiß dich einmal kurz zusammen. Außerdem müssen wir langsam leise sein, sonst findet Seishuu uns sofort!“ „Das wäre schön…“ „Nein! Der Gewinner des Spiels ist doch, wer als letztes gefunden wird! Das wollen doch wir sein, oder nicht, Meichen?“ „Mir egal… es ist so kalt.“ Na toll, Koumei verstand einfach keinen Spaß. Wenigstens gab der Winzling jetzt Ruhe. Normalerweise redete er so wenig, aber jetzt verspürte er wohl das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Na ja, im Gegensatz zu Koujaku konnte man ihn aber noch verhältnismäßig schnell zum Schweigen bringen. Welch ein Glück. Fröstelnd wickelte sich Hakuren fester in das dicke Gewand. Niemals hätte er vermutet, dass es in dieser Höhle noch kälter als an der Winterluft sein könnte. Hoffentlich wurde es bald Frühling. Dieses eisige Wetter hatte er langsam satt. Er wollte wieder den ganzen Tag draußen toben und Kampfübungen im Garten erteilt bekommen. Außerdem folgte auf den Beginn des neuen Jahres sein Geburtstag. Hakuren konnte es gar nicht mehr abwarten, bis er sein achtes Lebensjahr erreichte. Zum einen wegen den großartigen Feiern und außergewöhnlichen Geschenken, die sein Vater für seine Söhne stets organisierte, zum anderen weil er endlich erwachsen sein wollte. Dann würden ihn die Menschen endlich für voll nehmen und er wäre nicht länger der dumme, kleine zweite Prinz, auf den alle herab sahen. Nein, sobald er endlich sein sechzehntes Lebensjahr erreicht hätte, würde er sicherlich mehr Autorität besitzen und nicht mehr im unüberwindlichen Schatten seines großen Bruders versinken. Genau, die Berater seines Vaters würden dann ehrfürchtig vor ihm niederknien, um Hakurens Befehl auszuführen. Dieses Szenario spielte er sich immer wieder in Gedanken vor. Wie sehr er sich danach sehnte, selbst über sein Schicksal zu bestimmen! Nicht, dass ihm das jemals bedingungslos möglich sein würde… Sein heftiges Zähneklappern riss den Prinzen aus den träumerischen Gedanken. Verdammt, diese Kälte! Irgendwie wusste der Junge langsam nicht mehr, ob er sich freuen sollte, dass Seishuu noch nicht aufgetaucht war. Vielleicht sollte er lieber aus seinem Versteck herauskommen und sich freiwillig stellen, um nicht am Höhlenboden festzufrieren. Ob es gut für Koumei war, so lange draußen zu warten? Ab und an fegten im Winter scharfe Windböen durch den Palastgarten, die bei diesen unterirdischen Temperaturen wie Nadelstiche auf den entblößten Wangen schmerzten. Wie lange hockte er überhaupt schon hier? In der Dunkelheit konnte man sich nicht mal am Stand der Sonne orientieren. Wobei dies bei dem wolkenverhangenen grauen Himmel ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit darstellte. „Meichen?“, rief Hakuren also leise, um zu erfahren, ob sein Cousin nicht zu einem Eisklotz erstarrt war. Doch statt einer zarten Stimme antwortete eine ungehobelte: „Falsch gedacht, ich bin‘s! Hab ich euch zwei endlich! Wieso bin ich nicht früher hier vorbeigekommen? War doch klar, dass ich euch hier finden würde!“ Schon erschien Seishuus freches Gesicht im Höhleneingang. „Freu dich“, murrte Hakuren. War ja klar gewesen, dass Meis Haare selbst diesen orientierungslosen Kerl anlocken würden. „Wusste gar nicht, dass du dich an den Weg zur Höhle erinnern kannst.“ Seishuu zuckte nur die Achseln und ergriff den Arm des Prinzen, um ihn aus dem dunklen Spalt zu ziehen. „Sind wir wenigstens die letzten?“ „Nein, Kokuton fehlt noch.“ „Na toll, dann hätten wir uns besser hinter einem Baum versteckt. Ich wusste, dass Koumeis rote Haare wie ein Signalfeuer zwischen den Sträuchern hindurch leuchten würden“, grummelte Hakuren. Verwirrt starrte Seishuu ihn an und kratzte sich hinterm Ohr. „Wo leuchtet bitte Koumeis Haar? Ich habe nichts davon gesehen! Ist er etwa nicht hinter dir in der Höhle? Komm, ich zieh ihn auch noch raus!“ Rasch spähte der Blauhaarige hinter Hakuren in den Felsspalt. Natürlich entdeckte er dort keinen Winzling. Allerdings fand Hakuren hier draußen plötzlich auch keinen mehr. Zuerst hatte er das darauf geschoben, dass das Licht ihn nach dem langen Warten in der Dunkelheit blendete, doch das konnte nicht der Grund sein, weshalb er seinen kleinen Freund nicht entdecken konnte: Koumei hielt sich tatsächlich nicht länger vor dem Höhleneingang auf, wie der Prinz es ihm befohlen hatte! Als die beiden Jungen hinter dem Felsen und in dem Busch daneben nachsahen, gerieten sie erst recht ins Stutzen: Kein Koumei! So ein Mist! Kouen hatte ihm seinen Bruder gnädig anvertraut und Hakuren hatte nichts Besseres im Sinn, als seinen niedlichen Cousin irgendwo in der Kälte zu verlieren, weil er gerne ein tolles Versteck erschließen wollte. Kein Wunder, dass Koumei offenbar ohne ihn weitergezogen war. Nachdem sie die umliegenden Sträucher durchkämmt hatten, stieß Seishuu angespannt hervor: „Sag bitte nicht, dass er weg ist.“ „Sieht aber ganz danach aus!“, knurrte Hakuren, der sich verzweifelt die Haare raufte. Langsam aber sicher wurde ihm ein wenig mulmig zu Mute. Auch er war, als er kleiner war, des Öfteren angeblich spurlos verschwunden, nur um nach ein paar Stunden glücklich und wohlbehalten an einem unerwarteten Ort wieder zu erscheinen. Das einzige Problem, welches heute bestand, war die tödliche Kälte. Wenn sie Koumei nicht schleunigst fanden, drohte dem Kleinen großes Unheil. Plötzlich bemerkte Hakuren, dass Kouen noch gar nicht wutschnaubend neben ihm stand und seinen Hals zerquetschte. „Wo sind eigentlich die anderen?“ Seishuu tätschelte ihm beruhigend die Schulter. „Sie warten am Pavillon, weil sie keine Lust hatten, sich in der Kälte zu bewegen. Eigentlich dumm, schließlich hält Bewegung warm. Wir sollten zurückgehen und sie bitten, uns bei der Suche zu helfen, dann finden wir deinen Cousin im Handumdrehen“, schlug der Ältere vor. Der Prinz nickte steif. Er wurde langsam unruhig. Hoffentlich würden sie Koumei schnell finden, sonst würde es für ihn gefährlich werden. Schnell gelangten sie zum Rest der Kinder. Sogar Kokuton war anwesend. Offenbar hatte er keine Lust gehabt, weiter in seinem unbequemen Versteck zu kauern. Den Ausraster, den Hakuren von Kouen vorhin vergeblich erwartet hatte, bekam er nun auf einem Silbertablett serviert. Kaum begriff sein Cousin, dass Seishuu und der Prinz es wagten, ohne Koumei aufzuschlagen, stürzte er sich auf den Älteren. „Wo ist mein Bruder?!“, brüllte er und packte ihn am Kragen. Wenn es ernst wurde, vergaß er sogar seinen Respekt. Ohnehin kümmerte sich Kouen um nichts anderes mehr, außer Koumeis Verschwinden. Dafür dass er kleiner als Hakuren war, fiel es ihm ganz schön leicht, ihn erbarmungslos durchzurütteln. Die Umstehenden beobachteten das beängstigende Schauspiel unbehaglich. Die Unruhe des zweiten Prinzen wurde prompt zu Scham. Mit hochrotem Kopf ließ er Kouens Wut über sich ergehen und starrte zu Boden. Dessen Zorn hatte er wirklich mehr als verdient. „Ich weiß es nicht…“, flüsterte er betreten. „WAS?!“, schrie der Jüngere außer sich. Entsetzt riss er an Hakurens Robe. „Du solltest doch auf ihn aufpassen! Ich dachte, ich könnte dir vertrauen! Wie konnte ich nur so blöd sein und Hakuyuus Bedenken in den Wind schlagen?!“, keuchte Kouen. Auch sein Gesicht war knallrot angelaufen, während der Rest seines Körpers vor Kälte zitterte. Er wirkte, als wollte er Hakuren am liebsten den Schädel einschlagen. Doch bevor es dazu kommen konnte, nahm Hakuyuu den tobenden Jungen beiseite. „Das reicht!“, befahl er. Leider kehrte keine Ruhe ein, nachdem Kouen verstummt war: Es gab noch zwei andere Kinder, die mit dem Verschwinden ihres Bruders zu kämpfen hatten. Kourin und Koujaku lagen sich heulend in den Armen. Offenbar hegten sie bereits die schlimmsten Vermutungen, was dem Vermissten zugestoßen sein könnte. „Er ist von einem Mörder verschleppt und zerstückelt worden!“, schluchzte Koujaku und krallte sich verzweifelt an ihre Schwester, die ihrerseits wimmerte: „Ein Bär hat ihn zerrissen und gefressen! Und ich habe ihm gar nicht mehr gesagt, dass ich ihn liebhabe, obwohl er immer nur schläft und liest!“ Seufzend musterte Hakuyuu seine vollkommen geschafften Familienmitglieder. Alle waren augenscheinlich einem Nervenzusammenbruch nahe. Wie nachvollziehbar. Er hatte gewusst, dass die Verantwortung für ein Kleinkind zu viel für Hakuren war, aber da Kouen es ihm erlaubt hatte, hatte er schließlich doch zugestimmt. Nun musste er seine Nachlässigkeit wieder ausbaden. Nicht auszudenken, wenn Koumei wirklich etwas zugestoßen war, oder sie ihn nicht rechtzeitig fanden. Bei diesem fürchterlichen Winterwetter würde er in Windeseile erfrieren. „Wir beruhigen uns jetzt alle mal wieder“, beschloss er fest. Tatsächlich ließ sein entschlossenes Auftreten keinerlei Widerspruch zu. Beklommen wandte Kouen den Blick ab, während das lautstarke Heulen seiner kleinen Schwestern zu einem erträglichen Weinen abklang. „Am besten suchen wir Koumei sofort. Wir teilen uns auf. Ren, du führst En zu der Stelle, wo du Koumei als letztes gesehen hast, klar? Geht schon mal, den Rest regele ich. Und auf Kourin und Koujaku passen wir hier auch auf.“ Gehorsam stürmten die Cousins los. Eigentlich war es kein schönes Gefühl mit einem vor Wut und Angst kochenden Kouen in einen abgelegenen Teil des Gartens zu rennen, doch Hakurens Gedanken wurden zu sehr von der Furcht um Koumei beeinträchtigt. Als sie außer Atem an der Höhle ankamen, runzelte Kouen bekümmert die Stirn. Hakuren beobachtete voller Reue, was er angerichtet hatte. Hätte er Koumei doch mit in sein Versteck gezerrt, dann wäre er niemals verloren gegangen. Sein Cousin kam beinahe um vor Sorge. Fieberhaft warf er den Kopf in jegliche erdenkliche Himmelsrichtung und erfasste hektisch die Umgebung. Blindwütig bogen sie undurchdringliches Gestrüpp auseinander, krochen in die Höhle, lugten hinter Bäume… erfolglos. Kouens Bewegungen wurden immer aggressiver. Er schlug die Äste beiseite, als seien sie seine persönlichen Feinde und brüllte in einem fort den Namen seines Bruders. „Verdammt!“, stieß er schließlich heiser aus. „Hier sind überall Büsche, er könnte unter jedem von ihnen sein!“ Daran, dass Kouen in Gegenwart eines Prinzen fluchte, erkannte man, dass er vollkommen in Panik verfallen war. Diese Panik übertrug sich allmählich auf Hakuren. „Es tut mir so leid!“, beteuerte er. Der arme Junge machte sich schreckliche Vorwürfe. Weshalb hatte er Koumei überhaupt zum Verstecken spielen gezwungen, der Kleine hatte von Anfang an keinerlei Interesse an diesem verfluchten Spiel gezeigt und nun war er dabei auch noch verschollen! Wie furchtbar! Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, als er daran dachte, dass das Letzte, was er von seinem Freund gehört hatte, eine Klage über die unerträgliche Kälte gewesen war, weil Hakuren unbedingt spielen wollte. Dabei hatte er mal wieder nicht gemerkt, dass Koumei keinerlei Spaß an der Aktivität empfand. Am liebsten hätte Hakuren sich selbst geschlagen. Was für ein schlechter Freund er war! Nachdem jeder Fleck unbedeckter Haut der beiden Jungen gefühlt abgestorben war und sie kaum noch die Finger bewegen konnten, beschloss Kouen, dass sie zu den anderen zurückkehren sollten. „Lass uns den Weg zum Pavillon absuchen, vielleicht ist er weitergekommen, als gedacht“, schlug der Rothaarige vor und raufte sich erschöpft die Haare. „Wie du meinst, En“, flüsterte Hakuren und wischte sich verstohlen eine Träne beiseite. Das hier war der schlimmste Moment seines Lebens. Am besten schalteten sie bald einen Erwachsenen ein, sonst wäre Koumei bald nur noch ein erfrorenes Häuflein Elend. Falls er überhaupt noch lebte. Ein eingedrungener Bär wäre zwar unwahrscheinlich, aber wer wusste schon, ob sich nicht tatsächlich ein Entführer und Mörder im Palastgarten herumtrieb, der gierig in den Schatten lauerte, um sich unschuldige, wehrlose Kinder zu schnappen. Vielleicht war Koumei auch irgendwo im Eis eingebrochen… Mit den schlimmsten Befürchtungen vor Augen folgte Hakuren seinem ältesten Cousin. Seine Schultern hingen schlaff herab. Was, wenn er für den Tod seines Freundes verantwortlich war? Kouen wechselte kein Wort mit ihm. Wenn sie Koumei nicht bald quicklebendig wiederfinden würden, würde das auch für den Rest ihres Lebens so bleiben. Er war so sehr in seine trübseligen Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, dass Kouen plötzlich stehen geblieben war. „Was ist?“, fragte der Prinz kleinlaut, doch der andere antwortete nicht. „En?“ Sein Cousin glich einer erstarrten Salzsäule. Ehe er aus heiterem Himmel in einen ausladenden, immergrünen Busch am Wegesrand sprang. „Warte!“, rief Hakuren, doch er stieß lediglich auf taube Ohren. Also zwängte er sich hinter Kouen in das Gestrüpp hinein. Von seinem Cousin war nicht mehr viel zu erkennen, außer einem Robenzipfel, der ebenfalls flink hinter raureifbedeckten Blättern verschwand. Nach ein paar Schritten, nach denen der Prinz sich bereits etliche Dornen ins Fleisch gezogen hatte, gab er es auf Kouen folgen zu wollen. Was war das nur für ein lebensfeindliches Gewächs! Umgeben von seinen weißen Atemwölkchen kämpfte er sich wieder aus dem Busch hervor, der ihn wohl um jeden Preis in sich behalten wollte. Die Dornen kratzten brutal an seiner Haut, doch der Junge ignorierte den Schmerz. Kouen ging es jetzt bestimmt noch schlimmer als ihm. Damit hatte er nicht Unrecht. Der Kaiserneffe wehrte sich verbissen gegen die Zweige und Dornen, welche sich bald überall an ihm verfangen hatten. Doch das Stechen und Pieken kümmerte ihn nicht. Nein, er hatte am Wegesrand etwas erspäht, was ihn sehr stutzig machte. Ein winziger Fetzen einer gelben Robe, wie sie sein kleiner Bruder so oft trug, hatte an einem dünnen Ästchen gehangen. Kouen wusste nicht, was beim Anblick des Stoffstückchens in ihm vorgegangen war, aber jede Faser seines Körpers hatte ihn mit einem Mal in dieses düstere Dickicht getrieben. Verzweifelt kroch er zwischen Blättern und Dornen hindurch. Und dann sah er ihn. „Koumei!“, brüllte er und stürzte an seine Seite. Sein Bruder lag zusammengerollt im Busch und rührte sich nicht. Angstvoll rüttelte er ihn an der Schulter, erhielt jedoch keinerlei Lebenszeichen. Panisch zerrte er das kalte Bündel in seine Arme und kroch mit ihm ins Freie. Der Weg zurück durch das Geäst glich einer Folter. Koumei wurde immer schwerer und schwerer und seine Gewänder verfingen sich immer wieder in den Dornen. Doch schließlich erblickte er wieder das reine Tageslicht, wo er bang erwartet wurde. Als ein zerzauster Kouen mitsamt einem totenbleichen Koumei auf dem Arm aus dem Busch taumelte, wollte Hakuren seinen Augen nicht trauen. Dem winzigen Jungen schimmerte Raureif in Wimpern und Haar. Er sah vollkommen erfroren aus. Erschrocken beäugte der Prinz die beiden und fragte sich, woher Kouen gewusst hatte, an welcher Stelle er suchen musste. Doch viel stärker nagte die Sorge um den reglosen Winzling an seinem Herzen. Er würde doch nicht etwa…? „Er lebt“, verkündete Kouen, als er den furchtsamen Blick Hakurens wahrnahm. Sofort entwich die Anspannung aus dem Körper des Prinzen. Kouen funkelte ihn vorwurfsvoll an. Der Schock stand ihm noch ins Gesicht geschrieben und er machte keinen Hehl daraus, dass er alleine Hakuren dafür verantwortlich sah. Vorsichtig drückte er seinen Bruder an die Brust. Er schien mal wieder eins seiner nervtötenden Schläfchen abzuhalten. Bei dieser Kälte? Offenbar schon. Dabei sollte er eigentlich ganz genau wissen, dass man daran sterben konnte. „K-Koumei?“, hauchte Hakuren hilflos und strich dem Zottel zärtlich über die eiskalte Wange. Irrte er sich, oder entdeckte er da grade die ersten Eiskristalle auf der vernarbten Haut? „Nimm die Pfoten von ihm! Du hast für heute genug Schaden angerichtet!“, knurrte Kouen und drehte sich zur Seite. Verletzt beobachtete Hakuren, wie der Jüngere Koumei besorgt im Arm hielt und so gut wie möglich in seine Gewänder miteinwickelte. Er wollte doch nur schauen, ob es dem Kleinen wirklich so schlecht ging, wie er aussah. Diese schrecklichen Schuldgefühle, die sich in seiner Brust eingenistet hatten, wollten unbedingt gelindert werden. Aber jetzt ließ Kouen nicht mal zu, dass Hakuren sich ebenfalls um Koumei kümmern wollte. Nun gut, irgendwie konnte der Prinz ihn verstehen. Er hatte seine Aufgabe gründlich vermasselt. War kläglich daran gescheitert, auf das kleine Menschenbündel aufzupassen, weshalb sein Cousin nun ganz schwach und bewusstlos auf Kouens Arm hing. Niedergeschlagen trottete er hinter den beiden her. Während Kouen schleunigst den Weg zum Palast einschlug, befahl er Hakuren, den anderen Bescheid zu geben, damit sie nicht weiter vergeblich suchten. Eigentlich verspürte dieser den Drang seinen Cousins zu folgen, weil er sich sehr um Koumei sorgte, doch Kouens glühender Blick ließ keinerlei Widerspruch durchgehen. Obwohl eigentlich Hakuren das Sagen hatte, kuschte er vor der feurigen Wut in Kouens Miene. Der Rothaarige erinnerte ihn an einen brüllenden Löwen, wirkte nur noch furchteinflößend. So blieb Hakuren nichts anderes übrig, als die restlichen Kinder zusammen zu trommeln und ihnen die gute Nachricht über Koumeis Erscheinen zu überbringen. Natürlich waren alle erleichtert, dass Hakurens Fahrlässigkeit kein allzu böses Ende genommen hatte. Zumindest hofften sie dies. Koumei hatte wirklich sehr ungesund ausgesehen… Wenig später führte Hakuren Kourin und Koujaku zu ihrem Bruder. Allen drei war bang bei dem Gedanken, was sie wohl erwarten mochte. In Koumeis Gemächern angekommen wunderten sie sich sofort über die niedrigen Temperaturen. Eine Palastheilerin namens Xi, die normalerweise für die beiden Kaisersöhne zuständig war, beugte sich mit konzentriertem Blick über seinen Cousin, nicht ohne dabei von Kouen keine Sekunde aus den Augen gelassen zu werden. „Seid ihr verrückt? Ihr müsst es Meichen warm machen, er war doch eben noch eiskalt!“, schrie der Prinz entsetzt und stürzte zu dem ausladenden Bett, in dessen Mitte die schmächtige Gestalt seines neuen Freundes ruhte. Oh je, wie schlecht er aussah! Seine Lippen waren ganz blau angelaufen und seine Haut immer noch totenbleich! Er brauchte dringend Wärme! Kouen wirbelte prompt zu ihm herum. „Du hast hier gar nichts mehr zu sagen! Wer meinen Bruder einfach in der Wildnis allein lässt, sollte mir lieber nicht mehr unter die Augen treten!“, fauchte er. „Ich habe ihn nicht allein gelassen! Er war plötzlich nicht mehr da, wo er sein sollte! Und ihr könnt ihn nicht einfach erfrieren lassen!“, brüllte Hakuren zurück. Unterdessen drängelte sich Kourin zwischen den beiden Älteren hindurch. Neugierig starrte sie auf ihren starren Bruder. „Ist er tot? Erfroren? Darf ich ihn mal anfassen? Ich will gucken ob er dann in kleine Splitter zerspringt!“ In Koujakus Augen zeichnete sich daraufhin eine makabere Faszination ab. „Seid doch ein einziges Mal still!“, keifte Kouen und packte sie so grob am Arm, dass seine Schwestern zu weinen begannen. „Kinder, beruhigt euch“, tadelte Xi streng. „Es gibt keinen Grund zur Sorge. „Koumei ist einfach nur ein wenig unterkühlt. Er hat unfassbares Glück gehabt, dass ihr ihn rechtzeitig gefunden habt, sonst wäre er vielleicht wirklich tot. Aber das wird schon wieder. Wenn wir ihn jetzt ganz langsam aufwärmen, wird er in ein zwei Tagen vollkommen wiederhergestellt sein. Warum geht ihr nicht weiterspielen? Ich werde mich gut um ihn kümmern.“ Unsicher wechselten die Kinder verschämte Blicke. Offenbar tat es Kourin leid, dass sie derart gedankenlose Bemerkungen von sich gegeben hatte. Hakuren bereute immer noch seine Dummheit. Nie wieder würde er einen derart schwerwiegenden Fehler begehen, schwor er sich. Koumei war noch kleiner und hilfloser als er, da war es einfach nur dämlich zu glauben, dass er alleine in der Kälte warten konnte. Bestimmt war es ihm irgendwann zu viel geworden und er hatte beschlossen, nach den anderen zu suchen. Weit gekommen war er allerdings nicht. Wahrscheinlich hatte er sich in der Hoffnung unter dem Busch wenigstens vor dem gröbsten Wind geschützt zu sein in die Blätterhöhle verzogen und war dort eingeschlafen, wie es von ihm zu erwarten war. Ein glücklicher Zufall, dass Kouen ihn gerettet hatte. So ging der frostige Wintertag im kaiserlichen Palast deutlich deprimierter zu Ende, als erwartet. Hakuren, der große Erwartungen auf das Beisammensein mit seinem kleinen Cousin gesetzt hatte, war bitter enttäuscht und erschreckt worden. Zwar hatte mit dem Besuch bei den Tauben alles schön und gut begonnen (zumindest für Koumei), doch bereits das Mittagessen hatte einen unangenehmen Beigeschmack bekommen. Dann dieser nervige Mittagsschlaf und abschließend das verstörende Desaster. Nun gut, wahrscheinlich hatten alle am Versteckspiel Beteiligten einen mehr oder minder großen Schock davon getragen. Immerhin hatte der Abend dann doch noch ein gutes oder zumindest kein katastrophales Ende genommen. Nachdem sie gemeinsam ein leichtes Abendmahl eingenommen hatten, torkelten die Kinder hundemüde zu ihren Betten. Dabei legte sich Hakuren bereits einen Plan zurecht, mit welchem er seine Verfehlungen wieder gut machen könnte: Zuerst würde er morgenfrüh nach Koumei sehen und sich bei ihm entschuldigen, bevor er sich wieder mit Kouen gutstellen würde. Genau. Das sollte er wirklich tun. Es wäre doch unendlich schade, wenn seine Cousins nur wegen diesem unglücklichen Vorfall nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. *-*. Kapitel 10: Verblichenes Weiß ----------------------------- *-*. In der letzten Nacht seines Lebens sollte Hakuren Ren merken, wie klein und unbedeutend ein paar Menschenleben im Vergleich zu einem halb verblichenen Geist waren und dass selbst ein hochwohlgeborener Kaiser auf dem himmlischen Thron sich nicht von den bedauernswerten Bettlern im Straßenstaub der Hauptstadt unterschied. Der Tod schlug keinen Bogen um diejenigen, die in der Welt das höchste Ansehen oder die größte Macht besaßen. Nein, letztendlich waren sie im Angesicht ihres Endes alle gleich. Vor dieser verhängnisvollen, rauchgeschwängerten Herbstnacht hätte sich der zweite Prinz niemals träumen lassen, dass es so leicht sein könnte, die wichtigste Familie des Reiches zu zerschlagen. Erst als Angst und Schwäche ihn schleichend, aber doch unaufhaltsam übermannten, sah er den lästerlichen Verdacht gegen seine eigene Mutter auf schreckliche Weise bestätigt. Sobald vor seinen gebrochenen Augen nur noch die brüllenden Flammen tanzten, ahnte auch der Rest der Welt, dass in Kou bald eine neue Ära voll verborgener Schrecken beginnen sollte... ~ Der Herbst erreichte das Kou Reich nicht mit der gewohnten Kälte und den wilden Winden, die fauchend über das weite Land fegten. Nein, zwischen Sommerende und Herbsteinbruch bemerkte niemand einen sonderlich großen Unterschied, ob Bettler, Bauer, Adliger oder Kaiser. Birnen und Äpfel reiften an den Bäumen und erfüllten die Luft mit dem süßlichen Duft von vergorenem Obstsaft. Zahlreiche Insekten kosteten die kaum abklingende Tageshitze gierig aus, lästige Wespen taumelten betrunken von ihrem süßen Mahl durch die Lüfte. Kaum eine Baumkrone verfärbte sich zu Herbstbeginn. Einzig die Nächte wurden langsam frischer und die noch sehr träge fallenden Blätter nahmen die laue Wärme der vorhergegangenen Jahreszeit behutsam mit sich. Die Menschen freuten sich über die letzten Sonnenstrahlen, das milde Wetter und die reiche Ernte. Kurzum: Dem Land ging es bestens. Einzig Prinz Hakuren blieb der Gang in die freie Natur größtenteils verwehrt. Noch immer litt er unter dem auferlegten Hausarrest, welchen seine Mutter ihm nach dem unerlaubten Ausriss ins Hause seines Onkels erteilt hatte, und fühlte sich wie ein Gefangener in seinen eigenen Gemächern. Anfangs hatte er freiwillig einen Tag zwischen Decken und weichen Kissen verbracht, denn kaum war er in den kaiserlichen Palast zurückgekehrt, war es ihm nicht sonderlich gut gegangen. Diese schwache Sommergrippe steckte jedoch noch immer in seinen Gliedern und verstärkte sein Unwohlsein zusätzlich. Das Halskratzen konnte mehr als unangenehm sein. Nicht, dass er ermattet das Bett hüten musste, im Großen und Ganzen hatte sein Körper sich erholt. Nur ab und an ereilte ihn eine merkwürdige Schwäche, nichts im Vergleich zu dem Krankheitsverlauf seines geliebten Koumei, doch eben diese ärgerliche Erinnerung ermahnte ihn, dass der Gesundheitszustand seines Cousins kritisch genug war, um vielleicht lebensbedrohlich zu sein. Kouen hatte ihn Mal um Mal beruhigt, als er den kaiserlichen Palast besucht hatte und sie sich für eine kurze Zeit unterhalten hatten, doch Hakuren ahnte, wie es wirklich um Koumei stand: Schlecht. Genauso schlecht fühlte er sich selbst, wenn er hier in diesen weiten Räumen zur Untätigkeit verdammt war. Beinahe zwei Wochen vegetierte er bereits vor sich hin, sein Zeitgefühl verschwamm. Gesellschaft leistete ihm kaum jemand, seine Mutter Gyokuen hatte angeordnet, dass er für seinen Ungehorsam und die Befehlsverweigerung bestraft werden sollte. Verglichen mit seinem unwesentlichen Vergehen eine harte Maßnahme. Für den aktiven, kommunikationsfreudigen Prinzen stellte die Isolation eine regelrechte Folter dar. Lediglich abends durfte er ab und an gemeinsam mit der Familie speisen. In seltenen Fällen besuchten ihn sein kaiserlicher Vater, der wohl auch keinen Grund sah, seinen Sohn festzusetzen, sich aber nicht gegen seine Gattin stellte, oder sein Bruder Hakuyuu. Hakuei und Hakuryuu durften in letzter Zeit gar nicht mehr mit ihm in Kontakt treten. Aus welchem nichtigen Grund auch immer. Es war zum Verzweifeln. Zusätzlich lastete die drohende, stetig herannahende Heirat auf seinen Schultern. Dienerinnen wirbelten überall im Palast umher, um ihn für das bevorstehende Fest herauszuputzen und alles Notwendige herzurichten. Ab und an hatten sie bei Hakuren vorbeigeschaut und seine Einsamkeit für kurze Momente durchbrochen. Schneider, Köche, Handwerker und allerlei andere Leute hatten um seine Meinung gebeten, die völlig untypischer Weise aus einem desinteressierten, manchmal gereizten Brummen bestanden hatte. Er hatte gemerkt, wie sehr die Leute von seinen abweisenden Reaktionen irritiert waren. Man hatte ihm die Hochzeitsgewänder auf den Leib geschneidert, die Zeremonie militärisch durchgeplant und ihn über sämtliche seiner Pflichten als Ehemann aufgeklärt, obwohl er diese längst kannte. Die Heirat rückte unausweichlich näher und näher. Bald würde seine zukünftige Ehefrau in Kou eintreffen und er würde sich wohlmöglich mit der Dienerschaft der jungen Prinzessin bekannt machen müssen. Dabei war der einzige Mensch, den er wirklich begehrte der zweite Sohn seines Onkels. Zum Glück würde ihm der Anblick seiner baldigen Frau bis zur Heirat erspart bleiben. Welch ein nützlicher Brauch. Er hätte keinen Nerv für ein Treffen mit einem Menschen, gegen den er aus völlig unrechten Gründen Abneigung und Desinteresse empfand. Sein Geist weilte momentan bei einer wichtigeren Person. Sobald er an den kranken Koumei dachte, überkam ihn die gewohnte Welle von Schuldgefühlen. Er hätte ihn in der Nacht nach seinem Geburtstag nicht einfach verlassen dürfen, nur weil ihm keine andere Wahl geblieben war. Und schon gar nicht hätte er ihn zum Beischlaf überreden sollen, nicht an diesem letzten Tag ihres engen Miteinanders. Er hätte sich denken können, dass seine Idee jämmerlich war und ebenso enden würde. Weshalb hatte er nur derart überstürzt handeln müssen? Koumei hätte so viel mehr Zeit gebraucht, um sich alleine an seine ständige Nähe zu gewöhnen. Er war empfindsam und schüchtern, liebte nichts mehr als die Ruhe, wohingegen der Prinz nie genug Aufregung bekommen konnte. Hakuren hatte etwas getan, was ihr langsam inniger werdendes Verhältnis mit Sicherheit empfindlich gestört hatte. Der arme Koumei. Was mochte der junge Mann nun von ihm denken? Noch immer hatte der Prinz keinerlei Antwort auf seine zahlreichen Nachrichten bekommen. War sein Cousin etwa bereits zu schwach, um ihm eine Brieftaube zu schicken? Hakuren hatte ihm so viele Tauben zufliegen lassen, dass doch wenigstens eine einzige Antwort auf seine verzweifelten Nachrichten angemessen gewesen wäre. Vermutlich hatte der Prinz die armen Vögel so sehr gequält, dass mindestens einer vor Überanstrengung tot vom Himmel gefallen war. Doch all seine Mühen waren erfolglos geblieben. Vielleicht lag es an ihrer abrupten Trennung oder Hakurens unbeabsichtigter Grobheit, weil er sich mehr auf seine impulsiven Gefühle als auf die angemessene Vorsicht verlassen hatte. Welch ein rücksichtsloser Idiot er doch war. Jeden Tag grübelte er über seinen besten Freund und Liebsten nach. Nie kam er zu einem befriedigenden Ergebnis. So lag er auch an diesem Abend lange wach im Bett und beobachtete durch das Fenster die Bäume, deren herbstliche Färbung zum Teil sehr auf sich warten ließ. Seufzend fuhr er sich durch sein schwarzes Haar, welches von der ungewöhnlichen Wärme verschwitzt war. Die langen Strähnen an seinem Hinterkopf, die er tagsüber immer in einem hohen Knoten trug, kitzelten störend Hals und Schultern. Er wollte nur noch weg von hier. Weg aus diesem Gefängnis und weg von der Hochzeit mit einer machtlosen Prinzessin. Er wollte zu Koumei. Er liebte ihn immer noch so sehr, dass es wehtat. Er brauchte ihn so dringend. Tränen stiegen ihm in die Augen. Schon tagelang hatte ihn niemand mehr lächeln gesehen. Hakuren war fühlte sich vollkommen machtlos: Auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht ewig festhalten würden, beruhigte ihn diese Gewissheit nicht. Denn dann konnte es längst zu spät sein. Er sorgte sich so sehr um Koumeis Leben, spürte regelrecht, wie übel es ihm gehen musste. Was, wenn er in diesem Moment seinen letzten Atemzug tat, während er selbst hier, am Boden zerstört aber lebendig, im Bett ruhte? Der Jüngere hatte nie eine gute Gesundheit besessen und der Anblick seiner kleinen, mageren Gestalt schmerzte Hakuren viel zu oft. Wenn Koumei ernstlich erkrankte, gab es nichts an seinem Körper, das dieser Krankheit Widerstand leisten konnte. Ja, Hakuren ahnte Böses. Unglücklich ließ er den tiefen Schluchzern freien Lauf. Er hatte so lange nicht mehr geweint, ehe diese verfluchte Nacht ihn in eine Regenwolke verwandelt zu haben schien. Die salzigen Tropfen durchnässten sein Kissen und das Bettlaken, brannten auf seinem Gesicht und hielten ihm wieder und wieder seine aussichtslose Lage vor Augen. Wohlmöglich würde er seinen Geliebten nie mehr wieder sehen. Ein unerträglicher Gedanke. Das darf nicht geschehen. Ich bin an allem Schuld. Was soll denn aus mir werden, wenn er stirbt und das letzte, was ich von ihm gehört habe war ein gebrochenes Klagen?, dachte er niedergeschmettert, ehe der Schlaf ihn endlich in die Finger bekam. ~ Wie so oft in letzter Zeit träumte er von Koumei. Es waren immer die gleichen Traumbilder, mehr verwaschene Erinnerungen, als Gespinste seiner sehnsüchtigen Fantasie: Er erblickte seinen Kindheitsfreund, der hinter Kouens Rücken hervorlugte und wie der größte Schauspieler im Reich dann in seinen Armen zusammengebrochen war. Hakuren sah, wie der Kleine sich schläfrig an ihn klammerte, ihn noch unzählige Male an der Nase herumführte, sich von ihm bedienen ließ und so herzhaft mit ihm lachte, wie er es mit anderen nur selten getan hatte. Er sehnte sich unvorstellbar nach diesem Lachen. Viel zu lange hatte er es nicht mehr gehört. Nach einer Weile wuchsen sie heran, spielten Verstecken und Schach, lasen und aßen gemeinsam. Koumei würgte an einer Trockenpflaume, die Hakuren ihm aufgezwungen hatte, und der Prinz konnte nicht anders, als im Schlaf zu lächeln. Er wusste genau, wann das alles passiert war. Er ließ herrliche Ausritte über sich hinweg rieseln, gemeinsame Taubenfütterungen, Spiele mit ihren Geschwistern und Familienfeste. Hakuren genoss jeden Augenblick dieser lange vergangenen Erinnerungen, als er Koumei noch hatte umarmen können, ohne sich etwas tiefgreifenderes dabei zu denken. Der Prinz schaute dem anderen lange hinterher und lauschte andächtig den behaglichen Geräuschen aus der Vergangenheit. Dann änderten sich die Bilder, wurden sinnlicher und plötzlich waren sie beide erwachsen. Da war der Tag, an dem sie beide einen Ausritt in den Wald gemacht hatten. Koumei wäre beim Anblick der zahlreichen Blutegel, welche nach einem Bad in einem winzigen Waldsee an ihnen geklebt hatten, beinahe in Ohnmacht gefallen. Eine erheiternde, wenn auch komplizierte Erinnerung: Hakuren starrte seinen Cousin kaum verholen an, als dieser sich unsicher entkleidete und zu ihm in den schlammigen Tümpel stieg. Doch dann zog dieser Moment fort: Sie standen unter einem tiefroten Ahornbaum und das Gesicht des Rothaarigen nahm eine ebensolche Farbe an, kurz bevor ihre Lippen sich das erste Mal trafen. Koumei, der ihn sanft in den Mundwinkel küsste, sich wohlig an ihn schmiegte, ihn auf sich hinab zog, sodass er beinahe erdrückt wurde, obwohl er behauptete Hakuren wäre nicht schwer, sondern angenehm warm. Koumei, der ihn trotz aller Nähe seltsam schüchtern betrachtete, als wäre er sich nicht sicher, ob er nicht doch lieber alleine in seinen Gemächern lesen würde. Sogleich änderte sich die entspannte Stimmung, schlug in etwas Erregtes, Unbehagliches um: Der angenehme Traum verwandelte sich in einem Albtraum, als der Rothaarige vollkommen zerschlagen und reglos vor Hakuren am Boden lag und Blut aus zahlreichen Platzwunden an seinem Körper rann. Mehr Hirngespinst als Wahrheit, aber nicht völlig weithergeholt. Meine Schuld. Er musste noch einmal mit ansehen, wie sich Koumei zitternd an seinen bloßen Schultern festkrallte und ängstlich wimmerte. Dann der Schrei und das haltlose Schluchzen, welches dem Prinzen Mal um Mal das Herz brach. Alles meine Schuld. Bald darauf das entsetzlichste: Sein Geist spielte ihm Streiche, gaukelte ihm Krankheit vor, Tod. Er wusste während er schlief, dass dies nicht länger wirklich war. Dennoch erfüllte es ihn immer noch mit machtlosem Entsetzen. Beim ersten Traum dieser Art, war er weinend erwacht, doch nun warf er sich lediglich von einer Seite auf die andere, als die schrecklichen Bilder über ihn hereinbrachen: Sein Cousin bebend und fiebernd im Bett, um Atem ringend. Nur ein Schatten seiner selbst, zerbrechlich und durchscheinend wie ein Geist. Daraufhin folgte immer der letzte Atemzug, viel zu leise und friedlich, um Hakurens Panik zu mildern. Endloses Grauen stieg in ihm auf, als er machtlos auf die blicklosen Augen und kalkweiße Haut herab schaute, ein viel zu brutaler Kontrast zu dem dunkelroten Haar. Die Hoffnungslosigkeit wurde zu alles verschlingender Trauer, sobald rote Flammen um den Körper seines Liebsten herum züngelten, an den zotteligen Haaren leckten wie Raubtiere und ihn schließlich fauchend mitsamt den schwächlichen Weihrauchschwaden verschlangen. Diese unglaubliche Hitze… ~ Als er plötzlich erwachte, konnte er den Grund dafür nicht benennen. Irgendwann in dieser unheilbringenden Nacht schnellte er aus dem Schlaf hoch, blickte sich wild um, bis seine Sinne ihm die gewünschte Orientierung verschafften. Irgendetwas machte ihn hellwach und aus einem undefinierbaren Grund fluchtbereit. Der Alptraum verschwand vollends aus einem Unterbewusstsein. Schneller als je zuvor. Ein seltsames Glühen war das erste, was er wahrnahm. Verwirrt blinzelte er in das rötliche Zwielicht, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Dann bemerkte er, dass er seine gewöhnliche Kleidung trug und den Schweiß auf jedem Fleck seiner Haut. Merkwürdig, kurz vor dem Einschlafen war es beinahe kühl gewesen für diesen Herbstbeginn. Erstaunt rieb er sich über das Gesicht. Danach erst registrierte er die überwältigende Wärme, als hätte jemand hunderte Kohlepfannen in seinem Zimmer entfacht. Im angenehm milden Herbst? Nein, das konnte selbst in diesem merkwürdigen Jahr nicht sein. Und doch war dem so: Die Wärme wurde jäh zu unfassbarer Hitze. Hakuren keuchte erschrocken und schleuderte die zusammengeknüllte Bettdecke beiseite. Er kam sich vor, wie in seinem Traum, eine Vision von Flammen, fliegenden Funken und Asche. Das mulmige Gefühl, welches plötzlich in ihm aufstieg, hieß ihn, hektisch aufzuspringen. Ein unterschwelliger Hauch von Gefahr schwebte wie eine böse Vorahnung in diesem Raum. Entferntes Rumpeln und Krachen ließ ihn zusammenzucken. Der Atem des Prinzen stockte und für einen verstörenden Moment taumelte er unsicher. Dabei gab es nichts, was ihm ferner lag, als Schwäche zu zeigen. Ein beunruhigender Geruch hing drückend in der dicken Luft. Sofort stieg wieder das Kratzen in seinen Hals, welches einfach nicht verschwinden wollte. Er konnte nur mühsam atmen und der Hustenreiz erklärte ihm, warum er sich derart bedroht fühlte: Endlich erkannte er den beißenden Gestank nach Rauch. Er spürte ihn in den Atemwegen, die noch nicht vollkommen ausgestandene Krankheit hatte ihm eine anstrengende Kurzatmigkeit beschert. Der Schwarzhaarige schluckte mühsam. All die Zeichen… brannte der Palast? Wenn das stimmte… warum hatten die Wächter vor seinen Gemächern ihn nicht geweckt? Hakuren fühlte die aufsteigende Unsicherheit, der erste Schritt zur allesverschlingenden Furcht. Er musste nach draußen, seine Brüder, Vater und Mutter warnen, sonst würde etwas Schreckliches geschehen! Ohne noch länger zu zögern oder gar einen Blick zurückzuwerfen, stürmte er zur Tür. Kaum hatte er ihre Flügel aufgestoßen, brach eine vernichtende Hitzewelle über ihn herein. Zu Tode erschrocken wich er zurück. Der Flur glich einem einzigen Inferno, er sah nur noch rot. Viel zu lange stand er stocksteif im Ausgang und starrte hilflos auf die grauenvolle Szene. Züngelnde Flammen leckten gierig an den wertvollen Teppichen, fraßen sich durch das Holz und verzehrten die verzierten Balken an der Decke. Schwerer Qualm vernebelte ihm die Sicht. Für gewöhnlich wäre er mutig losgeschnellt, um die anderen zu alarmieren, doch es schien, als hätten Krankheit und die düsteren Gedanken ihm seine Zuversicht ausgesogen. Er fühlte sich ungewöhnlich schwach und dieser Umstand verunsicherte den sonst vor Kraft strotzenden Prinzen. Entgeistert beobachtete er, wie das Feuer einen Teil der geschwärzten Deckenbalken soweit verschlang, bis einer von ihnen tosend von der Decke fiel. Heiße Glut stob auf und fachte eine weitere Ecke des roten Teppichs an. Das konnte nicht wirklich passieren! Unmöglich! Weshalb brannte der kaiserliche Palast und niemand hatte Alarm geschlagen? Die Wachen waren fort, keine Menschenseele befand sich in der Nähe! Zaudernd betrachtete er das grauenhafte Bild. Das durfte nicht wahr sein! Er musste träumen! Aber natürlich wusste er es besser. Die Hitze wurde immer schlimmer, aggressiver und er glaubte bereits, versengtes Haar zu riechen. Hustend wich er zurück in seine Gemächer, doch plötzlich stürzte unter betäubendem Lärm die rechte Wand ein und ein Schwall aus Flammen und Glut strömte unaufhaltsam in den Raum. Eine lodernde Schlange, die sich fauchend durch das Zimmer wand, ihm damit jeglichen Fluchtweg versperrte. Hakuren erstarrte angstvoll. Dann kam Leben in ihn. Keuchend sprang er einem weiteren knirschenden Deckenbalken aus dem Weg, ehe er auf den glühenden Flur jagte. Wohin? Überall schossen die Feuerzungen hervor, wie bei einem mörderischen Rudel Raubtiere, sprangen in der sengenden Hitze einfach über. Röchelnd wich er einem Trümmerstück aus und suchte hektisch nach einem Fluchtweg. Er fand keinen. Panik kochte in ihm hoch. Der unbelebte Brand stellte eine völlig andere Bedrohung dar, als er sie vom Schlachtfeld her kannte. Gegen angreifende Krieger konnte er sich mit Schwert und Langbogen, wenn nötig auch mit bloßer Körperkraft verteidigen, doch gegen ein natürliches Phänomenen, welches keinerlei Mitgefühl oder Angst kannte, nutzen ihm seine kriegerischen Fähigkeiten nichts. Verzweifelt riss er den Kopf herum, erblickte nur loderndes Rot. Würde er hier sterben, weil man ihn hier vergessen hatte? Wo waren Yuu, Ryuu, Hakuei, Mutter und Vater? Befanden sie sich in ähnlicher Bedrängnis, aus der es keinen Ausweg gab? Er hoffte so sehr, dass ihnen nicht dasselbe widerfuhr wie ihm. Da stoben auf einmal die hohen Flammenwände auseinander. Eine verschwommene Gestalt stürzte zwischen ihnen hervor und packte ihn fest am Arm. „Yuu?“, krächzte der zweite Prinz, dann wurde er von seinem Bruder durch den Feuersturm hindurchgezogen. Hakuren schrie. Es brannte wie die Hölle selbst. Doch so unbarmherzig und schlagartig wie der Schmerz gekommen war, verschwand er auch wieder und sie waren nicht länger eingeschlossen. „Lauf!“, brüllte Hakuyuu heftig. Doch Hakuren konnte nicht. Er verstand nicht. Weshalb glich ihr zu Hause plötzlich einem prasselnden Scheiterhaufen? „Renn endlich!“, schrie sein Bruder ihn an, riss sein Schwert aus der Scheide und stieß ihn grob in den Rücken, sodass der Jüngere nach vorne taumelte, dann hetzte er alleine voran. Hakuren spürte die Flammen, die sich nach ihm ausstreckten. Rot, leuchtend und glühend. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen starren Körper und er begriff, dass er tatsächlich rannte. Auf einmal befand er sich neben Hakuyuu und stürmte mit ihm gemeinsam fort von dem Flammenmeer. Seine Lunge drohte bei jedem Schritt zu kollabieren. Endlich blieb der Ältere stehen und Hakuren hätte sich am liebsten auf den Boden geworfen. Der Rauch von dem entfernten Lodern brannte in seiner angeschlagenen Lunge und der Schock machte ihn noch schwächer, als er es durch die Krankheit ohnehin schon war. Seine Brust hob und senkte sich ruckartig wie bei einem klapprigen Greis. Die unbarmherzige Hitze trug dazu bei, dass er schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen sah. Bei Salomons Bart, wenn wir hier endlich draußen sind, werde ich mich zu Mei schleichen und mich bei ihm ausheulen, koste es, was es wolle!, dachte er röchelnd. „Ren?“, fragte Hakuyuu besorgt, wobei seine eigene Erschöpfung und Panik offensichtlich wurden. Seine Haut war rußgeschwärzt, doch er wollte offenkundig weiter. Hakuren begriff, dass sein Bruder nur seinetwegen diese Pause eingelegt hatte. „Geht… schon!“, keuchte er, obwohl es eine glatte Lüge war. Eigentlich sollte die Schwäche nach zwei Wochen nicht mehr von ihm Besitz ergreifen, aber bei dieser Anspannung und Anstrengung trat sie deutlicher hervor denn je. „Wo ist Vater?“, brachte er schließlich heraus. Der Ältere schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er bereits im Freien oder noch hier, wir sollten ihn suchen und dann nichts wie raus hier!“ Hakuren nickte zustimmend, in dieser Hölle hielt er es keinen Augenblick länger aus. Plötzlich weiteten sich die Augen seines Bruders erschrocken. Im nächsten Moment lag Hakuren am Boden und Hakuyuu sprang mit entblößtem Schwert über ihn hinweg. Ein lautes Klirren ertönte. Erschrocken wälzte sich der zweite Prinz fort von dem kreischenden Geräusch. Schweratmend kam er wieder auf die Beine. Sein Bruder kämpfte gegen einen Mann in weißen Gewändern und hatte grade den Hieb abgewehrt, der Hakuren mit Sicherheit den Kopf von den Schultern getrennt hätte. Die vermummte Gestalt mit der Dornenkrone um den Kopf musste ein Priester aus der Gefolgschaft seiner Mutter sein. Warum? Wie gelähmt beobachtete Hakuren den Kampf. Beide Gestalten bewegten sich geschickt, doch niemand war einem Hakuyuu gewachsen, der jemanden verteidigte, der ihm lieb und teuer war. Sein Schwert fuhr durch die Schulter des Mannes, schlitzte den fremden Oberkörper der Länge nach auf. Doch anstatt als blutender Körper zu stürzen, schepperte es, als eine kleine Puppengestalt auf die Kacheln prallte. Die Figur rollte klackernd gegen die Wand. Entsetzt riss Hakuren die Augen auf. „Hier, nimm!“, befahl Hakuyuu und drückte ihm das mächtige, gebogene Schwert in die Hand, welches der jüngere Bruder stets führte. Seit seiner Heimkehr hatte er es nicht mehr gesehen. Man hatte es ihm abgenommen. Was war es nur für ein schönes, sicheres Gefühl, die vertraute Waffe wieder in der Hand zu halten! Doch die zaghafte Freude wurde sogleich von der Erkenntnis ausgelöscht, sich noch immer in Gefahr zu befinden. Außerdem… dieser Priester… was bei allen Rukh hatte ihn dazu getrieben, sie zu attackieren? Unsicher warf er einen Blick zu Hakuyuu. „Was ist los Yuu? Warum greifen uns diese Priester an?“, fragte er vollkommen verwirrt. Der andere schüttelte kummervoll den Kopf. Kalte Wut schillerte in seinen blauen Augen. Und da war noch etwas: Verzweifelte Angst. „Es ist wie wir befürchtet haben! Mutter hat sich gegen uns verschworen! Das ist eine Intrige und ein Putsch am Kaiser!“, knurrte er beängstigend leise, halb erstickt durch das Knistern und Knacken der Flammen. "Nein! Das kann nicht sein!“, flüsterte Hakuren. Der Schock saß zu tief in seinen Adern. Sie hatten es die ganze Zeit geahnt, doch die Erkenntnis, dass die eigene Mutter sich wirklich gegen sie und vor allem den Kaiser verschworen hatte traf ihn unvorstellbar schmerzhaft. Der schon lange schwärende Verdacht nahm nichts von der Heftigkeit des Schmerzes der Klarheit. Die Gewissheit, dass die eigene Mutter, die liebevolle, edle Gyokuen so etwas Hinterhältiges wahrscheinlich bereits von langer Hand geplant hatte, erfüllte ihn mit hilflosem Entsetzen. Wie gelähmt stand er da, sein Schwert nutzlos in der Hand, bis ihn jemand heftig an der Schulter rüttelte. Der erste Prinz kniff entschlossen die Augen zusammen. „Komm! Wir müssen raus hier und Vater warnen!“, beschloss er. Das erste Mal in seinem Leben war Hakuren unsagbar erleichtert, dass der Ältere einen Plan und das Sagen hatte. Bereitwillig überließ er die Führung seinem großen Bruder, den er immer um diesen Anspruch beneidet hatte. Nun allerdings war er froh, dass es jemanden gab, auf den er sich in diesem blinden Chaos verlassen konnte. Wie falsch er immer gelegen hatte! Welch vermessene Gedanken er gehegt hatte! Er war noch so jung und dumm! Viel zu erregbar, naiv und gutgläubig. Yuu eignete sich als einziger für das Erbe ihres Vaters. Egal was Hakuren anstellte, er würde immer nur zweitklassig sein. Als Unterstützer und Kämpfer großartig, aber niemand, der die Führung übernehmen konnte, ganz gleich wie sehr er sich dies wünschte. Diese Erkenntnis erfüllte ihn wider Erwarten nicht mit Verbitterung, sondern mit purer Erleichterung. Er würde Hakuyuu folgen und so würden sie diese Nacht überstehen. Nie wieder, das schwor er sich, würde er Yuus Position in Frage stellen. „Träum nicht herum! Wir müssen laufen, Vater finden und uns irgendwie durch die Reihen der Priesterschaft hindurchkämpfen“, herrschte sein Bruder ihn an, klang so entschlossen und hart wie auf dem Schlachtfeld, wo er als Held gefeiert wurde. Hakuren warf einen Blick nach hinten, sah die Feuerzungen in ihrem Rücken, die sie beinahe eingeholt hatten, nun aber auch neben ihnen aus den Wänden schlugen. Eile war geboten. Er nickte schicksalsergeben. Dieses Mal gehorchte er dem Älteren blind. Sie stürmten durch die langen Gänge Richtung Eingangshalle, die Flammen schlugen aus den Zimmern, die sie nur mit einem hektischen Blick nach dem Kaiser absuchen konnten, loderten auf dem Boden, entfachten die Teppiche. Schweiß durchnässte ihre Gewänder und verdampfte sogleich auf ihrer Haut. Das Feuer griff mit unstillbarer Gier nach ihnen, doch Hakuyuu zog ihn einfach mit sich hindurch, sodass Hakuren die Flammen kaum stärker fühlte als die sengende Hitze, die ohnehin schon die Luft schwängerte. Wie Drachenatem. Plötzlich brüllte er erschrocken auf und zerrte an der Hand seines Bruders. „Was ist mit Ryuu?!“, schrie er angsterfüllt und blieb wie angewurzelt stehen. Alarmiert erstarrte Hakuyuu. Seine Augen flackerten voller Schuldgefühlen und Furcht. Offenbar hatte er in aller Aufregung bei der Suche nach ihrem Vater den jüngsten Bruder vergessen! „Komm, wir müssen zurück!“, gebot er und Hakuren blieb nichts anders übrig, als ihm wieder in den Flammenstrudel zu folgen. Die Brüder schossen durch den lodernden Korridor, da ertönte ein schmerzerfülltes Kreischen. In all dem Durcheinander verriet es ihnen, wo sie suchen mussten. Voller Sorge wollte Hakuren die Tür zu den Gemächern seines geliebten kleinen Bruders eintreten, doch Hakuyuu packte ihn und schleuderte ihn zurück. „Pass du auf und warte hier, ich hole ihn! Lass niemanden in unsere Nähe kommen, wenn er dir boshaft erscheint, greif sofort an!“, bestimmte er. „N-Nein, Yuu!“, rief der Jüngere noch, doch es war bereits zu spät. „Verdammt, Hakuyuu!“ Der erste Prinz warf sich mit aller Kraft, die ihm blieb, gegen die schwere Flügeltür und tatsächlich brach sie nach innen auf. Schwitzend und bebend vor Anstrengung hielt Hakuren Wache. Die Hitze wurde unerträglich. Flammen loderten überall um sie herum, kamen näher und näher. Was sollte er tun? Lange konnte er hier nicht mehr ausharren, aber Yuu und Ryuu alleine lassen? Das kam noch weniger in Frage. Doch da ertönte ein Poltern, lauter als das Krachen und Knacken der Flammen. Seine Brüder stürzten hustend und rußbedeckt aus dem Zimmer, in dem das Feuer bereits wie eine Bestie gewütet hatte. Hakuryuus Augen waren weit aufgerissen vor Schock, doch darum mussten sie sich später kümmern. Erleichtert sog Hakuren die Luft ein, doch da war nur beißender Rauch, der ihn übel würgen ließ. Trotz der Krämpfe in seiner Brust rannte er voraus, mit Hakuyuu, der den kleinen Hakuryuu auf dem Arm hielt, im Schlepptau. Stürmte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dieses Mal war es noch gefährlicher. Die Hitze unbarmherzig, die herabstürzenden Trümmer tödlich. Es gab keine Luft zum Atmen, nur Ascheflocken und Qualm, der die Augen sturzbachartig tränen ließ. Außer dem Tosen des Brandes hörte man nur Hakuryuus hysterische Schreie, schrill und hoch vor Todesangst. Hakuren sprang über einen verkohlten Balken, duckte sich unter aufstiebender Glut weg und plötzlich wurde die Luft wieder klarer, sie eilten durch einen großen Saal, der von den Flammen noch weitgehend verschont geblieben war und in den nächsten Gang hinein. Der Flur teilte sich. „Wohin, Hakuyuu?“, krächzte er, bekam als Antwort lediglich den kleinen Bruder in die Arme gedrückt. „Folge mir!“, rief der Ältere und bog in Richtung der Kaisergemächer ab. Doch weit sollten sie nicht kommen. Eine mächtige Hitzewelle schlug ihnen entgegen. Allerdings konnte sie dieses Hindernis schon lange nicht mehr abschrecken. Ihre Haut schälte sich bereits unter den unbarmherzigen Temperaturen, aber irgendetwas in Hakuren hatte sich bereits an dieses Lodern gewöhnt. Mit den plötzlich zurückgekehrten Flammen kam etwas viel schlimmeres: Die rußige Luft. Röchelnd vor Atemnot torkelte Hakuren seinem älteren Bruder hinterher, während sich Hakuryuu wimmernd an seinen Hals klammerte. Er versuchte vollkommen vergeblich, den Atem anzuhalten, doch so konnte er nicht laufen. Krampfhaft sog er die flirrende Luft ein. Die Schmerzen pochten unerträglich in seinem Leib, seine Lunge wollte schier bersten, so sehr war sie bereits mit Rauch angefüllt. Ohnehin hatte sich Hakuren aufgrund der verschleppten Krankheit schon lange nicht mehr richtig agil und stark gefühlt, nun machte sich seine Schwäche noch vehementer als zuvor bemerkbar: Seine Belastbarkeit war verschwunden, ein paar hastige Schritte laugten ihn vollkommen aus, sodass er immer weiter hinter Hakuyuu zurückblieb. Das Gewicht des kleinen Hakuryuu behinderte seinen aufgebenden Körper zusätzlich, dabei musste er doch bei dem ersten Prinzen bleiben und ihm beistehen! Sie durften sich nicht verlieren, ansonsten würden sie in dieser Flammenhölle elendig zu Grunde gehen! Hustend spie er den schmutzigen Schleim aus, der sich wie von Zauberhand immer wieder in seinem Rachen ansammelte. Hakuyuu verschwand hinter der nächsten Biegung. „Yuu, warte!“, hauchte er, viel zu leise, nur um einen erneuten Hustenanfall zu erleiden. Sein heftiges Würgen verstärkte Hakuryuus Angst. „Ich will hier weg! Ich will zu Mutter!“, heulte der Junge, schnappte nach frischer Luft, und krallte sich derart panisch in Hakurens Gewand, dass dieser die kleinen Nägel bis auf die Haut spüren konnte. Dieser ironische Wunsch hätte ihm die Tränen in die Augen getrieben, wären sie dank dem beißenden Qualm nicht ohnehin dauergereizt. Nur mit Mühe konnte er ein hysterisches Auflachen unterdrücken. Nein, er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren, seine Brüder brauchten ihn, er musste stark bleiben! „Beruhige dich mein kleiner Drache“, krächzte er, „keine Sorge, ich bringe dich hier raus, in Sicherheit.“ Mühsam kämpfte er sich voran, doch plötzlich ließ ihn ein ohrenbetäubender Schrei zusammenfahren. Um die Ecke, auf die er sich grade noch hinzugeschleppt hatte, schoss sein Bruder, nun auch mit unbeschreiblicher Furcht in den Augen. Sobald er diesen Blick an Hakuyuu sah, der immer auf alles eine Lösung wusste und stets besonnen blieb, wusste er, dass ihre Chancen, diese Nacht lebendig zu überstehen mit jedem Herzschlag schrumpften. Nein, sie waren bereits auf Erbsengröße zusammengeschrumpft. „Renn!“, brüllte Hakuyuu und riss ihn so hart mit sich, dass er beinahe Hakuryuu fallengelassen hätte. Keinen Moment zu früh. Eine gewaltige Feuerwalze drängte aus dem Gang hervor, schwappte um die Ecke und lechzte nach den Waden der flüchtenden Kaisersöhne, die um ihr Leben rannten. Hakuren wich nicht von Yuus Seite. Vergessen war die Schwäche, die Krankheit, in diesem Moment gab es nur das Adrenalin, welches von nackter Todesangst durch ihre Adern getrieben wurde. Flammenzungen leckten an seinem Haar, versengten seinen Körper und die seiner Brüder, trieben die Seidenfasern seiner Kleidung dazu, mit seiner Haut zu verschmelzen. Doch in diesem Augenblick bemerkte er den Schmerz nicht mehr. „Zurück in den Saal!“, befahl Hakuyuu und er hielt sich an diesem winzigen Ziel fest, mit aller Macht, obwohl seine Lunge ein ersterbendes Pfeifen von sich gab. Und dann warfen sie sich endlich aus dem hinter ihnen einstürzenden Gang, fielen keuchend und ächzend auf die aufgeheizten Bodenfliesen. Hakurens Griff um den Kleinen löste sich in der Wucht des Aufpralls und Hakuryuu weinte kläglich. Doch um ihn zu trösten blieb keine Zeit. „Steht auf, ihr beiden“, drängte Hakuyuu, „wir müssen sofort hier raus!“ „Was ist mit Vater?“, stieß der zweite Prinz hervor, wohlwissend, dass es keinerlei Durchkommen zu den kaiserlichen Gemächern mehr gab. Der Gang existierte nicht länger und sein Vater wohlmöglich auch nicht. Der Schock, welcher ihn eben noch davor bewahrt hatte von den Flammen verschlungen zu werden, ließ nun seine Knie zittern und seine Lunge zusammenschrumpfen, bis er zu ersticken glaubte. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, obwohl er bereits am Boden lag. Sein Herzschlag hämmerte betäubend in seinen Ohren. „Yuu… warte…“, brachte er hervor. Doch der Ältere antwortete nicht. „Bruder Ren, was ist mit dir?“, fiepte Hakuryuu, der bebend zu ihm gekrochen kam, die Augen vor Furcht weitaufgerissen, sodass sie schier aus ihren Höhlen zu springen schienen. „Keine Sorge, Ryu… es geht schon… ich brauch nur eine… kurze Pause.“ Ob das wohl reichen würde? „Yuu…!“, presste er hervor, wollte endlich seine Aufmerksamkeit auf sich und den Jüngeren ziehen, ehe dieser verfluchte Husten ihm den Atem raubte. „Kommt nicht näher! Ich warne euch!“, zerriss mit einem Mal die Stimme des ersten Prinzen das allgegenwärtige Knacken und Knistern des einbrechenden Palastes und der Flammen. Die unerschütterliche Härte in diesen Worten brachte Hakuren in die Wirklichkeit zurück. Hakuryuu drückte sich zitternd an ihn. Durch seinen Tränenschleier hindurch erkannte Hakuren den älteren Bruder, der sich schützend vor sie gestellt hatte. Sein blankes Schwert schillerte im Feuerschein und zuckte zwischen zahllosen Feinden hin und her: Die Priester ihrer Mutter! Wie konnte er sie nur übersehen haben? Es war also nicht bei einem dieser widerwärtigen Speichellecker geblieben, nein, vor ihnen stand eine ganze Horde dieses dreckigen Abschaumes und versperrte ihnen den einzigen Weg ins Freie! Das durfte nicht sein! Sie mussten sich aus dieser Falle herauskämpfen, koste es was es wolle! Hechelnd vor Anstrengung wälzte er sich auf die Seite, stemmte die Hände gegen den viel zu warmen Boden und ignorierte das protestierende Stechen in seiner Brust, als er die verbrannte Luft einsog. Schwankend richtete er sich auf, riss sein Schwert aus dem Gürtel und drängte den vor Schreck erstarrten Hakuryuu zwischen sich und Hakuyuu. „Hier!“, rief der Ältere und zerrte einen winzigen Dolch zwischen seinen Gewändern hervor, welchen er dem unbeweglichen Jungen in die Hand drückte, ehe seine Klinge den ersten ihrer Feinde in der Mitte zerteilte. Sogleich brach ein unbeschreibliches Chaos aus. Aus allen Himmelsrichtungen stürmten die Schergen der Kaiserin heran, hieben mit ihren Stäben, mit Messern, Schwertern und sonstigen Waffen auf die Brüder ein, wandten sich sogar gegen Hakuryuu, den Yuu und er mit aller Macht verteidigten, gleichgültig, ob sie dabei einen tiefen Schnitt riskierten. Ohne den Kleinen würden sie niemals gehen, auch wenn das bedeutete, dass sie selbst den letzten dieser heidnischen Priester zerstückeln mussten. Der Kampf, welcher viel mehr einer blutrünstigen Schlacht entsprach, zog sich in die Länge. Die Kampfkünste ihrer Feinde wirkten nahezu lächerlich, ihre Wirkung entsprang allein deren verstörender Zahl. Ganz gleich wie viele der vermummten Krieger unter den Schwertern der Kaisersöhne fielen und klackernd als Puppen über den Boden rollten, für jeden getöteten Feind schienen mindestens zwei neue auf der Bildfläche zu erscheinen. Irgendwann hoben sich Hakurens Schultern so heftig, dass er seine schwere Waffe nicht mehr grade halten konnte. Ernüchternde Hilflosigkeit erfüllte sein Denken. Sie waren dieser Übermacht hoffnungslos unterlegen. Mittlerweile war das Feuer selbst bis in den riesigen Saal vorgedrungen. Die Trümmer der zerborstenen Holzbalken, welche ebenfalls einige ihrer Feinde erschlagen und unter sich begraben hatten, verrieten, dass auch dieser Teil ihres einst so sicheren zu Hauses bald in sich zusammenfallen würde wie ein verwehter Laubhaufen. Die beiden Älteren tauschten einen grimmigen Blick. Erneut schnitt Hakurens Säbel einen der Priester. Ein Ausfallschritt und ein weiterer fiel in sich zusammen wie ein ungefüllter Reissack. Und noch einer und noch einer. Täuschte er sich, oder dünnten die Reihen ihrer Feinde doch langsam aus? Doch plötzlich ertönte ein spitzes, hohes Winseln. Hakuryuu!, durchfuhr es ihn wie ein vernichtender Blitzeinschlag. Er war nicht mehr hinter ihm! Zwei der Priester hielten seinen Bruder mit ihren widerwärtigen Klauen gepackt, wie ein Stück Beute, um welches sie sich stritten, bis es zerfetzt wäre. Der Prinz sah rot. Mit einem zornerfüllten Brüllen schnellte er herum, warf sich den Feinden entgegen und stieß sie von dem kleinen Jungen weg. Er hatte erwartet, dass seine Klinge durch ihr morsches Fleisch fahren würde, wie bei ihren Vorgängern, umso überraschter war er, als sein Schwert auf einen vorgestreckten Stock traf und unsanft daran abprallte. Wütend schlug er auf die beiden ein, doch gemeinsam gelang es ihnen immer wieder seine von Mal zu Mal schwächeren Hiebe abzuwehren. In ihrem Rücken erblickte er Hakuyuu, welcher offenkundig zur Hilfe eilen wollte, doch anstatt einen Kampfesschrei auszustoßen, brüllte er: „Hinter dir!“ Der entsetzte Ausdruck im blutüberströmten Gesicht seines Bruders brannte sich in seinen Geist, ehe er begriff, dass er herumschnellen, sich verteidigen sollte, nein musste! Doch ein abartiger Laut, den er schon unvorstellbar oft vernommen hatte und ein grausamer Ruck, der durch seinen ganzen Körper ging, verrieten ihm, dass es zu spät war. Nie hätte er vermutet, dass ihn die Kälte der Klinge, die sich in seine Brust bohrte, derartig überwältigen würde. Er fühlte wie das eisige Metall seinen brennenden Körper durchstieß, sich seinen Weg durch endlos dicke Hautschichten bahnte, die doch so verschwindend dünn erschienen, und wieder aus ihm verschwand. Hörte sich um Atem ringen, als das Blut in seine verletzte Lunge strömte, den tierischen Laut, den Hakuyuu von sich gab, ehe er die letzten Priester in blindem Hass ins Jenseits beförderte. Bemerkte kaum, wie er am Boden aufschlug. Doch dann kam der Schmerz. Seltsam eindringlich, verzehrend, während er an seinem eigenen Blut würgte und röchelte. Die Todesqualen nahmen ihn gefangen, vereinnahmten sein ganzes Fühlen, es gab keinen Platz für etwas anderes als das entsetzliche, niederringende Gefühl des Ertrinkens. Er spürte nicht einmal mehr die kleinen Finger, die panisch an seiner Seite rüttelten, nahm nicht einmal das gepeinigte Kreischen wahr. „Bruder Ren! Bruder Ren!“ Vor ihm kniete Hakuryuu heulend und wimmernd, aber er sah ihn nicht mehr. Die blauen Augen seines Bruders verschwammen mit den aufstiebenden Flammen im Hintergrund, verwandelten sich in tiefrotes Haar und ein narbiges Gesicht, das er sein ganzes Leben lang geliebt hatte. Mei… ach Mei… es tut mir so leid. Ich wollte dir noch so vieles sagen. Verzeih mir, dass ich zu schwach war, um bei dir zu bleiben. Der Rothaarige lächelte schüchtern, so verständnisvoll, wie er immer schon gewesen war. Dabei hatte der Prinz dessen Freundlichkeit überhaupt nicht verdient… dennoch… es gab nichts, was ihn glücklicher machte, als dieses Lächeln. Eine wohltuende Wärme stieg in Hakuren auf, eine Wärme die nichts mit der Hitze des tödlichen Infernos gemein hatte. Mit letzter Kraft streckte er die verbrannte Hand nach ihm aus. Doch er griff ins Leere. *-*. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)